Книга - Drei Kameraden / Три товарища. Книга для чтения на немецком языке

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Drei Kameraden / Три товарища. Книга для чтения на немецком языке
Erich Maria Remarque


Чтение в оригинале (Каро)Moderne Prosa
Роман «Три товарища» – одно из самых известных и читаемых произведений Э. М. Ремарка. История крепкой дружбы и верной любви покоряет читателей разных поколений. В книге приводится полный неадаптированный текст романа с оригинальной авторской орфографией.

В формате PDF A4 сохранен издательский макет.





Erich Maria Remarque

Drei Kameraden





© 1964, 1991, 1998 by Verlag Kiepenheuer & Witsch Gmbh & Co. KG, Cologne/Germany

© Каро, 2021

Все права защищены





I


Der Himmel war gelb wie Messing und noch nicht verqualmt vom Rauch der Schornsteine. Hinter den Dächern der Fabrik leuchtete er sehr stark. Die Sonne mußte gleich aufgehen. Ich sah nach der Uhr. Es war noch vor acht. Eine Viertelstunde zu früh.

Ich schloß das Tor auf und machte die Benzinpumpe fertig. Um diese Zeit kamen immer schon ein paar Wagen vorbei, die tanken wollten. Plötzlich hörte ich hinter mir ein heiseres Krächzen, das klang, als ob unter der Erde ein rostiges Gewinde hochgedreht würde. Ich blieb stehen und lauschte. Dann ging ich über den Hof zurück zur Werkstatt und machte vorsichtig die Tür auf. In dem halbdunklen Raum taumelte ein Gespenst umher. Es trug ein schmutziges weißes Kopftuch, eine blaue Schürze, dicke Pantoffeln, schwenkte einen Besen, wog neunzig Kilo und war die Scheuerfrau Mathilde Stoß.

Ich blieb eine Weile stehen und sah ihr zu. Sie hatte die Grazie eines Nilpferdes, wie sie da zwischen den Autokühlern hin und her torkelte und mit dumpfer Stimme das Lied vom treuen Husaren sang. Auf dem Tisch am Fenster standen zwei Kognakflaschen. Eine davon war fast leer. Am Abend vorher war sie voll gewesen. Ich hatte vergessen, sie einzuschließen.

»Aber Frau Stoß«, sagte ich.

Der Gesang brach ab. Der Besen fiel zu Boden. Das selige Grinsen erlosch. Jetzt war ich das Gespenst. »Jesus Christus«, stammelte Mathilde und starrte mich aus roten Augen an. »Ihnen hab’ ich noch nich erwartet…«

»Kann ich verstehen. Hat’s geschmeckt?«

»Das ja – aber’s is mir peinlich.« Sie wischte sich über den Mund. »Direkt platt bin ich…«

»Na, das ist nun eine Übertreibung. Sie sind nur voll. Voll wie eine Strandhaubitze.«

Sie hielt sich mühsam aufrecht. Ihr Schnurrbart zuckte, und ihre Augenlider klapperten wie bei einem alten Uhu. Aber allmählich gelang es ihr, klarer zu werden. Entschlossen trat sie einen Schritt vor. »Herr Lohkamp – Mensch is nur Mensch – erst hab’ ich nur dran gerochen – und dann einen Schluck genommen – weil mir im Magen doch immer so flau is – ja, und dann – dann muß mir der Satan geritten haben. Man soll ein armes Weib auch nicht in Versuchung führen und die Pulle stehenlassen.«

Es war nicht das erstemal, daß ich sie so traf. Sie kam jeden Morgen zwei Stunden zum Aufräumen in die Werkstatt, und man konnte ruhig so viel Geld umherliegen lassen, wie man wollte, sie rührte es nicht an – aber hinter Schnaps war sie her wie die Ratte hinterm Speck.

Ich nahm die Flasche hoch. »Natürlich, den Kognak für die Kunden haben Sie nicht angerührt – aber den guten von Herrn Köster haben Sie weggeputzt.«

Ein Grinsen huschte über Mathildes verwitterte Züge. »Alles, was recht is – Kenner bin ich. Aber werden Sie mir verraten, Herr Lohkamp? Eine schutzlose Witwe?«

Ich schüttelte den Kopf. »Heute nicht.«

Sie ließ ihre Röcke herunter. »Dann werd’ ich mir mal verdrücken. Wenn Herr Köster kommt – heiliges Donnerwetter!«

Ich ging zum Schrank und schloß ihn auf. »Mathilde…«

Sie watschelte eilig heran. Ich hielt eine braune, viereckige Flasche hoch.

Protestierend hob sie die Hände. »Das bin ich nich gewesen! Auf Ehre! Den hab’ ich nich angerührt!«

»Weiß ich«, sagte ich und goß ein Glas voll ein. »Kennen Sie ihn denn?«

»Und ob!« Sie leckte sich die Lippen. »Rum! Steinalter Jamaika!«

»Schön. Dann trinken Sie das Glas mal aus!«

»Ich?« Sie prallte zurück. »Herr Lohkamp, das ist zuviel! Das sind ja glühende Kohlen auf mein Haupt! Die olle Stoß säuft heimlich Ihren Kognak weg, und Sie spendieren ihr da noch einen Rum drauf. Sie sind ein Heiliger, sind Sie! Lieber tot, als so was annehmen!«

»Na?« sagte ich und tat, als ob ich das Glas zurückzog.

»Alsdann!« Sie griff eilig zu. »Man muß das Gute nehmen, wie es kommt. Auch wenn man’s nicht versteht. Zum Wohle! Haben Sie vielleicht Geburtstag?«

»Ja, Mathilde. Gut geraten.«

»Was, wahrhaftig?« Sie umklammerte meine Hand und schüttelte sie. »Herzlichsten Glückwunsch! Zaster in Fülle! Herr Lohkamp« – sie wischte sich den Mund —, »ich bin so gerührt – darauf muß ich unbedingt noch einen zwitschern. Wo ich Ihnen doch gern hab’ wie einen Sohn.«

»Schön.«

Ich schenkte ihr noch ein Glas ein. Sie kippte es herunter und verließ lobpreisend die Werkstatt.



Ich packte die Flasche weg und setzte mich an den Tisch. Die blasse Sonne fiel durch das Fenster auf meine Hände. Merkwürdiges Gefühl, so ein Geburtstag, auch wenn man sich nichts draus machte. Dreißig Jahre – es hatte eine Zeit gegeben, da glaubte ich, nie zwanzig werden zu können, so weit weg erschien mir das. Und dann…

Ich zog einen Briefbogen aus dem Fach und fing an zu rechnen. Die Kinderzeit, die Schule – das war ein Komplex, fern, irgendwo, schon nicht mehr wahr. Das richtige Leben begann erst 1916. Da war ich gerade Rekrut geworden, dünn, hochgeschossen, achtzehn Jahre alt, und übte nach dem Kommando eines schnauzbärtigen Unteroffiziers auf den Sturzäckern hinter der Kaserne Hinlegen und Aufstehen. An einem der ersten Abende kam meine Mutter in die Kaserne, um mich zu besuchen; aber sie mußte über eine Stunde auf mich warten. Ich hatte meinen Tornister nicht vorschriftsmäßig gepackt gehabt und mußte deshalb in der freien Zeit zur Strafe die Latrinen scheuern. Sie wollte mir helfen, aber das durfte sie nicht. Sie weinte, und ich war so müde, daß ich einschlief, als sie noch bei mir saß.

1917. Flandern. Middendorf und ich hatten in der Kantine eine Flasche Rotwein gekauft. Damit wollten wir feiern. Aber wir kamen nicht dazu. Frühmorgens fing das schwere Feuer der Engländer an. Köster wurde mittags verwundet. Meyer und Deters fielen nachmittags. Und abends, als wir schon glaubten, Ruhe zu haben, und die Flasche aufmachten, kam Gas und quoll in die Unterstände. Wir hatten zwar rechtzeitig die Masken auf, aber die von Middendorf war kaputt. Als er es merkte, war es zu spät. Bis sie abgerissen und eine neue gefunden war, hatte er schon zuviel Gas geschluckt und brach bereits Blut. Er starb am nächsten Morgen, grün und schwarz im Gesicht. Sein Hals war ganz zerrissen – so hatte er mit den Nägeln versucht, ihn aufzukratzen, um Luft zu kriegen.

1918. Das war im Lazarett. Ein paar Tage vorher war ein neuer Transport angekommen. Papierverbände. Schwere Verletzungen. Den ganzen Tag fuhren die flachen Operationswagen herein und hinaus. Manchmal kamen sie leer wieder. Neben mir lag Josef Stoll. Er hatte keine Beine mehr, aber er wußte es noch nicht. Es war nicht zu sehen, weil die Decke über einem Drahtkorb lag. Er hätte es auch nicht geglaubt, denn er spürte Schmerzen in den Füßen. Nachts starben zwei Leute bei uns im Zimmer. Einer sehr langsam und schwer.

1919. Wieder zu Hause. Revolution. Hunger. Draußen immerfort Maschinengewehrgeknatter. Soldaten gegen Soldaten. Kameraden gegen Kameraden.

1920. Putsch. Karl Bröger erschossen. Köster und Lenz verhaftet. Meine Mutter im Krankenhaus. Krebs im letzten Stadium.

1921 —

Ich dachte nach. Ich wußte es nicht mehr. Das Jahr fehlte einfach. 1922 war ich Bahnarbeiter in Thüringen gewesen, 1923 Reklamechef einer Gummifabrik. Das war in der Inflation. Zweihundert Billionen Mark hatte ich monatlich verdient. Zweimal am Tage gab es Geld und hinterher jedesmal eine halbe Stunde Urlaub, damit man in die Läden rasen und etwas kaufen konnte, bevor der nächste Dollarkurs ‘rauskam – dann war das Geld nur noch die Hälfte wert.

