Книга - Nichts Als Töten

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Nichts Als Töten
Blake Pierce


Ein Adele Sharp Mystery #4
“EIN MEISTERWERK DES THRILLER UND KRIMI-GENRES. Blake Pierce gelingt es hervorragend, Charaktere mit so gut beschriebenen psychologischen Facetten zu entwickeln, dass wir das Gefühl haben, in ihren Gedanken zu sein, ihre Ängste zu spüren und ihre Erfolge zu bejubeln. Dieses Buch voller Wendungen wird Sie bis zur letzten Seite wachhalten.“. –Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (über So Gut Wie Vorüber). NICHTS ALS TÖTEN ist das vierte Buch einer neuen FBI Thrillerserie des USA Today Bestsellerautors Blake Price, dessen Nummer 1 Bestseller Verschwunden (Buch 1) (kostenloser Download) über 1.000 Fünfsternebewertungen erhalten hat… Eine junge Frau wird auf einer Landstraße in Deutschland auf der Flucht vor ihrem Angreifer wie betäubt aufgefunden. Da sie sprechen und sich erinnern kann, besteht vielleicht auch die Möglichkeit die Behörden zu seinem Versteck führen – und die anderen Frauen zu retten, bevor es zu spät ist… Als der Fall sich international auszubreiten beginnt und Dutzende von Opfern aus vielen verschiedenen Ländern stammen, erkennen die Behörden schnell, dass es nur einen Weg zur Lösung dieses Problems gibt: die Einschaltung der FBI-Spezialagentin Adele Sharp, die dreifache Staatsbürgerschaft der USA, Frankreichs und Deutschlands hat… Aber selbst mit Adeles brillantem Verstand könnte dieser Fall, der Erinnerungen weckt, die ihr viel zu nahe gehen, für sie eine echte Herausforderung sein… Kann Adele die anderen Frauen retten, bevor es zu spät ist?. Kann sie sich selbst retten?. Eine actiongeladene Krimiserie voller internationaler Intrigen und fesselnder Spannung: NICHTS ALS TÖTEN lässt Sie bis spät in die Nacht blättern… Buch 5 der Reihe – NICHTS ALS MORD – ist jetzt ebenfalls erhältlich..





Blake Pierce

NICHTS ALS TÖTEN




NICHTS




ALS




TÖTEN




(Ein Adele Sharp Mystery – Buch 4)




B L A K E    P I E R C E



Blake Pierce

Blake Pierce ist die Autorin der RILEY-PAGE-Bestsellerreihe, die siebzehn Krimis um die FBI-Spezialagentin umfasst. Aus ihrer Feder stammt außerdem die vierzehnbändige MACKENZIE-WHITE- Krimiserie. Darüber hinaus sind von ihr die Krimis um AVERY BLACK (sechs Bände), KERI LOCKE (fünf Bände), die Krimiserie das MAKING OF RILEY PAIGE (sechs Bände), die KATE-WISE- Krimiserie (sieben Bände), die Psychothriller um JESSIE HUNT (vierzehn Bände), die Psychothriller-Trilogie AU PAIR, die ZOE-PRIME-Krimiserie (bislang fünf Bände), die neue Krimireihe um ADELE SHARP und die Cosy-Krimi-Reihe LONDON ROSES EUROPAREISE, deren erster Band hier vorliegt, erschienen.



Als begeisterte Leserin und lebenslanger Fan des Krimi- und Thriller-Genres freut sich Blake immer, von ihren Leserinnen und Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.








Copyright © 2020 by Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jacket image Copyright CloudyStock, verwendet unter der Lizenz von Shutterstock.com.



BÜCHER VON BLAKE PIERCE




LONDON ROSES EUROPAREISE

MORD (UND BAKLAVA) (Band #1)


ADELE SHARP MYSTERY-SERIE

NICHTS ALS STERBEN (Band #1)

NICHTS ALS RENNEN (Band #2)

NICHTS ALS VERSTECKEN (Band #3)

NICHTS ALS TÖTEN (Band #4)


DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORÜBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)


ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)

GESICHT DES WAHNSINNS (Band #4)

GESICHT DES ZORNS (Band #5)


JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LÄCHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LÜGE (Band #5)

DER PERFEKTE LOOK (Band #6)

DIE PERFEKTE AFFÄRE (Band #7)

DAS PERFEKTE ALIBI (Band #8)

DIE PERFEKTE NACHBARIN (Band #9)


CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LÜGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)

HEIMKEHR (Band #5)

GETÖNTE FENSTER (Band #6)


KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WÜSSTE (Band #1)

WENN SIE SÄHE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WÜRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (Band #5)

WENN SIE FÜRCHTETE (Band #6)

WENN SIE HÖRTE (Band #7)


DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TÖTET (Band #6)


RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ÜBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)

AUSERWÄHLT (Band #17)


EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE


EINST GELÖST




MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FÜHLT (Band #6)

EHE ER SÜNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLÜNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFÄLLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)

VORHER SCHADET ER (Band #14)


AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Band #1)

LAUF (Band #2)

VERBORGEN (Band #3)

GRÜNDE DER ANGST (Band #4)

RETTE MICH (Band #5)

ANGST (Band #6)


KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)




KAPITEL EINS


Die Dunkelheit kündigte sich im schüchternen Sternenlicht an. Seit dem Schneesturm vor zwei Wochen war die Autobahn, die durch den südlichen Schwarzwald in Baden-Württemberg (Deutschland) verlief, tückischer geworden. Innerhalb von Hermans Blickfeld waren drei von sieben Sicherheitslichtern, an der Landstraße 317, aus. Herman, im Führerhaus seines LKW‘s sitzend, zählte sie erneut. Ein verblassendes Flackern von Blau und Gelb ging von einem aus. Na gut, zwei von sieben. Trotzdem hätten Wartungsteams diesen Defekt längst beheben sollen. Er wurde vom flackernden Lichtschein gestreift, während er sich auf die dunkleren Abschnitten der Straße zubewegte.

Herman packte sein Lenkrad und murmelte einen leisen Fluch vor sich hin, während er sein großes Fahrzeug über den feuchten Asphalt lenkte. Der Schnee war größtenteils getaut, aber die Kälte hatte die Straßenbeleuchtung beschädigt. Teile der Straße schienen fast komplett verlassen zu sein. Herman hatte Freunde – andere Fahrer -, die diesen Abschnitt der Autobahn mieden, aber er durfte keine Zeit vergeuden. Nein, nicht jetzt. Er fuhr weiter entlang der einsamen, schlecht beleuchteten Straße, ein Strudel von Braun und Grün zog an seinem Fenster vorbei, während er den Waldesrand vor sich erblickte und testete wie wetterfest sein Fahrzeug war. Er hatte Rotmeer bereits passiert und konnte den Feldberg in der Ferne sehen.

Er durfte nicht zu spät kommen. Nicht heute Nacht. Er musste rechtzeitig zurückfahren, um vor der morgigen Sorgerechtsverhandlung etwas Schlaf zu bekommen.

Herman runzelte die Stirn bei dem Gedanken an das, was der Morgen ankündigte und blickte für einen kurzen Moment auf das Bild des jungen Mädchens mit den haselnussbraunen Augen, das auf sein Armaturenbrett geklebt war. Seine Frustration schwand, als er seine, auf dem Foto verewigte, Tochter ansah.

Nur ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit… Er sah wieder auf. Und schrie.

Jemand stand mitten auf der Straße.

Herman wurde kalt, er trat auf die Bremse und zerrte am Lenkrad, um der Person auszuweichen.

Die Bremsen heulten laut auf und die Räder protestierten gegen die plötzliche Bewegungsänderung. Herman konnte fühlen, wie die das Führerhaus zu kippen drohte. Sein Herz war bereits seiner Brust entkommen und schien sich irgendwo in der Nähe seiner Kehle zu befinden. Sein Schrei ging im Geräusch der quietschenden Bremsen unter. Der Lastwagen kam von der Straße ab und prallte gegen einen der Straßenlaternen. Der Mast fiel in sich zusammen und Glassplitter verteilten sich mit einem hartnäckigen Klirren über Hermans Windschutzscheibe.

Drei von sieben Lichtern. Herman saß zitternd da und Blut tropfte ihm aus die Nase. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass der Airbag ausgelöst worden war. Seine Hände umklammerten noch immer das Lenkrad. Für einen Moment fühlte es sich fast so an als könnte er es nie wieder loslassen. Er starrte auf seine Fingerknöchel. Sein Blick war verschwommen, er konnte das Adrenalin durch seine Adern pulsieren fühlen. Seine Hände waren weiß. Ein roter Tropfen fiel auf seinen Handrücken. Er streckte die Hand aus und fühlte, wie warme Flüssigkeit aus seiner Nase sickerte.

Er schüttelte den Kopf und blinzelte ein paar Mal. Hatte er die Person überfahren?

Er schaute noch einmal durch die Windschutzscheibe und war erstaunt, wie einsam und verlassen dieser Teil des Waldes war. Niemand war zu sehen. Er blickte die Straße hinauf und wieder hinab und bemerkte, dass nirgendwo ein geparktes Auto zu sehen war. Die Angst kroch ihm langsam den Rücken hinunter.

Herman wollte sich im Fahrzeug einschließen und die Polizei rufen. Aber die Sorge ließ ihn noch einmal auf das Bild auf seinem Armaturenbrett hinunterblicken. Die Person auf der Straße hatte wie ein junges Mädchen ausgesehen. Mutig raffte er sich auf. Er schnallte sich ab, schob den Airbag weg und öffnete die Tür.

Normalerweise wäre er, obwohl er mittleren Alters war, agil genug, um mit einem Sprung aus dem Führerhaus zu kommen. Jetzt jedoch benutzte er mit zitternden Schritten die Metallstufe, die zum Boden führte und stieg aus.

Die Kälte legte sich wie eine Decke auf ihn. Die kühlen Winde schienen zugenommen zu haben. Die Straßenlaterne, gegen die er gefahren war, war nun aus. Die auf der anderen Straßenseite, ein paar hundert Meter zurück, blinkte eine von ihnen immer noch blau vor sich hin.

In diesem diesigen Licht entdeckte er die Person wieder. Eine Frau. Ein Mädchen. Vielleicht etwas dazwischen. Jung, sicher nicht älter als zwanzig. Sie stand mitten auf der Straße und hatte sich, seitdem er sie zum ersten Mal entdeckt hatte, keinen Zentimeter bewegt. Sie stand. Stehen war gut. Es bedeutete, dass sie noch lebte.

„Hallo? Fräulein!”, rief er ihr zu. „Geht es Ihnen gut?”  Er hob die Hand und winkte ihr zu.

Sie drehte sich nicht um. Sie starrte weiter, die Augen nach vorne gerichtet, die Straße hinunter.

Herman warf einen Blick in die eine und dann in die andere Richtung. Seine Augen folgten der Straße, die sich durch die Wälder schlängelte und sich durch eine stetige Steigung charakterisierte. Dunkle Äste mit Laub lagen am Straßenrand. Die Äste waren gestutzt worden, um sie von Telefonleitungen und der Autobahn abzuhalten.

Woher war das Mädchen gekommen? Es war kein anderes Fahrzeug in Sicht.

Herman zuckte zusammen und spürte einen blauen Fleck an seinen Rippen, an der Stelle, an der ihn der Airbag ihn getroffen hatte. Aus seiner Nase tropfte immer noch Blut und er konnte fühlen, wie es sich in der Kuhle über seiner Oberlippe sammelte. Er bemerkte den leichten Geschmack von bitterem Salz, als das Blut über seinen Mundwinkel sickerte. Er streckte die Hand aus, wischte es weg und ging immer noch vorsichtig auf das Mädchen mitten auf der Straße zu.

Sein Lastwagen war immer noch um die Straßenlaterne gewickelt. Der Mast selbst hatte sich weitaus schlechter geschlagen als der Lastwagen. Er würde immer noch fahren können. Der Trucker ging weiter, eine Hand in einer beruhigenden Geste ausgestreckt. Das Mädchen sah immer noch nicht in seine Richtung.

Dann sah er das Blut.

Purpurrote Bäche tropften über ihre Arme bis zu ihren Fingerspitzen und fielen auf den Boden. Ihre Füße waren verletzt, mit Striemen und Schnitten bedeckt. Sie trug keine Schuhe und so wie es aussah war sie durch den Wald gelaufen. Ihr dünnes, graues T-Shirt war leicht zerrissen. Sie hatte Schnitte an ihrem Arm und trug nur Unterwäsche.

Herman spürte einen weiteren Schauer seinen Rücken hinab laufen, starrte das Mädchen an und sah ihr in die Augen. Endlich schien sie ihn zu bemerken; sie sah ihn an und fing an zu schreien.

Ihre Schreie hallte in den Hügeln und Wäldern wider, fegte über die Bäume und breitete sich wie eine Eisschicht über die Autobahn aus. Mit dem Schrei überkam Hermann ein kaltes, schreckliches Gefühl. Er schüttelte den Kopf und weigerte sich, auf sein Bauchgefühl zu hören. Sein Instinkt sagte ihm, es wäre am besten zu fliehen.  Zurück zu seinem Lastwagen zu laufen, sich hinter das Lenkrad zu setzen und wegfahren, um dieses Problem weit hinter sich zu lassen. Er bemerkte, dass die Hände des Mädchens blutig waren. Daraufhin rief er: „Geht es dir gut?”

Sie schüttelte jedoch zitternd den Kopf und streckte ihm ihr Kinn entgegen. Ihre Augen fokussierten ihn weiterhin. Sie starrte ihn verzweifelt und mit flehendem Blick an. Und schließlich sprach sie.

Wenn Erfrierungen einen Ton hätten, würden sie in der Stimme dieses Mädchens widerhallen.  „Bitte”, krächzte sie verzweifelt. Ihr Deutsch war brüchig und sie hatte einen amerikanischen Akzent. Er zuckte zusammen und versuchte das Gehörte zu verarbeiten. „Bitte, lassen Sie nicht zu, dass sie mich zurückholen. Bitte lassen Sie es nicht zu.”

Herman stand jetzt nah bei ihr. Er streckte eine Hand aus und hielt sie über ihre Schulter. Er war sich nicht sicher, ob er sie berühren sollte. Er wollte sie trösten, sie wissen lassen, dass es alles Ordnung sein würde. Aber gleichzeitig wollte er sie nicht erschrecken. Also senkte er die Hand und versuchte mit seinen Augen Wärme und Sanftmut zu vermitteln. Er konnte fühlen, wie seine Nase immer noch blutete, ignorierte es aber.

„Woher kommst du mein Kind?”

Das Mädchen zog am Saum ihres Hemdes, als merke es plötzlich, dass es halbnackt mitten auf der Autobahn stand. Sie sah sich um und starrte zu den Bäumen.

„Es gibt mehr”, sagte sie verzweifelt. „Er hält uns gefangen, versteckt, niemand kann uns finden. Ich bin knapp entkommen. Bitte. Ich bin dort gewesen – I weiß nicht mehr wie lange. Bitte, er wird sie alle töten!”

