Книга - Vermählt

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Vermählt
Morgan Rice


Weg der Vampire #6
In VERMÄHLT (Band #6 der Weg der Vampire) finden sich Caitlin und Caleb einmal mehr in der Vergangenheit wieder – diesmal im London von 1599. London im Jahr 1599 ist ein wilder Ort voller Paradoxien: während es einerseits eine extrem aufgeklärte, niveauvolle Zeit ist, die Schriftsteller wie Shakespeare hervorbrachte, ist es andererseits auch barbarisch und grausam, mit täglichen öffentlichen Exekutionen, Folter und den aufgespießten Köpfen von Gefangenen. Es ist auch die Zeit von Aberglauben und großer öffentlicher Gefahr, mit mangelnder Kanalisation und der Beulenpest, die sich von Ratten verbreitet durch die Straßen zieht. In dieser Umgebung landen Caitlin und Caleb auf der Suche nach ihrem Vater, nach dem dritten Schlüssel, nach dem mythischen Schild, das die Menschheit retten kann. Ihre Mission führt sie durch einen Wirbelwind von Londons erstaunlicher mittelalterlicher Architektur, durch die atemberaubensten Burgen in der britischen Landschaft. Sie führt sie zurück in das Herz Londons, wo ihnen glatt Shakespeare selbst begegnen könnte, der ihnen eines seiner Stücke live zeigt. Sie führt sie zu einem kleinen Mädchen, Scarlet, die vielleicht sogar ihre Tochter werden könnte. Und in der Zwischenzeit vertieft sich Caitlins Liebe zu Caleb, da sie endlich zusammen sind – und da Caleb nun vielleicht endlich den perfekten Zeitpunkt, und Ort, findet, um ihr einen Antrag zu machen. Auch Sam und Polly sind zurückgereist, und während sie sich auf ihrer eigenen Reise wiederfinden, vertieft sich ihre Beziehung, als sie trotz allem nicht anders können, als tiefer füreinander zu empfinden.







vermählt



(Band #6 Der Weg Der Vampire)



morgan rice



Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Daniela Jakwerth


Ausgewählte Kommentare zu den VAMPIRE JOURNALS



„Rice leistet gute Arbeit, den Leser von Beginn an in die Geschichte hineinzuziehen, mit wunderbaren Beschreibungen, die über das reine Zeichnen des Hintergrundes hinausgehen....schön geschrieben und extrem schnell zu lesen.“

--Black Lagoon Reviews (über Turned—Gewandelt)



„Eine ideale Geschichte für junge Leser. Morgan Rice leistet gute Arbeit, eine interessante Wendung herauszuarbeiten...erfrischend und ungewöhnlich. Die Serie dreht sich um ein Mädchen...ein außergewöhnliches Mädchen!...Einfach zu lesen, doch extrem rasant... Bedingt jugendfrei.“

--The Romance Reviews (über Turned—Gewandelt)



„Packte meine Aufmerksamkeit von Anfang an und ließ nicht locker... diese Geschichte ist ein fantastisches Abenteuer, von Beginn an rasant und actionreich. Es ist kein langweiliger Moment zu finden.“

--Paranormal Romance Guild {über Turned- Gewandelt}



„Vollgepackt mit Action, Romantik, Abenteuer und Spannung. Lasst es euch nicht entgehen, und verliebt euch ganz von Neuem.“

--vampirebooksite.com (über Turned—Gewandelt)



„Eine tolle Geschichte, und vor allem die Art von Buch, die man nachts nicht weglegen kann. Das Ende war ein Cliffhanger, der so spektakulär war, dass man sofort das nächste Buch kaufen möchte, nur um herauszufinden, wie es weitergeht.“

--The Dallas Examiner {über Loved—Vergöttert}



„Ein Buch, das TWILIGHT und VAMPIRE DIARIES Konkurrenz macht, und dazu führen wird, dass man bis zur letzten Seite nicht genug davon bekommt! Wer Abenteuer, Liebe und Vampire mag, liegt mit diesem Buch genau richtig!“

--vampirebooksite.com (über Turned—Gewandelt)



„Morgan Rice erweist sich erneut als äußerst talentiert im Geschichtenerzählen...Dies wird eine große Bandbreite an Lesern ansprechen, darunter die jüngeren Fans des Vampir/Fantasy-Genres. Das Ende ist ein unerwarteter Cliffhanger, der Sie schockieren wird.“

--The Romance Reviews (über Loved—Vergöttert)


Über Morgan Rice



Morgan Rice schrieb die Nr. 1 Bestseller Serie DER WEG DER VAMPIRE, eine elfteilige Serie für junge Leser. Ihrer Feder entstammt auch die Nr. 1 Bestseller Serie TRILOGIE DES ÜBERLEBENS, eine post-apokalyptischer Thriller-Serie aus derzeit zwei Büchern (man darf auf das Dritte gespannt sein) und die epische Fantasy-Serie DER RING DER ZAUBEREI, das derzeit aus dreizehn Büchern besteht und die Bestsellerlisten anführt.

Morgans Bücher gibt es als Audio oder Print-Editionen die in vielen Sprachen erschienen sind: Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Japanisch, Chinesisch, Schwedisch, Holländisch, Türkisch, Ungarisch, Tschechisch und Slowakisch – mehr Sprachen werden folgen.

Morgan freut sich, von ihren Lesern zu hören, darum besuchen Sie bitte www.morganricebooks.com (http://www.morganricebooks.com) um sich für Email-Updates zu registrieren. Erhalten sie ein kostenloses Buch, Geschenke, laden sie die kostenlose App herunter und erhalten sie exklusiv die neusten Nachrichten. Oder folgen Sie Morgan auf Facebook und Twitter. Morgan freut sich auf Ihren Besuch!


Bücher von Morgan Rice



DER RING DER ZAUBEREI

QUESTE DER HELDEN (Band #1)

MARSCH DER KÖNIGE (Band #2)

LOS DER DRACHEN (Band #3)

RUF NACH EHRE (Band #4)

SCHWUR DES RUHMS (Band #5)

ANGRIFF DER TAPFERKEIT(Band #6)

A RITE OF SWORDS – RITUS DER SCHWERTER (Band #7)

A GRANT OF ARMS - GEWÄHR DER WAFFEN (Band #8)

demnächst auf Deutsch erhältlich

A SKY OF SPELLS – HIMMEL DER ZAUBER (Band #9)

A SEA OF SHIELDS – MEER DER SCHILDE (Band #10)

A REIGN OF STEEL – REGENTSCHAFT DES STAHLS (Band #11)

A LAND OF FIRE – LAND DES FEUERS (BAND #12)

A RULE OF QUEENS – DIE HERRSCHAFT DER KÖNIGINNEN (BAND #13)

DIE TRILOGIE DES ÜBERLEBENS

ARENA EINS: DIE SKLAVENTREIBER (BAND #1)

demnächst auf Deutsch erhältlich

ARENA TWO -- ARENA ZWEI (Band #2)



DER WEG DER VAMPIRE

GEWANDELT (Band #1 Der Weg Der Vampire)

VERGÖTTERT (Band #2 Der Weg Der Vampire)

VERRATEN (Band #3 Der Weg Der Vampire)

BESTIMMT (Band #4 Der Weg Der Vampire)

BEGEHRT (Band #5 Der Weg Der Vampire)

BETROTHED -- VERMÄHLT (Band #6)

demnächst auf Deutsch erhältlich

VOWED -- GELOBT (Band #7)

FOUND -- GEFUNDEN (Band #8)

RESURRECTED – ERWECKT (Band #9)

CRAVED – ERSEHNT (Band #10)

FATED – BERUFEN (Band #11)










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Copyright © 2013 Morgan Rice



Alle Rechte vorbehalten. Mit den im U.S. Copyright Act von 1976 erlaubten Ausnahmen ist es nicht gestattet, jeglichen Teil dieser Publikation in jeglicher Form oder über jegliche Mittel ohne die vorherige Erlaubnis des Autors zu vervielfältigen, verteilen oder übertragen, oder in einer Datenbank oder einem Abrufsystem zu speichern.



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Diese Geschichte ist frei erfunden. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder ein Produkt der Phantasie des Autors oder werden im fiktionalen Sinne verwendet. Jegliche Ähnlichkeit mit existierenden Personen, tot oder lebend, ist rein zufällig.



Cover-Model: Jennifer Onvie. Cover-Fotografie: Adam Luke Studios, New York. Cover-Makeup-Artist: Ruthie Weems. Falls Sie gerne Kontakt zu einem dieser Künstler aufnehmen möchten, kontaktieren Sie bitte Morgan Rice.


INHALT



KAPITEL EINS (#u9b4ab363-6ec6-4c0e-821f-8ecfe46fbc69)

KAPITEL ZWEI (#ud6e8f2f6-4185-4517-9038-17e768e1bf69)

KAPITEL DREI (#uff9cd756-dacd-575e-810c-b933feb7f764)

KAPITEL VIER (#u20f7ab78-e0a0-5f54-af74-050775707af4)

KAPITEL FÜNF (#uc06496a9-fa68-5b9c-a0d1-a8991e2e7995)

KAPITEL SECHS (#uff8133e8-fbb3-5824-a229-1e31a41ebe33)

KAPITEL SIEBEN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHT (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ELF (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWÖLF (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL FÜNFZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHSUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)


FAKT:



Zu Shakespeares Zeiten war in London die „Bärenhetze“ eine beliebte Unterhaltungsform. Ein Bär wurde an einen Pfahl gebunden, während ein Rudel wilder Hunde auf ihn gehetzt wurde. Es wurde gewettet, wer gewinnen würde. Das „Bärenhetze“-Stadion lag direkt neben dem Theater von Shakespeare. Viele aus dem derben Publikum der Bärenhetze gingen sich danach ein Shakespeare-Stück ansehen.



Zu Zeiten Shakespeares war das Publikum, das sich seine Stücke ansah, nicht elitär oder fein. Ganz im Gegenteil. Der Großteil der Leute, die seine Stücke besuchten, waren derbe Menschen, gewöhnliche Leute, die zur Unterhaltung kamen und nur einen Penny Eintritt bezahlen mussten. Um diesen Preis mussten sie während des gesamten Stücks am Boden stehen—und waren daher als „groundlings“, Parterrebesucher, bekannt.



Shakespeares London war zivilisiert—aber es war auch barbarisch. Es war nicht unüblich, Hinrichtungen und öffentliche Folter von Verbrechern auf der Straße zu sehen. Der Eingang seiner berühmtesten Brücke—der London Bridge—war oft mit Spießen geschmückt, auf dem die abgetrennten Köpfe von Verbrechern steckten.



Die Beulenpest (auch bekannt als der Schwarze Tod) töte Millionen in Europa und befiel London wiederholt im Lauf der Jahrhunderte. Sie verbreitete sich an Orten mit schlechten sanitären Bedingungen und großen Menschenmengen, und traf den Theaterbezirk Shakespeares am härtesten. Es dauerte Jahrhunderte, bis entdeckt wurde, dass die Träger der Seuche Flöhe waren, die auf Ratten lebten.


„Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gib

Mir meinen Romeo! Und stirbt er einst,

Nimm ihn, zerteil in kleine Sterne ihn:

Er wird des Himmels Antlitz so verschönen,

Daß alle Welt sich in die Nacht verliebt

Und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.“



--William Shakespeare, Romeo und Julia

(Deutsch von A. W. von Schlegel)





KAPITEL EINS


London, England

(September 1599)



Caleb erwachte unter Glockenläuten.

Er fuhr kerzengerade hoch und blickte sich keuchend um. Er hatte von Kyle geträumt, davon, ihm nachzujagen, von Caitlin, die ihm hilfesuchend eine Hand entgegenstreckte. Sie waren in einem Feld gewesen, das voller Fledermäuse war, vor einer blutroten Sonne, und es hatte sich alles so echt angefühlt.

Als er sich nun im Raum umblickte, versuchte er, dahinterzukommen, ob alles echt gewesen war, oder ob er wahrhaft wach und in die Vergangenheit gereist war. Nachdem er einige Sekunden lang seinem eigenen Atem gelauscht, die kühle Feuchtigkeit der Luft gespürt, in die Stille gehorcht hatte, auf seinen eigenen Herzschlag, wurde ihm klar, dass alles nur ein Traum gewesen war. Er war wirklich wach.

Caleb erkannte, dass er aufrecht in einem offenen Sarkophag saß. Er blickte sich in dem düsteren, höhlenartigen Raum um und sah, dass er voll mit Sarkophagen war. Da war eine niedrige, gewölbte Decken und schmale Fensterschlitze, durch die die winzigste Menge Sonnenlicht hereinkam. Es war gerade genug, um sehen zu können. Er kniff geblendet die Augen zusammen, fasste in seine Tasche und tropfte sich seine Augentropfen ein, froh darüber, dass sie noch da waren. Langsam verging der Schmerz und er entspannte sich.

Caleb sprang mit einem Satz auf die Füße, wirbelte im Raum herum und machte eine gründliche Bestandsaufnahme. Er war immer noch kampfbereit, wollte nicht angegriffen oder überfallen werden, bevor er Gelegenheit gehabt hatte, sich zu orientieren. Doch da war nichts, und niemand, im Zimmer. Nur Stille. Er bemerkte die uralten Steinfußböden, Mauern, den kleinen Altar mit Kreuz, und vermutete, dass er in der unteren Krypta einer Kirche war.

Caitlin.

Caleb wirbelte noch einmal im Raum herum, ihn nach einer Spur von ihr absuchend. Erfüllt mit einem inneren Drang eilte er zum Sarkophag neben ihm hinüber. Mit aller Kraft rückte er den Deckel zur Seite.

Sein Herz füllte sich mit der Hoffnung, sie zu finden. Doch niedergeschlagen stellt er fest, dass er leer war.

Caleb eilte durchs Zimmer, von einem Sarkophag zum nächsten, und rückte jeden Deckel zur Seite. Doch sie alle waren leer.

Caleb verspürte eine wachsende Verzweiflung, als er den letzten Deckel im Raum zur Seite schob, mit so viel Kraft, dass er zu Boden krachte und in tausend Stücke zersprang. Doch er hatte jetzt schon das mulmige Gefühl, dass er ihn, wie die anderen auch, leer vorfinden würde—und er behielt recht. Caitlin war nirgendwo in diesem Raum, erkannte er, und kalter Schweiß brach ihm aus. Wo konnte sie sein?

Der Gedanke daran, ohne sie in der Vergangenheit angekommen zu sein, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Sie bedeutete ihm mehr, als er sagen konnte, und ohne sie an seiner Seite schien ihm sein Leben, seine Mission, ohne Zweck zu sein.

Plötzlich erinnerte er sich an etwas und fasste in seine Tasche, um zu sehen, ob es noch da war. Zum Glück war es das. Der Ehering seiner Mutter. Er hielt ihn ins Licht und bewunderte den sechskarätigen Saphir, perfekt geschliffen, gefasst in einen Ring von Diamanten und Rubinen. Er hatte nie den richtigen Moment gefunden, ihr den Antrag zu machen. Diesmal war er fest dazu entschlossen.