Und dann? Die Jahre darauf? Ich legte den Bleistift hin. Hatte keinen Zweck, das alles nachzurechnen. Ich wußte es auch nicht mehr so genau. War zu sehr durcheinandergegangen. Meinen letzten Geburtstag hatte ich im Café International gefeiert. Da war ich ein Jahr lang Stimmungspianist gewesen. Dann hatte ich Köster und Lenz wiedergetroffen. Und jetzt saß ich hier in der Aurewe: Auto-Reparatur-Werkstatt Köster und Co. Der Co. waren Lenz und ich, aber die Werkstatt gehörte eigentlich Köster allein. Er war früher unser Schulkamerad und unser Kompanieführer gewesen; dann Flugzeugführer, später eine Zeitlang Student, dann Rennfahrer – und schließlich hatte er die Bude hier gekauft. Erst war Lenz, der sich einige Jahre in Südamerika herumgetrieben hatte, dazugekommen – dann ich.

Ich nahm eine Zigarette aus der Tasche. Eigentlich konnte ich ganz zufrieden sein. Es ging mir nicht schlecht, ich hatte Arbeit, ich war kräftig, ich wurde nicht leicht müde, ich war heil, wie man das so nennt – aber es war doch besser, nicht allzuviel darüber nachzudenken. Besonders nicht, wenn man allein war. Und abends auch nicht. Da kam ab und zu noch einmal etwas von früher und starrte einen aus toten Augen an. Aber dafür hatte man den Schnaps.



Draußen quietschte das Tor. Ich zerriß den Zettel mit den Daten meines Lebens und warf ihn in den Papierkorb. Die Tür flog auf. Gottfried Lenz stand im Rahmen, lang, mager, mit strohblonder Mähne und einer Nase, die für einen ganz anderen Mann gepaßt hätte. »Robby«, brüllte er, »alter Speckjäger, steh auf und nimm die Knochen zusammen! Deine Vorgesetzten wollen mit dir reden!«

»Herrgott!« Ich stand auf. »Ich habe gehofft, ihr hättet nicht dran gedacht! Macht’s gnädig, Kinder!«

»Das könnte dir so passen!« Gottfried legte ein Paket auf den Tisch, in dem es mächtig klirrte. Köster kam hinter ihm drein. Lenz baute sich vor mir auf. »Robby, was ist dir heute morgen zuerst begegnet?«

Ich dachte nach. »Ein tanzendes altes Weib.«

»Heiliger Moses! Ein schlechtes Vorzeichen! Paßt aber zu deinem Horoskop. Habe es gestern gestellt. Du bist ein Kind des Schützen, unzuverlässig, schwankend, ein Rohr im Winde, mit verdächtigen Saturntrigonen und einem lädierten Jupiter in diesem Jahr. Da Otto und ich Vater- und Mutterstelle an dir vertreten, überreiche ich dir deshalb als erstes etwas zum Schutz. Nimm dieses Amulett! Eine Nachkommin der Inkas hat es mir dereinst überlassen. Sie hatte blaues Blut, Plattfüße, Läuse und die Gabe, in die Zukunft zu schauen. >Weißhäutiger Fremdling<, sagte sie zu mir, >Könige haben es getragen, die Kraft der Sonne, des Mondes und der Erde ist darin, von den kleineren Planeten ganz zu schweigen – gib mir einen Silberdollar für Schnaps dafür und du kannst es haben.< Damit die Glückskette weitergeht, überreiche ich es dir. Es wird dich behüten und deinen unfreundlichen Jupiter in die Flucht schlagen.«

Er hängte mir eine kleine schwarze Figur an einer dünnen Kette um den Hals. »So! Das ist gegen die höhere Misere – gegen die tägliche hier: sechs Flaschen Rum von Otto! Doppelt so alt wie du!«

Er öffnete das Paket und stellte die Flaschen einzeln in die Morgensonne. Sie schimmerten wie Bernstein. »Sieht wunderbar aus«, sagte ich. »Wo hast du die bloß her, Otto?«

Köster lachte. »War eine verwickelte Sache. Zu lang zum Erzählen. Aber sag mal, wie fühlst du dich denn? Wie dreißig?«

Ich winkte ab. »Wie sechzehn und fünfzig gleichzeitig. Nicht besonders.«

»Das nennst du nicht besonders?« erwiderte Lenz. »Das ist doch das höchste, was es gibt. Du hast damit souverän die Zeit besiegt und lebst doppelt.«

Köster sah mich an. »Laß ihn, Gottfried«, sagte er dann. »Geburtstage drücken mächtig aufs Selbstgefühl. Besonders frühmorgens. Er wird sich schon wieder erholen.«

Lenz kniff die Augen zusammen. »Je weniger Selbstgefühl ein Mensch hat, um so mehr ist er wert, Robby. Tröstet dich das ein bißchen?«

»Nein«, sagte ich, »ganz und gar nicht. Wenn der Mensch erst was wert ist, ist er nur noch sein eigenes Denkmal. Das finde ich anstrengend und langweilig.«

»Er philosophiert, Otto«, sagte Lenz, »er ist schon gerettet. Er hat den stillen Moment überstanden! Den stillen Geburtstagsmoment, wo man sich selbst in die Pupille blickt und entdeckt, was man für ein armseliges Küken ist. Jetzt können wir getrost an unser Tagwerk gehen und dem alten Cadillac die Eingeweide ölen —«



Wir arbeiteten, bis es dämmerig wurde. Dann wuschen wir uns und zogen uns um. Lenz sah begehrlich zu der Flaschenreihe hinüber. »Wollen wir einer den Hals brechen?«

»Das muß Robby entscheiden«, sagte Köster. »Es ist nicht fein, Gottfried, dem Beschenkten so plump mit dem Zaunpfahl zu winken.«

»Noch weniger fein ist es, die Schenker verdursten zu lassen«, erwiderte Lenz und machte eine Flasche auf.

Der Geruch verbreitete sich sofort durch die ganze Werkstatt.

»Heiliger Moses«, sagte Gottfried.

Wir schnupperten alle. »Phantastisch, Otto. Man muß schon in die hohe Poesie gehen, um da würdige Vergleiche zu finden.«

»Zu schade für die dunkle Bude hier!« entschied Lenz. »Wißt ihr was? Wir fahren ‘raus, essen irgendwo zu Abend und nehmen die Flasche mit. In Gottes freier Natur wollen wir sie aussaufen!«

»Glänzend.«

Wir schoben den Cadillac beiseite, an dem wir nachmittags gearbeitet hatten. Hinter ihm stand ein sonderbares Ding auf Rädern. Es war der Rennwagen Otto Kösters, der Stolz der Werkstatt.

Köster hatte den Wagen, eine hochbordige, alte Kiste, seinerzeit auf einer Auktion für ein Butterbrot gekauft. Fachleute, die ihn damals sahen, bezeichneten ihn ohne Zögern als interessantes Stück für ein Verkehrsmuseum. Der Konfektionär Bollwies, Besitzer einer Damenmäntelfabrik und Rennamateur, riet Otto, eine Nähmaschine daraus zu machen. Aber Köster kümmerte sich nicht darum. Er zerlegte den Wagen wie eine Taschenuhr und arbeitete Monate hindurch bis in die Nächte daran herum. Eines Abends erschien er dann mit ihm vor der Bar, in der wir gewöhnlich saßen. Bollwies fiel vor Lachen fast um, als er ihn wieder erblickte, so komisch sah er immer noch aus. Um einen Witz zu machen, bot er Otto eine Wette an. Er wollte zweihundert Mark gegen zwanzig setzen, wenn Köster ein Rennen gegen seinen neuen Sportwagen annähme – Strecke zehn Kilometer, ein Kilometer Vorgabe für Ottos Wagen. Köster nahm die Wette an. Alles lachte und versprach sich einen Riesenspaß. Aber Otto tat noch mehr; er lehnte die Vorgabe ab und erhöhte die Wette mit unbewegter Miene auf tausend Mark gegen tausend Mark. Bollwies fragte ihn entgeistert, ob er ihn in eine Irrenanstalt bringen solle. Köster ließ als Antwort nur seinen Motor an. Beide brachen daraufhin sofort auf, um die Sache auszutragen. Bollwies kam nach einer halben Stunde so verstört zurück, als hätte er die Seeschlange gesehen. Schweigend schrieb er den Scheck aus und einen zweiten dazu. Er wollte die Maschine jetzt auf der Stelle kaufen. Aber Köster lachte ihn aus. Er hätte sie für kein Geld der Erde mehr hergegeben. Doch so tadellos der Wagen nun innen auch war – von außen sah er immer noch wüst aus. Wir hatten für den täglichen Gebrauch eine besonders altmodische Karosserie, die gerade paßte, darauf gesetzt; der Lack war blind, die Kotflügel hatten Risse, und das Verdeck war reichlich zehn Jahre alt. Wir hätten das alles besser machen können – aber wir hatten einen Grund, es nicht zu tun. Der Wagen hieß Karl. Karl, das Chausseegespenst.

Karl schnob die Chaussee entlang.



»Otto«, sagte ich, »da kommt ein Opfer.«

Hinter uns hupte ungeduldig ein schwerer Buick. Er holte rasch auf. Bald lagen die Kühler nebeneinander. Der Mann am Steuer sah lässig herüber. Sein Blick streifte von oben herab den ruppigen Karl. Dann wendete er sich ab und hatte uns schon vergessen.

Ein paar Sekunden später mußte er feststellen, daß Karl sich immer noch auf gleicher Höhe mit ihm befand. Er rückte sich etwas zurecht, blickte uns amüsiert an und gab Gas. Aber Karl wankte nicht. Wie ein Terrier neben einer Dogge hielt er sich weiter klein und flink neben der strahlenden Lokomotive aus Nickel und Lack.

Der Mann faßte das Steuerrad fester. Er war vollkommen ahnungslos und verzog spöttisch die Lippen. Man sah, daß er uns jetzt zeigen wollte, was sein Schlitten leistete. Er trat so kräftig auf den Gashebel, daß der Auspuff zwitscherte wie ein Feld voll Lerchen im Sommer. Doch es nutzte nichts; er kam nicht vorbei. Wie verhext klebte Karl häßlich und unscheinbar an seiner Seite. Der Mann starrte erstaunt zu uns herunter. Er begriff nicht, daß bei einem Tempo von über hundert Kilometern der altmodische Kasten unter ihm nicht abzuschütteln war. Verwundert blickte er auf seinen Tachometer, als könne der nicht stimmen. Dann gab er Vollgas.

Die Wagen rasten jetzt genau nebeneinander über die lange, gerade Chaussee. Nach ein paar hundert Metern kam ein Lastwagen aus der entgegengesetzten Richtung angetost. Der Buick mußte hinter uns zurück, um auszuweichen. Kaum war er wieder neben Karl, da fegte ein Beerdigungsauto mit wehenden Kranzschleifen heran, und er mußte abermals zurück. Dann wurde die Sicht frei.