Das zitternde, schreckliche Gefühl, das Hermans Wirbelsäule hinaufkroch, nahm zu. Er starrte sie an und schluckte. „Wer?”, fragte er.

Sie starrte zurück und sagte: „Bitte, lassen Sie nicht zu, dass er mich zurückholt.”

Herman gebot ihr zu schweigen, seine Hand tastete in seiner Tasche entlang, bis er bemerkte dann, dass sein Telefon immer noch im Truck lag.

Er deutete auf sie und sagte schnell: „Komm, beeil dich. Ich muss dich in ein Krankenhaus bringen. Bitte, dort wirst du sicher sein. Lass uns erstmal von dieser Straße verschwinden.”

Es brauchte etwas Überzeugungskraft und Geduld, um sie, mit seiner Hand gestikulierend, zum Bewegen zu bringen, aber schließlich folgte sie ihm. Sie stolperte hinter ihm her und hinterließ blutige Fußspuren, die von der Mitte der Autobahn weg zu seinem Lastwagen führten. Die gesprenkelten Blutstropfen verteilten sich über dem feuchten Boden. Das blaue Licht, das hinter ihnen die ganze Zeit noch geflackert hatte, ging plötzlich aus.

Jeder Schritt brachte die beiden weiter in die Dunkelheit, aber auch dem Truck, näher.

„Komm, beeil dich”, sagte Herman.

Er half ihr sanft in den Truck und tat sein Bestes, sie nicht zu berühren. Jedes Mal, wenn er es tat, schien sie zusammenzucken.

Dann lief er schnell um den Lastwagen herum, stieg ein und fuhr so schnell wie möglich los. Er würde am Morgen zu einem Automechaniker fahren und ihn einen Blick auf das Fahrzeug werfen lassen. Vorerst wollte er von dieser verfluchten Autobahn weg, weg von den flackernden Lichtern und weg von diesem beängstigenden Wald.

„Wohin bringst du mich?”, fragte sie leise, während ihre Augen sich schnell bewegten, um sich orientieren zu können.

„Krankenhaus”, sagte er. „Die Polizei wird uns dort treffen. Alles wird gut. Ich verspreche es dir. Wer auch immer dich verletzt hat ist nicht mehr hier. Du bist jetzt in Sicherheit.”

Das Mädchen schluchzte zitternd, ihre Brust hob sich, ihre Augen waren auf die Straße gerichtet und schlossen sich dann, ihre Augenlider flatterten. Während die Erschöpfung seinen Tribut einforderte und sie den Sitz neben ihm langsam mit ihrem Blut färbte, murmelte sie: „Die anderen sind nicht in Sicherheit. Er wird ihnen wehtun. Er wird sie für meine Flucht bitter bestrafen.”




KAPITEL ZWEI


Adele hatte keinen Aufzug in ihrer neuen Wohnung. Sie hatte glücklicherweise kein Problem damit, Treppen zu laufen. Ihre Hand fuhr über das lackierte Holzgeländer. Ihre Gedanken reisten in die Vergangenheit und durchsuchten ihre Erinnerungen. Sie erinnerte sich daran, wie sie diese Marmorstufen heruntergesprungen war. Sie erinnerte sich, wie sie innehielt und zur Tür gegenüber der Briefkästen blickte. Wohnung 1A. Die abblätternden silbernen Buchstaben waren ersetzt worden. Tatsächlich war die gesamte Wohnung renoviert worden. Sogar die Lichter an der Decke flackerten nicht mehr, sondern versorgten den Flur und das Treppenhaus mit ausreichend Licht. Adele machte den letzten Schritt, blieb am Fuß der Treppe stehen und sammelte sich.

Zurück in Frankreich. Sie hatte das nie kommen sehen.

Sie fuhr sich mit der Hand durch die schulterlangen blonden Haare und lächelte. Das letzte Treffen mit ihrem Vater war weniger als einen Monat her. Der Fall im Skigebiet war seltsam zu Ende gegangen. Adele hatte ihren Vater zu Weihnachten besuchen wollen, nachdem sie nach Europa gezogen war, aber die kleine Wohnung in Frankreich war so weit von seiner Heimat in Deutschland entfernt, dass der Schneesturm vor zwei Wochen den Besuch verhindert hatte. Also hatte sie die Woche mit Robert verbracht und Weihnachten mit ihm in seiner Villa gefeiert.

Sie streckte die Hand aus und berührte vorsichtig die tropfenförmigen Diamantohrringe, die er ihr gekauft hatte. Adele trug normalerweise keinen Schmuck, aber die Sachen, die Robert ihr schenkte waren einfach so besonders, dass sie nicht anders konnte. Sie runzelte die Stirn, senkte die Hand und starrte zur Wohnungstür. Robert sah nicht wirklich gesund aus. Wann immer sie ihn darauf ansprach, wich er der Frage aus. Er brach oft in Hustenanfälle aus und verließ dann manchmal sogar den Raum.

Sie schüttelte den Kopf und wünschte, sie hätte das Thema mit mehr Nachdruck angesprochen, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber die Weihnachtsfeierlichkeiten schienen nicht der richtige Anlass zu sein.

Und jetzt war sie nicht nur wieder in Frankreich, sondern auch wieder in der Wohnung, in der sie früher mit ihrer Mutter gelebt hatte. Das Schicksal hatte seine Fäden mal wieder gezogen – die Wohnung war, nur eine Woche nachdem Adele ihre Unterkunftssuche begann, im Preis gesenkt worden. Vielleicht war es nicht nur das Schicksal … vielleicht eher Unvermeidlichkeit…

Adele fischte ein kleines, abgenutztes, braunes Ledernotizbuch aus ihrer Tasche und blätterte durch die Seiten. Ihre Stimmung verdunkelte sich. Sie lehnte sich gegen das Geländer und blickte beim Durchblättern des Notizbuchs auf 1A.

Jeder Hinweis, jede mögliche Spur, einige, von denen höchstwahrscheinlich nicht mal die Polizei wusste. Ihr Vater jagte Elises Killer schon seit Jahren. Und jetzt hatte er ihr das Notizbuch überlassen, damit sie die Jagd fortsetze.

Adele hatte in den letzten drei Wochen zwischen Umzügen und Weihnachtsfeiern das Notizbuch durchkämmt. Nach drei Wochen hatte sie die Notizen ihres Vaters katalogisiert und auswendig gelernt. Sie hatte mehrere Dateien auf ihrem Computer, mit denen sie die Notizen sortierte. Irgendwann musste sie etwas finden.

Rückkehr in die Wohnung? Nicht genau die Gleiche – aber das gleiche Gebäude, in dem sie damals mit ihrer Mutter gelebt hatte. Sie spürte keine Nostalgie – es hatte einen Zweck. Adele war kein sehr nostalgischer Mensch.

Sie war ein Bluthund, der nach einem bestimmten Geruch suchte. Seite Siebenunddreißig.

Sie blätterte das gesamte Notizbuch noch einmal durch und las alle Zeilen, die ihr jetzt in den Sinn kamen.

„Jemand vertauscht Notizblätter … handgeschrieben. Lustig?”

Adele schüttelte den Kopf. Sie hatte ihren Vater schon öfter danach gefragt, aber er wusste auch nicht mehr was diese kryptische Nachricht zu bedeuten hatte. Es war einfach eine Erinnerung an ein Gespräch gewesen, das er mit seiner Ex-Frau geführt hatte. Das erste Mal, als er den Verdacht bekam, etwas könnte in Frankreich schief laufen. Seine Ex-Frau hatte ihn angerufen und schien nervös zu sein. Sie erwähnte, dass jemand etwas vertauscht hatte. Adele biss die Zähne zusammen. Ihr Vater war noch nie ein besonders guter Zuhörer gewesen. Wenigstens hatte er es niedergeschrieben, bevor er es komplett vergaß. Jemand hatte Jemand vertauscht Notizblätter, handgeschrieben, lustig… notiert.

Also hatte jemand Notizen vertauscht. Was bedeutete das genau?

Adele klopfte mit dem Notizbuch gegen ihre Hand und starrte die Briefkästen an.

Sie hatte bereits mit dem Postboten gesprochen. Ein junger Mann, nicht älter als dreißig. Er passte sicherlich in die Rechnung. Sie hatte versucht, ihn zu erpressen, um zu erfahren, wer vor fast zehn Jahren führ dieses Gebäude als Briefträger verantwortlich gewesen war. Er hatte gesagt, dass er diese vertraulichen Informationen nicht weitergeben durfte.

Wenn jemand die Post ihrer Mutter ausgetauscht und Notizen hinterlassen hätte, war er vielleicht ein Stalker gewesen. Jemand, der sich für sie interessiert hatte. Vielleicht der Mörder selbst?

Aber die Briefkästen waren verschlossen. Es waren keine Briefe gesendet, sondern vertauscht worden. Das stand in der Nachricht. Daran erinnerte sich ihr Vater. Er war in diesem Teil unnachgiebig gewesen. Während des Telefongesprächs vor all den Jahren war ihre Mutter verärgert gewesen, dass jemand Notizen vertauscht hatte.

Dafür würde jemand einen Schlüssel für den Briefkasten benötigt haben. Nicht einmal der Vermieter hatte einen. Adele hatte bereits einige Male versucht, die Post anzurufen, aber sie weigerte sich, die Informationen telefonisch weiterzugeben. Sie dachte daran, ihre Dienstnummer zu verwenden, aber ohne einen aktiven Fall wäre dies ein Verstoß gegen das Protokoll und ein Kündigungsgrund. Dies war erst ihre zweite Woche als Korrespondentin für die DGSI, zwischendurch arbeitete sie immer noch an Fällen für Interpol. Die Verwendung ihrer Dienstlegitimation ohne Erlaubnis war möglicherweise nicht die beste Taktik.

Aber Adele hatte jetzt eine andere Idee.

Sie ging den Korridor entlang und näherte sich der Tür zu 1A, hob die Hand und klopfte vorsichtig.

Ein schlurfendes, leises Geräusch von innen ertönte. Sie klopfte etwas lauter. Mehr Geräusche, dann Schritte.

Dann klapperte eine Kette und die Tür schwang auf. Die Wohnung war ziemlich ordentlich. Ein mit Porzellan gefüllter Schrank stand einem sauberen Esstisch mit vier  bestickten Stühlen gegenüber, die ordentlich unter dem Tisch versteckt waren. Die Frau, die vor Adele stand, war alt und hatte Falten um Augen und Stirn. Sie trug ein einzelnes silbernes Medaillon an einer Kette und eine rosa Strickjacke. Die Frau habe eine ihrer nachgemalten Augenbrauen, während sie Adele betrachtete. „Du schon wieder”, sagte sie knurrig auf Französisch.

„Ja”, sagte Adele, „Kurze Frage: Vermieter in Frankreich müssen Akten über ihre Mieteraktivitäten führen, oder? Aus Steuergründen.”  Hier war das Risiko. Aber Adele musste auf ihrem Bauchgefühl hören. Sie warf einen Blick zurück in die Wohnung. Ihre Augen suchten die ordentlich angeordneten Möbel und die frisch gestrichenen Wände ab. Alles am Gebäude und an den Renovierungsarbeiten schien in Ordnung zu sein.

„Sie verwenden keinen Computer für Ihre Unterlagen, richtig?”  fragte Adele.

Die Frau runzelte die Stirn. Sie rückte ihre Brille zurecht und schüttelte ihren Kopf mit den silber-grauen Haaren „Und, was ist das Problem daran?”

Adele schluckte. „Und Sie besitzen das Gebäude seit mehr als zehn Jahren?”

„Seit fünfzig Jahren im Besitz der Familie. Mein verstorbener Mann hat geholfen, aber ich mache den größten Teil des Papierkrams, was ist damit?”

„Ich habe mich gefragt, ob es Streitigkeiten gab. Fehlende Pakete, Beschwerden. Zerbrechliche Gegenstände, die zerschlagen wurden. In einem so großen Gebäude muss es jemanden mit einem Problem gegeben haben.”, Adele schluckte. „Insbesondere alles von vor bis zu zehn Jahren.”

Die Vermieterin blinzelte hinter ihrer dicken Brille. „Ich habe einen Ordner für Beschwerden. Ich bin mir nicht sicher, wie lange sie zurückgehen. Aber ohne einen Durchsuchungsbefehl kann ich Ihnen den eh nicht zeigen.”

Adele nickte einmal und spürte ein Kribbeln auf ihrer Haut. „Dass Sie Ihre Mieter nicht verraten wollen, verstehe ich. Aber was ist mit Mietern, die hier nicht mehr wohnen? Leute, die gegangen sind? Sicherlich wäre es keine Verletzung der Privatsphäre. Genauer gesagt… was ist mit meiner Mutter?” Jetzt war es an Adele, die Vermieterin zu studieren und geduldig zu warten.

Die Frau runzelte die Nase. „Du wirst nicht locker lassen, oder?”  Ihre alte Stimme knarrte schon fast, aber ein Schimmer in ihren Augen veranlasste Adele zu sagen: „Wenn ich könnte, würde ich. Bitte, die Mieter interessieren mich nicht. Nur der Postbote. Das wäre sowieso eine öffentliche Information gewesen, oder nicht?”

Die Frau räusperte sich. „Haben Sie versucht, die Firma anzurufen?”

Adele zuckte zusammen. „Ja.”

„Und?”

„Die sagen, die Informationen seien vertraulich.”  Adele fügte schnell hinzu: „Aber das ist auf deren Seite. Die müssen Mitarbeiterunterlagen schützen. Aber ein öffentlicher Streit – ein fehlendes Paket … Oder”, sie leckte sich die Lippen,“ manipulierte Post … Das wäre aktenkundig. Bitte, ich würde nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre. Elise Romei, erinnern Sie sich an sie? Meine Mutter. Wir haben vor fast fünfzehn Jahren hier gelebt.”

Zu Adeles Überraschung schien die Frau auf den Namen zu reagieren; Sie blinzelte eulenhaft hinter ihrer Brille. „Elise Romei?”, fragte sie. „Natürlich erinnere ich mich an sie. Ich erinnere mich noch an den Polizisten, der vorbeikam und Fragen stellte. Tragisch. Sie sagen, Elise ist Ihre Mutter?”

Adele nickte. „Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, aber ich habe auch hier gewohnt. Mit meiner Mutter – ich hätte es bei der Unterzeichnung des Mietvertrags erwähnen sollen, hielt es aber nicht für relevant.”

„Ja? Ist es jetzt aber?”

Adele nickte langsam und geduldig. Sie beobachtete die ältere Frau. Irgendwie erblickte sie in diesen intelligenten Augen, die in einer faltigen Leuchte steckten, etwas Vertrautes. Die Frau sah zurück zu Adele, studierte sie, bewertete sie und sagte dann: „Ich kann keine Versprechungen machen, aber ich werde es überprüfen. Gib mir ein paar Stunden. Wenn auf einem der Streitformulare der Name eines Postboten steht, an dem Ihre Mutter beteiligt war, kann ich es Ihnen zur Verfügung stellen. Andere Mieter – das geht nicht. Wird dir das reichen?”