Das hieß natürlich, wenn sie überhaupt hier angekommen war.

Caleb hörte ein Geräusch und wirbelte zum Eingang herum, Bewegung spürend. Er hoffte entgegen alle Hoffnung, dass es Caitlin war.

Doch zu seiner Überraschung blickte er hinunter, als die Person um die Ecke bog, um festzustellen, dass es überhaupt keine Person war. Es war Ruth. Caleb war überglücklich, sie hier zu sehen—zu sehen, dass sie die Zeitreise überstanden hatte.

Sie schritt auf Caleb zu, mit wedelndem Schwanz und leuchtenden Augen, die ihn wiedererkannten. Als sie näher kam, kniete Caleb nieder und sie rannte in seine Arme. Er liebte Ruth, und er war überrascht davon, wie groß sie geworden war: sie schien aufs Doppelte gewachsen zu sein, ein stattliches Tier. Es ermutigte ihn auch, sie hier zu sehen: vielleicht bedeutete das, dass auch Caitlin hier war.

Plötzlich fuhr Ruth herum und rannte aus dem Zimmer, hinter einer Ecke verschwindend. Caleb war von ihrem Verhalten verblüfft, und er eilte ihr nach, um zu sehen, wohin sie gelaufen war.

Er fand sich in einer weiteren Gewölbekammer wieder, auch diese von Sarkophagen übersät. Er konnte mit einem Blick sehen, dass sie alle bereits geöffnet waren, und leer.

Ruth rannte weiter, winselte und rannte auch aus diesem Raum. Caleb fragte sich, ob Ruth ihm etwas zeigen wollte. Er rannte schneller hinter ihr nach.

Nachdem sie durch einige weitere Räume geeilt war, hielt Ruth schließlich in einer kleinen Nische am Ende eines Korridors an, die von einer einzelnen Fackel schwach erleuchtet war. In ihr stand ein einsamer Marmorsarkophag, kunstvoll verziert.

Caleb ging langsam darauf zu, hielt den Atem an, hoffte, spürte, dass Caitlin darin sein würde.

Ruth setzte sich daneben hin und starrte zu Caleb hoch. Sie winselte inständig.

Caleb kniete nieder und versuchte, den steinernen Deckel davonzuschieben. Doch dieser war wesentlich schwerer als die anderen, und er ließ sich kaum bewegen.

Er kniete und schob fester, setzte all seine Kraft ein, und endlich rührte er sich. Er schob weiter, und Augenblicke später war der Deckel vollständig geöffnet.

Caleb überkam eine Welle der Erleichterung, als er Caitlin darin liegen sah, völlig reglos, ihre Hände feinsäuberlich über der Brust gefaltet. Doch seine Erleichterung wandelte sich in Besorgnis, als er sie betrachtete und feststellte, dass sie blasser war, als er sie je gesehen hatte. Da war überhaupt keine Farbe in ihren Wangen, und ihre Augen reagierten nicht einmal auf das Licht der Fackel. Er blickte genauer hin und stellte fest, dass sie scheinbar nicht atmete.

Er lehnte sich entsetzt zurück. Caitlin schien tot zu sein.

Ruth winselte lauter: nun verstand er.

Caleb beugte sich hinunter und legte ihr beide Hände fest auf die Schultern. Er schüttelte sie sanft.

„Caitlin?“, sagte er und hörte die Besorgnis in seiner Stimme. „CAITLN!?“, rief er lauter, während er sie kräftiger schüttelte.

Doch sie reagierte nicht, und ihm wurde kalt, als er sich vorstellte, wie sein Leben ohne sie sein würde. Er wusste, dass Zeitreisen seine Gefahren hatte und nicht alle Vampire jede Reise überlebten. Doch er hatte nie wirklich darüber nachgedacht, wie real die Möglichkeit war, beim Zurückreisen zu sterben. Hatte er einen Fehler gemacht, sie immer wieder zu ermutigen, die Suche, ihre Mission, fortzusetzen? Hätte er es einfach bleiben lassen sollen, sich mit ihr am letzten Ort niederlassen?

Was, wenn er nun alles verloren hatte?

Ruth sprang in den Sarkophag hinein, stellte sich mit allen vier Pfoten auf Caitlins Brust und begann, ihr über das Gesicht zu lecken. Minuten vergingen, und Ruth hörte nicht auf, zu lecken und dabei zu winseln.

Gerade als Caleb sich vorbeugte, um Ruth herunterzuheben, hielt er inne. Schockiert sah er, wie Caitlin langsam ein Auge öffnete.

Ruth jaulte verzückt, sprang von Caitlin herunter und rannte im Kreis um sie herum. Caleb lehnte sich genauso erfreut vor, als Caitlin endlich beide Augen öffnete und sich umblickte.

Er eilte zu ihr und packte eine ihrer eiskalten Hände, um sie zwischen seinen zu wärmen.

„Caitlin? Kannst du mich hören? Ich bin’s, Caleb.“

Langsam setzte sie sich auf, und er half ihr, streckte ihr die Arme entgegen und legte sanft eine Hand in ihren Nacken. Er war so glücklich, sie blinzeln zu sehen, die Augen zusammenkneifen. Er konnte sehen, wie desorientiert sie war, als wäre sie von einem tiefen, tiefen Schlaf erwacht.

„Caitlin?“, fragte er noch einmal sanft.

Sie starrte ihn ausdruckslos an, ihre braunen Augen genauso schön, wie er sie in Erinnerung hatte. Doch etwas, das merkte er, stimmte nicht. Sie lächelte immer noch nicht, und als sie ihn anblinzelte, hatten ihre Augen einen fremden Ausdruck.

„Caitlin?“, fragte er wieder, diesmal besorgt.

Sie starrte ihn direkt an, ihre Augen weit offen, und er sah mit plötzlichem Entsetzen, dass sie ihn nicht wiedererkannte.

„Wer bist du?“, fragte sie.

Calebs Herz sank. War es möglich? Hatte die Reise ihre Erinnerungen gelöscht? Hatte sie ihn wirklich vergessen?

„Caitlin“, versuchte er es noch einmal, „ich bin es. Caleb.“

Er lächelte, hoffte, dass ihr das vielleicht half, sich zu erinnern.

Doch sie erwiderte sein Lächeln nicht. Sie starrte ihn einfach weiter ausdruckslos an und blinzelte ein paar Mal.

„Es tut mir leid“, sagte sie schließlich. „Aber ich habe keine Ahnung, wer du bist.“




KAPITEL ZWEI


Sam wurde vom Lärm kreischender Vögel geweckt. Er öffnete die Augen und sah hoch über sich mehrere riesige Geier kreisen. Es mussten ein Dutzend von ihnen sein, und sie kreisten tiefer und tiefer, scheinbar direkt über ihm, als würden sie ihn beobachten. Als würden sie warten.

Ihm wurde plötzlich klar, dass sie ihn für tot hielten und auf ihre Gelegenheit warteten, auf ihn herunterzutauchen und ihn zu fressen.

Sam sprang auf die Beine und die Vögel stoben plötzlich davon, als wären sie darüber erschrocken, dass ein Toter sich wieder erheben konnte.

Er blickte sich um und versuchte, sich zu orientieren. Er war auf einem Feld inmitten sanfter Hügel. So weit das Auge reichte waren noch mehr Hügel, von Gras und gelegentlichen Büschen bedeckt. Das Wetter war perfekt, nicht zu heiß und nicht zu kalt, und keine Wolke stand am Himmel. Es war sehr idyllisch, und kein Gebäude war zu sehen. Es schien, als wäre er mitten im Nirgendwo.

Sam versuchte, zu ergründen, wo er war, in welcher Zeit, und wie er hierhergekommen war. Er versuchte verzweifelt, sich zu erinnern. Was war passiert, bevor er in die Vergangenheit gereist war?

Langsam fiel es ihm ein. Er war in der Notre Dame gewesen, in Paris, im Jahr 1789. Er hatte Kyle, Kendra, Sergei und ihre Leute bekämpft; sie in Schach gehalten, damit Caitlin und Caleb entkommen konnten. Es war das Mindeste, was er tun konnte, und er schuldete ihr zumindest das, besonders, nachdem er sie mit seiner leichtsinnigen Romanze mit Kendra in Gefahr gebracht hatte.

Zahlenmäßig weit unterlegen hatte er seine Gestaltwandler-Kräfte eingesetzt und es geschafft, sie lange genug zu verwirren, um beträchtlichen Schaden anzurichten, viele von Kyles Männern niederzustrecken, die anderen außer Gefecht zu setzen und mit Polly zu entkommen.

Polly.

Sie war die ganze Zeit über an seiner Seite geblieben, hatte tapfer gekämpft, und die beiden, erinnerte er sich, waren zusammen ziemlich kampfstark gewesen. Sie waren durch die Decke der Notre Dame geflohen und hatten sich auf die Suche nach Caitlin und Caleb durch die Nacht begeben. Ja. Langsam fiel ihm alles wieder ein...

Sam hatte herausgefunden, dass seine Schwester in die Vergangenheit gereist war, und er wusste auf der Stelle, dass auch er zurückreisen musste, um seine Fehler wiedergutzumachen, Caitlin wiederzufinden, sie um Verzeihung zu bitten und sie zu beschützen. Er wusste, dass sie es nicht brauchte: sie war nun ein besserer Kämpfer als er, und sie hatte Caleb. Aber sie war immerhin seine Schwester, und der Impuls, sie zu beschützen, war etwas, das er nicht abschalten konnte.

Polly hatte darauf bestanden, mit ihm mitzureisen. Auch sie wollte Caitlin dringend wiedersehen und ihr eine Erklärung abliefern. Sam hatte nicht widersprochen, und sie waren gemeinsam gereist.

Sam blickte sich nun wieder um, starrte auf die Wiesen hinaus und fragte sich...

„Polly?“, rief er zögerlich.

Keine Antwort.

Er ging an den Rand eines Hügels vor, wo er hoffte, einen Blick über die Landschaft zu bekommen.

„Polly!?“, rief er noch einmal, diesmal lauter.

„Endlich!“, ertönte eine Stimme.

Als Sam aufsah, erschien Polly über dem Horizont, einen Hügel erklimmend. Sie hatte einen Arm voll Erdbeeren und aß gerade eine davon, mit vollem Mund sprechend. „Ich habe den ganzen Morgen auf dich gewartet! Meine Güte! Du schläfst wirklich gern, nicht wahr!?“

Sam war höchst erfreut, sie zu sehen. Sobald er sie erblickte, wurde ihm klar, wie einsam er sich gefühlt hatte, als er ankam, und wie glücklich er war, dass er Gesellschaft hatte. Trotz allem wurde ihm ebenso klar, wie gern er sie gewonnen hatte. Besonders nach seinem Fiasko mit Kendra schätzte er es, ein normales Mädchen um sich zu haben, schätzte Polly mehr, als sie wusste. Und als sie näherkam, und als die Sonne ihr hellbraunes Haar und ihre blauen Augen erleuchtete, ihre durchscheinende weiße Haut, war er wieder einmal von ihrer natürlichen Schönheit überrascht.

Er wollte gerade antworten, doch wie üblich ließ sie ihn nicht zu Wort kommen.

„Ich bin keine drei Meter von dir entfernt aufgewacht“, fuhr sie fort, während sie näherkam, und aß eine weitere Erdbeere, „und ich habe dich geschüttelt und geschüttelt, doch du wolltest einfach nicht aufwachen! Also ging ich los und sammelte etwas zu essen. Ich kann es nicht erwarten, hier wegzukommen, aber ich dachte mir, ich sollte dich nicht den Vögeln überlassen, bevor ich abziehe. Wir müssen Caitlin finden. Wer weiß, wo sie ist? Sie könnte genau jetzt unsere Hilfe brauchen. Und du tust nichts als schlafen! Immerhin, wofür sind wir hergekommen, wenn wir uns nicht so bald wie möglich aufmachen und—“

„Ich bitte dich!“, rief Sam aus und brach in Gelächter aus. „Ich komme ja gar nicht zu Wort!“

Polly blieb stehen und starrte ihn an, mit verdutztem Gesicht, als hätte sie keine Ahnung, dass sie so viel redete.

„Na gut, dann“, sagte sie, „sprich!“

Sam starrte sie an, abgelenkt davon, wie blau ihre Augen im Morgenlicht aussahen; jetzt, da er endlich Gelegenheit hatte, zu sprechen, erstarrte er und vergaß, was er sagen wollte.

„Äh...“, setzte er an.

Polly warf ihre Hände in die Luft.

„Jungs!“, rief sie aus. „Sie wollen nie, dass du redest—aber sie selber haben nie etwas zu sagen! Nun, ich kann nicht länger hier rumwarten!“, sagte sie und eilte davon, durch die Wiese marschierend, die nächste Erdbeere verdrückend.

„Warte!“, rief Sam aus und eilte ihr nach. „Wohin gehst du?“

„Was wohl, Caitlin suchen natürlich!“

„Du weißt, wo sie ist?“, fragte er.

„Nein“, sagte sie. „Aber ich weiß, wo sie nicht ist—und zwar auf dieser Wiese! Wir müssen hier weg. Die nächste Stadt finden, oder Häuser, oder was auch immer, und herausfinden, in welcher Zeit wir sind. Wir müssen irgendwo anfangen! Und das ist nicht hier!“

„Was, glaubst du nicht, dass ich meine Schwester auch finden will!?“, rief Sam gereizt aus.

Endlich drehte sie sich zu ihm herum.

„Ich meine, willst du keine Gesellschaft?“, fragte Sam, dem währenddessen klar wurde, wie sehr er mit ihr gemeinsam nach Caitlin suchen wollte. „Willst du nicht gemeinsam suchen?“

Polly blickte ihn mit ihren großen blauen Augen an, als würde sie ihn abschätzen. Er fühlte sich, als würde er durchleuchtet, und er konnte sehen, dass sie unsicher wirkte. Er konnte nicht verstehen, warum.

„Ich weiß nicht“, sagte sie schließlich. „Ich meine, du hast dich da in Paris recht gut geschlagen—das muss ich zugeben. Aber...“

Sie stockte.

„Was ist los?“, fragte er schließlich.

Polly räusperte sich.

„Also, wenn du es unbedingt wissen musst, der letzte—äh—Junge—mit dem ich Zeit verbracht habe—Sergei—hat sich als Lügner und Betrüger herausgestellt, der mich ausgetrickst und benutzt hat. Ich war zu dämlich, um es zu bemerken. Aber auf so etwas werde ich nie wieder hereinfallen. Und ich bin noch nicht bereit, irgendjemandem der männlichen Art zu vertrauen—nicht einmal dir. Ich will gerade einfach keine Zeit mit weiteren Jungs verbringen. Nicht, dass du und ich—nicht, dass ich sagen will, dass wir—nicht, dass ich so von dir denke—wie etwas anderes als einen guten Freund—eine Bekanntschaft—“

Polly fing zu stottern an, und er konnte sehen, wie nervös sie geworden war, und musste innerlich grinsen.

„—aber es ist nun mal so, wie auch immer, ich hab die Nase voll von Jungs. Nichts für ungut.“

Sam lächelte breit. Er liebte ihre Offenherzigkeit und ihr Feuer.