Der Mann am Steuer hatte inzwischen all seinen Hochmut verloren; ärgerlich, die Lippen zusammengepreßt, saß er vorgebeugt da – das Rennfieber hatte ihn gepackt, und plötzlich hing die Ehre seines Lebens davon ab, um keinen Preis gegen den Kläffer neben sich klein beizugeben.

Wir dagegen hockten scheinbar gleichgültig auf unseren Sitzen. Der Buick existierte für uns gar nicht. Köster blickte ruhig auf die Straße, ich schaute gelangweilt in die Luft; und Lenz, obschon er ein Bündel Spannung war, zog eine Zeitung hervor und tat, als ob es nichts Wichtigeres für ihn gäbe, als gerade jetzt zu lesen.

Ein paar Minuten später blinzelte Köster uns zu. Karl verlor unmerklich an Tempo, und der Buick rückte langsam vor. Seine breiten, blinkenden Kotflügel drückten sich an uns vorbei. Der Auspuff donnerte uns blauen Qualm in die Gesichter. Allmählich gewann er ungefähr zwanzig Meter – da erschien auch schon das Gesicht des Besitzers im Fenster und grinste offenen Triumph. Er glaubte gewonnen zu haben.

Aber der Mann tat noch ein übriges. Er konnte sich eine Revanche nicht verkneifen. Er winkte uns zu, doch nachzukommen. Er winkte sogar besonders nachlässig und siegessicher. »Otto!« sagte Lenz mahnend.

Aber er brauchte nichts zu sagen. Karl machte im selben Moment schon einen Sprung. Der Kompressor pfiff los. Und plötzlich verschwand die winkende Hand im Fenster – denn Karl folgte der Aufforderung; er kam. Er kam sogar unaufhaltsam, er holte alles wieder auf – und nun, zum ersten Male, nahmen wir Notiz von dem fremden Wagen. Unschuldig fragend schauten wir hinauf zu dem Mann am Steuer; wir wollten gerne wissen, weshalb er uns gewinkt hatte. Doch der sah krampfhaft nach der anderen Seite, und Karl zog jetzt erst mit vollem Gas davon, starrend vor Schmutz, mit wehenden Kotflügeln, ein siegreicher Dreckfink.

»Gut gemacht, Otto«, sagte Lenz zu Köster. »Dem Mann wird sein Abendbrot nicht schmecken.«

Diese Jagden waren der Grund, weshalb wir Karls Karosserie nicht änderten. Er brauchte nur auf der Straße zu erscheinen – sofort versuchte jemand, ihn abzuhängen. Auf andere Wagen wirkte er wie eine flügellahme Krähe auf ein Rudel hungriger Katzen. Er reizte die friedlichsten Familienkutschen zum Überholen, und selbst die behäbigsten Vollbärte wurden unwiderstehlich vom Rennehrgeiz gepackt, wenn sie sein klappriges Fahrgestell vor sich auf und nieder tanzen sahen. Wer konnte auch ahnen, daß in dieser lächerlichen Gestalt das große Herz eines Rennmotors schlug!

Lenz behauptete, Karl wirke erzieherisch. Er lehre die Leute Ehrfurcht vor dem Schöpferischen, das immer in einer unscheinbaren Hülle stecke. Das sagte Lenz, der von sich ebenfalls behauptete, er wäre der letzte Romantiker.



Wir hielten vor einem kleinen Gasthaus und kletterten aus dem Wagen. Der Abend war schön und still. Die Furchen der aufgebrochenen Äcker schimmerten violett. Die Kanten leuchteten golden und braun. Wie große Flamingos schwammen die Wolken am apfelgrünen Himmel und behüteten zwischen sich die schmale Sichel des zunehmenden Mondes. Ein Haselnußstrauch hielt Dämmerung und Ahnung in seinen Armen, rührend kahl und schon voll Knospenhoffnung. Aus dem kleinen Gasthaus drang der Duft gebratener Leber. Auch Zwiebeln waren dabei. Uns schwoll das Herz.

Lenz stürzte ins Haus, dem Geruch nach. Verklärt kam er zurück. »Ihr müßtet die Bratkartoffeln sehen! Rasch, sonst ist das Beste ‘runter!«

In diesem Augenblick summte noch ein Wagen heran. Wie angenagelt blieben wir stehen. Es war der Buick. Er hielt mit scharfem Ruck neben Karl. »Hoppla!« sagte Lenz. Wir hatten schon öfter Schlägereien wegen ähnlicher Sachen gehabt.

Der Mann stieg aus. Er war groß und schwer und trug einen weiten, braunen Raglan aus Kamelhaar. Mißvergnügt schielte er nach Karl, streifte dann ein Paar dicke gelbe Handschuhe ab und kam heran.

»Is denn das für ‘n Modell, Ihr Wagen da?« fragte er Köster, der ihm am nächsten stand, mit einem Gesicht wie eine Essiggurke.

Wir sahen ihn alle drei eine Weile schweigend an. Sicherlich hielt er uns für Monteure im Sonntagsanzug auf einer Schwarzfahrt. »Haben Sie etwas gesagt?« fragte Otto dann schließlich zweifelnd, um ihn zu belehren, daß er höflicher sein könnte.

Der Mann wurde rot. »Ich habe nach dem Wagen da gefragt«, erklärte er brummig im selben Ton wie vorher.

Lenz richtete sich auf. Seine große Nase zuckte. Er hielt außerordentlich auf Höflichkeit bei anderen. Aber bevor er den Mund auftun konnte, öffnete sich plötzlich, wie durch eine Geisterhand, die zweite Tür des Buick – ein schmaler Fuß glitt heraus, ein schmales Knie folgte —, dann stieg ein Mädchen aus und schritt langsam auf uns zu.

Überrascht blickten wir uns an. Wir hatten vorher nicht gesehen, daß noch jemand im Wagen war. Lenz veränderte sofort seine Haltung. Er lächelte über sein ganzes sommersprossiges Gesicht. Wir lächelten auf einmal alle, weiß der Kuckuck, warum.

Der Dicke schaute uns verblüfft an. Er wurde unsicher und wußte scheinbar nicht mehr, was er aus der Sache machen sollte. »Binding«, sagte er schließlich, mit einer halben Verbeugung, als könne er sich an seinem Namen festhalten.

Das Mädchen war jetzt ganz herangekommen. Wir wurden noch freundlicher. »Zeig doch mal den Wagen, Otto«, sagte Lenz mit einem raschen Blick zu Köster hin.

»Warum nicht«, erwiderte Otto und gab den Blick belustigt zurück.

»Ich würde ihn wirklich gern mal sehen«, sagte Binding bereits versöhnlicher. »Muß verdammt schnell sein. Hat mich ja nur so weggepustet.«

Beide gingen zum Parkplatz hinüber, und Köster klappte Karls Motorhaube hoch.

Das Mädchen ging nicht mit. Es blieb schlank und schweigend neben Lenz und mir in der Dämmerung stehen. Ich erwartete, daß Gottfried die Gelegenheit ausnützen und losgehen würde wie eine Bombe. Er war für solche Situationen. Doch er schien die Sprache verloren zu haben. Sonst konnte er balzen wie ein Birkhahn – aber jetzt stand er da wie ein Karmelitermönch auf Urlaub und rührte sich nicht.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich schließlich. »Wir haben nicht gesehen, daß Sie im Wagen waren. Sonst hätten wir den Unfug vorhin sicher nicht gemacht.«

Das Mädchen sah mich an. »Aber warum denn nicht?« erwiderte es ruhig, mit einer überraschend dunklen Stimme. »So schlimm war das doch gar nicht.«

»Schlimm nicht, aber auch nicht ganz anständig. Der Wagen da läuft ungefähr zweihundert Kilometer.«

Sie beugte sich etwas vor und steckte die Hände in die Taschen ihres Mantels. »Zweihundert Kilometer?«

»Genau hundertneunundachtzig Komma zwei, amtlich abgestoppt«, erklärte Lenz, wie aus der Pistole geschossen, stolz.

Sie lachte. »Und wir dachten, ungefähr so sechzig, siebzig.«

»Sehen Sie«, sagte ich, »das konnten Sie doch nicht wissen.«

»Nein«, erwiderte sie, »das konnten wir wirklich nicht wissen. Wir glaubten, der Buick wäre doppelt so schnell wie Ihr Wagen.«

»Ja« – ich stieß mit dem Fuß einen abgebrochenen Zweig beiseite —, »aber wir hatten einen zu großen Vorteil. Und Herr Binding drüben hat sich wohl auch ziemlich über uns geärgert.«

Sie lachte. »Einen Augenblick sicher. Aber man muß auch verlieren können; wie sollte man sonst leben.«

»Gewiß…«

Es entstand eine Pause. Ich blickte zu Lenz hinüber. Doch der letzte Romantiker grinste nur, zuckte mit der Nase und ließ mich im Stich. Die Birken raschelten. Ein Huhn gackerte hinter dem Hause.

»Wunderbares Wetter«, sagte ich endlich, um das Schweigen zu unterbrechen.

»Ja, herrlich«, erwiderte das Mädchen.

»Und so milde«, fügte Lenz hinzu.

»Sogar ungewöhnlich milde«, ergänzte ich.

Es entstand eine neue Pause. Das Mädchen mußte uns für ziemliche Schafsköpfe halten; aber mir fiel beim besten Willen nichts mehr ein. Lenz schnupperte in die Gegend. »Geschmorte Äpfel«, sagte er gefühlvoll, »es scheint auch geschmorte Äpfel zur Leber zu geben. Eine Delikatesse.«

»Ohne Zweifel«, gab ich zu und verfluchte uns beide.

Köster und Binding kamen zurück. Binding war in den paar Minuten ein ganz anderer Mann geworden. Er schien einer dieser Autonarren zu sein, die ganz selig sind, wenn sie irgendwo einen Fachmann finden, mit dem sie reden können.

»Wollen wir zusammen essen?« fragte er.

»Selbstverständlich«, erwiderte Lenz.