Adele lächelte und ein Hauch von Erleichterung breitete sich in ihr aus. „Das würde mir die Welt bedeuten, danke.”

Die Vermieterin lächelte, sie kniff die Augen wieder zusammen und sie nickte einmal. Dann begann sie langsam die Tür zu schließen.

Adele atmete erleichtert auf und starrte auf die geschlossene, frisch gestrichene Tür. Jetzt musste sie nur noch warten. Die Vermieterin hatte ihre Nummer.

Sie konnte nur hoffen, dass sich die Idee auszahlen würde. Jemand hatte Notizen ausgetauscht. Handschriftlich. Lustig? Dieser letzte Teil ergab immer noch keinen Sinn, aber Adele hoffte, dass sie es herausfinden konnte, indem sie mit dem Postboten sprach. Was wäre, wenn er der Mörder war? Jemand, der vor Jahren Pakete geliefert hatte, hätte das perfekte Alibi gehabt, um sich in Gebäude zu schleichen und seine unwissenden Opfer auszuspionieren. Adele war sich nicht sicher, aber sie fühlte sich näher als zuvor.

Trotzdem unterdrückte sie die Emotionen, wollte ihre Hoffnungen nicht wecken, verließ das Haus und ging auf die Straße hinaus. Sie hielt einen Moment inne und stand vor einer Bushaltestelle gegenüber eines geschlossenen Cafés. Über sich bemerkte sie einen Tempolimitschild. Kilometer, keine Meilen. Kleine Unterschiede, aber sie verschärften sich.

Adele seufzte. Sie musste nur warten, bis die Vermieterin antwortete.




KAPITEL DREI


Diesmal fühlte es sich anders an, das DGSI-Hauptquartier zu betreten. Nicht mehr als Interpol-Korrespondentin, sondern wieder als Mitarbeiter. Kein richtiger Agent, aber trotzdem eine Ressource. Freiberufliche Ermittlerin. Zumindest hatte Executive Foucault ihre Position so bezeichnet.

Als sie jedoch durch die Seitentüren eintrat und an der Sicherheitskontrolle vorbeikam, ging sie nicht zum Büro des Executive. Stattdessen lief Adele geradewegs auf die Treppe zu und ging nach unten. Es war erst eine halbe Stunde her, seit sie mit der Vermieterin gesprochen hatte. Sie hatte ihr Telefon überprüft, während sie in dem Auto gefahren war, das die Agency ihr zur Verfügung gestellt hatte. Aber nachdem Adele im Pariser Verkehr einen kleinen Fehler gemacht hatte und von allen anderen Verkehrsteilnehmern angehupt worden war, hatte sie entschieden, dass es vielleicht das Beste war, irgendwo zu parken.

Sie ging die Treppe hinab und genoss die körperliche Ertüchtigung. Einer der Gründe, warum Adele gerne lief, war, dass sie die schiere Bewegung genoss. Die Art, wie sich ihre Arme und Beine unter der Anstrengung anspannten gefiel ihr. Ein ähnliches Gefühl der Lebendigkeit überkam sie, wenn sie Treppen lief – Kontrolle. In der unteren Etage führte ein langer Korridor zu offenen und leeren alten Räumen. Der Keller des DGSI war seit Jahren verlassen. Und doch nutzte ihn eine Person, wie sie wusste, immer noch.

Für einen Moment glaubte sie, den schwachen Gärgeruch in der Luft wahrnehmen zu können.

Sie klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die zweite Tür von links und warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Es war fast neun Uhr abends. Was bedeutete, dass der größte Teil der Mitarbeiter in der Agency für heute bereits Schluss gemacht hatten. Was auch bedeutete, dass er immer noch hier sein würde.

„Was?”  kam eine schroffe Stimme von innen.

„John, ich bin es”, antwortete Adele.

„Ich wer?”, fragte John, seine Stimme etwas weniger schroff.

Sie rollte die Augen und drehte ohne zu warten den Türgriff und stieß die Tür auf.

John saß auf seiner Couch, ohne Hemd, mit dem Kopf angelehnt und einem Glas gefüllt mit Eis und klarer Flüssigkeit in der linken Hand.

Ein Auge war geschlossen, als wäre er mitten in einem Nickerchen, aber das andere war offen und starrte sie an. Er sah aus, als hätte er einen Kater. Sein Hemd war hinter seinem Kopf zusammengerollt. Adele spürte, wie die Ecke ihrer Lippen zuckte und sie beäugte ihn.

Sie waren schon einmal gemeinsam schwimmen gewesen, auf Roberts Anwesen. Aber es war damals dunkel gewesen. Jetzt, in der Hitze des Kellerraums, war Johns Brust entblößt. Sie hatte immer gewusst, dass er Brandflecken an der Unterseite seines Kinns und am Hals hatte, aber Adele hatte nicht bemerkt, wie groß die Wunde wirklich war.

Sich überkreuzende Muster aus Narbengewebe zierten die gesamte linke Seite seines Torsos und kräuselten sich unter seinem Arm bis zum Rand seiner Taille. Das Brandmal schien sich zu winden, während John atmete und sich wie die schuppige Haut einer Schlange zu auszusehen. Unter dem Brandmal und auch sonst, war es offensichtlich, dass John Zeit im Fitnessstudio verbrachte – seine schweißnassen, nackten Muskeln blitzten unter den einzelnen Glühbirne hervor, die von der Decke baumelte.

„Gefällt dir, was du siehst?”, fragte er mit einem Schnurren in seiner Stimme.

Adele räusperte sich und blinzelte. Sie riss ihren Blick von der roten Stelle auf seinem Körper weg und sah John an. Die Augen des gutaussehenden Agenten waren verdeckt und sein dunkles Haar war aus seinem Gesicht gekämmt. Trotz der Brandwunde sah er zufrieden aus, als er ihren Blick erwiderte.

„Tut es… tut es weh?”, fragte sie sanft und sah ihm immer noch in die Augen.

„Jeden Tag”, sagte er mit einem Achselzucken. „Bist du hier, um die Aussicht zu bewundern oder die lokale Küche zu probieren?” Er klimperte mit seinem Glas in ihre Richtung und nickte in Richtung der provisorischen Brennerei gegenüber der Couch, die an der Wand stand. Adele war schon einmal hier gewesen und hatte bemerkt, dass John kürzlich seine Sammlung von Bechern und Ausgussgefäsen erweitert hatte. Sie wusste nicht viel über Alkohol, aber John hatte einen guten Geschmack.

Adeles Blick schielten zur Kante der Couch, ihre Augen huschten zu einem kleinen Glasrahmen. Anstelle eines Gemäldes oder eines Fotos zeigte das Porträt jedoch ein einzelnes metallisches Emblem, das an einem Band befestigt war.

Adele blinzelte.

„Ist das eine Ehrenlegion?” fragte sie.

John bemerkte ihr Interesse und streckte schnell die Hand aus, warf das Ding von der Couch und drückte es gegen die Wand.

Adele war verblüfft über die unbekümmerte Art und Weise, wie er die höchste Ehrenmedaille des französischen Militärs behandelte und wagte es zu fragen: „Ist das deine?”

John grunzte, seine Augen immer noch geschlossen„Nicht meine”, sagte er. „Sie haben sie mir gegeben, aber es ist nicht meine.”

Die einzige andere Dekoration, die John im Raum aufbewahrte, waren die beiden Bilder einer Gruppe von Männern. Alle trugen Wüstenkleidung, alle Mitglieder der Commandos Marine, der französischen Navy SEALS. Die Bilder waren abgenutzt und waren von der Sonne fleckig geworden und dennoch in Ehrenpositionen über der Couch platziert, wo John sie im Liegen sehen konnte.

„Wie hast du diese Narbe bekommen?” fragte Adele leise und nickte Agent Renee zu.

John rollte mit den Schultern und nahm einen langen Schluck aus seinem Glas. „Von welcher Wunde sprichst du?”

Adele murmelte: „Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst.”

John lachte und schüttelte den Kopf. „Es ist mir nicht peinlich, amerikanische Prinzessin. Es ist keine schöne Geschichte, du brauchst einen Drink.”

Er stand auf und näherte sich der Brennerei, drückte einen Zapfen und goss die klare Flüssigkeit in eine rote Tasse, die gegenüber auf der Holztheke stand. Er schlich an Adele vorbei und reichte ihr die Tasse. Als er an ihr vorbeikam, wurde sie erneut daran erinnert, wie groß er war. Sie sah zu ihm auf, ihre Augen wanderten über die Kante seines Kinns, hinunter zur Narbe und blieb dann oben in seinen grüblerischen Blick stehen.

„Hubschrauberabsturz”, sagte er einfach. „Mein dummer Arsch konnte nicht in einer geraden Linie fliegen. Von der feindlichen Fraktion getroffen.” Er zuckte mit den Schultern. „Viele gute Soldaten starben meinetwegen.”

„Sie neigen nicht dazu, die Légion d'Honneurs an schlechte Piloten zu verleihen”, sagte Adele.

John beruhigte sich ein wenig und wurde steif. Er nahm einen weiteren langen Schluck aus seinem Glas und sagte: „Ich kann nicht vorgeben zu wissen, warum sie das tun, was sie tun, aber diese Légion d'Honneur wurde von anderen verdient, ich bewahre sie nur für sie auf.”

Adele wollte aus Neugier weiter drängen, hielt dies jedoch für eine unnötig aufdringlich und wechselte stattdessen das Thema.

Sie nahm einen weiteren Schluck aus dem Glas und zuckte zusammen. „Stärker als beim letzten Mal.” Als die Flüssigkeit ihre Lippen berührte begann es mit einem brennenden Gefühl, aber es wurde barmherzig süß und weich, im Angang.

„Geheime Zutaten”, sagte John und zog die Augenbrauen hoch.

Adele kippte ihre rote Tasse leicht an und beobachtete, wie die Flüssigkeit in den Grenzen des Behälters hin und her schwappte. „Lädst du immer Mädchen in deine Junggesellenbude ein, während du halbnackt bist und Alkohol trinkst?”

Genauso schnell erwiderte John: „Ich habe dich nicht eingeladen, du bist ohne Erlaubnis hereingekommen.”

„Und doch bist du immer noch halb ausgezogen. In der Zentrale des DGSI nicht sehr professionell.”

„Oder”, sagte John mit wieder verdeckten Augen und einem wolfsartigen Grinsen auf den Lippen, „vielleicht bist du diejenige, die zu mir passen muss. Ich habe immer festgestellt, dass Moonshine am besten schmeckt, wenn man nur halb bekleidet ist. Du solltest es ausprobieren.”

Sie grinste. „Das würde dir gefallen, oder?”

John stellte sein Glas ab, erhob sich von der Couch, ging wieder an ihr vorbei und schenkte sich noch einen Drink ein. Er roch schwach nach Schweiß und Cologne. Er bewegte sich mit trittsicheren Bewegungen und hatte selbst auf kleinem Raum eine etwas Angeberisches in seinem gang.

John war ein seltsamer Kerl. Zu gleichen Teilen anstrengend und zuverlässig. Vertrauenswürdig und stumpf. Er hatten den beste Schuss abgefeuert, den sie jemals mit einer Pistole gesehen hatte und einer der wenigen Agenten, beim FBI, DGSI und dem BKA, denen sie voll und ganz vertraute.

Und doch war er wie ein Kaktus mit Stacheln bedeckt. Jeder Versuch, jemandem wie John nahe zu kommen, endete mit einer Art Verletzung. Er tat manchmal absichtlich alles, um unausstehlich zu sein, wenn auch nur, um Leute von sich fern zu halten. Manchmal sagte er grausame Dinge, nur um eine Reaktion zu bekommen.

Jetzt jedoch, während sie ihn musterte, verzogen sich seine Lippe zu einem leisen Grinsen. Wieder war sie von dem Bild dieses Streuners beeindruckt. Eine Kreatur, die gezüchtet wurde, um frei zu sein, der König ihrer eigenen Seitenstraße, aber nichts weiter.

„Es ist wirklich sehr lecker”, sagte sie und nahm einen weiteren großen Schluck. John summte bestätigend.

Für einen Moment lang ließ Adele ihre Augen zu dem Rest von ihm hinunter wandern, vorbei an den Narben und den Brandflecken. Sie nahm die Muskulatur wahr, seinen schlanken Körper und seine breiten Schultern in sich auf. Ihre Augen verweilten und wenn er es bemerkte, machte er keinen Kommentar.

In diesem Moment begann ihr Telefon zu summen. Wie aus ihren Träumereien gerissen, zuckte Adele zusammen und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie machte ein entschuldigendes Zeichen Richtung John, drehte ihm den Rücken zu und hielt sich das Telefon an ihr Ohr.

„Mrs. Glaude”, sagte sie. Endlich, die Vermieterin.

„Ja, hier ist Adele Sharp von Wohnung 3C?”

„Ja, Ma'am. Hatten Sie die Gelegenheit, zu überprüfen, was ich gefragt habe?”

„Ja, aber ich fürchte ich habe schlechte Nachrichten.”

Adeles Magen sackte zusammen. Ihre Vermieterin räusperte sich und sagte: „Ihre Mutter hat hier keinerlei Beschwerde eingereicht.”

Adele blinzelte. Wie passte das zusammen? Wenn jemand ihre Post manipuliert hatte, hätte ihre Mutter das Gebäude sicherlich darauf aufmerksam gemacht. „Könnte es sein, dass Ihre Unterlagen einfach nicht so weit zurückgehen?”

„Nein”, sagte die Stimme am anderen Ende des Telefons. „Meine Unterlagen reichen vierzig Jahre zurück. Aber Ihre Mutter hat nichts eingereicht.”

Adele runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Das ergibt keinen Sinn.”

„Noch eine Sache, ich erinnere mich an die Situation Ihrer Mutter. Ich erinnere mich an die schrecklichen Dinge, die passiert sind. Es tut mir wirklich sehr leid. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schlimm das gewesen sein muss…”

Adele sagte nichts und fragte sich, was sie als nächstes sagen würde.

„Ich könnte dafür in Schwierigkeiten geraten, aber ich arbeite ja eh nicht für die Post. Und ich mache keinen Kompromiss mit meinen Mietern. Und angesichts der Umstände von… dem Postboten, der in dem Gebäude gearbeitet hat, als Sie hier mit Ihrer Mutter gelebt haben…”, sagte die Vermieterin mit einem leichten Schimmer in ihrer Stimme.

Adele versteifte sich und wartete. Ihre Augen weiteten sich. „Ja?”, fragte sie. „Wer?!”

„Sein Name war Antoni Bordeaux.”

„Antoni Bordeaux?”, fragte Adele. Sie fing an, in ihrer Tasche herumzufummeln und versuchte das Notizbuch ihres Vaters herauszuholen, um den Namen aufzuschreiben.

„Ich fürchte, Liebes, es sind jedoch schlechtere Nachrichten”, sagte die Vermieterin.

Adeles krabbelnde Finger hielten still und drückten sich gegen ihren Oberschenkel. „Ach ja?” sagte sie. „Und warum?”