„Keine Ursache“, antwortete er. „Um ehrlich zu sein“, fügte er hinzu, „habe ich auch die Nase voll von Mädels.“

Pollys Augen weiteten sich überrascht; das war eindeutig nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte.

„Aber es scheint mir, dass wir bessere Chancen haben, meine Schwester zu finden, wenn wir gemeinsam suchen. Ich meine—rein—“, Sam räusperte sich, „—rein professionell gesprochen.“

Nun war Polly mit Lächeln an der Reihe.

„Professionell gesprochen“, wiederholte sie.

Sam streckte förmlich die Hand aus.

„Ich verspreche, wir werden nur Freunde sein—nichts mehr als das“, sagte er. „Ich habe den Mädels für immer abgeschworen. Egal, was passiert.“

„Und ich habe den Jungs für immer abgeschworen. Egal, was passiert“, sagte Polly, seine immer noch in der Luft hängende Hand begutachtend, unsicher.

Sam ließ seine Hand geduldig wartend ausgestreckt.

„Nur Freunde?“, fragte sie. „Nichts mehr als das?“

„Nur Freunde“, sagte Sam.

Endlich streckte sie die Hand zum Handschlag aus.

Und dabei konnte Sam nicht anders, als zu bemerken, dass sie seine Hand eine kleine Spur zu lange festhielt.




KAPITEL DREI


Caitlin setzte sich im Sarkophag auf und starrte den Mann vor sich an. Sie wusste, er kam ihr irgendwoher bekannt vor, doch sie konnte nicht zuordnen, woher. Sie starrte seine großen, braunen, besorgten Augen an, sein perfekt geformtes Gesicht, seine Wangenknochen, seine glatte Haut, sein dichtes, gewelltes Haar. Er war äußerst gutaussehend, und sie konnte spüren, wie viel sie ihm bedeutete. Sie spürte tief im Inneren, dass er ein wichtiger Mensch für sie war, doch beim besten Willen konnte sie sich nicht daran erinnern, wer er war.

Caitlin spürte etwas Nasses in ihrer Hand, und als sie hinunterblickte, sah sie einen Wolf da sitzen und sie ablecken. Sie war davon überrascht, wie fürsorglich er ihr gegenüber war, als kannten sie sich schon ewig. Er hatte wunderschönes weißes Fell, mit einem einzelnen grauen Streifen, der ihm mitten über den Kopf und Rücken lief. Caitlin hatte das Gefühl, dass sie dieses Tier auch kannte, und dass sie irgendwann in ihrem Leben eine starke Verbindung zu ihm gehabt hatte.

Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht erinnern, welche.

Sie blickte sich im Raum um, versuchte, ihre Umgebung in sich aufzunehmen, hoffte, es würde ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen. Langsam wurde der Raum deutlicher sichtbar. Es war düster, nur von einer Fackel beleuchtet, und in der Ferne sah sie angrenzende Räume, die mit Sarkophagen gefüllt waren. Der Raum hatte eine niedrige Gewölbedecke, und der Stein sah uralt aus. Es wirkte wie eine Gruft. Sie fragte sich, wie sie hierher gekommen war—und wer diese Leute waren. Sie hatte das Gefühl, aus einem Traum erwacht zu sein, der nie enden wollte.

Caitlin schloss einen Moment lang die Augen, atmete tief durch, und dabei blitzte plötzlich eine Reihe von willkürlichen Bildern durch ihren Kopf. Sie sah sich selbst im römischen Kolosseum stehen, mehrere Soldaten auf seinem heißen, staubigen Boden bekämpfen; sie sah sich über eine Insel im Hudson River fliegen, auf eine weitläufige Burg hinunterblickend; sie sah sich in Venedig, auf einer Gondel, mit einem Jungen, den sie nicht wiedererkannte, der aber ebenfalls wunderschön war; sie sah sich in Paris, an einem Fluss entlangwandern mit einem Mann, den sie als den Mann wiedererkannte, der ihr gegenüberstand. Sie versuchte, sich auf dieses Bild zu konzentrieren, es festzuhalten. Vielleicht würde es ihr helfen, sich zu erinnern.

Sie sah sie beide noch einmal, diesmal in seiner Burg am französischen Land. Sie sah, wie sie gemeinsam auf Pferden am Strand ritten, dann sah sie einen Falken hoch über ihnen kreisen und einen Brief abwerfen.

Sie versuchte, sein Gesicht besser zu sehen, sich an seinen Namen zu erinnern. Es schien ihr langsam wieder einzufallen, sie war so nahe dran. Doch ihr Verstand blitzte zu etwas anderem weiter, und es war so schwer, irgendetwas festzuhalten. Ein Leben nach dem anderen blitzte vor ihr auf, als endlose Reihe Schnappschüsse. Es war, als würden ihre Erinnerungen sich neu auffüllen.

„Caleb“, ertönte eine Stimme.

Caitlin öffnete ihre Augen. Er hatte sich auf sie zugelehnt, streckte eine Hand aus und hielt ihre Schulter.

„Mein Name ist Caleb. Vom weißen Clan. Erinnerst du dich nicht?“

Caitlins Augen schlossen sich wieder, während ihr Verstand von seinen Worten, seiner Stimme angeregt wurde. Caleb. Bei dem Namen klingelte etwas in ihrem Kopf. Es fühlte sich an, als wäre der Name ihr wichtig.

Der weiße Clan. Auch dabei klingelte es. Sie sah sich plötzlich in einer Stadt, die sie als New York City erkannte, in einem Kloster am Nordende der Insel. Sie sah sich auf einer großen Terrasse stehen und hinausblicken. Sie sah sich mit einer Frau namens Sera streiten.

„Caitlin“, kam die Stimme wieder, fester. „Erinnerst du dich nicht?“

Caitlin. Ja. So hieß sie. Da war sie sich nun sicher.

Und Caleb. Ja. Er war ihr wichtig. Er war ihr...Freund? Es fühlte sich an, als wäre er mehr als das. Verlobter? Ehemann?

Sie öffnete die Augen und starrte ihn an, und langsam stürmte alles wieder auf sie ein. Hoffnung erfüllte sie, als sie langsam, Stück für Stück, wieder anfing, sich an alles zu erinnern.

„Caleb“, sagte sie sanft.

Seine Augen füllten sich mit Hoffnung und wurden feucht. Der Wolf winselte neben ihr und leckte ihr über die Wange, als wolle er sie ermutigen. Sie blickte zu ihm hinüber, und plötzlich fiel ihr sein Name wieder ein.

„Rose“, sagte sie, dann erkannte sie, dass das nicht passte. „Nein. Ruth. Du heißt Ruth.“

Ruth kam näher und leckte ihr übers Gesicht. Caitlin musste lächeln und streichelte ihr über den Kopf. Ein erleichtertes Grinsen zog sich über Calebs Gesicht.

„Ja. Ruth. Und ich bin Caleb. Und du bist Caitlin. Erinnerst du dich jetzt?“

Sie nickte. „Es fällt mir wieder ein“, sagte sie. „Du bist mein...Ehemann?“

Sie sah zu, wie sein Gesicht plötzlich rot anlief, als wäre er verlegen, oder beschämt. Und in dem Moment fiel es ihr plötzlich ein. Nein. Sie waren nicht verheiratet.

„Wir sind nicht verheiratet“, sagte er bedauernd, „aber wir sind zusammen.“

Nun wurde auch sie verlegen, während sie sich langsam an alles erinnerte, ihr alles wieder einfiel.

Plötzlich fielen ihr die Schlüssel ein. Die Schlüssel ihres Vaters. Sie fasste in ihre Tasche und stellte beruhigt fest, dass sie noch da waren. Sie fasste in eine andere Tasche und spürte, dass auch ihr Tagebuch noch da war. Sie war erleichtert.

Caleb streckte eine Hand aus.

Sie ergriff sie und ließ sich von ihm hochziehen und aus dem Sarkophag heraus helfen.

Es fühlte sich gut an, aufrecht zu stehen, ihre schmerzenden Muskeln zu strecken.

Caleb streckte die Hand aus und wischte ihr das Haar aus dem Gesicht. Seine sanften Finger fühlten sich so gut an, als sie ihr über die Schläfe strichen.

„Ich bin so froh, dass du am Leben bist“, sagte er.

Er umarmte sie und drückte sie fest. Sie drückte zurück, und dabei schossen noch mehr Erinnerungen auf sie ein. Ja, das war der Mann, den sie liebte. Der Mann, den sie eines Tages zu heiraten hoffte. Sie konnte seine Liebe durch sie fließen spüren, und sie erinnerte sich daran, dass sie gemeinsam in die Vergangenheit gereist waren. Sie waren zuletzt in Frankreich gewesen, in Paris, und sie hatten den zweiten Schlüssel gefunden und waren beide zurückgeschickt worden. Sie hatte gebetet, dass sie diesmal gemeinsam zurückkommen würden. Und während sie ihn fester drückte, wurde ihr klar, dass ihre Gebete Wirklichkeit geworden waren.

Diesmal waren sie endlich zusammen.




KAPITEL VIER


„Ich sehe, ihr habt einander gefunden“, ertönte eine Stimme.

Caitlin und Caleb, mitten in ihrer Umarmung, wirbelten erschrocken zu der Stimme herum. Caitlin war schockiert, dass irgendjemand sich so schnell an sie heranschleichen konnte, besonders bei ihren scharfen Vampir-Sinnen.

Doch als sie der Frau entgegenstarrte, die vor ihnen stand, erkannte sie, warum: diese Frau war selbst ein Vampir. Ganz in Weiß gekleidet, mit einer Kapuze auf dem Kopf, hob die Frau ihr Kinn und starrte mit stechend blauen Augen zurück. Caitlin konnte ein Gefühl von Frieden und Harmonie von ihr ausgehen fühlen, und sie ließ ihre Abwehr sinken. Sie spürte, wie auch Caleb sich entspannte.

Die Frau fing breit zu lächeln an.

„Wir warten hier schon seit geraumer Zeit auf euch“, sagte sie mit sanfter Stimme.

„Wo sind wir?“, fragte Caitlin. „Welches Jahr ist es?“

Die Frau lächelte nur zurück.

„Kommt hier entlang“, sagte sie und drehte ihnen den Rücken zu, während sie durch den niedrigen Torbogen hinausging.

Caitlin und Caleb tauschten einen Blick aus, dann folgten sie ihr zur Tür hinaus, mit Ruth an ihrer Seite.

Sie schritten einen gewundenen Steinkorridor entlang, der zu einer engen Treppe führte, die nur von einer Fackel beleuchtet war. Sie waren dicht hinter der Frau, die einfach weiterging, als würde sie sich darauf verlassen, dass sie ihr folgten.

Caitlin verspürte den Drang, mehr Fragen zu stellen, sie aufzufordern, ihnen zu sagen, wo sie waren; doch als sie oben an der Treppe ankamen, eröffnete sich vor ihnen plötzlich ein prächtiger Anblick, der ihr den Atem raubte, und sie erkannte, dass sie in einer enormen Kirche waren. Zumindest dieser Teil der Frage war beantwortet.

Einmal mehr bereute Caitlin, in ihrem Geschichte- und Architekturunterricht nicht besser aufgepasst zu haben; bereute, nicht auf den ersten Blick genau zu wissen, welche Kirche dies war. Sie erinnerte sich an all die prachtvollen Kirchen, die sie schon besucht hatte—die Notre Dame in Paris, den Duomo in Florenz—und dachte bei sich, dass diese hier ihnen irgendwie ähnlich war.

Das Hauptschiff der Kirche erstreckte sich über hundert Meter, hatte einen Fußboden aus Marmorfliesen und Mauern, die mit dutzenden aus Stein gemeißelten Statuen geschmückt waren. Sie hatte eine hoch aufragende, gewölbte Decke, die sich über hundert Meter hoch erhob. Hoch oben waren reihenweise gewölbte Bleiglasfenster, die die Kirche mit einem sanften, vielfarbigen Licht durchströmten. Am anderen Ende war ein riesiges, kreisrundes Stück Bleiglas, das Licht auf einen enormen vergoldeten Altar warf. Davor ausgebreitet standen hunderte kleiner Holzstühle für die Gläubigen.

Doch im Moment war die Kirche leer. Es schien, als hätten sie das gesamte Gebäude für sich.

Sie schritten hinter der Vampirin her durch den Raum, und ihre Schritte hallten durch den riesigen, leeren Saal.

„Welche Kirche ist dies?“, fragte Caitlin schließlich.

„Westminster Abbey“, kam die Stimme der Frau, während sie weiterging. „Der Krönungssitz von Königen und Königinnen, schon seit tausenden Jahren.“

Westminster Abbey, dachte Caitlin. Sie wusste, dass das in England war. London, genauergesagt.

London.

Der Gedanke daran, hier zu sein, traf sie wie ein Sack Ziegel. Es war überwältigend, Ehrfurcht gebietend. Sie war noch nie zuvor hier gewesen und wollte schon immer einmal hierher. Sie hatte Freunde gehabt, die es besucht hatten, und hatte Bilder davon im Internet gesehen. Es erschien ihr logisch, dass sie hier waren, wenn man die lange mittelalterliche Geschichte dieser Stadt bedachte. Diese Kirche alleine war tausende Jahre alt—und sie wusste, dass es in dieser Stadt noch mehr davon gab. Doch sie wusste noch immer nicht das Jahr.

„Und welches Jahr ist es?“, fragte Caitlin nervös.

Doch ihre Begleiterin ging so schnell, dass sie die riesige Kapelle bereits durchquert hatte und sich durch einen weiteren Türbogen duckte, und Caitlin und Caleb so dazu zwang, sich zu beeilen.

Als sie hindurch schritten, fand sich Caitlin zu ihrer Überraschung in einem Kloster wieder. Da war ein langer Steinkorridor mit steinernen Mauern und Statuen auf einer Seite, und offenen Steinbögen auf der anderen. Diese Bögen standen im Freien, und durch sie hindurch konnte sie einen kleinen, friedlichen Innenhof sehen. Es erinnerte sie an so viele andere Kloster, in denen sie gewesen war; langsam erkannte sie das Muster ihrer Schlichtheit, ihrer Leere, die gewölbten Mauern, die Säulen, die gepflegten Innenhöfe. Sie alle fühlten sich wie eine Zufluchtsstätte vor der Welt an, wie ein Ort für Gebete und stille Andacht.

Die Vampirin blieb endlich stehen und wandte sich an sie. Sie starrte Caitlin mit ihren großen, mitfühlenden Augen an und sah aus wie aus einer anderen Welt.

„Wir sind an der Jahrhundertwende“, sagte sie.

Caitlin dachte einen Moment lang nach. „Welches Jahrhundert?“, fragte sie.

„Das sechzehnte natürlich. Es ist 1599.“

1599, dachte Caitlin. Der Gedanke daran war überwältigend. Wieder einmal wünschte sie sich, dass sie ihr Geschichtsbuch aufmerksamer gelesen hätte. Zuvor war sie von 1791 nach 1789 gesprungen. Doch nun war sie im Jahr 1599. Ein Sprung von fast 200 Jahren.