Wir gingen hinein. Unter der Tür blinzelte Gottfried mir zu und nickte zu dem Mädchen hinüber. »Du, die hebt das tanzende alte Weib von heute morgen zehnfach wieder auf…«

Ich zuckte die Achseln. »Mag sein – aber warum hast du mich dann alleine herumstottern lassen?«

Er lachte. »Mußt es doch auch mal lernen, Baby!«

»Habe gar keine Lust mehr, was zu lernen«, sagte ich.

Wir folgten den andern. Sie saßen schon am Tisch. Die Wirtin kam gerade mit der Leber und den Bratkartoffeln. Sie brachte außerdem eine große Flasche Kornschnaps als Einleitung mit.

Binding erwies sich als wahrer Sturzbach von einem Redner. Es war erstaunlich, was er alles über Automobile zu sagen hatte. Als er hörte, daß Otto auch Rennen gefahren hatte, kannte seine Zuneigung überhaupt keine Grenzen mehr.

Ich sah ihn mir genauer an. Er war ein schwerer, großer Mann mit dicken Augenbrauen über einem roten Gesicht; etwas prahlerisch, etwas lärmend, und wahrscheinlich gutmütig, wie Leute, die im Leben Erfolg haben. Ich konnte mir vorstellen, daß er sich abends vor dem Schlafengehen ernst, würdig und achtungsvoll in einem Spiegel betrachtete.

Das Mädchen saß zwischen Lenz und mir. Es hatte den Mantel ausgezogen und trug darunter ein graues englisches Kostüm. Um den Hals hatte es ein weißes Tuch geknüpft, das aussah wie eine Reitkrawatte. Ihr Haar war braun und seidig und hatte im Lampenlicht einen bernsteinfarbenen Schimmer. Die Schultern waren sehr gerade, aber etwas vorgebeugt, die Hände schmal, überlang und eher etwas knochig als weich. Das Gesicht war schmal und blaß, aber die großen Augen gaben ihm eine fast leidenschaftliche Kraft. Sie sah sehr gut aus, fand ich – aber ich dachte mir nichts weiter dabei.

Lenz dagegen war jetzt Feuer und Flamme. Er war völlig verwandelt gegen vorhin. Sein gelber Schopf glänzte wie die Haube eines Wiedehopfs. Er ließ ein Feuerwerk von Einfällen los und beherrschte mit Bindung zusammen den Tisch. Ich saß nur so dabei und konnte mich wenig bemerkbar machen; höchstens einmal eine Schüssel reichen oder Zigaretten anbieten. Und mit Binding anstoßen. Das tat ich ziemlich oft.

Lenz schlug sich plötzlich vor die Stirn: »Der Rum! Robby, hol mal unsern Geburtstagsrum!«

»Geburtstag? Hat denn jemand Geburtstag?« fragte das Mädchen.

»Ich«, sagte ich. »Ich werde schon den ganzen Tag damit verfolgt.«

»Verfolgt? Dann wollen Sie also nicht, daß man Ihnen gratuliert?«

»Doch«, sagte ich, »gratulieren ist was anderes.«

»Also alles Gute!«

Ich hielt einen Augenblick ihre Hand in meiner und spürte ihren warmen, trockenen Druck. Dann ging ich hinaus, um den Rum zu holen.

Die Nacht stand groß und schweigend um das kleine Haus. Die ledernen Sitze unseres Wagens waren feucht. Ich blieb stehen und sah nach dem Horizont, wo der rötliche Schein der Stadt am Himmel stand. Ich wäre gern noch draußen geblieben; aber ich hörte Lenz schon rufen.

Binding vertrug den Rum nicht. Nach dem zweiten Glas merkte man es schon. Er schwankte in den Garten hinaus. Ich stand auf und ging mit Lenz an die Theke. Er verlangte eine Flasche Gin. »Großartiges Mädchen, was?« sagte er.

»Weiß ich nicht, Gottfried«, erwiderte ich. »Habe nicht so drauf geachtet.«

Er betrachtete mich eine Weile mit seinen irisierenden blauen Augen und schüttelte dann den glühenden Kopf. »Wozu lebst du eigentlich, sag mal, Baby?«

»Das wollte ich auch schon lange mal wissen.«

Er lachte. »Das könnte dir so passen! So leicht wird’s einem doch nicht gemacht. Aber jetzt werde ich zunächst mal herauspolken, wie das Mädchen zu dem dicken Autokatalog draußen steht.«

Er folgte Binding in den Garten. Nach einiger Zeit kamen beide an die Theke zurück. Die Auskunft mußte gut gewesen sein, denn Gottfried, der scheinbar die Bahn jetzt frei sah, schloß sich in heller Begeisterung darüber stürmisch an Binding an. Die beiden holten sich die Ginflasche und duzten sich eine Stunde später. Lenz hatte, wenn er in guter Laune war, immer so etwas Hinreißendes, daß man ihm schwer widerstehen konnte. Er konnte sich selbst dann auch nicht widerstehen. Jetzt überflutete er Binding einfach, und bald sangen beide in der Laube draußen Soldatenlieder. Das Mädchen hatte der letzte Romantiker darüber vollständig vergessen.

Wir drei blieben allein in der Wirtsstube. Es war plötzlich sehr still. Die Schwarzwälderuhr tickte. Die Wirtin räumte ab und blickte mütterlich auf uns herunter. Am Ofen dehnte sich ein brauner Jagdhund. Manchmal bellte er im Schlaf, leise, hoch und klagend. Draußen strich der Wind am Fenster vorbei. Er wurde überweht von den Fetzen der Soldatenlieder, und mir war, als ob der kleine Raum sich höbe und mit uns durch die Nacht und durch die Jahre schwebe, vorbei an vielen Erinnerungen.

Es war eine merkwürdige Stimmung. Die Zeit schien aufgehoben zu sein – sie war nicht mehr ein Strom, der aus dem Dunkel kam und ins Dunkel ging —, sie war ein See, in dem sich lautlos das Leben spiegelte. Ich hielt mein Glas in der Hand. Der Rum schimmerte. Ich dachte an den Zettel, den ich morgens in der Werkstatt geschrieben hatte. Ich war etwas traurig gewesen. Ich war es jetzt nicht mehr. Es war alles gleich – solange man lebte. Ich sah Köster an. Ich hörte, wie er mit dem Mädchen sprach; aber ich achtete nicht auf die Worte. Ich spürte den weichen Glanz der ersten Trunkenheit, der das Blut wärmer machte und den ich liebte, weil er über das Ungewisse den Schein des Abenteuers breitete. Draußen sangen Lenz und Binding das Lied vom Argonnerwald. Neben mir sprach das unbekannte Mädchen – es sprach leise und langsam mit dieser dunklen, erregenden, etwas rauhen Stimme. Ich trank mein Glas aus.

Die beiden andern kamen wieder herein. Sie waren nüchterner geworden in der frischen Luft. Wir brachen auf. Ich half dem Mädchen in den Mantel. Es stand dicht vor mir, geschmeidig sich in den Schultern dehnend, den Kopf schräg nach hinten gelegt, den Mund leicht geöffnet, mit einem Lächeln zur Zimmerdecke, das niemand galt. Ich ließ einen Moment den Mantel sinken. Wo hatte ich nur die ganze Zeit meine Augen gehabt? Hatte ich denn geschlafen? Ich verstand plötzlich die Begeisterung von Lenz.

Sie drehte sich fragend halb um. Ich hob rasch den Mantel wieder hoch und schaute zu Binding hinüber, der kirschrot und immer noch etwas glasig neben dem Tisch stand. »Glauben Sie, daß er fahren kann?« fragte ich.

»Ich denke schon…«

Ich sah sie immer noch an. »Wenn er nicht sicher genug ist, kann einer von uns mitfahren.«

Sie zog ihre Puderdose hervor und klappte sie auf. »Es wird schon gehen«, sagte sie. »Er fährt viel besser, wenn er getrunken hat.«

»Besser und wahrscheinlich unvorsichtiger«, erwiderte ich.

Sie blickte mich über den Rand ihres kleinen Spiegels an.

»Hoffentlich geht es gut«, sagte ich. Es war etwas übertrieben, denn Binding stand ganz leidlich auf den Beinen. Aber ich wollte irgend etwas tun, damit sie nicht so wegging. »Darf ich morgen einmal bei Ihnen anrufen und hören, wie es geworden ist?« fragte ich.

Sie antwortete nicht gleich. »Wir haben mit unserer Trinkerei doch so eine gewisse Verantwortung dafür«, sagte ich weiter. »Besonders ich mit meinem Geburtstagsrum.«

Sie lachte. »Nun gut, wenn Sie wollen. Westen 2796.«

Ich schrieb mir die Nummer draußen gleich auf. Wir sahen zu, wie Binding abfuhr, und tranken noch ein letztes Glas. Dann ließen wir Karl losheulen. Er fegte durch den leichten Märznebel, wir atmeten rasch, die Stadt kam uns entgegen, feurig und schwankend im Dunst, und aus den Schwaden hob sich wie ein erleuchtetes, buntes Schiff Freddys Bar. Wir gingen mit Karl vor Anker. Golden floß der Kognak, der Gin glänzte wie Aquamarin, und der Rum war das Leben selbst. Eisern saßen wir auf den Barstühlen, die Musik plätscherte, das Dasein war hell und stark; es floß mächtig durch unsere Brust, die Trostlosigkeit der öden möblierten Zimmer, die uns erwartete, die Verzweiflung der Existenz war vergessen, die Bartheke war die Kommandobrücke des Lebens, und wir fuhren brausend in die Zukunft hinein. —




II


Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich schlief lange und erwachte erst, als die Sonne auf mein Bett schien. Ich sprang rasch auf und riß die Fenster auf. Draußen war es frisch und klar. Ich stellte den Spirituskocher auf die Bank und suchte die Dose mit Kaffee. Meine Wirtin, Frau Zalewski, hatte mir erlaubt, im Zimmer meinen eigenen Kaffee zu kochen. Ihrer war zu dünn. Besonders wenn man abends getrunken hatte.

Ich wohnte schon zwei Jahre in der Pension Zalewski. Die Gegend gefiel mir. Es war immer etwas los, weil das Gewerkschaftshaus, das Café International und das Versammlungslokal der Heilsarmee dicht beisammen waren. Vor dem Hause lag außerdem ein alter Friedhof, der schon seit langem stillgelegt war. Er hatte Bäume wie ein Park, und wenn es nachts ruhig war, konnte man meinen, man wohne auf dem Lande. Aber es wurde erst spät ruhig, denn neben dem Friedhof war ein Rummelplatz mit Karussells und Schiffschaukeln.