„Antoni Bordeaux ist vor fünf Jahren gestorben. Es tut mir sehr leid. Aber das ist das Beste, was ich tun kann … Hallo? Mademoiselle, sind Sie noch da?”

Adele räusperte sich. „Ja, Mrs. Glaude, ich bin immer noch hier. Es tut mir leid. Danke! Sie haben mehr getan, als sie glauben. Dankeschön.”

Adele verabschiedete sich, legte auf und steckte ihr Handy wieder ein.

„Ist jemand gestorben?”, fragte John lässig.

Adele merkte nicht, wie tief sie die Stirn runzelte, bis sie zu ihrem Partner blickte. Sie blinzelte und versuchte ihren Gesichtsausdruck zu klären. „Ja, in der Tat.”

John versteifte sich. „Oh, das tut mir leid.”

„Niemand, den ich kannte.” Ein Wirbel aus Frustration und Enttäuschung durchfuhr sie. „Vor fünf Jahren gestorben. Eigentlich ein Verdächtiger.”

John hob eine Augenbraue. „Arbeitest du an einem Fall?”

„Vielleicht. Wenn du in Bezug auf deine Vergangenheit kryptisch sein willst, dann erlaube mir das anstandshalber wenigstens, auch in Bezug auf meine.”

John hob seine freie Hand in gespielter Kapitulation und leerte dann den Rest seines Glases.

Adele machte ihrerseits eine Pause und dachte nach. Eine Sackgasse. Der Postbote war vor fünf Jahren gestorben. Und doch lebte der Mörder ihrer Mutter noch, dem ersten Serienmörder zufolge, den sie in Frankreich gejagt hatte. Das hatte er gesagt.

Sie schüttelte wütend den Kopf. Was bedeutete diese verdammte Nachricht von ihrer Mutter? Notizen vertauschen lustig? Es ergab keinen Sinn.

Sie steckte die Hände in die Taschen und spürte auf der einen Seite ihr Handy und auf der anderen Seite das Notizbuch ihres Vaters. Sie näherte sich Johns Couch und ließ sich auf die Lehne fallen, stemmte ihre Füße gegen ihn und klemmte sich in die Ecke, die Arme verschränkt.

„Schlechter Tag im Büro?”, fragte er.

„Der Schlimmste”, antwortete sie.

„Ich kann mir etwas vorstellen, das dich davon ablenken könnte”, sagte John mit seinem üblichen schüchternen Lächeln.

Sie zögerte und merkte plötzlich, wie nahe sie sich waren. „John, ich bin mir nicht sicher ob…”

Seine Augenbrauen schossen hoch. „Wie? Nein. Ich wollte noch einen Drink sagen. Lass dich nicht von meinem schneidigen Aussehen und Charme täuschen, amerikanische Prinzessin. Ich bin kein komplettes Arschloch.”

„Also nur teilweise Arschloch?”

John tippte mit einem langen Finger gegen seine Nase und zeigte auf sie. Dann stand er auf, nahm ihr die Tasse aus der Hand und füllte sie wieder auf. Sie beobachtete ihn und genoss wieder den Anblick.

Bevor sie jedoch viel davon aufnehmen konnte, begann ihr Telefon erneut zu summen.

Die Vermieterin schon wieder?

Bevor sich dieser Gedanke beruhigte, hörte sie ein anderes Telefon klingeln. John runzelte die Stirn und griff nach seinem eigenen Gerät.

Fast unisono nahmen die beiden ihre Telefone an die Ohren und sagten synchron: „Ja?”

Der Raum blieb für eine Sekunde still, während sie zuhörten.

Am anderen Ende von Adele war zu hören: „Agent Sharp, Sie müssen sich bei Executive Foucault melden.”

„Jetzt?”

„Wir wissen, dass es spät ist”, sagte die Stimme, „aber es ist dringend. Der Executive kommt persönlich. Er wird Sie über die Details informieren.”

Adele legte auf und ein paar Sekunden später folgte John dem Beispiel.

„Ich muss los”, sagte sie. „Du?”

„Foucaults Assistent”, sagte John.

Adele runzelte die Stirn. „Solltest du ihn auch oben treffen?”

John seufzte, ging hinüber und griff nach seinem Hemd. er zog es wieder an, fast mit einem Hauch von Widerwillen. Dann schlich er sich ohne ein weiteres Wort an Adele vorbei und murmelte leise: „Das nächste Mal bist du an der Reihe, die Aussicht zu gewähren.”

Er schob die Tür zu seiner Junggesellenbude auf und ging den Flur hinauf.

Adele war aus mehr als einem Grund nervös und folgte ihm schnell.




KAPITEL VIER


Executive Foucault stand am Fenster seines Büros im obersten Stockwerk, als John und Adele eintraten. Die milchige Glastür schlug zu und raschelte auf dem Teppich hinter ihnen. Adele räusperte sich und starrte die DGSI-Führungskraft an.

Foucault drehte sich um. Er hatte ein greifvogel-ähnliches Gesicht mit dicken, dunklen Augenbrauen und noch dickeren Wangenknochen. Sein Haar war normalerweise mit Gel nach hinten gekämmt, aber jetzt war es zerzaust, Locken baumelten an seiner Stirn vorbei und berührten seine Wimpern. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und zähmte die losen Strähnen. Seine Silhouette war gegen das Mondlicht gerichtet, das durch das Glas strömte.

Er trug Turnschuhe und ein lässiges T-Shirt mit Laufshorts. Adele hatte den Executive noch nie ohne Anzug gesehen und irgendwie sah er jetzt aus wie ein Vater, der seine Kinder nach dem Fußball-Training abholen will.

„Sir”, sagte Adele, „Sie wollten uns sehen?”

Foucault hatte ein einzelnes Bild in der Hand und hatte es studiert, tiefe Furchen auf der Stirn wie Rillen in Ton. Er schwenkte das Foto in Adeles Richtung, als ob er ihr es zuwerfen wollen würde.

John machte einen langen Schritt durch das Büro. „Sie ist tot?”, fragte John, das große Bild zu begutachtend.

Der Executive schüttelte einmal den Kopf. „Nein”, sagte er. Er hatte eine tiefe, krächzende Stimme, die vom Einfluss zu vieler Zigaretten geprägt war. Das Büro selbst roch nach Nikotin und abgestandenem Rauch. Zum Glück wurde eines der Fenster in der hinteren Ecke immer offen gelassen. Vielleicht eine eventuelle Verletzung der Sicherheit, aber in Adele war bereit, diese Risiko im Interesse ihrer Lunge einzugehen.

Foucault zeigte mit den Fingern in Richtung des Fotos. „Amerikanerin”, sagte er. „Ein Lkw-Fahrer hat sie letzte Nacht gefunden.”

Adele schob sich neben John, hustete leicht und konzentrierte sich auf das Foto.

Das glänzende Bild zeigte ein lächelndes Gesicht, Noppenwangen und leuchtend blaue Augen. Die Frau auf dem Foto konnte nicht viel älter als zwanzig sein.

„Lebendig, sagen Sie ?”, fragte John.

Als Antwort darauf überreichte Foucault ihnen ein zweites Foto.

Dieselbe Frau, obwohl Adele eine Sekunde brauchte, um es zu realisieren. Sie schien kaum wiederzuerkennen. Das zweite Foto zeigte ein blasses Mädchen mit fahlem Gesicht. Ihre Wangen waren hager, unterernährt, ihr Haar strähnig und fleckig. Ihre Augen waren geschlossen und wenn Foucault nicht etwas gesagt hätte, hätte Adele gedacht, das Mädchen wäre tot.

Das junge Opfer hatte blaue Flecken auf den Wangen und kleine Schnitte an den Armen am unteren Rand des Rahmens.

„Was ist passiert?”  fragte Adele bestürzt.

„Das ist, was ihr herauszufinden sollt.”

„Sie wissen nicht, was passiert ist?”

Executive Foucault seufzte. „Ich weiß nur, was sie den Deutschen sagen konnten. Die Schwarzwälder haben sie erst vor wenigen Stunden hereingebracht.”

„Die Deutschen?”, fragte John, jetzt stirnrunzelnd.

Foucault presste die Lippen zusammen. „Ich bin hier, um sicherzustellen, dass Sie keinen Schaden mehr verursachen.” Er nickte John zu. „Sie gehen mit ihr. Aber nach dem Quatsch, den Sie das letzte Mal in Deutschland durchgezogen haben, bin ich hier, um Sie vor nur einem einzigen kleinen Fehltritt zu warnen.” Er hob seinen Zeigefinger und wackelte mit ihm unter Johns Nase. „Ich werde Ihre Karriere augenblicklich beenden.”

John wechselte. Leise betete Adele, dass er nichts Abscheuliches sagen würde. Um dies zu verhindern, sprach Adele schnell. „Abwarten. Deutschland? Sie wurde nicht hier gefunden?”

Foucault schüttelte den Kopf. „Nein. Interpol kümmert sich darum, aber sie wollen, dass Sie in dem Fall sind. Ich kann ihnen keine Vorwürfe machen – Sie sind der einzige Agent, den ich habe und der die dreifache Staatsbürgerschaft besitzt. Da Sie jetzt technisch gesehen einer meiner Mitarbeiter sind, habe ich das letzte Wort. John wird sicherheitshalber mit Ihnen gehen.” Die dunklen Augenbrauen des Executive senkten sich. „Je weniger Zeit er unter meinem Dach verbringt, desto weniger Ärger kann er in Frankreich verursachen.”

John lächelte, als wäre ihm ein Kompliment gemacht worden.

„Und Mrs. Jayne? Weiß sie davon?”, fragte Adele.

Foucault senkte den Kopf. „Es war ihre Idee. Sie ist mit etwas anderem beschäftigt und wollte, dass ich die Details übermittle. Wie dem auch sei, ich habe nicht viele… Details meine ich. Es wurden bereits Mittel für Reisen bereitgestellt. Sie fliegen heute Nacht ab.”

„Und das Mädchen”, sagte Adele. „Sie sagten, dass sie lebt.”

Ein Teil der Frustration verblasste aus Foucaults Gesichtsausdruck und wurde durch eine authentische, ruhige Traurigkeit ersetzt. Adele war es nicht gewohnt, diese Seite des Executive zu sehen, aber sie wartete ab und sah zu.

„Das arme Mädchen wurde mitten auf der Autobahn halbnackt gefunden und blutete aus ihren Füßen. Sie war mit kleinen Kratzern und Schnitten bedeckt, die, wie die Ärzte vermuteten, entstanden als sie durch den eiskalten Wald rannte. Die Temperaturen waren so niedrig, dass ihre Lunge auch geschädigt wurde.”

„Sie ist bewusstlos?”, fragte John. „Unterkühlung?”

Adele warf ihrem Partner einen überraschten Blick zu und war noch überraschter, als Executive Foucault antwortete: „Ja. Der Lkw-Fahrer, der sie gefunden hat, meinte es gut mit ihr, aber sein Fahrzeug war zu warm für sie. Die Kälte in Kombination mit der schnellen Erwärmung hat Schaden angerichtet. Sie ist jetzt bewusstlos im Krankenhaus und hat ein Beatmungsgerät. Sie hoffen, sie nicht zu verlieren, aber es sieht nicht gut aus.”

„Sie wurde halbnackt und mit kleinen Schnitten bedeckt gefunden, was bedeutet, dass sie im Wald war und vor etwas davonlief. Aber wovor?”, fragte Adele.

Executive Foucault schüttelte den Kopf und tippte mit einem Finger gegen das Foto des amerikanischen Mädchens, auf dem sie noch lächelte. „Wir haben nur das, was der Trucker uns gesagt hat. Er sagt, sie erwähnte immer wieder eine Person, ein Mann, der sie verfolgt hatte. Jemand hat ihr ungeheuerliche Angst eingejagt.”

„Ich wusste nicht, dass du ein besonders mitfühlender Mann bist”, sagte John und hob eine Augenbraue.

Adele zuckte bei dem respektlosen Kommentar zusammen.

Foucault, der mehr Erfahrung mit John hatte, ignorierte dies völlig. „Sie erwähnte immer wieder, dass es noch andere gäbe”, fuhr der Executive fort. „Das ist der Teil, der uns Sorgen macht. Und einer der Gründe, warum sie Interpol anfordern.” Seine Augen wanderten zu Adele. „Sie sagte immer wieder, er würde sie alle töten. Zumindest laut Lkw-Fahrer.”

Für einen kurzen Moment wurde Adele an das Notizbuch ihres Vaters erinnert. Kritzeleien, Notizen, Aufzeichnungen von dem, was ihre Mutter mal gesagt hatte. Und jetzt ein Lkw-Fahrer, der einem bewusstlosen Mädchens, das nicht für sich selbst sprechen konnte, als Sprachrohr diente. Eine Stimme für ein Opfer. Würden seine Hinweise genauso nutzlos sein wie die ihres Vaters bis jetzt?

„Andere, wie viele andere?”, fragte John.

Foucault zuckte die Achseln. „Er wusste es nicht. Sie hat es nicht gesagt. Wenn sie aufwacht, können wir sie hoffentlich fragen. Aber im Moment würde ich mich nicht darauf verlassen, dass sie sich erholt.” Seine Stimme war wieder grimmig. „Es geht ihr schlecht.”

Adele bewegte sich ein wenig, kreiste um Johns andere Seite und warf einen Blick aus dem Fenster in die Straßen der Stadt. Viele der Gebäude waren immer noch mit Lichtern übersät, da Paris nicht die Stadt war, in der man früh ins Bett gehen konnte.

„Das Mädchen, was wissen wir über sie?”

„Amanda Johnson”, sagte Foucault. „21 Jahre alt. Ein Studentin aus den USA, die den Sommer über mit einigen Freunden in Deutschland unterwegs war. Sie trennte sich einen Monat später von den Freunden, um alleine zu reisen. Eine vermisste Person. Außerhalb des Radars und wurde nicht wieder gesehen.”

Adele spürte einen langsamen Schauer auf ihrem Rücken. „Amanda”, sagte sie leise. „Sie ist seit dem Sommer hier? Monate?”

„Fünf Monate”, sagte Executive Foucault. „Sie wird seit fünf Monaten vermisst.”

John gab das Foto an Foucault zurück. „Was hat er mit ihnen gemacht? Ihr? Fünf Monate? Hinweise auf sexuelle Übergriffe?”

Der Executive sah immer noch besorgt aus, aber sein Gesichtsausdruck wurde heller, wenn auch nur ein wenig. „Nicht dass sie es sagen könnten, aber es scheint keine Beweise dieser Art zu geben.”

Jetzt schüttelte Adele den Kopf. „Kein sexueller Übergriff? Aber sie konnte nichts anderes sagen? Sie ist vor Monaten verschwunden und anscheinend wurden auch andere vermisst? Ihre Freunde, die mit ihr gereist sind?”

Foucault schüttelte den Kopf. „Nein. Im Schwarzwald hört man Gerüchte”, sagte er achselzuckend.

„Was für Gerüchte?“, fragte John.