Sie erinnerte sich daran, wie viele Dinge schon 1789 primitiv erschienen waren—die fehlenden Wasserleitungen, die gelegentlichen unbefestigten Straßen, die kaum gewaschenen Leute. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie viel primitiver die Dinge noch 200 Jahre früher sein würden. Bestimmt würde diese Zeit noch viel weniger wiedererkennbar sein als alle zuvor. Selbst London würde wahrscheinlich kaum wiederzuerkennen sein. Bei dem Gedanken fühlte sie sich isoliert, alleine, in einer fernen Welt. Wenn Caleb nicht hier an ihrer Seite wäre, würde sie sich völlig einsam fühlen.

Doch zugleich war da diese Architektur, diese Kirche, dieses Kloster—sie alle fühlten sich so vertraut an, so wiedererkennbar. Immerhin schritt sie durch genau die gleiche Westminster Abbey, die auch im 21. Jahrhundert existierte. Nicht nur das, dieses Gebäude war selbst jetzt schon uralt, existierte bereits seit Jahrhunderten. Immerhin spendete ihr das einen Hauch Trost.

Doch warum war sie in diese Zeit geschickt worden? Und an diesen Ort? Offensichtlich hatte er eine große Bedeutung für ihre Mission.

London. Im Jahr 1599.

War dies die Zeit, in der Shakespeare lebte?, fragte sie sich, ihr Herz plötzlich schneller klopfend, als sie sich vorstellte, dass sie—wenn auch nur den Funken—einer Chance hatte, ihn leibhaftig zu Gesicht zu bekommen.

Sie schritten schweigend einen Korridor nach dem anderen entlang.

„London im Jahr 1599 ist nicht so primitiv, wie ihr denkt“, sagte ihre Begleiterin und warf ihr ein Lächeln zu.

Caitlin war es peinlich, dass ihre Gedanken gelesen worden waren. Wie immer wusste sie, dass sie sie sorgsamer hätte verbergen sollen. Sie hoffte, dass sie diese Vampirin nicht beleidigt hatte.

„Ich habe es nicht als Beleidigung aufgefasst“, antwortete sie, wieder ihre Gedanken lesend. „Unsere Zeit ist primitiv in vieler technologischer Hinsicht, die du gewohnt bist. Aber wir sind, auf andere Art, weiter fortgeschritten als selbst in deiner modernen Zeit. Wir sind äußerst wissend und gelehrt, und Bücher regieren den Alltag. Ein Volk von primitiven Mitteln, vielleicht, doch mit einem scharfen Intellekt.

Wichtiger noch, dies ist eine entscheidende Zeit für die Art der Vampire. Wir stehen hier an einem Scheideweg. Du bist aus gutem Grund zur Jahrhundertwende hier angekommen.“

„Warum?“, fragte Caleb.

Die Frau lächelte sie an, bevor sie durch eine weitere Tür ging.

„Die Antwort darauf ist eine, die ihr selbst herausfinden müsst.“

Sie betraten einen weiteren prächtigen Raum mit hoch aufragenden Decken, Bleiglas, Marmorböden, geschmückt mit enormen Kerzen und gemeißelten Statuen von Königen und Heiligen. Doch dieser Raum war anders als die anderen. Sarkophage und Bildnisse waren sorgsam darin angeordnet, und in der Mitte stand ein riesiges Grabmal, dutzende Meter hoch und von Gold überzogen.

Ihre Begleiterin ging geradewegs darauf zu, und sie folgten. Sie hielt davor an und wandte sich an sie.

Caitlin blickte an dem prunkvollen Grabmal hoch: es war groß, imposant. Es war selbst ein prachtvolles Kunstwerk, vergoldet, mit feinen Schnitzereien verziert. Sie spürte auch eine Energie von ihm ausgehen, als wäre es von einiger Bedeutung.

„Das Grabmal des heiligen Eduard des Bekenners“, sagte die Vampirin. „Es ist ein heiliger Ort, ein Wallfahrtsort für unsere Art seit hunderten von Jahren. Man sagt, dass jemand, der an seiner Seite betet, wundersame Heilung für die Kranken empfangen wird. Seht den Stein zu euren Füßen: er ist ganz abgenutzt von all den Leuten, die hier im Laufe der Zeit gekniet haben.“

Caitlin blickte hinunter und sah, dass das Marmorpodest tatsächlich leichte Einbuchtungen um seinen Rand hatte. Sie staunte darüber, wie viele Leute hier über die Jahrhunderte hinweg gekniet haben mussten.

„Doch in deinem Fall“, fuhr sie fort, „hält es noch tiefere Bedeutung.“

Sie blickte Caitlin direkt an.

„Dein Schlüssel“, sagte sie zu Caitlin.

Caitlin war verblüfft. Welchen Schlüssel meinte sie? Sie fasste in ihre Taschen und spürte dort wieder die beiden Schlüssel, die sie bisher gefunden hatte. Sie war nicht sicher, welchen davon die Frau wollte.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Deinen anderen Schlüssel.“

Caitlin dachte verwirrt nach. Gab es da noch einen Schlüssel, den sie vergessen hatte?

Dann, als sie zu ihrem Halsansatz blickte, wurde es ihr klar. Ihre Halskette.

Caitlin fasste danach und war erstaunt, dass sie immer noch da war. Vorsichtig nahm sie sie ab und hielt ihr das zarte, antiquierte Silberkreuz auf ihrer Handfläche hin.

Die Vampirin schüttelte den Kopf.

„Nur du kannst ihn benutzen.“

Sie nahm sanft Caitlins Handgelenk und führte es zu einem winzigen Schlüsselloch am Fuß des Sockels.

Caitlin staunte. Das Schlüsselloch wäre ihr ansonsten nicht einmal aufgefallen. Sie steckte den Schlüssel hinein, drehte ihn herum, und ein leises Klicken ertönte.

Sie blickte hoch und sah, dass sich ein winziges Fach an der Seite des Grabes geöffnet hatte. Sie blickte zu der Vampirin, die ihr feierlich zunickte.

Caitlin streckte die Hand aus und zog langsam ein langes, schmales Fach heraus. Darin, stellte sie erschrocken fest, lag ein langes, goldenes Zepter, sein Kopf mit Rubinen und Smaragden verziert.

Sie holte es heraus und staunte, wie schwer es sich anfühlte, wie glatt das Gold in ihrer Hand war. Es musste einen Meter lang sein, und aus massivem Gold gefertigt.

„Das Heilige Zepter“, sagte die Nonne. „Es gehörte einst deinem Vater.“

Caitlin blickte es mit neuer Ehrfurcht und Respekt an. Sie fühlte sich wie elektrisiert davon, es zu halten, und sie fühlte sich ihrem Vater näher als je zuvor.

„Wird es mich zu meinem Vater führen?“, fragte sie.

Ihre Begleiterin drehte sich einfach um und ging aus der Kammer. „Hier entlang“, sagte sie.

Caitlin und Caleb folgten ihr durch eine weitere Türe, und mehrere weitere Korridore entlang, über den mittelalterlichen Innenhof eines weiteren Klosters. Während sie gingen, erblickte Caitlin überrascht mehrere weitere Vampire, in weiße Roben mit Kapuzen gehüllt, durch die Hallen wandeln. Die meisten von ihnen blickten zu Boden, wie im Gebet versunken. Manche schwenkten Weihrauchfässer. Ein paar nickten ihnen im Vorbeigehen zu und setzten schweigend ihren Weg fort.

Caitlin fragte sich, wie viele Vampire hier lebten, und ob sie zum Clan ihres Vaters gehörten. Ihr war nie klar gewesen, dass Westminster Abbey auch ein Kloster war, zusätzlich zur Kirche. Oder dass es ein Zufluchtsort für ihre Art war.

Endlich betraten sie ein weiteres Zimmer, dieses kleiner als die anderen, doch mit einer hohen, gewölbten Decke und natürlichem Licht, das hereinschien. Dieses Zimmer hatte kahle Steinböden, und in seiner Mitte stand ein bemerkenswertes Möbelstück: ein Thron. Hoch auf einem Podest platziert, mindestens fünf Meter hoch, stand der hölzerne Thron da, ein besonders breiter Stuhl mit Armlehnen, die sich nach oben schwangen und einer Lehne, die wie ein Dreieck abgewinkelt war, das in der Mitte eine Spitze formte. Darunter, an den Ecken, saßen zwei goldene Löwen, so gestaltet, dass es aussah, als hielten sie den Stuhl aufrecht.

Caitlin betrachtete ihn ehrfürchtig.

„Der Sitz König Edwards“, sagte die Vampirin. „Der Krönungsthron für Könige und Königinnen seit tausenden Jahren. Ein ganz besonderes Möbelstück—nicht nur wegen seines Platzes in der Geschichte, sondern weil einer der Schlüssel unserer Art darin verweilt.“

Sie wandte sich Caitlin zu. „Wir bewachen diesen Thron schon seit tausenden Jahren. Nun, da du hier bist und das Zepter freigelegt hast, ist es an der Zeit, dass du deinen rechtmäßigen Platz einnimmst.“

Sie deutete Caitlin, den Thron zu besteigen.

Caitlin sah sie schockiert an. Welches Recht sollte sie, ein einfaches Mädchen, haben, einen solch königlichen Thron zu besteigen—einen Thron, auf dem schon tausende Jahre lang Könige und Königinnen gesessen hatten? Es fühlte sich nicht richtig an, auch nur in seine Nähe zu gehen, noch weniger, das riesige Podest zu besteigen und darauf zu sitzen.

„Bitte“, drängte die Vampirin. „Du hast das Recht dazu. Du bist die Auserwählte.“

Caleb nickte ihr zu, und langsam, widerwillig, stieg Caitlin auf das riesige Podest, das Zepter in der Hand. Als sie oben angekommen war, drehte sie sich herum und ließ sich zaghaft auf dem Thron nieder.

Er war aus hartem Holz gefertigt und gab nicht nach. Als sie sich zurücklehnte, legte sie ihre Hände auf die Armlehnen und konnte seine Macht spüren. Sie konnte die tausenden Jahre königlicher Figuren spüren, die hier an dieser Stelle ihre Kronen empfangen hatten. Es fühlte sich an wie elektrisch aufgeladen.

Wie sie so über den Raum blickte, fünf Meter höher als alle anderen, fühlte sie sich, als würde über sie hinwegragen, über die ganze Welt. Es war ein Ehrfurcht gebietendes Gefühl.

„Das Zepter“, sagte die Vampirin.

Caitlin blickte zu ihr hinunter, verwirrt, unsicher, was sie damit tun sollte.

„In der Armlehne des Throns findest du ein kleines Loch. Es ist dazu gedacht, es zu halten.“

Caitlin sah genauer hin und fand diesmal ein kleines Loch, gerade breit genug, um den genauen Umfang des Zepters zu fassen. Langsam steckte sie das Zepter in das Loch.

Es versank zur Gänze, bis nur noch sein Kopfstück über der Lehne zu sehen war.

Plötzlich ertönte ein leises Klicken.

Caitlin blickte hinunter und sah staunend ein kleines Fach, das sich am Ansatz eines der Löwenköpfe öffnete. Darin lag ein kleiner goldener Ring. Sie holte ihn heraus.

Sie hob ihn hoch und starrte ihn an.

„Der Ring des Schicksals“, sagte die Vampirin. „Er ist nur für dich gedacht. Ein Geschenk deines Vaters.“

Caitlin starrte ehrfurchtsvoll, hielt ihn gegen das Licht, bewunderte das Funkeln der Edelsteine, als sie ihn bewegte.

„Stecke ihn an den Ringfinger deiner rechten Hand.“

Caitlin schob ihn auf den Finger, und als sie das kühle Metall spürte, durchfuhr sie ein Vibrieren. Sie konnte die Macht spüren, die von ihm ausging.

„Er wird dir den Weg weisen.“

Caitlin betrachtete ihn. „Aber wie?“, fragte sie.

„Du musst ihn nur inspizieren“, sagte die Vampirin.

Caitlin war zuerst verwirrt, doch dann sah sie sich den Ring genauer an. Sie bemerkte eine feine, zarte Gravur um den Ring herum. Ihr Herz schlug schneller, als sie zu lesen begann. Sie fühlte sofort, dass es eine Botschaft von ihrem Vater war.



Über die Brücke, hinter dem Bären

Der Wind zur Sonne, umgehen wir London.



Caitlin las das Rätsel noch einmal, dann las sie laut, sodass Caleb es hören konnte.

„Was bedeutet es?“, fragte sie.

Ihre Begleiterin lächelte nur.

„Bis hierher ist es mir erlaubt, euch zu führen. Den Rest der Reise dürft ihr für euch selbst entdecken.“ Dann lehnte sie sich vor. „Wir zählen auf dich. Was auch immer du tust, lass uns nicht im Stich.“




KAPITEL FÜNF


Caitlin und Caleb traten unter dem gewaltigen Torbogen der Westminster Abbey hervor ins Morgenlicht, mit Ruth an den Fersen. Sie beide kniffen instinktiv die Augen zusammen und hoben ihre Hände gegen das Licht, und Caitlin war dankbar, dass Caleb ihr die Augentropfen gegeben hatte, bevor sie herauskamen. Ihre Augen brauchten ein paar Momente, bevor sie sich angepasst hatten. Langsam kam die Welt von London im Jahr 1599 klar in den Blick.

Caitlin staunte. Paris 1789 war nicht allzu unterschiedlich von Venedig 1791 gewesen. Aber London 1599 war eine andere Welt. Sie war schockiert davon, was 190 Jahre ausmachten.

Vor ihr erstreckte sich London. Doch es war keine geschäftige Metropole. Es fühlte sich eher an wie eine große, ländliche Stadt mit großen, leeren Bauplätzen, die noch in Arbeit waren. Es gab keine befestigten Straßen—alles war Erdboden—und obwohl es viele Gebäude gab, gab es noch viel mehr Bäume. Eingebettet zwischen den Bäumen waren grob angelegte Blocks und Reihen von Häusern, viele von ihnen unregelmäßig. Die Häuser waren alle aus Holz gebaut, mit riesigen Strohdächern. Sie konnte auf einen Blick sehen, wie brennbar diese Stadt war; so gut wie alles war aus Holz gebaut, und Stroh war oben auf allen Häusern, und sie erkannte, wie stark sie einem Feuer ausgesetzt war.

Sie konnte sofort sehen, dass die unbefestigten Straßen es schwierig machten, voranzukommen. Das Reisen zu Pferd schien die bevorzugte Art, und gelegentlich zog ein Pferd, oder eine Pferdekutsche, vorbei. Doch das war die Ausnahme. Die meisten Menschen liefen zu Fuß—oder besser gesagt, stolperten. All jene, die zu Fuß auf den schlammigen Straßen unterwegs waren, schienen um ihr Gleichgewicht zu ringen.

Sie sah, dass die Straßen von Kot gesäumt waren, und der Gestank schlug ihr von Weitem ins Gesicht. Es half nicht, dass ab und zu auch ein Rind vorbeizog. Falls sie je gedacht hatte, eine Reise in die Vergangenheit wäre romantisch, dann brachte sie dieser Anblick gewiss zum Nachdenken.