Für Frau Zalewski war der Friedhof ein sicheres Geschäft. Sie wies auf die gute Luft und den freien Ausblick hin und konnte dafür höhere Preise nehmen. Ihr ständiges Wort bei Reklamationen war: »Aber meine Herrschaften, bedenken Sie doch – die Lage!«



Ich zog mich sehr langsam an. Das gab mir das Gefühl von Sonntag. Ich wusch mich, ich wanderte im Zimmer umher, ich las die Zeitung, ich brühte den Kaffee auf, ich stand am Fenster und sah zu, wie die Straße gesprengt wurde, ich hörte die Vögel singen in den hohen Friedhofsbäumen – sie sangen wie kleine, silberne Pfeifen des lieben Gottes zu dem leisen, süßen Gebrumm der melancholischen Drehorgeln vom Rummelplatz —, ich wählte zwischen meinen paar Hemden und Strümpfen, als hätte ich zwanzigmal soviel, ich leerte pfeifend meine Taschen aus: Kleingeld, Messer, Schlüssel, Zigaretten – und da der Zettel von gestern mit dem Namen des Mädchens und der Telefonnummer.

Patrice Hollmann. Ein merkwürdiger Vorname – Patrice. Ich legte den Zettel auf den Tisch. War das wirklich erst gestern gewesen? Wie weit war das schon wieder weg – fast vergessen im perlgrauen Rausch des Alkohols. – Wunderbar war das beim Trinken – es brachte einen rasch zusammen —, aber zwischen Abend und Morgen schaffte es auch wieder Zwischenräume, als wären es Jahre.

Ich steckte den Zettel unter einen Pack Bücher. Anrufen? Vielleicht – vielleicht auch nicht. Tagsüber sah so etwas immer anders aus als abends. Ich war eigentlich ganz froh, meine Ruhe zu haben. War Lärm genug gewesen in den letzten Jahren. Nur nichts herankommen lassen, sagte Köster. Was man herankommen läßt, will man halten. Und halten kann man nichts —

In diesem Augenblick ging der Sonntagvormittagskrach im Zimmer nebenan los. Ich suchte meinen Hut, den ich gestern abend irgendwo gelassen haben mußte, und horchte eine Weile hin. Es war das Ehepaar Hasse, das da gegeneinander raste. Die beiden wohnten seit fünf Jahren hier in einem kleinen Zimmer. Es waren keine schlechten Leute. Hätten sie eine Dreizimmerwohnung gehabt, mit einer Küche für die Frau, und außerdem noch ein Kind, dann wäre ihre Ehe wahrscheinlich gut geblieben. Aber eine Wohnung kostete Geld, und ein Kind bei diesen unsicheren Zeiten – wer konnte sich das leisten! So hockten sie zu dicht aufeinander, die Frau war hysterisch geworden, und der Mann hatte ständig Angst, seinen kleinen Posten zu verlieren. Dann war er fertig. Er war fünfundvierzig Jahre alt. Niemand nahm ihn mehr, wenn er einmal arbeitslos wurde. Das war das Elend – früher sackte man langsam ab, und es gab immer noch wieder Möglichkeiten, hochzukommen —, aber heute stand hinter jeder Kündigung sofort der Abgrund der ewigen Arbeitslosigkeit.

Ich versuchte mich leise herauszudrücken, aber es klopfte schon, und Hasse stolperte herein. Er fiel auf einen Stuhl: »Ich ertrage es nicht mehr…«

Er war eigentlich ein sanfter Mann, mit abfallenden Schultern und einem kleinen Schnurrbart. Ein bescheidener, pflichttreuer Angestellter. Aber gerade die hatten es heute am schwersten. Sie hatten es wohl immer am schwersten. Bescheidenheit und Pflichttreue werden nur in Romanen belohnt. Im Leben werden sie ausgenutzt und dann beiseite geschoben. Hasse hob die Hände. »Denken Sie, schon wieder zwei Kündigungen im Geschäft. Der nächste bin ich, passen Sie auf, ich!« In dieser Angst lebte er von einem Ersten zum andern. Ich schenkte ihm einen Schnaps ein. Er zitterte am ganzen Körper. Eines Tages würde er zusammenklappen, das sah man. Er hatte nicht mehr viel zuzusetzen. »Und immer diese Vorwürfe«, flüsterte er.

Wahrscheinlich hatte die Frau ihm ihr Dasein vorgeworfen. Sie war zweiundvierzig, etwas schwammig und verblüht, aber natürlich noch nicht so verbraucht wie der Mann. Sie litt an Torschlußpanik.

Es hatte keinen Zweck, sich da einzumischen. »Hören Sie, Hasse«, sagte ich, »bleiben Sie ruhig hier sitzen, solange Sie wollen. Ich muß weg. Kognak steht im Kleiderschrank, wenn Sie den lieber mögen. Das hier ist Rum. Da liegen Zeitungen. Und dann gehen Sie heute nachmittag mit Ihrer Frau doch mal ‘raus aus dem Bau hier. Vielleicht ins Kino. Das kostet ebensoviel wie zwei Stunden im Café, und Sie haben mehr davon! Vergessen ist heute die Parole, nicht grübeln!« Ich klopfte ihm mit etwas schlechtem Gewissen auf die Schulter. Obschon, Kino war immer gut. Da konnte sich jeder was träumen.



Nebenan stand die Tür offen. Die Frau schluchzte, daß man es draußen hören konnte. Ich wanderte den Korridor hinunter. Die nächste Tür war angelehnt. Dort hatte man gehorcht. Eine Wolke Parfüm kam heraus. Da wohnte Erna Bönig, Privatsekretärin. Viel zu elegant für ihr Gehalt; aber einmal in der Woche diktierte ihr Chef ihr bis zum Morgen. Dann war sie am nächsten Tag sehr schlechter Laune. Dafür ging sie jeden Abend tanzen. Wenn sie nicht mehr tanzen könne, wolle sie nicht mehr leben, erklärte sie. Sie hatte zwei Freunde. Einer liebte sie und brachte ihr Blumen. Den anderen liebte sie und gab ihm Geld.

Neben ihr Rittmeister Graf Orlow, russischer Emigrant. Eintänzer, Kellner, Filmkomparse, Gigolo mit grauen Schläfen, wunderbarer Gitarrespieler. Betete jeden Abend zur Mutter Gottes von Kasan um eine Stellung als Empfangschef in einem mittleren Hotel. Weinte leicht, wenn er betrunken wurde. Nächste Tür. Frau Bender, Krankenschwester in einem Säuglingsheim. Fünfzig Jahre alt. Mann im Kriege gefallen. Zwei Kinder 1918 an Unterernährung gestorben. Hatte eine bunte Katze. Das einzige.

Daneben – Müller, pensionierter Rechnungsrat. Schriftführer eines Philatelistenvereins. Lebendige Briefmarkensammlung, sonst nichts. Glücklicher Mensch.

An der letzten Tür klopfte ich. »Na, Georg«, sagte ich, »immer noch nichts?«

Georg Block schüttelte den Kopf. Er war Student im vierten Semester. Um die vier Semester machen zu können, hatte er zwei Jahre im Bergwerk gearbeitet. Das ersparte Geld war jetzt fast verbraucht; er hatte nur noch für zwei Monate zu leben. Ins Bergwerk konnte er nicht wieder zurück – da waren heute schon zuviel Bergleute ohne Arbeit. Er hatte auf jede Weise versucht, eine Stelle nebenbei zu bekommen. Eine Woche lang war er Zettelausteiler für eine Margarinefabrik gewesen; aber die Fabrik war pleite gegangen. Kurz darauf bekam er einen Posten als Zeitungsausträger und atmete schon auf. Drei Tage später wurde er im Morgengrauen von zwei Leuten mit Schirmmützen angehalten, die ihm die Zeitungen abnahmen, zerrissen und ihm erklärten, er solle sich nicht zum zweiten Male sehen lassen in einem Beruf, der ihn nichts anginge. Sie hätten selbst genug Arbeitslose. Er ging trotzdem am nächsten Morgen, obschon er die zerrissenen Zeitungen hatte bezahlen müssen. Jemand fuhr ihn mit einem Fahrrad nieder. Die Zeitungen flogen in den Dreck. Das kostete ihn zwei Mark. Er ging zum drittenmal und kam mit zerfetztem Anzug und zerschlagenem Gesicht wieder. Da gab er es auf. Jetzt saß er jeden Tag in seinem Zimmer, verzweifelt, und büffelte wie verrückt, als hätte es noch Zweck. Er aß einmal am Tage. Dabei war es egal, ob er die Restsemester noch machte oder nicht – auf eine Stelle konnte er auch nach dem Examen in frühestens zehn Jahren rechnen. Ich schob ihm ein Paket Zigaretten hin. »Laß den Kram sausen, Georgie. Ich hab’s auch getan. Kannst später immer wieder anfangen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hab’s damals gemerkt, nach dem Bergwerk. Man kommt völlig ‘raus, wenn man nicht jeden Tag dabeibleibt, und zum zweitenmal schaff’ ich es nicht.«

Das blasse Gesicht mit abstehenden Ohren und kurzsichtigen Augen, die schmächtige Gestalt mit der eingefallenen Brust – verflucht – »na, mach’s gut, Georgie.« Eltern hatte er auch nicht mehr.

Die Küche. Ein ausgestopfter Wildschweinschädel. Erinnerung an den verstorbenen Zalewski. Das Telefon. Halbdunkel. Geruch nach Gas und schlechtem Fett. Die Korridortür mit den vielen Visitenkarten neben dem Klingelknopf. Meine auch. »Robert Lohkamp, stud. phil., zweimal lang klingeln.« Sie war gelb und schmutzig. Stud. phil. Hatte sich was! War lange her. Ich ging die Treppe hinunter zum Café International. Das International war ein großer, dunkler, verräucherter Schlauch mit mehreren Hinterzimmern. Vorn, neben der Theke, stand das Klavier. Es war verstimmt, ein paar Saiten waren gesprungen, und von den Elfenbeintasten fehlten auch einige; aber ich liebte den braven, ausgedienten Musikschimmel. Er hatte das Jahr meines Lebens mit mir geteilt, als ich als Stimmungsklavierspieler hier engagiert gewesen war.