Diesmal antwortete Adele jedoch. „Über Verschwundene. Einige sagen Entführungen, andere sagen zufällige Unfälle. Wie dem auch sei, in diesem Bereich gibt es viele Berichte über vermisste Personen. Ich habe dort schon einmal einen Fall aufgespürt – eine Sackgasse.”

Foucault schnalzte mit der Zunge. „Zumindest sagen das die Einheimischen. Ich weiß es nicht. Das ist so viel wie wir wissen. John, ich meine es ernst, halten Sie Ihre Weste sauber. Ich kann Sie nicht wieder decken.”

John hielt kapitulierend die Hände hoch. „Ich höre Sie laut und deutlich.”

Adele versuchte nicht zu laut zu seufzen. Als sie das letzte Mal zusammen in Deutschland waren, hatte John die Ausrüstung eines Kamerateams vom Rand einer Klippe geworfen. Es hatte John fast seinen Job gekostet. Nach einer Reihe von Leistungsbeurteilungen wurde er in der vergangenen Woche wieder eingestellt, befand sich jedoch auf dünnem Eis. Ein weiterer Vorfall, könnte sich für seine Karriere als fatal erweisen, wenn nicht sogar für seine Freiheit.

„Wir fahren heute Abend los?” fragte Adele.

„Ja”, sagte Foucault. „Tickets sind gebucht. Chauffeure warten. Viel Glück, Sie beiden” Er verstummte und sein Gesicht verdunkelte sich. „Ich kann es fühlen. Da stimmt etwas nicht.”

„Irgendetwas stimmt nicht mit all den Fällen, die wir bekommen”, sagte John.

Der Executive nickte und winkte seufzend ab. „Vielleicht. Viel Glück.” Und mit diesen Worten deutete er zart auf die Tür.


***

Ein weiteres Flugzeug – eine weitere Reise. Adele hatte ein kleines Buch für den Flug in der Flughafenbuchhandlung gekauft, aber jetzt ignorierte sie es, nachdem sie es in das elastische Fach auf der Rückseite des Sitzes vor sich gesteckt hatte.

John neben ihr schnarchte. Er hatte die unheimliche Fähigkeit einzuschlafen, wohin sie auch gingen. Sie sah zu ihm hinüber und ihre Augen wanderten an seiner muskulösen Brust vorbei zum Fenster, den Nachthimmel erblickend. Sie bewegten sich immer weiter – von Ort zu Ort. Der Himmel selbst hatte sich nie viel verändert. Die Wolken über Frankreich waren die gleichen wie die Wolken über Deutschland.

Die Mörder waren die gleichen.

Französisch oder Deutsch – die Verwüstung, die sie verursachten, war identisch.

Adele verschränkte die Arme, blieb aber John zugewandt und spähte über seine Brust in die Nacht hinaus, während sie sich auf den ein Flug nach Deutschland vorbereitete.




KAPITEL FÜNF


Adele erwachte zu einem höflichen Klopfen an der Tür ihres Motelzimmers. Sie stöhnte, streckte sich und spürte das Unbehagen der Nacht auf ihrem Körper. Das kleine Motel, in dem sie neben dem Flughafen Zürich untergebracht waren, war ungefähr so komfortabel gewesen, wie es sich anhörte. Die meiste Zeit der Nacht war durch das Rumpeln der Flugzeugtriebwerke das ganze Hotel erschüttert worden. Und wenn nicht, hatte die kaputte Heizeinheit, die einen lauwarmen Wärmestrom durch den Raum spuckte, ein aufgewühltes Geräusch gemacht. Adele war jemand, der Schlaf schätzte, aber auch jemand, der stolz darauf war, vor einem Alarm aufzuwachen.

Mit einem Anflug von Frustration stellte sie fest, dass sie den Wecker ihres Telefons überhört hatte.

Ein weiteres leises, höfliches Klopfen an ihrer Tür. „Komme”, rief Adele.

Es dauerte ein bisschen, aber sie zog sich schnell an, putzte sich die Zähne über dem Waschbecken, sammelte die Reste ihrer Sachen und packte sie wieder in den Koffer, den sie mitgebracht hatte. Sie schob den Koffer unter das Bett, ging zur Tür und öffnete sie.

Sie lächelte, als sie die Person erkannte, die auf den Stufen des Motels auf sie wartete.

„Agent Marshall”, sagte Adele und nickte einmal. „Schön Sie wieder zu sehen.”

Die junge, zwanzigjährige BKA-Agentin nickte zurück. Sie war ziemlich hübsch und hatte eine Energie an sich, die Adele manchmal alt aussehen ließ. Beatrice Marshall neigte dazu, Dinge exakt nach den Regeln zu tun, hatte aber mehr als einmal bewiesen, dass sie eine zuverlässige Agentin war. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, Adele in den Skigebieten zu decken. Adele war dankbar, dass ihre Aufsichtsperson ein bekanntes Gesicht sein würde.

Sie blickte an Marshall vorbei und blickte zu John, der sich gegen einen abgebrochenen, verrosteten Stützbalken lehnte, der aus dem Geländer des Motels ragte.

„Du bist früh auf”, sagte sie mit gerunzelter Stirn.

John zwinkerte ihr zu. „Ich habe geschlafen wie ein Baby. Du schnarchst, weißt du?”

Adele starrte ihn an. „Überhaupt nicht.”

John grinste als Antwort. Adele warf Agent Marshall zögernd einen Blick zu und suchte nach einer Bestätigung für Johns Kommentar. Der jüngere Agent hielt sich jedoch aus der Debatte raus.

„Seid ihr zwei bereit?” fragte Marshall schließlich. „Ich soll euch zur Schwarzwaldstation bringen. Der Lkw-Fahrer, der das Opfer gefunden hat, wartet dort.”

„Bereit und willig”, sagte John.

Adeles Augen verengten sich. „Ich habe nie gewusst, dass du ein großer Morgen-Mensch bist”, sagte sie.

John warf einen Blick auf die hübsche Agentin Marshall und zog die Augenbrauen über ihren Hinterkopf hoch, sodass nur Adele ihn sehen konnte. „Manchmal braucht der frühe Vogel nur den richtigen Anreiz”, sagte er. „Außerdem bin ich nicht unvorbereitet”, er winkte dem Flughafen-Motel vage zu. „Ich bin mit zwei zusätzlichen Kissen angereist. Executive Foucault ist dafür berüchtigt, Agenten in Müllhalden zu fesseln, wenn sie ihn irritiert haben.”

„Ja?” Adele starrte ihn an. „Du hättest mich warnen können.”

„Habe ich vergessen.”

Adele seufzte. „Du schmeißt eine Kamera von einer Klippe und am Ende werde ich dafür bestraft. Wie kann das fair sein?”

John streckte die Hand aus und tätschelte ihr die Wange. „Ich bewundere, wie du in der Stille leidest. Wie wäre es, wenn wir uns von dem netten jungen Agenten mitnehmen lassen und mit dem Lkw-Fahrer sprechen?”

Er streckte einen Arm aus, den Agent Marshall mit einem leisen Kichern akzeptierte. Mit ihrem Arm durch seinen geschlungen, stiegen sie die Metalltreppe von der zweiten Ebene des Motels hinunter, das Geräusch eines Flugzeugmotors summte über ihnen.

„Netter junger Agent… am Arsch”, murmelte Adele leise. Sie überprüfte ihr Pistolenhalfter noch einmal, stellte ihren Gürtel ein und folgte dann ihnen dann mit saurer Stimmung, die immer noch jedes Knarren in ihrem Körper von der Nacht zuvor spürte, in Richtung des wartenden Autos.


***

Die Polizeidienststelle im Schwarzwald war kleiner als Adele sich erinnerte, als sie das letzte Mal dort gewesen war. Nur ein paar Beamte saßen in der Eingangshalle und ein Offizier musste aus dem hinteren Teil gerufen werden, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.

Agent Marshall, Adele und John warteten geduldig darauf, in den hinteren Teil des Gebäudes geführt zu werden.

Der LKW-Fahrer erwartete sie in einem der Verhörräume. Der Mann trug ein Cordhemd und hatte einen ordentlich geschnittenen grauen Schnurrbart, der zu den melierten Stoppeln an seinen Schläfen passte.

In dem Moment, als Adele ihn zum ersten Mal sah, entschied sie, dass er freundliche Augen hatte. Es gab sanfte Lachfalten um sie herum und obwohl er seine Hände verschränkte, zappelte er nicht und schien nicht nervös zu sein.

Als Adele und John in gepolsterten Metallstühlen dem Lastwagenfahrer gegenüber Platz nahmen, dachte sie, dieser Mann müsse aus hartem Material bestehen, um mitten in der Nacht auf einer verlassenen Autobahn für jemanden anhalten zu können.

„Sind Sie Herman Carmichael?”, fragte sie leise.

Der Lastwagenfahrer nickte ihr zur Begrüßung zu, sah ihr in die Augen und warf dann einen Blick auf John.

Agent Marshall stand auf und erlaubte den älteren Agenten, das Verhör zu leiten.

„Kann ich Ihnen etwas zu trinken oder zu essen holen?”, fragte Adele.

„Danke. Kaffee wäre schön”, sagte der Mann.

John hob eine Augenbraue in Richtung Adele. Auf Französisch übersetzte sie: „Könnten Sie ihm einen Kaffee holen?”

John schnüffelte. „Merde. Warum ich?”

„Weil du kein Wort verstehen kannst, was er sagt. Mach dich anderweitig nützlich!”

John grummelte vor sich hin, verließ den Tisch und stampfte aus dem Verhörraum.

Adele richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Mr. Carmichael. „Sie haben das Mädchen gefunden?”

Er fuhr sich müde mit der Hand über das Gesicht, sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich. „Ja, leider ging es ihr schlecht. Mir wurde gesagt, dass ein zu schnelles Erhitzen Schaden verursacht haben könnte. Habe ich sie verletzt?”

Adele schüttelte den Kopf. „Nach allem, was mir gesagt wurde, ging es ihr schlechter, bevor Sie sie gefunden haben. Sie draußen stehen zu lassen, wäre ein Todesurteil gewesen. Sie haben alles, was in ihrer Macht stand, getan, machen Sie sich keine Sorgen.”

Mr. Carmichael atmete wieder, jetzt etwas entspannter. Ein Teil der Erschöpfung, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, schien bei Adeles Worten ein wenig zu verblassen.

Adele räusperte sich. „Können Sie mir noch etwas sagen? Woran haben Sie seit dem Vorfall gedacht?”

Der Trucker fuhr sich mit der Hand durch den Bart und schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid”, sagte er. „Ich habe schon alles gesagt…”

Bevor er fertig werden konnte, betraten zwei Personen den Raum.

Adele hielt ihren Ärger zurück und warf einen Blick über die Schulter. John war zurückgekehrt. Neben ihm war auch eine Frau im Anzug eingetroffen, eine kleine weiße Kaffeetasse in einem Heizkissen aus Pappe in der linken Hand. Sie trug nicht den normalen Anzug eines Polizisten. „Detective”, vermutete Adele. „Morddezernat, höchstwahrscheinlich.”

„Hallo”, sagte der Detektive auf Deutsch. Sie streckte die Tasse nach dem Mann aus und schob sich, bevor John sich bewegen konnte, auf den Stuhl neben Adele. „Ich bin Detective Klopp”, sagte sie. „Die Bezirksrichtlinie besagt, dass ich für diese Befragung hier sein muss.”

Agent Marshall verhielt im hinteren Teil des Raumes ruhig, nahm ihr Notizbuch heraus und ihre Augen wanderten zwischen den verschiedenen Teilnehmern des Raumes hin und her. Adele rutschte ein wenig auf ihrem Stuhl herum und drückte ihre Hände gegen die kühle Oberfläche des Metalltisches. Sie wartete darauf, dass Mr. Carmichael etwas vom dampfenden Kaffee nahm. Er schmatzte mit den Lippen und zuckte wegen der Hitze zusammen.

„Sie haben ihn bereits befragt?” Adele warf Detective Klopp einen Blick zu.

„Ja. Nur hier, zur Überprüfung und auf jede erdenkliche Weise zu helfen.”

Adele sammelte sich und zeigte auf den LKW-Fahrer. „Nun, ich habe ihn nur gefragt, ob er sich an etwas anderes aus dieser Nacht erinnern könne.”

„Und wie ich schon sagte”, antwortete Mr. Carmichael leise, „da war niemand. Keine Autos, keine Menschen. Nur das Mädchen mit den blutigen Fußspuren.”

„Wie Sie uns bereits gesagt haben”, sagte Detective Klopp und nickte. „Und auch die wilden, weit hergeholten Behauptungen, die sie gemacht hat.”

Der LKW-Fahrer zögerte. „Sie sagte, es gäbe noch andere”, er schluckte und hob dann eine Hand, als würde er einem Lehrer im Unterricht ein Zeichen geben. „Sagte, jemand hätte sie gefangen genommen und würde sie alle töten.”

Adele sah jedoch zu dem deutschen Detektiv hinüber. “Glauben Sie nicht, dass die Kommentare des Mädchens ernst genommen werden sollten?”

Detective Klopp schüttelte den Kopf. Ihr Haar war zu einem ordentlichen Knoten zurückgezogen und sie hatte kaum Make-up-Spuren auf ihren Gesichtszügen. Ihre Wangenknochen waren hoch und ihre Augen suchten nach etwas, als sie Adele studierte. „Das Mädchen war unterernährt, hungerte, fror und war mitten im Wald”, sagte sie. „Alles ernst zu nehmen, was sie gesagt hat”, sie räusperte sich und bewegte sich ein wenig. „könnte an dieser Stelle nicht ratsam sein.”

Adele warf einen Blick auf Agent Marshall und dann zurück. „Ist das die offizielle Position dieser Abteilung?”

Detective Klopp lächelte Mr. Carmichael beruhigend zu. Sie wandte sich an Adele, hatte aber noch immer den Lastwagenfahrer im Blick. „So ist es. Herman”, sagte sie, „erzählen Sie ihr bitte, wie sich das Mädchen verhalten hat, als Sie sie das erste Mal getroffen haben.”

Der Lkw-Fahrer bewegte sich unbehaglich. „Nun, wie ich schon sagte, sie redete davon, dass es noch andere gäbe. Aber als ich zum ersten Mal auf sie stieß, sagte sie überhaupt nichts. Tatsächlich fühlte es sich fast so an, als könnte sie mich nicht sehen. Ich fuhr meinen Truck von der Straße und versuchte, ihr auszuweichen. Sie stand mitten auf der Autobahn und trug keine Kleidung.” Er wurde ein bisschen rot, räusperte sich und schüttelte den Kopf. „Schlechtes Geschäft. Schlechtes Geschäft. Jedenfalls stand das Fräulein dort; schien mich nicht zu sehen, bis ich direkt bei ihr war. Ich habe sie sogar angesprochen, aber sie starrte nur in die Ferne.”

Detective Klopp winkte mit der Hand, als würde sie etwas in der Luft zeigen. „Ich hoffe Sie verstehen jetzt”, sagte sie, „warum es vielleicht nicht das Beste wäre, das Mädchen beim Wort zu nehmen.”