Noch dazu sah sie in dieser Stadt die Leute nicht in ihrer feinsten Kleidung vorbeispazieren, mit Sonnenschirmen in der Hand, die neueste Mode vorführend, wie es in Paris und Venedig der Fall gewesen war. Vielmehr waren sie hier schlichter gekleidet, mit viel älter aussehender Kleidung, die Männer entweder in einfacher Bauernkleidung, nicht viel besser als Lumpen, und nur wenige von ihnen in weißen Kniehosen und kurzen Tuniken, die wie Röcke aussahen. Was die Frauen anging, waren die immer noch in so viel Stoff gehüllt, dass es ihnen schwerfiel, die Straßen zu bewältigen, während sie die Rocksäume gepackt hatten und so hoch hielten, wie sie nur konnten—nicht nur, um sie vom Schlamm und Kot fernzuhalten, sondern auch von den Ratten, die Caitlin schockiert bei helllichtem Tag herumwimmeln sehen konnte.

Und doch, trotz alldem, war diese Zeit gewiss einzigartig—und zumindest entspannt. Sie fühlte sich, als wäre sie in einem großen Dorf am Land. Das hektische Treiben des 21. Jahrhunderts gab es nicht. Es gab keine Autos, die vorbeirasten; keinen Baulärm. Keine Hupen, Busse, LKWs, Maschinen. Sogar die Geräusche der Pferde waren gedämpft, da ihre Hufe in der Erde versanken. Tatsächlich waren, abgesehen von den Rufen der Straßenverkäufer, die einzigen lauten Geräusche die Kirchenglocken, die allgegenwärtig läuteten, wie ein Chor von Bomben durch die gesamte Stadt. Dies war eindeutig eine Stadt, die von Kirchen dominiert war.

Das Einzige, was die zukünftige Bebauung leise erahnen ließ, waren paradoxerweise die uralten Kirchen—sie erhoben sich hoch über den Rest der bescheidenen Bauten und dominierten das Stadtbild mit unmöglich hoch aufragenden Kirchtürmen. Tatsächlich ragte das Gebäude, aus dem sie kamen, Westminster Abbey, hoch über allen anderen Gebäuden in Sichtweite auf. Sie konnte jetzt schon erkennen, dass ihr Kirchturm ein Orientierungspunkt für die gesamte Stadt war.

Sie blickte zu Caleb hinüber und sah, wie er gleichermaßen erstaunt die Szenerie betrachtete. Sie streckte die Hand aus und war glücklich, seine Hand in ihrer zu spüren. Es fühlte sich so gut an, wieder seine Berührung zu fühlen.

Er drehte sich zu ihr herum, und sie konnte die Liebe in seinen Augen lesen.

„Nun denn“, sagte er und räusperte sich, „es ist nicht ganz das Paris des 18. Jahrhunderts.“

Sie lächelte zurück. „Nein, das ist es nicht.“

„Aber wir sind zusammen, und nur darauf kommt es an“, fügte er hinzu.

Sie konnte seine Liebe spüren, als er ihr tief in die Augen blickte, und einen Moment lang war sie von ihrer Mission abgelenkt.

„Es tut mir so leid, was in Frankreich passiert ist“, sagte er. „Mit Sera. Ich wollte dir niemals wehtun. Ich hoffe, das weißt du.“

Sie sah ihn an und konnte sehen, dass er es ernst meinte. Und zu ihrer Überraschung spürte sie, dass sie ihm nun mit Leichtigkeit verzeihen konnte. Die alte Caitlin wäre nachtragend gewesen. Doch sie fühlte sich stärker als je zuvor, und wahrhaft in der Lage, es gut sein zu lassen. Besonders, da er zu ihr zurückgekommen war, und besonders, seit klar war, dass er nichts für Sera empfand.

Noch dazu erkannte sie erstmals ihre eigenen Fehler der Vergangenheit, ihre vorschnellen Urteile, ihr fehlendes Vertrauen in ihn, dass sie ihm nicht genug Freiraum gelassen hatte.

„Mir tut es auch leid“, sagte sie. „Das hier ist jetzt ein neues Leben. Und wir sind gemeinsam hier. Das ist das Einzige, was zählt.“

Er drückte ihre Hand, und dabei spürte sie ein Kribbeln, das sie durchfuhr.

Er beugte sich vor und küsste sie. Sie war überrascht und aufgeregt zugleich. Sie spürte die Elektrizität durch sie fließen, und sie erwiderte seinen Kuss.

Ruth begann, zu ihren Füßen zu winseln.

Sie trennten sich, sahen hinunter und lachten.

„Sie hat Hunger“, sagte Caleb.

„Ich auch.“

„Wollen wir uns London ansehen?“, sagte er grinsend. „Wir könnten fliegen“, fügte er hinzu. „Das heißt, wenn du soweit bist.“

Sie rollte ihre Schultern zurück und spürte dort ihre Flügel, und fühlte, dass sie tatsächlich soweit war. Sie fühlte sich von dieser Reise erholt. Vielleicht gewöhnte sie sich endlich an das Zeitreisen.

„Das bin ich“, sagte sie, „aber ich würde gern spazieren. Ich möchte meine erste Erfahrung mit diesem Ort wie jeder andere auch machen.“

Und außerdem ist es romantischer, dachte sie bei sich, doch sprach es nicht aus.

Doch er blickte hinunter und lächelte sie an, und sie fragte sich, ob er ihre Gedanken gelesen hatte.

Er streckte lächelnd die Hand aus, sie ergriff sie, und die beiden machten sich auf den Weg die Treppe hinunter.

*

Als sie die Kirche verließen, erblickte Caitlin in der Ferne einen Fluss und eine breite Straße etwa fünfzig Meter davon entfernt, mit einem grob geschnitzten Holzschild, auf dem „King Street“ stand. Sie hatten die Wahl, nach links oder rechts abzubiegen. Die Stadt schien nach links hin dichter zu sein.

Sie gingen nach links, Richtung Norden, die King Street hinauf, parallel zum Fluss. Unterwegs staunte Caitlin über alles, was sie sehen und hören konnte, und nahm alles in sich auf. Zu ihrer Rechten lag eine Reihe von stattlichen Holzhäusern, große Herrenhäuser im Stil der Tudors, mit weißem Stuck, braunem Fachwerk und in einem Strohdach endend. Zu ihrer Linken, stellt sie staunend fest, lagen ländliche Parzellen von Ackerland, mit ab und zu einem kleinen, bescheidenen Haus, und Schafen und Kühen in der Landschaft verstreut. Das London von 1599 war faszinierend für sie. Eine Straßenseite war kosmopolitisch und wohlhabend, während die andere immer noch von Bauern bewohnt war.

Die Straße selbst war ebenso ein Wunderwerk. Ihre Füße blieben beinahe im Schlamm stecken, da der Boden von all den Füßen und Hufen aufgeweicht wurde. Dies für sich gesehen war erträglich, doch überall in die Erde hineingemischt war Kot, von den Rudeln wilder Hunde oder, aus den Fenstern hinausgeschüttet, von Menschen. Tatsächlich öffneten sich, während sie gingen, gelegentlich Fensterläden und Eimer erschienen, aus denen alte Frauen den Haushaltsmist ins Freie leerten. Es roch weitaus schlimmer als in Venedig oder Florenz oder Paris. Sie musste von Zeit zu Zeit beinahe würgen und wünschte, sie hätte einen dieser kleinen Parfüm-Beutel, um ihn sich an die Nase zu halten. Zum Glück trug sie zumindest die praktischen Trainingsschuhe, die Aiden ihr in Versailles gegeben hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals mit Stöckeln über diese Straße zu gehen.

Und doch, in diese seltsame Mixtur aus Ackerland und Herrenhäusern hineingemischt gab es auch die gelegentliche architektonische Errungenschaft. Staunend sah Caitlin hier und da einige Gebäude, die sie sogar aus Bildern aus dem 21. Jahrhundert wiedererkannte, reich verzierte Kirchen und gelegentlich ein Schloss.

Die Straße endete abrupt in einem großen, gewölbten Torbogen, mehrere Wachen in Uniform davor postiert, wachsam mit Lanzen bewaffnet. Das Tor stand jedoch offen, und sie gingen hindurch.

Auf einem in Stein gravierten Schild stand „Whitehall Palace“, und sie gingen weiter durch seinen langen, schmalen Innenhof, dann durch einen weiteren Torbogen auf der anderen Seite wieder hinaus und zurück auf die Hauptstraße. Bald kamen sie an eine kreisrunde Kreuzung, die mit „Charing Cross“ beschildert war, mit einem großen senkrechten Denkmal in seiner Mitte. Die Straße gabelte sich nach links und rechts.

„Wie weiter?“, fragte sie.

Caleb schien genauso ratlos wie sie. Schließlich sagte er: „Mein Instinkt sagt mir, nahe am Fluss zu bleiben und nach rechts abzubiegen.“

Sie schloss die Augen und versuchte, es selbst zu spüren. „Ich stimme dir zu“, sagte sie, dann fügte sie hinzu: „Hast du irgendeine Ahnung, wonach genau wir suchen?“

Er schüttelte den Kopf. „Du weißt so viel wie ich.“

Sie blickte auf ihren Ring hinunter und las das Rätsel noch einmal laut vor.



Über die Brücke, hinter dem Bären

Der Wind zur Sonne, umgehen wir London.



Dabei klingelte gar nichts bei ihr, und bei Caleb klingelte es anscheinend auch nicht.

„Nun, es erwähnt London“, sagte sie, „also habe ich das Gefühl, dass wir auf der richtigen Spur sind. Mein Instinkt sagt mir, dass wir weitergehen müssen, tiefer in die Stadt hinein, und dass wir es wissen werden, wenn wir es sehen.“

Er stimmte zu, und sie nahm seine Hand, und sie bogen nach rechts ab, parallel zum Fluss weiterziehend, einem Schild folgend, auf dem „The Strande“ stand.

Während sie auf dieser neuen Straße ihren Weg fortsetzten, bemerkte sie, dass die Gegend zunehmend dichter besiedelt war, mit mehr Häusern, die enger aneinander standen, auf beiden Straßenseiten. Sie hatte das Gefühl, dass sie dem Stadtzentrum näher kamen. Auf den Straßen war auch mehr los. Das Wetter war perfekt—es schien ihr wie ein Tag im Frühherbst, und die Sonne schien beständig. Sie fragte sich kurz, welcher Monat es war. Es erstaunte sie, wie sehr sie ihr Zeitgefühl verloren hatte.

Zumindest war es nicht zu heiß. Doch als die Menschenmenge auf der Straße immer dichter wurde, fühlte sie sich langsam eingeengt. Sie kamen definitiv dem Zentrum einer riesigen Metropole näher, selbst wenn sie nicht die Ausgefeiltheit der modernen Zeit besaß. Sie war überrascht: sie hatte sich immer vorgestellt, dass die alten Zeiten weniger Menschen in sich hatten, weniger überfüllt waren. Doch wenn überhaupt, dann war das Gegenteil der Fall: als die Straßen immer voller wurden, konnte sie nicht glauben, wie dicht gedrängt es war. Es erinnerte sie an New York City im 21. Jahrhundert. Die Leute drängelten und rempelten und drehten sich nicht einmal um, um sich zu entschuldigen. Außerdem stanken sie.

Zum Straßenbild beitragend standen an jeder Ecke Straßenhändler, die aggressiv versuchten, ihre Waren unters Volk zu bringen. In alle Richtungen riefen die Leute mit eigenartigem britischem Akzent umher.

Und wo die Stimmen der Händler verhallten, dominierten andere die Luft: die der Prediger. Überall sah Caitlin provisorische Podeste, Bühnen, Seifenkisten, Kanzeln, auf denen Prediger standen und ihre Predigten an die Masse richteten, schreiend, um gehört zu werden.

„Jesus sagt BEREUET!“, schrie ein Pfarrer, der mit ulkigem Zylinderhut und strengem Blick dastand und seinen Blick über die Menge schweifen ließ. „Ich sage dass ALLE THEATER geschlossen werden müssen! Jeglicher Müßiggang muss VERBOTEN werden! Kehrt zurück in eure Gebetshäuser!“

Es erinnerte Caitlin an die Leute, die in New York City an den Straßenecken predigten. Auf manche Weise hatte sich nichts geändert.

Sie kamen an einen weiteren Torbogen mitten auf der Straße, mit einem Schild, auf dem „Temple Barre, City Gate“ stand. Caitlin war erstaunt, dass Städte wirklich Stadttore hatten. Das große, imposante Tor stand offen, damit die Leute direkt hindurch konnten, und Caitlin fragte sich, ob es bei Nacht geschlossen wurde. Auf beiden Seiten standen weitere Wachmänner.

Doch dieses Tor war anders: es schien ebenso ein Versammlungsort zu sein. Eine große Menschenmenge drängte sich darum, und hoch oben auf einer kleinen Plattform stand ein Wachmann mit einer Peitsche. Caitlin blickte hoch und sah erstaunt, dass ein Mann, in Ketten und kaum bekleidet, an einen Prügelpfahl gebunden war. Der Wachmann holte aus und peitschte ihn wieder und wieder, und die versammelte Menge machte ooh und aah bei dem Anblick.

Caitlin betrachtete die Gesichter in der Menge und konnte nicht glauben, wie gleichgültig sie schienen, als wäre dies eine normale, alltägliche Gegebenheit, als handelte es sich um eine beliebte Unterhaltungsform. Sie spürte Zorn in sich hochsteigen über die Barbarei dieser Gesellschaft, und sie stupste Caleb an. Auch er war von der Szene gefesselt, und sie nahm seine Hand und eilte mit ihm durch das Tor, und zwang sich, nicht hinzusehen. Sie fürchtete, dass, wenn sie zu lange verweilte, sie sich nicht davor zurückhalten konnte, die Wachen anzugreifen.

„Dieser Ort ist barbarisch“, sagte sie, als sie Abstand vor dem gräulichen Anblick gewonnen hatten und die Laute der Peitsche schwächer wurden.

„Furchtbar“, stimmte er zu.

Während sie weiterzogen, versuchte sie, die Bilder aus ihrem Kopf zu bannen. Sie zwang sich dazu, ihre Aufmerksamkeit anderswohin zu lenken. Sie blickte auf ein Straßenschild hoch und sah, dass der Name der Straße, auf der sie gingen, sich zu „Fleet Street“geändert hatte. Während sie unterwegs waren, wurden die Straßen nur noch belebter, dichter, und die Gebäude und zahlreichen Reihen von Holzhäusern standen noch enger aneinander. Diese Straße war auch von diversen Läden gesäumt. Auf einem Schild stand: „Rasur für einen Penny.“ Vor einem anderen Laden baumelte das Schild eines Schmiedes, und ein Hufeisen hing davor herunter. Auf einem weiteren Schild stand in großen Buchstaben „Pferdesattel“.

„Brauchen Sie ein neues Hufeisen, Miss?“, fragte ein Ladenbesitzer Caitlin im Vorbeigehen.