In den hinteren Zimmern des Cafes hielten die Viehhändler ihre Versammlung ab; manchmal auch die Rummelplatzleute. Vorn saßen die Huren.

Das Lokal war leer. Nur der plattfüßige Kellner Alois stand hinter der Theke. »Wie immer?« fragte er.

Ich nickte. Er brachte mir ein Glas Portwein mit Rum, halb und halb. Ich setzte mich an einen Tisch und sah gedankenlos vor mich hin. Ein grauer Streifen Sonne kam schräg durch das Fenster. Er fing sich in den Schnapsflaschen auf den Regalen. Der Cherry-Brandy glühte wie ein Rubin.

Alois spülte Gläser. Die Katze des Wirtes saß auf dem Klavier und schnurrte. Ich rauchte langsam eine Zigarette. Die Luft machte schläfrig. Eine sonderbare Stimme hatte das Mädchen gestern gehabt. Dunkel, etwas rauh, fast heiser, aber doch weich. »Gib mir mal ein paar Magazine, Alois«, sagte ich.

Da knarrte die Tür. Rosa kam. Rosa, die Friedhofshure, genannt das Eiserne Pferd. Den Beinamen hatte sie, weil sie so unverwüstlich war. Sie wollte eine Tasse Schokolade trinken. Die leistete sie sich jeden Sonntagmorgen hier; dann fuhr sie nach Burgdorf, um ihr Kind zu besuchen.

»Servus, Robert.«

»Servus, Rosa. Was macht die Kleine?«

»Will mal sehen. Hier – das bring’ ich ihr mit.«

Sie packte aus einem Paket eine Puppe mit roten Backen und drückte ihr auf den Bauch. »Ma-ma«, quäkte die Puppe. Rosa strahlte.

»Fabelhaft!« sagte ich.

»Paß mal auf.« Sie beugte die Puppe nach hinten. Mit einem Klapp schlössen sich die Augen.

»Unerhört, Rosa.«

Sie war befriedigt und packte die Puppe wieder weg. »Du verstehst was von solchen Sachen, Robert. Wirst mal ein guter Ehemann.«

»Na, na«, sagte ich zweifelnd.

Rosa hing an ihrem Kinde. Bis vor einem Vierteljahr, solange es noch nicht laufen konnte, hatte sie es bei sich in ihrem Zimmer gehabt. Das ging, trotz ihres Berufes, weil nebenan ein kleiner Verschlag war. Wenn sie dann mit einem Kavalier abends ankam, ließ sie ihn unter irgendeinem Vorwand einen Augenblick draußen warten, ging rasch voran, schob den Kinderwagen in den Verschlag, schloß die Tür und ließ den Kavalier eintreten. Aber im Dezember mußte die Kleine zu oft aus dem warmen Zimmer in den ungeheizten Verschlag. So kam es, daß sie sich erkältete und oft weinte, wenn gerade jemand da war. Rosa mußte sich von ihr trennen, so schwer es ihr auch wurde. Sie gab sie in ein teures Kinderheim. Dort galt sie als honette Witwe. Sonst hätte man das Kind nicht angenommen.

Rosa erhob sich. »Du kommst doch Freitag?«

Ich nickte.

Sie sah mich an. »Du weißt doch, was los ist?«

»Natürlich.«

Ich hatte keine Ahnung, was los war; aber ich hatte auch keine Lust, danach zu fragen. Das hatte ich mir hier so angewöhnt in dem Jahr als Klavierspieler. Es war immer am bequemsten. Ebenso wie ich zu all den Mädchen du sagte. Das ging gar nicht anders.

»Servus, Robert.«

»Servus, Rosa.«

Ich saß noch eine Weile. Aber ich hatte nicht die richtige schläfrige Ruhe wie sonst, wenn das International so eine Art Sonntagsheimat für mich war. Ich trank noch einen Rum, streichelte die Katze und ging dann.



Tagsüber trieb ich mich umher. Ich wußte nicht recht, was ich machen sollte, und hielt es nirgendwo lange aus. Am späten Nachmittag ging ich in unsere Werkstatt. Köster war da. Er arbeitete an dem Cadillac. Wir hatten ihn vor einiger Zeit für einen Spottpreis alt gekauft. Jetzt war er von uns gründlich überholt worden, und Köster gab ihm gerade den letzten Schliff. Es war eine Spekulation. Wir hofften, gut damit zu verdienen. Ich zweifelte, ob es ein Geschäft sein würde. Bei den schlechten Zeiten wollten alle Leute kleine Wagen kaufen, aber nicht so einen Omnibus. »Wir bleiben darauf sitzen, Otto«, sagte ich.

Doch Köster war zuversichtlich. »Auf mittleren Wagen bleibt man sitzen, Robby«, erklärte er. »Billige werden gekauft und ganz teure auch. Es gibt immer noch Leute, die Geld haben. Oder so aussehen wollen.«

»Wo ist Gottfried?« fragte ich.

»In irgendeiner politischen Versammlung…«

»Verrückt! Was will er denn da?«

Köster lachte. »Das weiß er selbst nicht. Wahrscheinlich sitzt ihm das Frühjahr in den Knochen. Da muß er ja immer irgend etwas Neues haben.«

»Kann sein«, sagte ich. »Komm, ich helf’ dir etwas.«

Wir murksten herum, bis es dunkel wurde. »Schluß jetzt«, sagte Köster. Wir wuschen uns. »Weißt du, was ich hier habe?« fragte er und klopfte auf seine Brieftasche.

»Na?«

»Karten zum Boxen heute abend. Zwei. Du gehst doch mit, was?« Ich zögerte. Er sah mich erstaunt an. »Stilling boxt«, sagte er, »gegen Walker. Wird ein guter Kampf.«

»Nimm Gottfried mit«, schlug ich vor und fand mich lächerlich, daß ich nicht mitging. Aber ich hatte keine rechte Lust, ich wußte nicht warum.

»Hast du was vor?« fragte er.

»Nein.«

Er sah mich an.

»Ich gehe mal nach Hause«, sagte ich. »Briefe schreiben und so was. Muß auch mal sein…«

»Bist du krank?« fragte er besorgt.

»Ach wo, keine Spur. Habe vielleicht auch den Frühling etwas in den Knochen.«

»Na schön. Wie du willst.«

Ich schlenderte nach Hause. Aber als ich in meinem Zimmer saß, wußte ich auch nicht, was ich anfangen sollte. Unschlüssig wanderte ich umher. Ich verstand jetzt nicht mehr, weshalb ich eigentlich hierher gewollt hatte. Schließlich ging ich über den Korridor, um Georgie zu besuchen. Dabei stieß ich auf Frau Zalewski. »Nanu«, sagte sie verblüfft, »Sie hier?«

»Wäre schwer abzustreiten«, erwiderte ich etwas gereizt.

Sie wiegte den Kopf mit den grauen Locken. »Nicht unterwegs? Zeichen und Wunder.«

Ich hielt mich nicht lange bei Georgie auf. Nach einer Viertelstunde ging ich zurück. Ich überlegte, ob ich etwas trinken wollte. Aber ich wollte nicht. Ich setzte mich ans Fenster und schaute auf die Straße. Die Dämmerung wehte mit Fledermausflügeln über den Friedhof. Der Himmel hinter dem Gewerkschaftshause war grün wie ein unreifer Apfel. Draußen brannten schon die Laternen; aber es war noch nicht dunkel genug – sie sahen aus, als frören sie. Ich kramte unter meinen Büchern nach dem Zettel mit der Telefonnummer. Schließlich – anrufen konnte ich ja mal. Hatte es doch sogar halb und halb versprochen. Wahrscheinlich war das Mädchen auch gar nicht zu Hause.

Ich ging zum Vorplatz, wo das Telefon stand, hob den Hörer ab und sagte die Nummer. Während ich auf Antwort wartete, fühlte ich, wie eine weiche Welle, eine leichte Erwartung aus der schwarzen Muschel sich hob. Das Mädchen war da. Als ihre dunkle, etwas rauhe Stimme geisterhaft plötzlich in Frau Zalewskis Vorzimmer zwischen Wildschweinsköpfen, Fettgeruch und Küchengeklirr sprach, leise und etwas langsam, als dächte sie vor jedem Worte nach, verschwand auf einmal meine Unzufriedenheit. Ich hängte wieder an, nachdem ich, anstatt mich nur zu erkundigen, eine Verabredung für übermorgen abgemacht hatte. Plötzlich erschien mir alles nicht mehr so stumpf. Verrückt, dachte ich und schüttelte den Kopf. Dann hob ich noch einmal den Hörer auf und rief Köster an. »Hast du die Karten noch Otto?«

»Ja.«

»Gut. Ich gehe doch mit zum Boxen.«



Nachher wanderten wir noch eine Zeitlang durch die nächtliche Stadt. Die Straßen waren hell und leer. Die Firmenschilder leuchteten. In den Schaufenstern brannte zwecklos das Licht. In einem standen nackte Wachspuppen mit gemalten Köpfen. Sie sahen gespenstisch und pervers aus. Daneben glitzerte Schmuck. Dann kam ein Warenhaus, weiß bestrahlt wie eine Kathedrale. Die Fenster schäumten über von bunter, glänzender Seide. Vor einem Kino hockten blasse, verhungerte Gestalten. Neben ihnen glänzte die Auslage eines Lebensmittelgeschäftes. Zu zinnernen Türmen standen da die Konserven geschichtet, in Watte gebettet lagen mürbe Kalvilläpfel, eine Schnur fetter Gänse baumelte wie Wäsche auf einer Leine, braune runde Brote lagen zwischen harten Dauerwürsten, angeschnitten, zartgelb und rosig schimmerte das Bukett der Lachsschinken und Leberpasteten.

Wir setzten uns auf eine Bank in der Nähe der Anlagen. Es war kühl. Der Mond stand wie eine Bogenlampe über den Häusern. Es war schon weit nach Mitternacht. In der Nähe hatten Arbeiter auf dem Fahrdamm ein Zelt aufgerichtet. Sie arbeiteten an den Straßenbahnschienen. Die Gebläse zischten, und Ströme von Funken sprühten über die ernsthaft gebeugten, dunklen Gestalten. Neben ihnen qualmten Kessel mit Teerasphalt wie Gulaschkanonen.