Adele senkte den Kopf, um zu zeigen, dass sie es verstanden hatte. Sie versuchte noch einige Minuten lang verschiedene Fragen, aber der Lkw-Fahrer übermittelte nichts, was Executive Foucault ihnen noch nicht gesagt hatte: Jemand, so das Mädchen, hatte andere in Gefangenschaft. Das Mädchen schien aus offensichtlichen Gründen verstört zu sein. Sie war mit kleinen Schnitten und blauen Flecken bedeckt, als sie durch den Wald rannte. Mehr als das, hatte der Lkw-Fahrer nichts hinzuzufügen.

Adele bedankte sich leise und erhob sich von ihrem Stuhl. John verfolgte sie mit Fragen auf Französisch, aber sie ignorierte ihn und sagte zu Marshall, als sie den Verhörraum verließen: „Wo ist das Krankenhaus?”

Marshall sah Adele an. „Du willst selbst mit ihr sprechen?”

„So wie es sich anhört, wird das wohl nicht möglich sein?”

Marshall schüttelte den Kopf. „Sie liegt im Koma. Aber ich kann dich ins Krankenhaus bringen, wenn du willst.”

Adele nickte. „Vielleicht haben die Ärzte etwas gefunden, was uns helfen könnte. Der Lkw-Fahrer kann uns jedenfalls nicht weiterhelfen.”

Adele konnte fühlen, wie sich etwas in ihrem Bauch verschlimmerte. Die scheinbare Vorahnung von Executive Foucault kam zu ihr zurück. Das war schlecht. Etwas an diesem Fall fühlte sich unheimlich an. Adele begann ein ähnliches Gefühl zu spüren. Sie war sich nicht sicher warum. Aber irgendwie war sie sich nicht sicher, ob sie den Höhepunkt dieser Untersuchung miterleben wollte. Ihr Magen verdrehte sich, als sie die Polizeistation verließen und zurück zum Auto gingen, um sich auf den Weg ins Krankenhaus vorzubereiten.




KAPITEL SECHS


„Dieses Mal hole ich keinen Kaffee”, sagte John streng.

Adele schüttelte den Kopf, als sie die Stufen zur Vorderseite des Krankenhauses hinaufging.

Agent Marshall stand bereits neben den rotierenden Glastüren. Sie lächelte höflich und bedeutete Adele und John zu folgen. Die drei Agenten betraten die Lobby des Krankenhauses und wurden von dem kränklich süßen Geruch von Reinigungsflüssigkeiten und Desinfektionsmitteln begrüßt. Adele spürte einen plötzlichen Juckreiz in ihrem Nacken. Sie schüttelte den Kopf. Etwas an Krankenhäusern machte ihr Angst. Insgeheim hoffte sie, wenn sie jemals zu krank sein würde, würden die Leute so freundlich sein, sie in Ruhe zu lassen, um in ihrem Bett zu sterben, anstatt sie an einen schrecklichen Ort wie diesen zu schleppen. Sie mochte Ärzte auch nicht besonders.

John ging zur Rezeption und sagte auf Französisch. „Mademoiselle. Haben Sie französischsprachige Ärzte, die Amanda Johnson behandelt haben?”

Die Frau hinter der Theke starrte ihn nur zögernd an. Sie warf einen Blick auf einen ihrer Partner, aber der junge Mann zuckte nur mit den Schultern.

Agent Marshall näherte sich und berührte John sanft am Ellbogen. Sie sprach leise und schnell mit den Krankenschwestern und schließlich wurden sie zu einem Aufzug am anderen Ende des großen Atriums geleitet. Sie kamen an ein paar künstlichen Topfpflanzen vorbei. Wieder wurde Adele daran erinnert, wie sehr sie Krankenhäuser hasste.

„Geht es dir gut?”, fragte John, als sich die Aufzugstüren öffneten und sie eintraten.

„Natürlich”, antwortete sie knapp.

„Du schwitzt”, sagte er. „Es ist kalt. Warum schwitzt du?”

„Ich schwitze nicht, halt die Klappe.” Adele wandte sich ab, aber als John seine Aufmerksamkeit wieder auf Marshall richtete und sich mit dem jungen Agenten unterhielt, während der Aufzug den Boden hinauffuhr, wischte sich Adele schnell über die Stirn. Feuchtigkeit. Sie schwitzte. Verdammt. Sie würde ihre Gefühle in Schach halten müssen, selbst an einem Ort wie diesem.

Sie stiegen aus dem Aufzug und wurden von einer weiteren langen Halle mit Glasfenstern auf beiden Seiten konfrontiert. Sie konnte entfernte Pieptöne hören. Ein weiteres Geräusch, das an ihr sie so kratzte wie Fingernägel an einer Tafel.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?” murmelte John in ihr Ohr.

„Mir geht es gut. Mal sehen, ob wir diesen Arzt finden können.”

Als Marshall dies hörte, sagte sie höflich: „Der für Amanda zuständige Chefarzt spricht Englisch. Ich bat ihn, uns vor ihrem Zimmer zu treffen. Hier entlang.”

Marshall führte sie an drei geschlossenen Türen vorbei. Zwei von ihnen hatten Vorhänge, aber einer war offen, drei Krankenschwestern trugen grüne Peelings und versuchten, einen alten, gebrechlichen Mann auf einen Tragebarre zu heben.

Die Szene, die Düfte, das Piepen und all das versetzten Adele in einen weiteren Krampf existenzieller Angst. Aus irgendeinem Grund dachte sie an Robert. Sie dachte an seinen Husten, sein Alter. Vielleicht sollte sie morgen ein paar Stunden länger laufen. Ja, das würde helfen, ihren Geist zu klären.

Sie kamen schließlich vor einer offenen Glastür zum Stehen. Ein Mann wartete auf sie. Er hatte ein Stethoskop in die Tasche seines blauen Peelings gesteckt und ein Namensschild an seiner Brust befestigt.

„Dr. Samuel”, sagte Agent Marshall, „wir haben telefoniert.”

Der Arzt war ein älterer Mann mit einem rein weißen Bart und kräuselnden Augen. Aber wo die Augen des Lkw-Fahrers Linien vom Lächeln hatten, waren Dr. Samuels Linien, die eines Besorgniserregenden.

„Ich habe nicht viel Zeit”, sagte er, ohne Höflichkeiten auszutauschen. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?”

Der Arzt sprach fast perfekt Englisch. Johns Gesichtsausdruck hellte sich auf und er antwortete selbst in stark akzentuiertem Englisch. „Sie sind für Amanda Johnsons Fall verantwortlich?”

Der Arzt nickte einmal. Mehr sagte er nicht, er wartete, einen Fuß im Raum, einen Fuß draußen.

Im Inneren entdeckte Adele die zerknitterte Gestalt des Opfers, die auf einem Bett lag. Der Raum war dunkel, das Licht aus. Auf drei verschiedenen Bildschirmen wurden die Vitalwerte des Mädchens angezeigt, wobei Zahlen und blinkende Lichter pulsierten. Das Mädchen lag regungslos unter zwei Decken. Das Beatmungsgerät schien ein Fremdkörper zu sein – ein eindringendes Gerät. Die Röhren und das Metall und die blinkenden Lichter dienten nur dazu, Adeles Angst zu vertiefen. Das Mädchen schien so klein zu sein, als wäre jemand in einer riesigen Bärenfalle gefangen.

Adele zitterte und sah weg, weigerte sich länger zu starren. „Können Sie uns etwas sagen?”, fragte Adele durch enge Lippen. „Wird sie sich erholen?”

Der Arzt sprach in schnellen, abgeschnittenen Wörtern. Es klang, als wäre er über die Frage verärgert, aber Adele vermutete, dass er über alles verärgert war. „Das arme Mädchen hat Stunden in diesem Wald verbracht”, sagte er. „Hier, überzeugen Sie sich selbst.”

Er zog ein Klemmbrett aus einem Schlitz neben der Tür und überreichte es Adele. Sie blickte nach unten und blätterte durch die Fotos. Ihre Augen verengten sich mit jedem weitern.

Zuerst sah sie die Füße des Mädchens. Die ganze Zeit tiefe Schnitte, abgezogenes Fleisch, Schmutz unter den Zehennägeln und in den Wunden. Zwei der Zehennägel fehlten vollständig und einige der Zehen hatten einen bläulichen Schimmer.

„Erfrierung?”, fragte Adele.

„Fast”, sagte Dr. Samuel. „Diese Schnitte, sehen Sie sie? Vom Barfußlaufen durch den Wald. Raues Gelände, was auch immer sie erschreckt hat, hielt sie trotz der Schmerzen am Laufen.”

Adele nickte. “Und der Rest von ihr?”

Der Arzt nahm das obere Bild ab und legte es über die Rückseite des Bretts. Er zeigte auf das nächste. „Weitere blaue Flecken und kleine Schnitte entlang ihres Körpers, hier und hier.”

Adele erblickte Kratzer über ihrem Bauchnabel und weitere blaue Flecken auf der Brust des Mädchens.

„Aber hier”, sagte er, „das sind alte Wunden. Alte Narben.”

„Wie alt?”, fragte Adele schnell.

Der Arzt schüttelte den Kopf. „In ihrem Zustand ist es schwer zu sagen. Wir prüfen es noch. Wir glauben jedoch nicht, dass dies für ihre aktuelle Situation relevant ist.”

„Über fünf Monate alt?”, fragte Adele.

Aber der Arzt schüttelte noch einmal den Kopf. „Länger. Es ist jedoch”, sagte er leise, „ungefähr innerhalb dieses Zeitraums.”

Er blätterte zum letzten Foto, auf dem die Oberseite des Kopfes des Mädchens zu sehen war, bei dem einige Haare abrasiert waren.

„Was ist das?”,fragte John.

Adele sah nur hin. Es gab feine Narben auf einem etwas hervorstehenden Hautlappen. Es war geheilt, aber schlecht.

„Das ist fünf Monate alt?”, fragte Adele.

„Fünf Monate ohne Behandlung oder Krankenhaus. Fünf Monate, in denen jemand daran herumhackte. Ja. Sie können sehen, wie sich das Narbengewebe ausgebreitet hat und wie die Wunde nie vollständig versiegelt wurde.”

Adele drehte sich leicht zu John und Agent Marshall um und hob die Augenbrauen. „Vor fünf Monaten. Glaubst du, so hat der Angreifer sie unterworfen?”

Dr. Samuel räusperte sich. „Es war ein Schlag auf den Hinterkopf. Er hätte sie sehr wohl bewusstlos machen können, wenn Sie sich das fragen.”

Adele presste die Lippen fest zusammen und dachte nach. Sie sah zu dem runzligen Gesicht des Arztes auf. „Noch etwas?”

„Ich habe einige andere Verletzungen gefunden. Anzeichen von Missbrauch. Ein gebrochener Arm, schlecht geheilt. Markierungen, die mit blauen Flecken beim Stanzen übereinstimmen. Ich habe auch Kratzer auf dem Rücken des Mädchens von einem Tier oder langen Fingernägeln gesehen.”

„Vielleicht einer der anderen, die vom Psycho entführt wurden?” sagte John leise. „Sie sagte, es gäbe andere.”

Adele machte eine Pause, als sie über diese beunruhigende Vorstellung nachdachte und wandte sich dann erneut an den Arzt. „Wie stehen die Chancen, dass sie mit uns sprechen kann?”

Der Arzt stand immer noch mit einem Fuß in der Tür und schüttelte den Kopf. „Nicht gut. Die Chancen, sich überhaupt zu erholen, sind gering. Wie ich schon sagte, sie war stundenlang in diesem Wald und rannte durch das Unterholz. Die Schnitte sind nicht das einzige, worüber wir uns Sorgen machen müssen. Die Kälte selbst forderte ihren Tribut von ihren Lungen. Sie war unterkühlt, als sie hierherkam.”

„Sie ist sediert?”

„Gegen einige der Schmerzen. Aber nicht stark. Sie liegt im Koma. An einem Beatmungsgerät.”

Adele warf einen Blick zurück in den Raum und es dauerte einen Moment, aber dann entdeckte sie die Luftkompressionsmaschine, ein weißes Plastikding mit vielen Knöpfen.

„Das Mädchen blieb nur so lange auf den Beinen, weil sie aus hartem Material gemacht war”, sagte der Arzt. „Die meisten Menschen hätten es nicht so weit im Wald schaffen können. Vor allem nicht so lange. Adrenalin hielt sie am Laufen. Sie hatte Glück, dass sie dabei die Autobahn gefunden hat. Wenn nicht, wäre sie in einem Loch in diesem Wald gestorben.”

Adele runzelte die Stirn. „Das ist ein krankhafter Gedanke.”

„Und doch plausibel… Sehen Sie, ich habe andere Patienten. Wenn es sonst nichts gibt”, sagte Dr. Samuel und verstummte.

Adele warf ihren Gefährten einen Blick zu, aber sie blieben still. Die Ermittler verabschiedeten sich vom Arzt und sahen zu wie er mit langen Schritten, die seinem alten Aussehen entgegenwirkten, den Flur entlang ging.

Adele wandte sich an Marshall. „Hast du die Telefonnummer der Eltern des Mädchens?”

Marshall antwortete prompt. „In den USA? Mit dem Zeitunterschied ist es spät genug am Tag, dass Sie sie am Telefon sein könnten.”

Adele nickte dankbar und wartete, während Marshall in ihrem Notizbuch nach den entsprechenden Details suchte.

Die Tür, in der der Arzt gestanden hatte, schwang immer noch zu, verlangsamt durch einen Federmechanismus über dem Rahmen. Als sich die Tür schloss, unterbrach sie die Sichtlinie in den Raum mit dem Beatmungsgerät und Amanda Johnson.

“Lass uns einen Pausenraum finden, damit ich diesen Anruf tätigen kann”, sagte Adele, ihr Mund war wieder eine grimmige Linie.


***

Adele hörte das leise Klingeln des Telefons. Es fühlte sich seltsam beruhigend an – das kühle Metall drückte sich gegen ihre Wange. Sie saß mit einem ihrer Knie an Johns langem Bein. Er ließ sich mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl nieder, seine Augen waren auf sie gerichtet.

Agent Marshall stand wieder. Adele fragte sich, ob die junge Agentin jemals müde wurde. Marshall hatte die Tür des Pausenraums hinter sich geschlossen und die Jalousien geschlossen, um die Privatsphäre zu schützen.

Adele hörte dem Klingeln zu.

Sie warf einen Blick auf die Nummer unter ihrem verschränkten Arm, handgeschrieben auf dem zerrissenen Stück Papier, das Marshall ihr gegeben hatte. Korrekte Nummer. Vielleicht hatte sie die Zeitzone falsch verstanden.

Noch ein Klingeln. Adele wollte gerade das Telefon schließen, als die statische Aufladung unterbrochen wurde und dann sagte eine Stimme am anderen Ende: „Hallo, wer ist da?”

Die Stimme war wachsam und dringend.

„Hallo, mein Name ist Agent Sharp, ich bin bei Interpol. Ist das Mr. Johnson?”