Sie war überrumpelt. „Ähm... nein danke“, sagte sie.

„Was ist mit Ihnen, Sir?“, bestand der Mann. „Brauchen Sie eine Rasur? Ich habe die saubersten Klingen in der Fleet Street.“

Caleb lächelte den Mann an. „Danke, aber ich brauche nichts.“

Caitlin sah Caleb an und bemerkte, wie frisch rasiert er aussah, zu jedem Zeitpunkt. Sein Gesicht war so glatt, dass es wie Porzellan aussah.

Während sie die Fleet Street weiter entlang zogen, konnte Caitlin nicht umhin, zu bemerken, dass die Menge sich änderte. Es wurde hier immer schäbiger, und manche Leute tranken öffentlich aus Flaschen und Krügen, taumelten herum, lachten zu laut, und gafften offen Frauen an.

„HIER GIBT’S GIN! HIER GIBT’S GIN!“, rief ein Junge aus, kaum älter als zehn, der eine Kiste trug, die mit kleinen grünen Gin-Fläschchen gefüllt war. „HOLT EUCH EURE FLASCHE! ZWEI HELLER! HOLT EUCH EURE FLASCHE!“

Caitlin wurde wieder herumgestoßen, als die Menge zunehmend dichter wurde. Sie blickte hinüber und sah eine Gruppe Frauen mit zu viel Schminke, in schwere Kleidung mit tonnenweise Stoff gehüllt, und mit tief heruntergezogenen Blusen, die den Großteil ihrer Brüste entblößten.

„Willst du etwas Spaß haben?“, schrie eine der Frauen aus, eindeutig betrunken, wackelig auf den Beinen. Sie trat an einen Passanten heran, der sie grob zur Seite stieß.

Caitlin war erstaunt darüber, wie derb dieser Stadtteil war. Sie spürte, wie Caleb instinktiv näher herankam, seine Hand um ihre Hüfte legte, und sie konnte seinen Beschützerinstinkt fühlen. Sie beschleunigten ihre Schritte und bewegten sich rasch durch die Menge, und Caitlin blickte nach unten, um sicherzustellen, dass Ruth immer noch an ihrer Seite war.

Die Straße endete bald an einer kleinen Fußgängerbrücke, und während sie sie überquerten, blickte Caitlin nach unten. Sie sah ein großes Schild, auf dem „Fleet Ditch“ stand, und der Anblick erstaunte sie. Unter ihnen war etwas, das wie ein kleiner Kanal aussah, vielleicht drei Meter breit, voll mit fließendem trübem Wasser. Mitten in diesem Wasser tauchten allerlei Müll und Abfall auf und ab. Als sie hochsah, sah sie Leute, die hinein pinkelten, und sah andere, die Töpfe voll Kot, Hühnerknochen, Hausmüll und alle Arten Dreck hineinwarfen. Es wirkte wie ein enormer, fließender Abwasserkanal, der den gesamten Abfall der Stadt flussabwärts trug.

Sie versuchte, zu sehen, wohin er führte, und sah, dass er weit in der Ferne in den Fluss mündete. Sie wandte sich vor dem Gestank ab. Es war wahrscheinlich das Schlimmste, was sie in ihrem Leben je gerochen hatte. Toxische Gase stiegen hoch und ließen den grässlichen Gestank der Straße im Vergleich dazu wie Rosenduft erscheinen.

Sie beeilten sich über die Brücke.

Als sie auf der anderen Seite der Fleet Street ankamen, stellte Caitlin erleichtert fest, dass die Straße endlich breiter wurde und ein bisschen weniger gedrängt. Auch der Gestank verflüchtigte sich. Und nach dem grässlichen Gestank von Fleet Ditch störte sie der normale Straßengeruch gar nicht mehr. Ihr wurde klar, dass die Leute glücklich unter diesen Bedingungen lebten: es ging einfach nur darum, was man gewohnt war, im Kontext der Zeit, in der man lebte.

Während sie weitergingen, wurde die Gegend netter. Sie passierten eine riesige Kirche zur Rechten, und in das Steingebäude waren in sauberen Buchstaben die Worte: „Saint Paul‘s“ gemeißelt. Es war eine riesige Kirche mit einer wunderschönen, reich verzierten Fassade, die sich hoch in den Himmel erhob und alle Gebäude rundum überragte. Caitlin bewunderte die wunderschöne Architektur, und dass ein solches Gebäude auch noch wunderbar ins 21. Jahrhundert passte. Es fühlte sich so fehl am Platz an, wie es über die kleinen hölzernen Bauten rundum ragte. Caitlin verstand langsam, wie sehr Kirchen die urbane Landschaft dieser Zeit dominierten, und wie wichtig sie dem Volk hier waren. Sie waren buchstäblich allgegenwärtig. Und ihre Glocken, so laut, läuteten immerzu.

Caitlin blieb davor stehen, betrachtete die uralte Architektur und musste sich fragen, ob darin vielleicht irgendeine Art Hinweis für sie zu finden war.

„Ob wir wohl hineingehen sollten?“, fragte Caleb, der ihre Gedanken las.

Sie studierte erneut die Inschrift ihres Rings.

Über die Brücke, hinter dem Bären.

„Da steht etwas von einer Brücke“, sagte sie nachdenklich.

„Wir haben gerade eine Brücke überquert“, antwortete Caleb.

Caitlin schüttelte den Kopf. Es fühlte sich nicht richtig an.

„Das war nur eine Fußgängerbrücke. Mein Instinkt sagt mir, das ist nicht der richtige Ort. Wo immer wir hin müssen, ich habe nicht das Gefühl, dass es hier ist.“

Caleb stand da und schloss die Augen. Schließlich öffnete er sie. „Ich spüre auch nichts. Gehen wir weiter.“

„Gehen wir näher zum Fluss“, sagte Caitlin. „Wenn es eine Brücke zu finden gibt, nehme ich an, dass sie am Fluss sein wird. Und ein wenig frische Luft würde mich nicht stören.“

Sie entdeckte eine Seitenstraße, die zum Flussufer führte, mit einem grob markierten Schild, auf dem „St. Andrews Hill“ stand. Sie nahm Calebs Hand und führte ihn dorthin.

Sie gingen die sich sanft windende Straße hinunter, und sie konnte den Fluss in der Ferne sehen, geschäftig mit Schiffsverkehr.

Dies muss die berühmte Themse von London sein, dachte sie. Es musste so sein. Zumindest so viel wusste sie noch von ihrem grundlegenden Geographie-Unterricht.

Die Straße endete vor einem Gebäude, anstatt sie ganz bis zum Fluss zu führen, also bogen sie nach links in eine Straße ein, die nahe am Fluss parallel dazu lief, nur fünfzehn Meter davon entfernt, mit dem passenden Namen „Thames Street“.

Die Thames Street war sogar noch vornehmer, eine andere Welt verglichen mit der Fleet Street. Die Häuser hier waren hübscher, und zu ihrer Rechten, am Flussufer entlang, standen weitere Herrenhäuser mit riesigen Grundstücken, die sanft zum Flussufer hin abfielen. Auch die Bauweise war hier aufwendiger und schöner. Eindeutig war dieser Stadtteil den Reichen vorbehalten.

Es fühlte sich an wie eine malerische Gegend, als sie zahlreiche gewundene Seitengässchen mit lustigen Namen wie „Windgoose Lane“ und „Old Swan Lane“ und „Garlick Hill“ und „Bread Street Hill“ passierten. Tatsächlich lag der Duft von Speisen überall in der Luft, und Caitlin spürte ihren Magen knurren. Auch Ruth winselte, und sie wusste, dass sie Hunger hatte. Doch sie sah nirgendwo einen Ort, der Essen verkaufte.

„Ich weiß, Ruth“, sagte Caitlin mitfühlend. „Ich werde uns bald etwas zu Essen finden, versprochen.“

Sie gingen weiter und weiter. Caitlin wusste nicht genau, wonach sie suchte, genauso wie Caleb. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass das Rätsel sie überall hin führen konnte, und sie hatten keine konkrete Spur. Sie kamen tiefer und tiefer in das Herz der Stadt hinein, und sie war immer noch nicht sicher, in welche Richtung sie gehen sollte.

Gerade als Caitlin sich langsam müde, hungrig und mürrisch fühlte, kamen sie an eine riesige Straßenkreuzung. Sie hielt an und blickte hoch. Ein grobes hölzernes Schild verkündete „Grace Church Street“. Ein schwerer Fischgeruch hing hier in der Luft.

Sie blieb entnervt stehen und drehte sich zu Caleb herum.

„Wir wissen nicht einmal, wonach wir suchen“, sagte sie. „Da steht etwas von einer Brücke. Doch ich habe noch nirgendwo auch nur eine Brücke gesehen. Verschwenden wir hier nur unsere Zeit? Sollten wir irgendwie anders an die Sache herangehen?“

Caleb tippte ihr plötzlich auf die Schulter und deutete.

Langsam drehte sie sich herum und war von dem Anblick schockiert.

Die Grace Church Street führte zu einer gewaltigen Brücke, eine der größten Brücken, die sie je gesehen hatte. Ihr Herz füllte sich mit neuer Hoffnung. Auf einem riesigen Schild darüber stand „London Bridge“, und ihr Herz schlug schneller. Diese Straße war breiter, eine Hauptverkehrsader, und Menschen, Pferde und Verkehr jeglicher Art strömte auf die Brücke hinauf und wieder herunter.

Wenn sie wirklich nach einer Brücke suchen sollten, dann hatten sie sie eindeutig gefunden.

*

Caleb nahm ihre Hand und führte sie auf die Brücke zu, sich in den Verkehr einordnend. Sie blickte hoch und war vom Anblick überwältigt. Sie war anders als jede Brücke, die sie je gesehen hatte. Ihr Eingang war gekennzeichnet durch ein riesiges, gewölbtes Tor, mit Wachen zu beiden Seiten. Auf ihrer Spitze waren mehrere Spieße angebracht, auf denen abgetrennte Köpfe steckten, Blut aus den Hälsen tropfend, auf der Brücke aufgespießt. Es war ein gräulicher Anblick, und Caitlin wandte sich ab.

„Ich erinnere mich an das hier“, seufzte Caleb. „Aus vergangenen Jahrhunderten. So haben sie immer ihre Brücken geschmückt: mit den Köpfen der Gefangenen. Sie tun es als Warnung an andere Verbrecher.“

„Es ist furchtbar“, sagte Caitlin, während sie ihren Kopf gesenkt hielt, und sie bestiegen rasch die Brücke.

Am Fuß der Brücke verkauften Buden und Händler Fisch, und als Caitlin hinüberblickte, sah sie Boote anlegen und Arbeiter, immer wieder abrutschend, Fische über die schlammigen Ufer tragen. Der Zugang zur Brücke stank nach Fisch, so stark, dass sie sich die Nase zuhalten musste. Fische jeder Art, manche noch zappelnd, lagen auf kleinen, behelfsmäßigen Tischchen aufgebreitet.

„Schnapper, drei Pence pro Pfund!“, rief jemand aus.

Caitlin eilte vorbei und versuchte, dem Gestank zu entkommen.

Als sie weitergingen, überraschte sie die Brücke erneut, als sie entdeckte, dass sie voller Läden war. Kleine Buden und Händler säumten die Brücke zu beiden Seiten, während Fußverkehr, Vieh, Pferde und Kutschen sich durch die Mitte drängten. Es war eine chaotische, überfüllte Szene, und Menschen riefen in alle Richtungen, um ihre Waren zu verkaufen.

„Gerberei hier!“, rief jemand aus.

„Wir häuten ihr Tier!“, rief ein anderer.

„Kerzenwachs hier! Feinstes Kerzenwachs!“

„Dachdecker!“

„Holt euch hier euer Feuerholz!“

„Frische Federkiele! Federn und Pergament!“

Als sie weiter vorankamen wurden die Läden feiner, manche verkauften sogar Schmuck. Caitlin musste an die goldene Brücke in Florenz denken, an ihre Zeit mit Blake, das Armband, das er für sie gekauft hatte.

Momentan von Emotionen übermannt trieb sie zur Seite ab, hielt sich am Geländer fest und blickte hinaus. Sie dachte an all die Leben, die sie bereits gelebt hatte, all die Orte, an denen sie gewesen war, und sie fühlte sich überwältigt. War all dies wirklich wahr? Wie konnte eine Person so viele Leben gelebt haben? Oder würde sie von all dem hier aufwachen, in ihrer Wohnung in New York City, und einfach denken, dass dies nur der längste, verrückteste Traum ihres Lebens gewesen war?

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Caleb, der sich zu ihr gesellte. „Was ist los?“

Rasch wischte Caitlin eine Träne weg. Sie kniff sich in den Arm und erkannte, dass sie nicht träumte. Es war alles real. Und das war das Schockierendste überhaupt.

„Nichts“, sagte sie rasch und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. Sie hoffte, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte.

Caleb stand neben ihr, und gemeinsam blickten sie mitten auf die Themse hinaus. Sie war ein breiter Fluss, völlig verstopft vom Schiffsverkehr. Segelschiffe jeder Größe navigierten ihren Weg hindurch, teilten die Gewässer mit Ruderbooten, Fischerbooten und jeder Art von Gefährt. Es war eine belebte Wasserstraße, und Caitlin staunte über die Größe all der unterschiedlichen Gefährte und Segel, manche davon dutzende Meter hoch in die Lüfte ragend. Sie wunderte sich, wie still das Wasser war, selbst mit so vielen Schiffen darauf. Es gab keinen Lärm von Motoren, keine Motorboote. Da war nur das Geräusch von Segeltuch, das im Wind flatterte. Es entspannte sie. Die Luft hier, mit der beständigen Brise, war auch frisch, endlich frei von Gerüchen.

Sie wandte sich Caleb zu und sie zogen gemeinsam weiter über die Brücke, Ruth an ihren Fersen. Ruth begann wieder zu winseln, und Caitlin konnte ihren Hunger spüren und wollte stehenbleiben. Doch wohin sie auch blickte, konnte sie immer noch keine Nahrung sehen. Sie selbst wurde immer hungriger.

Als sie die Mitte der Brücke erreicht hatten, war Caitlin erneut von dem Anblick vor ihr schockiert. Sie dachte nicht, dass es noch irgendetwas gab, das sie nach dem Anblick all der Köpfe auf den Spießen noch schockieren konnte—doch das hier tat es.

Mitten auf der Brücke standen drei Gefangene auf einem Gerüst, Schlingen um den Hals, mit verbundenen Augen, kaum bekleidet und noch am Leben. Ein Henker stand hinter ihnen, mit schwarzer Kapuze mit Schlitzen für seine Augen.

„Die nächste Hinrichtung findet um ein Uhr statt!“, schrie er aus. Eine dichte und wachsende Menge versammelte sich um das Gerüst, scheinbar wartend.

„Was haben sie angestellt?“, fragte Caitlin ein Mitglied der Menge.

„Sie wurden beim Stehlen erwischt, Miss“, sagte er und machte sich nicht einmal die Mühe, sie anzusehen.