Wir hingen unseren Gedanken nach.

»Komisch, so ein Sonntag, Otto, was?«

Köster nickte.

»Man ist eigentlich ganz froh, wenn er ‘rum ist.«

Köster zuckte die Achseln. »Vielleicht ist man den Trott so gewohnt, daß einen das bißchen Freiheit schon stört.«

Ich schlug meinen Kragen hoch. »Spricht eigentlich etwas gegen unser Leben, Otto?«

Er sah mich an und lächelte. »Hat schon ganz was anderes dagegen gesprochen, Robby.«

»Stimmt«, gab ich zu. »Immerhin…«

Das scharfe Licht der Preßluftbohrer spritzte grün über den Asphalt.

Das von innen erleuchtete Zelt der Arbeiter sah wie eine warme kleine Heimat aus.

»Glaubst du, daß der Cadillac Dienstag schon fertig ist?« fragte ich.

»Vielleicht«, sagte Köster. »Warum?«

»Ach, nur so —«

Wir standen auf und gingen nach Hause. »Bin ein bißchen verdreht heute, Otto«, sagte ich.

»Ist jeder mal. Schlaf gut, Robby.«

»Du auch, Otto.«

In meinem Zimmer saß ich noch eine Weile auf. Die Bude gefiel mir auf einmal gar nicht mehr. Der Kronleuchter war scheußlich, das Licht viel zu grell, die Sessel waren verschlissen, das Linoleum trostlos nüchtern, der Waschtisch, das Bett mit dem Gemälde von der Schlacht bei Waterloo darüber – kann man eigentlich keinen anständigen Menschen ‘reinführen, dachte ich. Eine Frau schon gar nicht. Höchstens eine Hure aus dem International.




III


Am Dienstag vormittag saßen wir vor unserer Werkstatt im Hof und frühstückten, Der Cadillac war fertig. Lenz hielt ein Blatt Papier in der Hand und schaute uns triumphierend an. Er war unser Reklamechef und hatte Köster und mir gerade ein Inserat vorgelesen, das er für den Verkauf des Wagens verfaßt hatte. Es begann mit den Worten: »Urlaub an südlichen Gestaden im Luxusgefährt« und war ein Mittelding zwischen einem Gedicht und einer Hymne.

Köster und ich schwiegen eine Weile. Wir mußten uns von dieser Sturzflut an blumiger Phantasie erst erholen. Lenz hielt uns für überwältigt. »Das Ding hat Poesie und Schmiß, was?« fragte er stolz. »Im Zeitalter der Sachlichkeit muß man romantisch sein, das ist der Trick. Gegensätze ziehen an.«

»Nicht, wenn es sich um Geld handelt«, erwiderte ich.

»Automobile kauft man nicht, um Geld anzulegen, Knabe«, erklärte Gottfried abweisend. »Man kauft sie, um Geld auszugeben; und da beginnt bereits die Romantik, wenigstens für den Geschäftsmann. Für die meisten Leute hört sie sogar damit auf. Was meinst du, Otto?«

»Weißt du…«, begann Köster vorsichtig.

»Wozu lange reden«, unterbrach ich ihn. »Das ist ein Inserat für einen Kurort oder eine Schönheitscreme, aber nicht für ein Automobil.«

Lenz öffnete den Mund.

»Augenblick«, fuhr ich fort. »Uns hältst du ja doch für befangen, Gottfried. Ich mache dir deshalb einen Vorschlag: Fragen wir mal Jupp. Das ist die Stimme des Volkes!«

Jupp war unser einziger Angestellter, ein Junge von fünfzehn Jahren, der eine Art Lehrlingsstelle bei uns hatte. Er bediente die Benzinpumpe, besorgte das Frühstück und räumte abends auf. Er war klein, übersät mit Sommersprossen und hatte die größten abstehenden Ohren, die ich kannte. Köster erklärte, wenn Jupp aus einem Flugzeug fiele, könnte ihm nichts geschehen. Er käme durch die Ohren in sanftem Gleitflug zur Erde.

Wir holten ihn heran. Lenz las ihm das Inserat vor. »Würdest du dich für so ‘nen Wagen interessieren, Jupp?« fragte Köster.

»Einen Wagen?« fragte Jupp zurück.

Ich lachte. »Natürlich einen Wagen«, knurrte Gottfried. »Meinst du ein Heupferd?«

»Hat er Schnellgang, von oben gesteuerte Nockenwelle und hydraulische Bremsen?« erkundigte Jupp sich ungerührt.

»Schafskopf, es ist doch unser Cadillac«, fauchte Lenz.

»Nicht möglich«, erwiderte Jupp und grinste von einem Ohr zum andern.

»Da hast du’s, Gottfried!« sagte Köster. »Das ist die Romantik von heute.«

»Scher dich wieder an deine Pumpe, Jupp, verfluchter Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts!«

Lenz verschwand mißmutig in der Bude, um dem Inserat bei aller Wahrung seines poetischen Schwunges doch etwas mehr technischen Halt zu geben.



Ein paar Minuten später erschien Oberinspektor Barsig plötzlich in der Hoftür. Wir empfingen ihn mit großen Ehren. Er war Ingenieur und Sachverständiger der Phönix-Autoversicherung, ein wichtiger Mann, um Reparaturen zugewiesen zu bekommen. Wir standen glänzend mit ihm. Als Ingenieur war er zwar ein scharfer Satan, der nichts durchgehen ließ, aber als Schmetterlingsfachmann war er weich wie Butter. Er hatte eine große Sammlung, und wir hatten ihm einmal einen dicken Schwärmer geschenkt, der nachts in unsere Werkstatt geflogen war. Barsig war blaß und feierlich geworden, als wir ihm das Tier überreichten. Es war ein Totenkopf, eine unerhörte Seltenheit, die ihm in seiner Sammlung noch gefehlt hatte. Er vergaß uns das nie und besorgte uns seitdem Reparaturen, wo es ging. Wir fingen ihm dafür jede Motte, die wir erwischen konnten.

»Einen Wermut, Herr Barsig?« fragte Lenz, der schon wieder obenauf war.

»Keinen Alkohol vor abends«, erwiderte Barsig. »Eisernes Prinzip bei mir.«

»Prinzipien muß man durchbrechen, sonst machen sie keine Freude«, erklärte Gottfried und schenkte ein. »Auf die Zukunft der Ligusterschwärmer, der Pfauenaugen und Perlmutterfalter!«

Barsig zögerte einen Moment. »Wenn Sie mir so kommen, kann ich nicht nein sagen«, sagte er und griff zu. »Aber dann wollen wir auch auf die kleinen Ochsenaugen anstoßen.« Er lächelte verlegen, als gäbe er etwas Zweideutiges von einer Frau zum besten. »Ich habe da nämlich eine neue Spielart entdeckt. Mit borstigen Fühlern.«

»Donnerwetter«, sagte Lenz, »alle Achtung! Dann sind Sie ja ein Pionier, und Ihr Name kommt in die Naturgeschichte.«

Wir tranken alle noch ein Glas auf die borstigen Fühler. Barsig wischte sich den Schnurrbart. »Ich bringe Ihnen eine gute Nachricht. Sie können den Ford abholen. Die Direktion hat bewilligt, daß Sie die Reparatur machen.«

»Großartig«, sagte Köster. »Wir können sie gut brauchen. Und wie steht es mit unserm Kostenanschlag?«

»Auch bewilligt.«

»Ohne Abzug?«

Barsig kniff ein Auge zu. »Die Herren wollten erst nicht recht. Aber schließlich…«

»Ein volles Glas auf die Phönixversicherung!« sagte Lenz und schenkte erneut ein.

Barsig stand auf und verabschiedete sich. »Denken Sie an«, sagte er im Gehen, »die Frau, die mit in dem Ford war, ist vor ein paar Tagen doch noch gestorben. Hatte nur Schnittwunden. Wahrscheinlich zuviel Blut verloren.«

»Wie alt war sie denn?« fragte Köster.

»Vierunddreißig«, erwiderte Barsig. »Schwanger im vierten Monat. Mit zwanzigtausend Mark versichert.«



Wir fuhren gleich los, um den Wagen zu holen. Er stand bei einem Bäckermeister. Der Mann war nachts halb betrunken damit gegen eine Mauer gerast. Nur seine Frau war verletzt worden; er selbst hatte nicht einen Kratzer abbekommen.

Wir trafen ihn in der Garage, als wir den Wagen zum Abschleppen fertigmachten. Er sah uns eine Zeitlang schweigend zu und stand etwas zusammengesackt da, mit rundem Rücken und kurzem Hals, den Kopf ein wenig vorgebeugt. Mit der ungesunden grauweißen Gesichtsfarbe, die alle Bäcker haben, sah er im Halbdunkel aus wie ein großer trauriger Mehlwurm. Langsam kann er heran. »Wann ist der Wagen fertig?« fragte er.

»In ungefähr drei Wochen«, erklärte Köster.

Er zeigte auf das Verdeck. »Das ist mit drin, nicht wahr?«

»Wieso?« fragte Otto. »Es ist doch ganz unbeschädigt.«

Der Bäckermeister machte eine ungeduldige Bewegung. »Natürlich. Aber ein neues Verdeck kann doch dabei abfallen. Ist ja ein ziemlich großer Auftrag für Sie. Wir verstehen uns, was?«

»Nein«, sagte Köster.