Sie hörte jetzt eine schwache Stimme, als wäre das Telefon für einen Moment abgesenkt worden. „Schatz, es ist Interpol; Sie sind in der Leitung. Ja, gerade jetzt. Beeil dich.”

Dann wurde die Stimme wieder lauter. „Entschuldigen Sie die Verspätung. Wir sind mit dem Hund spazieren gegangen. Gibt es ein Update? Nun…” Eine Pause und der Mann räusperte sich. „Ich kann mir vorstellen, dass Sie wegen unserer Tochter anrufen.”

Adele beruhigte sich, bevor sie nickte und knackig sagte: „Ja. Es tut mir leid, wenn wir uns verspätet haben. Ihre Tochter lebt noch, ich wollte damit beginnen…”

Bevor sie weitermachen konnte, hörte sie am anderen Ende ein leises Keuchen. Die zweite, schwächere Stimme, die sie kaum erkennen konnte, sagte: „Danke, Gott. Danke, lieber Jesus.”

Die erste Stimme, Mr. Johnson, sagte: „Das ist gut zu hören. Zuletzt haben wir gehört, dass sie nicht sicher waren, ob sie es schaffen würde.”

Adele runzelte die Nase. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie als einzige Nachrichtenlieferantin für die Familie Johnson bestimmt war. Sie nahm an, weil sie Amerikanerin war, machte es Sinn, dass die Deutschen es ihr überlassen hatten. Sie wechselte schnell den Kurs und versuchte, diese neue Rolle schnell zu übernehmen. „Es ist noch früh”, sagte Adele schnell. „Sie ist in keinem guten Zustand. Ich werde Sie nicht anlügen. Sie sind sich immer noch nicht sicher, ob sie sich vollständig erholen wird.”

Während sie sprach, spürte Adele, wie ihre Stimme zitterte. Eine leichte Fragmentierung des Klangs – aber eine, die sie trotzdem überraschte. Obwohl sie das Telefon hochhielt, runzelte sie die Stirn. Eine Schwellung seltsamer Gefühle stieg in ihrer Brust auf. Adele schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren – aber obwohl Mr. Johnson ihr am anderen Ende antwortete, fiel es ihr schwer, sich um seine Worte zu kümmern.

Blutungen… Blutungen… Immer bluten…

Ein Bildblitz – ein Traum oder ein Schnappschuss von einem alten Foto – Adele erinnerte sich kaum. Normalerweise kam es nachts zu ihr. Ihre Mutter verstümmelt in einem französischen Garten. Tot. Sie erinnerte sich, dass sie nach Deutschland zurückgeflogen war, um mit ihrem Vater zusammen zu sein. Sie erinnerte sich an die Anrufe … ähnlich. Anrufe von Nationen weg. Telefonanrufe, die die erschreckendste Erfahrung ihres Lebens waren. Und am Ende?

Nichts. Ihre Mutter ist immer noch tot. Der Mörder ist weg.

Diesmal konnte die Geschichte nicht mit nichts enden. Diesmal können Telefonanrufe aus anderen Ländern nicht einfach statisch sein – weißes Rauschen vor dem Hintergrund eines Unglücks. Diesmal musste es anders sein.

Adele schluckte die Galle zurück, die in ihrem Hals aufstieg. Sie schloss die Augen gegen die plötzlichen Bilder, die die Innenseiten ihrer Augenlider peitschten. Und dann tat sie beim Ausatmen ihr Bestes, um zuzuhören.

Mr. Johnson sprach immer noch. „…Überhaupt nichts? Können wir auf irgendeine Weise helfen?”

Adele schluckte erneut. Ihre Stimme klang kratzig in ihren Ohren und für einen Moment spürte sie Marshalls Augen auf sich und beobachtete sie. Schließlich krächzte sie: „Einige der besten Ärzte der Welt sind hier. Sie tun, was sie können. Und… und ich auch…”Sie biss diesen letzten Satz ab. Die Dringlichkeit – das Bedürfnis zu versprechen. Um die Ängste zu zerstreuen, wirbelten die Schrecken in Amandas Familie auf. Adele kannte die Angst, aber für sie war sie voller Trauer. Vorerst blieb den Johnsons dieser besonders bittere Widerhaken erspart. Aber wenn die Ärzte nicht gewinnen würden, würden auch sie teilnehmen.

„Schatz”, sagte die zweite Stimme, eine sanftere Stimme. „es wird alles gut. Hab Vertrauen. Es wird okay sein.”

Sie hörte ein weiteres flüsterndes Gespräch zwischen freundlichen Stimmen, die nicht umstritten waren. Adele verspürte einen kleinen Anflug von Erleichterung. Nach ihrer Erfahrung gab es zwei Reaktionen auf solch schlechten Nachrichten. Es würde entweder Familien näher zusammenrücken oder sie vollständig auseinander reißen und nur Trümmer zurücklassen. Zumindest für den Moment nahmen die Johnsons den besseren Weg. Sie würden sich in den kommenden Tagen brauchen.

Adele sagte: „Wir werden Sie kontaktieren, sobald wir etwas Neues wissen.”

Diesmal sprach Mr. Johnson. „Unsere Amanda ist ein hartes Mädchen. Sie wird sich erholen. Wirklich. Vertrauen Sie mir.”

Adele lächelte leicht und traurig. Aber es verblasste, als die gleichen Gefühle von früher um ihre Aufmerksamkeit kämpften. Blut… „Das hoffe ich sehr. Sie ist stark. Da liegen Sie nicht falsch.” Adele dachte an die Kommentare des Arztes. Stundenlang in den Wäldern rennen, die Kälte, ihre Füße bluten. Ein ausgerenkter Ellbogen. Prellungen auf ihrem Körpers. Das Mädchen hatte etwas Schreckliches erlitten. Genauso wie Elise gelitten hatte. Zumindest war Amanda lebend herausgekommen.

„Wenn es jemanden gibt, auf den ich wetten würde, wäre sie es. Aber sehen Sie mal.” Adele behielt trotz des plötzlichen Hinterhalts ihrer Gedanken wieder einen professionellen Ton bei. Eine geübte Fähigkeit – aber eine, die nicht leichtfertig kam. “Ich muss wissen, ob es üblich war, dass Ihre Tochter mit Freunden reiste?”

Diesmal antwortete die weibliche Stimme am Telefon. „Inspektor, Sir”, sagte die Stimme und deutete an, dass Adele nicht über die Freisprecheinrichtung redete.

„Ja, Ms. Johnson?”

„Oh ja. Es tut uns leid. Fräulein.”

Adele hielt ihren Ton sanft und völlig zurechtweisend. „Mein Name ist Agent Sharp.”

„Agent Sharp. Unsere Tochter machte diese Reisen die ganze Zeit mit ihren Freunden. Manchmal trennten sie sich und machten sich auf den Weg und erkundeten eine Weile auf eigene Faust, bevor sie sich wieder zusammenschlossen.”

„Und dann ist sie verschwunden? Wann hat sie sich abgespalten?”

„Ja”, sagte die Stimme der Frau, die für eine Sekunde knackte, dann aber weiter machte. „Das können wir Ihnen leider nicht beantworten.”

„Gab es damals etwas Seltsames? Irgendwelche Anrufe? Jemand, der sie gestört hatte? Vielleicht sogar eine ihrer Freundinnen?”

„Nichts. Nichts dergleichen. Amanda war überglücklich über diese Reise. Bei allen ihren Telefonanrufen lachte sie, während sie uns von den Dingen erzählte, die sie gesehen hatte. Sie liebte es zu reisen. Nichts Außergewöhnliches.”

„Mr. Johnson?”, fragte Adele.

Es gab ein weiteres Fummeln und Mr. Johnsons Stimme ertönte wieder. „Ich bin sicher, sie hat damit nichts Beleidigendes gemeint, Liebes. Sie will nur alle Fakten erfahren. “Jetzt lauter sagte er: „Nichts. Genau wie meine Frau sagt. Amanda war glücklich. Aufgeregt. Wer würde ihr so etwas antun? War sie … war sie es selbst? Als wir zum ersten Mal kontaktiert wurden, sagte die deutsche Polizei, sie hätten sie gefunden. Hat jemand mit ihr gesprochen? Haben Sie irgendwelche Verdächtigen?”

Adele hasste diesen Teil. Der notwendige, aber schmerzhafte Schleier zwischen Angehörigen und der Untersuchung. Sie tat ihr Bestes, um damit umzugehen, indem sie sagte: „Schließlich hoffen wir, alles herauszufinden. Dafür muss ich mir allerdings etwas Zeit nehmen. Nach allem, was ich gesehen und gehört habe, ist Ihre Tochter ein sehr starkes Mädchen. Ich würde meine Gedanken darauf konzentrieren. Überlassen Sie mir den Rest, okay?”

Etwas schweres Atmen, aber dann: „In Ordnung. Vielen Dank, Agent Sharp.”

„Eine andere Sache”, sagte Adele. „Wenn Sie mir einen Gefallen tun könnten und ich weiß, dass es eine große Frage ist, aber es wird helfen; Könnten Sie nach bestem Wissen die Reiseroute Ihrer Tochter aufschreiben? Von dem Moment an, als sie die USA verließ, bis zu dem Zeitpunkt, als sie vermisst wurde. Alles, was Sie sich vorstellen können. Wohin sie möglicherweise mit ihren Freunden gereist ist, alle E-Mails, die sie von den verschiedenen Orten gesendet hat, die Sie besucht haben. Hotels, Motels, B&Bs. Wie gesagt, ich weiß, dass es viel ist, aber es würde helfen. Der Agent, der Sie zum ersten Mal kontaktiert hat, gibt Ihnen meine E-Mail. Sie können es mir direkt schicken.”

„Ich gebe mein bestes”, sagte Mr. Johnson mit einer leichten Belastung seiner Stimme.

Für einen Moment herrschte Stille. Dann biss sich Adele auf die Lippe und bevor sie sich aufhalten konnte, machte sich ein Hauch von dem, was sie innerlich fühlte, im Raum bemerkbar. “Ich werde herausfinden, wer das getan hat. Ich verspreche es Ihnen”, sagte sie und ihre Stimme war plötzlich angespannt. „Ich werde herausfinden, wer das getan hat. Ihre Tochter hat das verdient … Ich weiß, es ist beängstigend, weit weg zu sein. Aber wissen Sie, ich … ich kenne dieses Gefühl. Und ich werde denjenigen finden. Ich verspreche es.”

Dieses plötzliche Leck im Damm der Emotionen schien eine ähnliche Reaktion am anderen Ende des Telefons auszulösen. Adele hörte jemanden leise im Hintergrund weinen, bevor Mr. Johnson mit schroffer Stimme sprach. „Ein kühnes Versprechen, Agent Sharp. Ich glaube halb, dass Sie es ernst meinen.”

„Das tue ich.”

„Guten Abend, Agent. Gott stehe Ihnen bei.”

Sie verabschiedeten sich und Adele senkte ihr Handy, sodass das trauernde Paar zuerst die Leitung schließen und den Anruf beenden konnte.

„Und?”, fragte John. Er hatte eine Tüte Chips aus dem Automaten geholt, aber gnädigerweise darauf gewartet, die Tüte zu öffnen.

“Nichts”, sagte sie über das Geräusch kauender Chips. Sie atmete durch die Nase und beruhigte sich so gut sie konnte. Danach musste sie sich neu fokussieren. Der Fall kam zuerst. Versprechen bedeuteten nichts ohne Durchsetzung. „Zumindest nichts Neues. Es war üblich, dass sie sich voneinander trennten. Ich weiß es nicht. Wir müssen vielleicht mit einigen ihrer Freunde sprechen. Wir werden sehen.”

„Üblich, dass sie fünf Monate lang vermisst wird?” sagte John. „Etwas ist passiert – etwas Außergewöhnliches. Aber was?”

Adele nickte. „Hier kommen wir ins Spiel.”

Sie steckte ihr Handy ein und ging dann zur Tür.




KAPITEL SIEBEN


Adele saß an dem kleinen Tisch in ihrem Motelzimmer am Flughafen. John saß ihr gegenüber, seine Augen waren auf den Laptop-Bildschirm gerichtet und durchsuchten die auf seinem Computer geöffneten Dateien. Er hatte seinen Pullover ausgezogen und nur ein enges schwarzes T-Shirt an. Es half, auf interessante Weise, seine muskulöse Form zu betonen. Adele zog es vor ihn zu beobachten, statt den Inhalt auf ihrem Bildschirm.

„Etwas gefunden?”, fragte sie und beobachtete ihn immer noch. John sah hinüber und sie schaute schnell weg, schluckte dabei und tat so, als hätte sie einfach die kleine Küche gescannt.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit pflichtbewusst wieder auf ihren Bildschirm und ihre Augen wurden glasig, als sie durch die verschiedenen Akten und Aufzeichnungen blätterte, auf die Agent Marshall ihnen Zugriff gewährt hatte. Vorerst half der junge Agent bei der Organisation einer Fahndung im Schwarzwald. Aber Adele wollte zuerst andere vermisste Personen untersuchen.

„Überraschende Anzahl”, sagte John. „Hier ist ein Kerl namens Henry Walker. Wurde vor zwei Jahren vermisst. Eine andere, Cynthia Davis, wird seit letztem Jahr vermisst. Beide Amerikaner.” Er hob deutlich die Augenbrauen. Er fuhr fort: „Ein anderer namens Pierre Costa. Französischer Landsmann. Wurde vor drei Jahren vermisst. Zwei weitere Mädchen wurden gleichzeitig vermisst. Beides letztes Jahr.”

„Wie viele von ihnen wurden wieder gefunden?”, fragte Adele und warf einen Blick über den Rand ihres Laptops. Diesmal untersuchte sie weder das enge Hemd noch seine lange, gut proportionierte Gestalt. Johns Augen fanden ihre und er hielt ihren Blick fest. Seine nächsten Worte verdrängten alle Gedanken an ihren Partner. „Drei von ihnen wurden gefunden. Zwei mit Kugeln im Hinterkopf. Einer am Fuße einer Schlucht, sieht aus wie ein Wanderunfall.”

Adele nagte an ihrer Unterlippe. Wir suchen niemanden, der gefunden wurde. Konzentrier dich nur auf diejenigen, die vermisst werden. Sag mir, wie viele du findest.”

John zog hoch und es gab ein schnelles Klicken. Er fuhr fort, durch die Akten zu blättern. Adele ihrerseits achtete genauer auf die Details der wenigen Namen, die sie bereits in der Datenbank gefunden hatte. Alle im Schwarzwald. Insgesamt sechs bisher. Alle im College-Alter. Alle scheinbar fremd.

Sie tippte mit den Fingern gegen die Basis ihres Computers und genoss das Gefühl, mit den Händen zu trommeln. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und spürte, wie das robuste Metall keinen Zentimeter unter ihr nachgab. Ein Teil von ihr wollte ihren regulären Lauf machen. Es war ein paar Tage her, seit sie es geschafft hatte zu trainieren. Sie wurde es leid, die ganze Zeit zu sitzen. Wenn sie nur ihre Haltung ändern wollte, stand sie auf und ging um den Tisch herum. Zum Teil, als sie ihre Finger gegen ihren Oberschenkel trommelte, wusste sie, dass sie von ihrem Besuch im Krankenhaus nervös war. Sie hasste Krankenhäuser. Aber teilweise spürte sie das Gefühl der Vorahnung. Die Vorahnungen von Executive Foucault nagten an ihren Gedanken. Warum hielt Foucault diesen Fall für bedrohlich?