„Einer wurde dabei erwischt, wie er die Königin verleumdete!“, fügte eine alte Dame hinzu.

Caleb führte sie weg von dem grausamen Anblick.

„Hinrichtungen anzuschauen scheint hier ein täglicher Zeitvertreib zu sein“, kommentierte Caleb.

„Es ist grausam“, sagte Caitlin. Sie wunderte sich darüber, wie anders diese Gesellschaft war verglichen mit der modernen Zeit, wie viel mehr sie Grausamkeit und Gewalt tolerierte. Und dies war London, einer der zivilisiertesten Orte von 1599. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie die Welt außerhalb einer zivilisierten Stadt wie dieser aussah. Es verblüffte sie, wie stark sich die Gesellschaft, und ihre Regeln, verändert hatten.

Endlich waren sie am anderen Ende der Brücke angelangt, und als sie an ihrem Fuß standen, auf der anderen Seite, wandte Caitlin sich an Caleb. Sie blickte auf ihren Ring und las erneut vor:



Über die Brücke, hinter dem Bären

Der Wind zur Sonne, umgehen wir London.



„Nun, wenn wir dem hier richtig gefolgt sind, sind wir jetzt ‚über der Brücke‘. Als Nächstes käme dann ‚hinter dem Bären‘“. Caitlin sah ihn an. „Was könnte das heißen?“

„Ich wünschte, das wüsste ich“, sagte er.

„Es fühlt sich an, als wäre mein Vater nahe“, sagte Caitlin.

Sie schloss die Augen und wünschte sich, dass ein Hinweis auftauchen würde.

Genau in dem Moment eilte ein Junge mit einem riesigen Packen Flugzettel an ihnen vorbei und rief: „BÄRENHETZE! Fünf Pence! Hier entlang! BÄRENHETZE! Fünf Pence! Hier entlang!“

Er streckte die Hand aus und schob Caitlin ein Flugblatt in die Hand. Sie blickte hinunter und sah in großen Buchstaben das Wort „Bärenhetze“ mit einem groben Bild von einem Stadion.

Sie sah Caleb an, und er blickte im gleichen Moment zu ihr. Sie beide sahen dem Jungen nach, wie er die Straße hinunter verschwand.

„Bärenhetze?“, fragte Caitlin. „Was ist das?“

„Jetzt erinnere ich mich“, sagte Caleb. „Es war der große Sport zu dieser Zeit. Sie stecken einen Bären in eine runde Arena und binden ihn an einen Pfahl, und hetzten ihn mit wilden Hunden. Sie wetten darauf, wer gewinnt: der Bär oder die Hunde.“

„Das ist krank“, sagte Caitlin.

„Das Rätsel“, sagte er. „ ‚Über die Brücke und hinter dem Bären. Meinst du, das könnte es sein?“

Wie eine Einheit drehten sie sich beide herum und folgten dem Jungen, der inzwischen weit weg war und immer noch rief.

Sie bogen von der Brücke aus rechts ab und gingen den Fluss entlang, nun auf der anderen Seite der Themse, eine Straße namens „Clink Street“ entlang. Diese Seite des Flusses, fiel Caitlin auf, unterschied sich sehr stark von der anderen. Sie war weniger bebaut, weniger bevölkert. Die Häuser hier standen auch niedriger, grober, diese Seite des Flusses wirkte verwahrloster. Es gab gewiss weniger Läden und weniger dichte Mengen.

Bald erreichten sie ein riesiges Bauwerk, und Caitlin konnte an den Gittern vor den Fenstern und den Wachen davor erkennen, dass es ein Gefängnis war.

Clink Street, dachte Caitlin. Knaststraße. Ein treffender Name.

Es war ein riesiges, weitläufiges Gebäude, und als sie vorbeikamen, sah Caitlin Hände und Gesichter zwischen den Gitterstäben hervortreten, sie beobachten, während sie vorbeizog. Hunderte Gefangene waren hineingepfercht, gafften zu ihr hinaus, riefen ihr derb zu, während sie vorbeizogen.

Ruth knurrte zurück, und Caleb kam näher.

Sie gingen weiter und passierten eine Straße mit einem Schild, auf dem „Dead Man‘s Place“ stand, der Platz des toten Mannes. Sie blickte nach rechts und sah ein weiteres Gerüst, mit einer weiteren Hinrichtung, die gerade vorbereitet wurde. Ein Gefangener stand zitternd auf einer Plattform, mit verbundenen Augen, eine Schlinge um den Hals.

Caitlin war so abgelenkt, dass sie beinahe den Jungen aus den Augen verlor, als sie spürte, wie Caleb ihre Hand packte und sie weiter die Clink Street hinunterführte.

Als sie weiterzogen, hörte Caitlin plötzlich ein fernes Rufen und dann ein Brüllen. Sie sah den Jungen in der Ferne um eine Ecke biegen und hörte einen weiteren Ruf aufsteigen. Dann spürte sie überrascht die Erde unter sich beben. Sie hatte so etwas seit dem römischen Kolosseum nicht mehr gespürt. Sie erkannte, dass es um die Ecke irgendeine Art riesiges Stadion geben musste.

Als sie um die Ecke bogen, war sie von dem Anblick vor sich beeindruckt. Es war ein riesiges, kreisrundes Bauwerk, das wie eine Miniatur-Ausgabe des Kolosseum wirkte. Es war mehrere Stockwerke hoch gebaut und vor Einblicken geschützt, doch in alle Richtungen gab es gewölbte Tore, die hineinführten. Sie konnte die Rufe nun lauter hören—sie kamen hörbar von hinter diesen Mauern.

Vor dem Bauwerk tummelten sich hunderte Leute, einige der heruntergekommensten Gestalten, die ihr je unter die Augen gekommen waren. Manche waren kaum bekleidet, vielen hingen riesige Bäuche heraus, sie waren unrasiert und ungewaschen. Wilde Hunde streunten unter ihnen herum, und Ruth knurrte mit gesträubtem Fell, sichtlich nervös.

Händler schoben Karren durch den Schlamm; viele von ihnen verkauften krugweise Gin. Dem Anschein der Menge nach zu schließen, machten sie damit gutes Geschäft. Die Zuschauer rempelten grob gegeneinander, und die meisten von ihnen sahen betrunken aus. Ein weiteres Brüllen stieg auf, und Caitlin blickte hoch und sah das Schild, das über den Stadion hing: „Bärenhetze.“

Ihr wurde schlecht. War diese Gesellschaft wirklich so grausam?

Das kleine Stadion schien Teil einer Anlage zu sein. In der Ferne stand ein weiteres kleines Stadion, mit einem riesigen Schild, auf dem „Stierhetze“ stand. Und seitlich davon, etwas von den anderen beiden abgelegen, stand ein anderes große rundes Bauwerk—wobei dieses sich von den anderen beiden unterschied, stilvoller wirkte.

„Kommt und seht das neue Will Shakespeare-Stück im brandneuen Globe Theatre!“, rief ein vorbeilaufender Junge aus, der einen Stapel Flugblätter trug. Er kam direkt auf Caitlin zu und schob ihr ein Flugblatt in die Hand. Sie blickte hinunter, und auf ihm stand: „Das neue Stück von William Shakespeare: Die Tragödie von Romeo und Julia.“

„Werden Sie hinkommen, Miss?“, fragte der Junge. „Es ist ein neues Stück, und es wird erstmals in diesem brandneuen Theater uraufgeführt: dem Globe.“

Caitlin blickte auf das Flugblatt hinunter und verspürte einen Rausch von Aufregung. Konnte es wirklich wahr sein? Geschah dies wirklich?

„Wo ist es?“, fragte sie.

Der Junge prustete. Er drehte sich herum und deutete. „Na da drüben, Miss.“

Caitlin sah seiner Hand nach und sah ein rundes Bauwerk in der Ferne, mit weißem Stuck an den Mauern und Holzrahmen im Tudor-Stil. Das Globe. Shakespeares Globe. Es war unglaublich. Sie war tatsächlich hier.

Davor tummelten sich tausende Menschen, strömten von allen Richtungen hinein. Und die Menge sah genauso derb aus wie die Menge, die zum Stier- und Bärenhetzen ging. Das überraschte sie. Sie hatte sich das Publikum von Shakespeare-Theater zivilisierter vorgestellt, kultivierter. Sie hatte es nie als Massenunterhaltung betrachtet—noch dazu für die ruppigste aller Massen. Es schien nicht viel anders zu sein als die Bärenhetze.

Ja, sie würde liebend gerne ein neues Shakespeare-Stück sehen, liebend gerne das Globe besuchen. Doch sie fühlte sich fest entschlossen, zuerst ihre Mission zu erfüllen, das Rätsel zu lösen.

Ein neues Brüllen kam aus dem Bärenhetze-Stadion hervor, und sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder darauf. Sie fragte sich, ob die Antwort auf das Rätsel genau hinter seinen Mauern lag.

Sie wandte sich an Caleb.

„Was denkst du?“, fragte sie. „Sollen wir es uns einmal ansehen?“

Caleb wirkte zögerlich.

„Das Rätsel erwähnte eine Brücke“, sagte er, „und einen Bären. Aber meine Sinne sagen mir etwas anderes. Ich bin nicht ganz sicher —“

Plötzlich knurrte Ruth und sprintete dann davon.

„Ruth!“, rief Caitlin.

Sie war weg. Sie drehte sich nicht einmal um, um zu gehorchen, und sie rannte so schnell sie konnte.

Caitlin war schockiert. Sie hatte dieses Benehmen noch nie an ihr gesehen, selbst in Zeiten äußerster Gefahr. Was konnte sie nur so angezogen haben? Sie hatte noch nie erlebt, dass Ruth nicht gehorchte.

Caitlin und Caleb fingen gleichzeitig an, ihr nachzulaufen.

Doch selbst mit Vampirgeschwindigkeit kamen sie durch den Schlamm langsam voran, und Ruth war viel schneller als sie. Sie sahen zu, wie sie sich durch die Menge bahnte, während sie sich durchrempeln mussten, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Caitlin konnte sehen, wie Ruth in der Ferne um eine Ecke bog und in eine enge Gasse rannte. Sie wurde schneller, wie auch Caleb, schob dabei einen großen Mann aus dem Weg und bog hinter Ruth in die Gasse ein.

Was um alles in der Welt konnte sie wollen?, fragte sich Caitlin. Sie fragte sich, ob es ein streunender Hund war, oder ob sie vielleicht einfach nur einen Punkt erreicht hatte, wo der Hunger zu groß war und sie Nahrung nachjagte. Sie war immerhin ein Wolf. Caitlin durfte das nicht vergessen. Sie hätte stärker nach Nahrung für sie suchen sollen, und früher.

Doch als Caitlin um die Ecke bog und die Gasse hinunterblickte, wurde ihr mit einem Schreck klar, was los war.

Am Ende der Gasse saß ein kleines Mädchen, vielleicht acht, im Staub, kauerte, weinte, zitterte. Über ihr türmte sich ein großer, bulliger Mann auf, ohne Hemd, sein riesiger Bauch hervorhängend, unrasiert, mit stark behaarter Brust und Schultern. Er blickte grimmig drein, Zahnlücken waren zu sehen, und er holte mit einem Ledergürtel aus und schnalzte ihn dem armen Mädchen auf den Rücken, wieder und wieder.

„Das kommt davon, wenn du nicht gehorchst!“, schrie der Mann mit boshaftem Ton, während er den Gürtel erneut hob.

Caitlin war entsetzt, und ohne nachzudenken machte sie sich bereit, in Aktion zu treten.

Aber Ruth kam ihr zuvor. Ruth hatte einen Vorsprung, und als der Mann seinen Arm hob, rannte Ruth vor und sprang in die Luft, mit weit geöffnetem Maul.

Sie schnappte nach dem Unterarm des Mannes und versenkte ihre Zähne vollständig darin. Blut spritzte überall hin, und der Mann kreischte fürchterlich.

Ruth war fuchsteufelswild und ließ sich nicht besänftigen. Sie fauchte und schüttelte ihren Kopf hin und her, riss weiter am Fleisch des Mannes, und ließ nicht locker.

Der Mann schwang Ruth hin und her, was er nur konnte, weil er so groß war und sie noch kein ausgewachsener Wolf. Sie fauchte, und das Geräusch war furchteinflößend genug, dass sich sogar Caitlins Nackenhaare aufstellten.

Doch dieser Mann war sichtlich an Gewalt gewöhnt, und er schwang seine große, bullige Schulter herum und schaffte es, Ruth gegen eine Ziegelmauer zu schmettern. Dann fuhr er mit seiner anderen Hand herum und zog ihr kräftig seinen Gürtel über den Rücken.

Ruth kreischte und winselte. Sie ließ endlich los und ging zu Boden.

Der Mann, mit hasserfüllten Augen, holte mit beiden Händen aus, bereit, Ruth den Gürtel mit aller Kraft ins Gesicht zu schlagen.

Caitlin sprang in Aktion. Bevor der Mann treffen konnte, stürzte sie sich vor und packte ihn mit ihrer rechten Hand an der Kehle. Sie trieb ihn am Hals rückwärts, hob ihn vom Boden hoch, über ihren Kopf hinweg, bis sie ihn in eine Mauer schmetterte und um ihn herum Ziegel zertrümmerte.

Sie ließ ihn vor sich baumeln, bis sein Gesicht blau anlief und er fast erstickte. Sie war viel kleiner als er, doch er hatte keine Chance gegen ihren eisernen Griff.

Schließlich ließ sie ihn fallen. Er fasste nach seinem Gürtel und Caitlin holte aus und trat ihm kräftig ins Gesicht, was ihm die Nase brach.

Dann holte sie aus und trat ihm in die Brust, und der Tritt war so kräftig, dass er mehrere Meter weit rückwärts flog. Er schlug mit solcher Kraft gegen die Mauer, dass er einen Eindruck in den Ziegeln hinterließ, und endlich sank er zu Boden, ein Haufen Elend.

Doch Caitlin konnte immer noch die Rage durch ihre Adern rasen fühlen. Sie dachte an das unschuldige Mädchen, an Ruth, und sie wusste nicht, wann sie zuletzt solche Rage verspürt hatte. Sie konnte sich nicht zurückhalten. Sie ging auf ihm zu, riss ihm den Gürtel aus der Hand, holte aus und schnalzte ihn kräftig direkt auf seinen riesigen Bauch.

Er fuhr hoch und hielt sich den Bauch.

Als er sich aufsetzte, trat sie ihm kräftig ins Gesicht. Sie traf sein Kinn und er flog heftig nach hinten und krachte mit dem Hinterkopf gegen den Boden. Endlich war er bewusstlos.

Aber Caitlin war noch immer nicht zufrieden. Die Rage in ihr war dieser Tage schwer hervorzurufen, doch wenn sie da war, konnte sie sie nicht abdrehen.

Sie trat vor, stellte ihm einen Fuß auf die Kehle und war kurz davor, diesen Mann auf der Stelle umzubringen.

„Caitlin!“, ertönte eine scharfe Stimme.

Sie drehte sich herum, immer noch vor Rage pulsierend, und sah Caleb neben sich stehen. Er schüttelte langsam den Kopf, mit rügendem Blick.

„Du hast genug Schaden angerichtet. Lass ihn gehen.“

Etwas in Calebs Stimme drang zu ihr durch.

Widerwillig hob sie ihren Fuß.

In der Ferne erblickte sie eine riesige Wanne, die mit Exkrementen gefüllt war. Sie konnte die dickflüssige, dunkle Flüssigkeit sehen, die über ihren Rand trat, und konnte den Gestank von hier aus riechen.

Perfekt.

Sie packte den Mann, hob ihn über ihren Kopf, obwohl er bestimmt über 300 Pfund wog, und trug ihn über die Gasse. Sie warf ihn Kopf voran in die Abwassertonne.

Er landete platschend. Sie sah, wie er bis zum Hals in Exkrementen steckte. Ihr gefiel der Gedanke daran, wie er aufwachen würde und ihm klar werden würde, wo er war, und endlich war sie zufrieden.

Gut so, dachte sie. Da gehörst du hin.

Caitlin dachte sofort an Ruth. Sie rannte zu ihr und untersuchte den Gürtelabdruck auf ihrem Rücken; sie kauerte und kam langsam wieder auf die Beine. Caleb kam auch herüber, untersuchte sie, und Ruth legte ihren Kopf in Caitlins Schoß und winselte. Caitlin gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Ruth schüttelte sie plötzlich ab und schoss über die Gasse zu dem Mädchen.

Caitlin wirbelte herum und erinnerte sich plötzlich an sie. Auch sie eilte zu ihr.

Ruth rannte auf das Mädchen zu und leckte ihr das Gesicht. Das Mädchen, das hysterisch weinte, hörte langsam auf, abgelenkt von Ruths Zunge. Sie saß im Dreck, in ihrem schmutzigen Kleid, ihr Rücken von Gürtelstriemen bedeckt, Blut daraus hervorquellend, und sie blickte überrascht zu Ruth hoch.

Ihre nassen Augen öffneten sich weit, als Ruth ohne Pause weiter leckte. Endlich streckte sie langsam, zögerlich, die Hand aus und streichelte Ruth. Dann streckte sie die Arme aus und umarmte sie. Ruth erwiderte das und kam näher.

Es war erstaunlich, dachte Caitlin. Ruth hatte dieses Mädchen viele Blocks entfernt aufgespürt. Es war, als kannten sich die beiden schon ewig.

Caitlin kam herüber, kniete neben dem Mädchen hin, streckte eine Hand aus und half ihr, sich aufzusetzen.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Caitlin.

Das Mädchen blickte sie schockiert an, dann Caleb. Sie zwinkerte ein paar Mal, als würde sie sich wundern, wer diese Leute sein konnten.

Endlich nickte sie langsam. Ihre Augen waren weit offen, und sie sah aus, als hätte sie zu viel Angst, um zu sprechen.

Caitlin wischte ihr sanft das verfilzte Haar aus dem Gesicht. „Alles ist gut“, sagte Caitlin. „Er wird dir nicht mehr wehtun.“

Das Mädchen sah aus, als würde sie gleich wieder zu weinen beginnen.

„Ich bin Caitlin“, sagte sie. „Und das ist Caleb.“

Das Mädchen blickte sie immer noch schweigend an.

„Wie heißt du?“, fragte Caitlin.

Nach einigen Sekunden antwortete das Mädchen endlich: „Scarlet.“

Caitlin lächelte. „Scarlet“, wiederholte sie. „Was für ein hübscher Name. Wo sind deine Eltern?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Eltern. Er passt auf mich auf. Ich hasse ihn. Er schlägt mich jeden Tag. Ohne Grund. Ich hasse ihn. Bitte schickt mich nicht zu ihm zurück. Ich habe sonst niemanden.“

Caitlin drehte sich zu Caleb um und sah, wie er sie ansah, und sie beide hatten den gleichen Gedanken zur gleichen Zeit.

„Du bist jetzt in Sicherheit“, sagte Caitlin. „Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Du kannst mit uns kommen.“

Scarlets Augen weiteten sich überrascht und erfreut, und sie fing fast zu lächeln an.

„Wirklich?“, fragte sie.

Caitlin lächelte zurück, streckte die Hand aus, und Scarlet nahm sie und ließ sich auf die Beine helfen. Sie sah die Wunden auf ihrem Rücken, aus denen immer noch Blut hervorquoll, und von irgendwo tief drin fühlte Caitlin plötzlich eine Kraft über sich kommen. Sie dachte daran, was Aiden ihr beigebracht hatte, von der Kraft, mit dem Universum eins zu sein, und tief drin fühlte sie plötzlich eine Kraft aufkommen, die sie noch nie verspürt hatte. Sie hatte die Kraft der Rage immer gefühlt, doch noch nie eine Kraft dieser Art. Das hier war anders, eine neue Kraft, die von ihren Füßen aufwärts in die Beine kribbelte, durch den Oberkörper, durch die Arme, in ihre Fingerspitzen.

Es war die Kraft, zu heilen.

Caitlin schloss die Augen und legte sanft ihre Hände auf Scarlets Rücken, wo die Wunden waren. Sie atmete tief und rief die Kräfte des Universums, rief die gesamte Ausbildung hervor, die Aiden ihr gegeben hatte, und konzentrierte sich darauf, weißes Licht auf das Mädchen zu schicken. Sie fühlte ihre Hände sehr heiß werden, und spürte eine unglaubliche Energie durch sie fließen.

Caitlin war nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war, als sie ihre Augen langsam wieder öffnete. Sie blickte hoch und sah, wie Scarlet sie mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen anstarrte. Auch Caleb starrte sie an, ebenso erstaunt.

Caitlin blickte hinunter und sah, dass Scarlets Wunden vollständig verheilt waren.

„Bist du eine Zauberin?“, fragte Scarlet.

Caitlin lächelte breit. „So etwas in der Art.“




KAPITEL SECHS


Sam flog über die britische Landschaft, mit Polly an seiner Seite, die jedoch ihre Distanz wahrte. Ihre Flügel waren ausgestreckt, doch sie waren nicht nahe genug, um einander zu berühren, da sie beide ihren Freiraum vom Anderen wollten. Sam hatte es so lieber, und er nahm an, dass es für sie genauso war. Er mochte Polly, wirklich. Doch nach seinem Debakel mit Kendra war er noch eine sehr lange Zeit lang nicht bereit, irgendwem vom anderen Geschlecht näher zu kommen. Es würde eine Weile dauern, bevor er wieder jemandem vertrauen konnte. Selbst jemandem, der seiner Schwester so nahe stand, wie es bei Polly der Fall zu sein schien.

Sie flogen schon seit Stunden, und als Sam im Morgenlicht nach unten blickte, sah er endlos weites Ackerland mit gelegentlichen kleinen Häuschen, von deren Schornsteinen Rauch aufstieg, selbst an diesem wunderschönen Herbsttag. Er sah gelegentlich eine Person in ihrem Hof, die Wäsche aufhing, Tücher auf Leinen klemmend. Es waren jedoch nicht viele Häuser. Diese Landschaft schien so gänzlich ländlich, dass er sich langsam fragte, ob Städte in dieser Zeit überhaupt schon existieren—wo immer und wann immer sie auch gerade waren.

Sam hatte keine Ahnung, wohin sie sollten, und Polly war keine große Hilfe gewesen. Sie beide hatten ihre scharfen Vampirsinne genutzt, um nachzuspüren, ihre enge Verbindung mit Caitlin genutzt, um aufzuspüren, wo sie sein konnte. Sie beide hatten die Intuition gehabt, dass sie in diese generelle Richtung mussten, und sie flogen schon seit Stunden. Doch seitdem hatte es keine weiteren Hinweise oder direkte Spuren mehr gegeben. Sams Instinkt sagte ihm, dass Caitlin in einer großen Stadt war. Doch ihnen war schon seit hunderten Meilen noch nichts begegnet, das auch nur annähernd wie eine Stadt aussah.

Gerade, als Sam sich langsam fragte, ob sie die richtige Richtung gewählt hatten, schlugen sie einen Bogen, und er war schockiert darüber, was sich da in der Ferne entfaltete. Da am Horizont lag eine ausladende Stadt. Er konnte nicht erkennen, welche Stadt es war, und er war sich nicht sicher, ob er es selbst aus der Nähe sagen konnte. Seine Geographie-Kenntnisse waren ziemlich schwach, und Geschichte noch schwächer. Es war das Ergebnis von zu vielen Umzügen, den falschen Freunden, in der Schule nicht aufgepasst zu haben. Er hatte stets 3en und 4en geschrieben, obwohl er wusste, dass er das Potential zu Einsen hatte. Doch so, wie er aufgewachsen war, war es einfach zu schwer für ihn gewesen, einen Grund zu finden, sich zu bemühen. Jetzt bereut er es.

„Es ist London!“, rief Polly aus, entzückt und überrascht. „Oh mein Gott! London! Ich glaub es nicht. Wir sind hier! Wir sind wirklich hier! Was für ein toller Ort für eine Reise!“, schrie sie aufgeregt.

Gott sei Dank gibt es Polly, dachte Sam und fühlte sich dämlicher als je zuvor. Er erkannte, dass er von ihr viel lernen konnte.

Als sie näherkamen und die ersten Gebäude zu sehen waren, bewunderte er die Architektur. Selbst aus dieser großen Entfernung konnte er die Kirchtürme in die Lüfte ragen sehen, die die Stadt wie ein Feld von Lanzen durchstießen. Als sie noch näher kamen, sah er, wie beeindruckend und prächtig all die Kirchen waren—und war überrascht, dass sie jetzt schon uralt aussahen. Neben ihnen erschienen all die anderen Bauten unbedeutend klein.

Während er begann, alles in sich aufzunehmen, spürte er deutlich, dass Caitlin hier war. Und der Gedanke daran machte ihn ganz aufgeregt und gespannt.

„Caitlin ist da unten!“, rief er aus. „Ich kann es fühlen.“

Polly lächelte zurück. „Ich auch!“, rief sie.

Zum ersten Mal seit seiner Landung an diesem Ort und in dieser Zeit fühlte Sam sich endlich angekommen, hatte ein starkes Gefühl, seinen Weg und Zweck zu kennen. Endlich hatte er das Gefühl, er war auf der richtigen Spur.

Er versuchte, zu spüren, ob sie irgendwie in Gefahr war. So sehr er es auch versuchte, kam da nichts. Er dachte an das letzte Mal, dass er sie gesehen hatte, in Paris, kurz bevor sie aus der Notre Dame geflohen war. Sie war mit diesem Typen zusammengewesen—Caleb—und er fragte sich, ob sie noch zusammen waren. Er hatte Caleb erst ein oder zwei Mal getroffen, doch er mochte ihn sehr. Er hoffte, dass Caitlin bei ihm war, und dass er auf sie aufpasste. Er hatte ein gutes Gefühl dabei, dass die beiden zusammen waren.

Polly tauchte plötzlich ab, ohne Vorwarnung näher an die Dächer heran. Entweder war ihr egal, ob Sam nachkam, oder sie nahm einfach an, dass er es tun würde. Es ärgerte Sam. Er wünschte, sie hätte ihm eine Vorwarnung gegeben oder sich zumindest genug um ihn geschert, um ihm ein Zeichen zu geben, dass sie abtauchen würde. Und doch spürte ein Teil von ihm, dass sie sich um ihn scherte. Spielte sie nur die Unerreichbare?

Und warum war ihm das nicht sowieso egal? Hatte er sich nicht gerade selber erklärt, dass er derzeit nicht an Mädchen interessiert war?

Sam tauchte auf ihre Höhe ab, und sie flogen nur wenige Meter über der Stadt. Doch er flog auch absichtlich etwas nach links weg, damit sie noch weiter voneinander entfernt flogen. Das hast du davon, dachte Sam.

Als sie dem Stadtzentrum näherkamen, war Sam von den Socken. Diese Zeit und dieser Ort waren so anders als alles, was er je gesehen oder erlebt hatte. Er war so nahe an den Dächern, dass es sich fast anfühlte, dass er nur die Hand ausstrecken musste, um sie zu berühren. Der Großteil der Gebäude war niedrig, nur ein paar Etagen hoch, und mit schrägen Dächern gebaut, die mit riesigen Ballen von etwas gedeckt waren, das wie Heu oder Stroh aussah. Die meisten Gebäude waren strahlend weiß gestrichen, mit braunen Linien als Rahmen. Die Kirchen—riesig, aus Marmor und Kalkstein—erhoben sich aus der Landschaft, dominierten ganze Blocks, und hier und da lagen ein paar andere Bauten, die wie Schlösser aussahen. Wahrscheinlich, vermutete er, Residenzen für königliche Personen.

Die Stadt war durch einen breiten Fluss in zwei Teile geteilt, über den sie nun flogen. Der Fluss war geschäftig mit Schiffsverkehr—Schiffe in allen Formen und Größen—und als er auf die Straßen blickte, sah er, dass auch diese geschäftig waren. In Wahrheit konnte er nicht glauben, wie vollgepackt sie waren. Überall waren Leute, die hin und her eilten. Er konnte sich nicht vorstellen, wofür sie sich überhaupt so beeilen mussten. Es war ja nicht so, dass sie Internet hatten, oder E-Mails, oder Faxe, oder gar Telefone.





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In VERMÄHLT (Band #6 der Weg der Vampire) finden sich Caitlin und Caleb einmal mehr in der Vergangenheit wieder – diesmal im London von 1599. London im Jahr 1599 ist ein wilder Ort voller Paradoxien: während es einerseits eine extrem aufgeklärte, niveauvolle Zeit ist, die Schriftsteller wie Shakespeare hervorbrachte, ist es andererseits auch barbarisch und grausam, mit täglichen öffentlichen Exekutionen, Folter und den aufgespießten Köpfen von Gefangenen. Es ist auch die Zeit von Aberglauben und großer öffentlicher Gefahr, mit mangelnder Kanalisation und der Beulenpest, die sich von Ratten verbreitet durch die Straßen zieht. In dieser Umgebung landen Caitlin und Caleb auf der Suche nach ihrem Vater, nach dem dritten Schlüssel, nach dem mythischen Schild, das die Menschheit retten kann. Ihre Mission führt sie durch einen Wirbelwind von Londons erstaunlicher mittelalterlicher Architektur, durch die atemberaubensten Burgen in der britischen Landschaft. Sie führt sie zurück in das Herz Londons, wo ihnen glatt Shakespeare selbst begegnen könnte, der ihnen eines seiner Stücke live zeigt. Sie führt sie zu einem kleinen Mädchen, Scarlet, die vielleicht sogar ihre Tochter werden könnte. Und in der Zwischenzeit vertieft sich Caitlins Liebe zu Caleb, da sie endlich zusammen sind – und da Caleb nun vielleicht endlich den perfekten Zeitpunkt, und Ort, findet, um ihr einen Antrag zu machen. Auch Sam und Polly sind zurückgereist, und während sie sich auf ihrer eigenen Reise wiederfinden, vertieft sich ihre Beziehung, als sie trotz allem nicht anders können, als tiefer füreinander zu empfinden.

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