Es schien kalkuliert, dachte Adele bei sich. Es war etwas Kluges daran. Etwas, das darauf hindeutete, wer auch immer hinter Ms. Johnsons Verschwinden und anschließendem Missbrauch steckt, wusste genau, welches Ziel er gewählt hatte. Ein Fremder. College-Alter. Wehrlos, ohne Verbindungen in der Gegend, was bedeutete, dass niemand sie vermissen konnte. Ihre Eltern waren durch einen Ozean getrennt. Der Mörder hatte sein Opfer ausgewählt – es war nicht zufällig gewesen.

„Und?”, fragte sie.

John sah zu ihr auf und runzelte leicht die Stirn. „Sechzehn Namen in den letzten drei Jahren. Alle werden noch vermisst. Alle bis auf einen sind in den Zwanzigern.”

„College-Alter”, sagte Adele. „Und wie viele von ihnen sind Ausländer?”

John überflog die Liste und sah wieder auf. „Mehr als die Hälfte”, sagte er.

Er drehte seinen Computer, um Adele die Dateien anzuzeigen, die er ausgewählt und getrennt hatte. Adele las die Namen durch. Wie John sagte, ging das Verschwinden drei Jahre zurück.

“Hast du weiter zurückgeschaut?”, fragte Adele.

John schüttelte den Kopf. „Die Aufzeichnungen wurden vor mehr als fünf Jahren in eine andere Zuständigkeit verschoben. Ich kann einige finden, aber die Detaillierung ist nicht so präzise. Es wird länger dauern.”

Adele seufzte. „Nun, es ist ein Anfang. Möglicherweise sechzehn Opfer…” Sie zuckte zusammen. „Was glaubst du, macht er mit ihnen?” Ihr Blick grub sich in Johns Augen.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich wünschte, ich wüsste es.” Er machte eine Pause und runzelte die Nase. „Naja, irgendwie auch nicht.”

„Glaubst du, er hat sowohl Jungs als auch die Mädchen entführt?” ,fragte Adele. „Die Hälfte der Namen auf meiner Liste sind männlich. Aber auch im College-Alter. Und die meisten von ihnen sind fremd.”

„Der Schwarzwald ist ein beliebtes Touristenziel, vor allem für Rucksacktouristen”, sagte John. „Ich habe mit Agent Marshall darüber gesprochen.”

„Ich denke, das ist die Vorgehensweise des Mörders”, sagte Adele. „Er jagt junge Leute, die nicht von hier sind. Er weiß, dass sie wehrlos sind. Er weiß, dass sie einfache Ziele sind.”

John zuckte zusammen. „Also muss er irgendwie Zugang zu diesen Informationen haben.”

„Es ist nicht schwer zu bekommen. Ihr Alter ist offensichtlich und sobald er mit einigen von ihnen spricht oder sie ansieht, kann er feststellen, dass sie aus einem anderen Land stammen.”

John verschränkte die Arme. „Also, was sagt uns das?”

„Das sagt uns”, sagte Adele leise, „dass dieser Kerl klug ist. Er plant das. Er weiß, was er tut. Er hielt Amanda mehr als fünf Monate lang entführt und gefangen. Einige dieser Namen reichen drei Jahre zurück. Die Menschen sind seit Ewigkeiten im Schwarzwald verschwunden. Was ist, wenn er die ganze Zeit operiert hat?”

In der Küche herrschte eine seltsame Stille. Sie sahen sich an und Adele zitterte. Johns besorgter Gesichtsausdruck schien sich weiter zu verdunkeln. Es war John, der zuerst das Thema wechselte; Mit einem leichten Ruck schüttelte er den Kopf und sagte: „Die deutschen Behörden organisieren eine Fahndung, um die Wälder zu durchsuchen. Werden wir ein Teil davon sein?”

„Wir müssen den Fundort untersuchen”, sagte Adele.

John kratzte sich an der Seite seines Kinns. „Adele, mir gefällt dieser Fall ganz und gar nicht.”

„Mir auch nicht”, sagte sie. „Aber wenn wir etwas finden, kann das der Fahndung helfen. Nach dem, was Marshall gesagt hat, versammeln sie mehr als einhundert Menschen.”

John grummelte. „Hundert dumme Leute, die über den Tatort trampeln und Beweise zerstören. Solche Dinge werden höchstwahrscheinlich den Mörder selbst anziehen.”

„Nicht Mörder.”

John hob eine Augenbraue.

“Amandas Angreifer – Entführer – er hat noch niemanden getötet, von dem wir wissen.” Adele hielt bei ihren eigenen unangenehmen Gedanken inne. Vage spürte sie einen Schauer auf ihrem Rücken. Ein Entführer – mit Opfern, die möglicherweise Jahre zurückreichen. Sie dachte an Amanda – was das arme Mädchen gelitten hatte. Was würden die anderen in diesem Moment ertragen? Jeder erinnert an die Notlage der Opfer des Entführers. Wenn sie noch am Leben waren.

„Nun, wenn er kein Mörder ist, bedeutet das, dass wir die Chance haben, diese Menschen, die Amanda erwähnt hat, wiederzufinden.”

Adele ging immer noch in der kleinen Küche auf und ab und hörte zum dritten Mal in der letzten halben Stunde das Rumpeln eines Strahltriebwerks über sich.

Sie verschränkte die Arme, starrte John an und nahm eine ähnliche Haltung ein wie er. „Glaubst du, wir können dem Wort von Amanda vertrauen? Der Detective vorhin schien zu glauben, dass sie halluziniert.”

John kratzte sich am Ohr und schloss seinen Laptop. Er schien dankbar, die Akten außer Sichtweite zu bringen. „Ich bin mir nicht sicher”, sagte er. „Ich verstehe, was der Detective meint. Das Mädchen ist nicht gerade eine zuverlässige Zeugin. Vielleicht hat sie halluziniert.”

“Glaubst du, sie halluziniert seit fünf Monaten?”

John schüttelte den Kopf. Er atmete leise und seine Nasenflügel flackerten vom Druck der Luft. „Offensichtlich nicht. Sie wurde vermisst. Normalerweise gibt es Leichen oder mehrere Opfer, wenn wir zu einem solchen Fall hinzugezogen werden. Im Moment verlassen wir uns auf die Aussage einer unzuverlässigen Zeugin, die noch lebt.”

„Wohl eher: die fast tot ist.”

John schüttelte den Kopf. „So oder so. Es ist ein seltsamer Fall. Aber wie du sagtest, sollten wir uns erstmal die Szene ansehen, in der sie gefunden wurde.”

Adele war teilweise dankbar, das kleine, stickige Motelzimmer verlassen zu können. Und sie war dankbar, dass sie sich wieder bewegte, um aus einer sitzenden Position herauszukommen. Keine Krankenhäuser mehr, keine beengenden Motelzimmer mehr.

„Lass mich meine Jacke holen, ich bin gleich da”, rief sie über ihre Schulter, als John vom Tisch zur Tür des Motelzimmers ging.




KAPITEL ACHT


Der Fremde packte das Lenkrad seines Lieferwagens und bewegte sich mit einer sanften Geschwindigkeit die Autobahn vor dem Schwarzwald hinauf. Er hatte ein angenehmes Lächeln auf den Lippen und summte leise die düsteren Melodien klassischer Musik, die aus den Lautsprechern seines Minivans kamen.

Innerlich war der Geist des Fremden jedoch in Aufruhr. Wenn man ihn ansah, wäre es fast unmöglich gewesen, die Emotionen zu erkennen. Und doch packte seine rechte Hand alle paar Momente das Lenkrad und drehte sich. Seine linke Hand blieb steinig. Immer noch regungslos, leer.

„Weglaufen? Mach doch!” murmelte er leise. Er sprach zu sich selbst, immer noch durch lächelnde Lippen. Der Mann war ein Chamäleon. Er wusste, wie man die Rolle spielt, vielleicht besser als jeder andere.

Diese Straßen waren im Allgemeinen spät in der Nacht leer, da die Leute nach dem Schneesturm vor zwei Wochen gern die Flecken der Autobahn mit kaputten Sicherheitslichtern meiden wollten. Aber tagsüber kam ein ordentlicher Verkehr durch die Wälder.

Der Mann benutzte diese Straße natürlich jeden Tag. Dies war sein Zuhause.

Und ein Zuhause musste respektiert werden. Aus einem respektlosen Zuhause wurde ein Haus. Und ein Haus wurde zur Last. Und eine Last wurde zu etwas, das man aufgeben musste.

Die rechte Hand des Mannes packte wieder das Lenkrad und drückte sich weiß gegen das Leder.

Ungehorsam. So dumm. Alle Kinder mussten bestraft werden. Wenn sie nicht bestraft würden, würden sie sich schlecht benehmen. Und es gab nichts Schädlicheres an einem Haus als respektlose Kinder. Er war damit aufgewachsen. Bei dem Gedanken räusperte er sich und passte die Ränder seines Ärmels an. Direkt über seiner linken Hand konnte er den verdrehten, geschmolzenen Teil der Haut erkennen, der schlecht verheilt war. Die Verbrennungen durch Zigaretten gingen den ganzen Arm hoch, über die Brust und den Rücken. Er hatte Bestrafung gekannt. Und es hatte ihn dazu gebracht, herauszufinden, wie es ihm ging. Das Lächeln fixierte ständig sein Gesicht. Menschen waren oft von ihm angezogen worden, allein aufgrund seiner Persönlichkeit.

„Mit Honig fängst du mehr Fliegen”, murmelte er leise und wiederholte einen Kommentar, den seine Mutter immer sagte.

Zum ersten Mal seit einer Weile blitzte sein Lächeln authentisch auf und er erhaschte einen Blick auf seine Zähne, gepflegt und reinweiß im Spiegel nach hinten.

Alles an dem Mann war gut gepflegt und ordentlich. Der Innenraum seines Fahrzeugs war sauber, kein Staub oder Tierhaare oder weggeworfener Müll auf dem Armaturenbrett. Die Teppiche waren alle gesaugt und an Ort und Stelle. Die Rücksitze waren makellos. Draußen war der Minivan der gleiche. Gewaschen, sauber. Er hatte sich gut darum gekümmert. Er hatte ihn poliert. Auch im Winter. Der Mann wusste, wie er sich um seine Sachen kümmern musste und wie man auf sich selbst aufpasst. Und vor allem wie man sich um seine Familie kümmert.

„Familie. Teufel noch mal. Diese kleine verdammte Schlampe, wie kann sie es wagen!”

Er lächelte wieder und stoppte das plötzliche Plätschern der Wut. Wut war unpassend. Wut war teuer. Nein, seine rechte Hand drehte sich, seine linke Hand blieb stehen. Normalerweise bestrafte er jeden, der versuchte zu fliehen. Er schickte eine Nachricht an die anderen. Ohne Disziplin wurde ein Zuhause ein Haus. Ein Haus wurde zur Last.

Einige von ihnen könnten jetzt Hoffnung haben. Hoffnung auf Rebellion. Und Rebellion kostet alles. Nein, die Leute mussten lernen, ihre Eltern zu respektieren. Gehorchen.

Er war ein schwieriges Kind gewesen. Er wusste das. Er hatte die Strafen verdient, die er bekommen hatte.

Vor sich sah der Mann blinkende Lichter durch seine Windschutzscheibe.

Seine Augen verengten sich, aber nur für einen kurzen Moment, dann kehrte sein Lächeln zurück und sein angenehmer Ausdruck fiel über sein Gesicht wie Wolle über einen Wolf.

Er hatte nicht langsamer gemacht, er hatte seine Geschwindigkeit überhaupt nicht angepasst. Der saubere Minivan fuhr direkt auf den Kontrollpunkt zu und blieb mit zwei Autos zurück stehen.

Er beobachtete das rote Coupé, zwei Autos voraus, dass sich vom Kontrollpunkt entfernte. Das Auto vor ihm hielt an und einer der Beamten beugte sich vor und unterhielt sich ein wenig mit dem Fahrer.

Der Mann fühlte nichts. Keine Angst. Keine Schuld. Nichts. Sie würden nichts ahnen. Er hatte nie irgendetwas getan. Es hatte schon früher Fahndungen gegeben. Sieben von ihnen, soweit er sich erinnern konnte. Er hatte das lange genug gemacht, so lange dass die Schafe den Wolf nicht mehr erkennen konnten. Das Vlies, das er trug, war immer besser und getarnter geworden.

Sein Lächeln blieb auf seinen Lippen haften. Seine rechte Hand drehte sich fast gegen seinen Willen weiter am Lenkrad.

Das Auto vor ihm fuhr weg und spuckte etwas Staub aus. Der Mann folgte ihm.





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“EIN MEISTERWERK DES THRILLER UND KRIMI-GENRES. Blake Pierce gelingt es hervorragend, Charaktere mit so gut beschriebenen psychologischen Facetten zu entwickeln, dass wir das Gefühl haben, in ihren Gedanken zu sein, ihre Ängste zu spüren und ihre Erfolge zu bejubeln. Dieses Buch voller Wendungen wird Sie bis zur letzten Seite wachhalten.“. –Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (über So Gut Wie Vorüber). NICHTS ALS TÖTEN ist das vierte Buch einer neuen FBI Thrillerserie des USA Today Bestsellerautors Blake Price, dessen Nummer 1 Bestseller Verschwunden (Buch 1) (kostenloser Download) über 1.000 Fünfsternebewertungen erhalten hat… Eine junge Frau wird auf einer Landstraße in Deutschland auf der Flucht vor ihrem Angreifer wie betäubt aufgefunden. Da sie sprechen und sich erinnern kann, besteht vielleicht auch die Möglichkeit die Behörden zu seinem Versteck führen – und die anderen Frauen zu retten, bevor es zu spät ist… Als der Fall sich international auszubreiten beginnt und Dutzende von Opfern aus vielen verschiedenen Ländern stammen, erkennen die Behörden schnell, dass es nur einen Weg zur Lösung dieses Problems gibt: die Einschaltung der FBI-Spezialagentin Adele Sharp, die dreifache Staatsbürgerschaft der USA, Frankreichs und Deutschlands hat… Aber selbst mit Adeles brillantem Verstand könnte dieser Fall, der Erinnerungen weckt, die ihr viel zu nahe gehen, für sie eine echte Herausforderung sein… Kann Adele die anderen Frauen retten, bevor es zu spät ist?. Kann sie sich selbst retten?. Eine actiongeladene Krimiserie voller internationaler Intrigen und fesselnder Spannung: NICHTS ALS TÖTEN lässt Sie bis spät in die Nacht blättern… Buch 5 der Reihe – NICHTS ALS MORD – ist jetzt ebenfalls erhältlich..

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