Er verstand ihn sehr gut. Der Mann wollte kostenlos ein neues Verdeck, für das die Versicherung nicht haftbar war, in die Reparatur hineinschmuggeln. Wir stritten uns eine Weile herum. Der Mann drohte, alles rückgängig zu machen und einen Kostenanschlag von einer gefälligeren Werkstatt einholen zu lassen. Schließlich gab Köster nach. Er hätte es nicht getan, wenn wir nicht Arbeit gebraucht hätten. »Na also, warum denn nicht gleich«, meinte der Bäckermeister mit schiefem Lächeln. »Ich komme in den nächsten Tagen, den Stoff aussuchen. Beige, denke ich. Zarte Farben.«

Wir fuhren los. Draußen zeigte Lenz auf die Sitze des Fords. Sie hatten große schwarze Flecken. »Das Blut seiner toten Frau. Und ein neues Verdeck herausgeschunden. Beige. Zarte Farben. Alle Achtung. Dem trau’ ich auch zu, daß er die Versicherungssumme für zwei Tote ‘rausholt. Die Frau war ja schwanger.«

Köster zuckte die Achseln. »Er sagt sich wahrscheinlich, daß das eine mit dem andern nichts zu tun hat.«

»Möglich«, sagte Lenz. »Es soll ja Leute geben, für die so was direkt ein Trost im Unglück ist. Uns kostet es glatt fünfzig Mark von unserm Verdienst.«

Nachmittags ging ich unter einem Vorwand nach Hause. Ich war um fünf Uhr mit Patrice Hollmann verabredet, aber ich sagte in der Werkstatt nichts davon. Nicht, daß ich es verbergen wollte; aber es kam mir auf einmal ziemlich unwahrscheinlich vor.

Sie hatte mir ein Café als Treffpunkt angegeben. Ich kannte es nicht; ich wußte nur, daß es ein kleines, elegantes Lokal war. Ahnungslos ging ich hin. Aber ich prallte erschrocken zurück, als ich eintrat. Der Raum war überfüllt mit schwätzenden Frauen. Ich war in eine typische Damenkonditorei geraten.

Mit Mühe gelang es mir, einen Tisch, der gerade frei wurde, zu ergattern. Unbehaglich blickte ich umher. Außer mir waren nur noch zwei Männer da, und die gefielen mir nicht.

»Kaffee, Tee, Schokolade?« fragte der Kellner und wedelte mit seiner Serviette eine Anzahl Kuchenkrümel von der Tischplatte auf meinen Anzug.

»Einen großen Kognak«, erwiderte ich.

Er brachte ihn. Aber er brachte gleichzeitig ein Kaffeekränzchen mit, das Platz suchte, an der Spitze eine Athletin reiferen Alters mit einem Pleureusenhut. »Vier Plätze, bitte!« sagte er und zeigte auf meinen Tisch.

»Halt«, antwortete ich, »der Tisch ist nicht frei. Ich erwarte jemand.«

»Das geht nicht, mein Herr!« sagte der Kellner. »Um diese Zeit können keine Plätze reserviert werden.«

Ich sah ihn an. Dann sah ich die Athletin an, die jetzt dicht am Tisch stand und eine Sessellehne umklammerte. Ich sah ihr Gesicht und verzichtete auf jeden Widerstand. Selbst mit Kanonen hätte man diese Person nicht wankend gemacht in ihrem Entschluß, den Tisch zu erobern.

»Können Sie mir wenigstens noch einen Kognak bringen?« knurrte ich den Kellner an.

»Sehr wohl, mein Herr. Wieder einen großen?«

»Ja.«

»Bitte sehr.« Er verbeugte sich. »Es ist doch ein Tisch für sechs Personen, mein Herr«, sagte er entschuldigend.

»Schon recht. Bringen Sie nur den Kognak.«

Die Athletin schien auch einem Abstinentenklub anzugehören. Sie starrte auf meinen Schnaps, als wäre er ein verfaulter Fisch. Um sie zu ärgern, bestellte ich noch einen und starrte zurück. Das ganze Unternehmen erschien mir plötzlich lächerlich. Was wollte ich hier? Und was wollte ich von dem Mädchen? Ich wußte nicht einmal, ob ich sie in all dem Durcheinander und Geschwätz überhaupt wiedererkennen würde. Ärgerlich schüttete ich meinen Kognak hinunter. – »Salute!« sagte jemand hinter mir.

Ich fuhr auf. Da stand sie und lachte. »Sie fangen ja recht zeitig an!« Ich stellte das Glas, das ich immer noch in der Hand hielt, auf den Tisch. Ich war plötzlich verwirrt. Das Mädchen sah ganz anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Zwischen den vielen Kuchen essenden, wohlgenährten Weibern wirkte es wie eine schmale, junge Amazone, kühl, strahlend, sicher und unangreifbar. – Das wird nie etwas mit uns, dachte ich und sagte: »Wo sind Sie denn nur so geisterhaft hergekommen? Ich habe doch die ganze Zeit die Tür beobachtet.«

Sie zeigte nach rechts hinüber. »Dort drüben ist noch ein Eingang. Aber ich habe mich verspätet. Warten Sie schon lange?«

»Gar nicht. Höchstens zwei, drei Minuten. Ich bin auch erst eben gekommen.«

Das Kaffeekränzchen an meinem Tisch wurde still. Ich spürte die abschätzenden Blicke von vier soliden Müttern im Nacken. »Wollen wir hier bleiben?« fragte ich.

Das Mädchen streifte mit einem raschen Blick den Tisch. Ihr Mund zuckte. Sie sah mich belustigt an. »Ich fürchte, Cafés sind überall gleich.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn sie leer sind, sind sie besser. Dies hier ist ein Teufelslokal, in dem man Minderwertigkeitskomplexe bekommt. Wir könnten am besten in eine Bar gehen.«

»In eine Bar? Gibt es denn Bars, die am hellen Tage offen sind?«

»Ich weiß eine«, sagte ich. »Sie ist allerdings sehr ruhig. Wenn Sie das mögen…«

»Manchmal schon…«

Ich blickte auf. Ich konnte im Augenblick nicht feststellen, wie sie das meinte. Ich hatte nichts gegen Ironie, wenn sie nicht gegen mich ging; aber ich hatte ein schlechtes Gewissen.

»Also gehen wir«, sagte sie.

Ich winkte dem Kellner. »Drei große Kognaks«, brüllte der Unglücksvogel mit einer Stimme, als wollte er einem Gast im Grabe die Rechnung machen. »Drei Mark dreißig!«

Das Mädchen drehte sich um. »Drei Kognaks in drei Minuten? Ganz schönes Tempo!«

»Es sind noch zwei von gestern dabei.«

»So ein Lügner«, zischte die Athletin am Tisch hinter mir. Sie hatte lange geschwiegen.

Ich wandte mich um und verbeugte mich. »Ein gesegnetes Weihnachtsfest, meine Damen!« Dann ging ich rasch.

»Haben Sie Streit gehabt?« fragte mich das Mädchen draußen.

»Nichts Besonderes. Ich habe nur eine ungünstige Wirkung auf Hausfrauen in gesicherten Verhältnissen.«

»Ich auch«, erwiderte sie.

Ich sah sie an. Sie erschien mir wie aus einer andern Welt. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was sie war und wie sie lebte.



Die Bar war sicherer Boden für mich. Fred, der Mixer, stand hinter der Theke und polierte gerade die großen Schwenkgläser für Kognak, als wir hereinkamen. Er begrüßte mich, als sähe er mich zum erstenmal und hätte mich nicht vor zwei Tagen noch nach Hause bringen müssen. Er hatte eine gute Schule und eine riesige Erfahrung hinter sich.

Der Raum war leer bis auf einen Tisch. Dort saß, wie fast immer, Valentin Hauser. Ich kannte ihn vom Kriege her; wir waren in derselben Kompanie gewesen. Er hatte mir einmal durchs Sperrfeuer einen Brief nach vorne gebracht, weil er dachte, er wäre von meiner Mutter. Er wußte, daß ich darauf wartete, denn meine Mutter war operiert worden. Aber er hatte sich geirrt – es war nur eine Reklame für Kopfschützer aus Brennesselstoff gewesen. Auf dem Rückwege hatte er einen Schuß ins Bein bekommen.

Valentin hatte einige Zeit nach dem Kriege eine Erbschaft gemacht. Die vertrank er seitdem. Er behauptete, das Glück feiern zu müssen, lebend herausgekommen zu sein. Es war ihm gleich, daß das schon eine Anzahl Jahre her war. Er erklärte, man könne es gar nicht genug feiern. Er war einer der Menschen, die ein unheimliches Gedächtnis für den Krieg haben. Wir andern hatten vieles vergessen; er aber erinnerte sich an jeden Tag und jede Stunde.

Ich sah, daß er schon viel getrunken hatte: Er saß ganz versunken und abwesend in seiner Ecke. Ich hob die Hand. »Salü, Valentin!«

Er blickte auf und nickte. »Salü, Robby!«

Wir setzten uns in eine Ecke. Der Mixer kam. »Was möchten Sie trinken?« fragte ich das Mädchen.

»Vielleicht einen Martini«, erwiderte sie. »Einen trockenen Martini.«

»Darin ist Fred Spezialist.«

Fred erlaubte sich ein Lächeln. »Mir wie immer«, sagte ich.

Die Bar war kühl und halbdunkel. Sie roch nach vergossenem Gin und Kognak. Es war ein würziger Geruch, wie nach Wacholder und Brot. Von der Decke hing das holzgeschnitzte Modell eines Segelschiffs herab. Die Wand hinter der Theke war mit Kupfer beschlagen. Das gedämpfte Licht eines Leuchters warf rote Reflexe hinein, als spiegele sich dort ein unterirdisches Feuer. Von den kleinen, schmiedeeisernen Wandarmen brannten nur zwei – einer bei Valentin und einer bei uns. Sie hatten gelbe Pergamentschirme, die aus alten Landkarten gemacht waren, und sahen aus wie schmale, erleuchtete Ausschnitte der Welt.

Ich war etwas verlegen und wußte nicht recht, wie ich ein Gespräch anfangen sollte. Ich kannte das Mädchen ja überhaupt nicht, und je länger ich es ansah, um so fremder erschien es mir. Es war lange her, daß ich mit jemand so zusammen gewesen war; ich hatte keine Übung mehr darin. Ich hatte mehr Übung im Umgang mit Männern. Vorhin, im Café, war es mir zu laut gewesen – jetzt, hier, war es plötzlich zu ruhig. Jedes Wort bekam durch die Stille des Raumes so viel Gewicht, daß es schwer war, unbefangen zu reden. Fast wünschte ich mich schon wieder ins Café zurück.

Fred brachte die Gläser. Wir tranken. Der Rum war stark und frisch. Er schmeckte nach Sonne. Er war etwas, woran man sich halten konnte. Ich trank und gab das Glas Fred gleich wieder mit.

»Gefällt es Ihnen hier?« fragte ich.

Das Mädchen nickte.

»Besser als in der Konditorei drüben?«

»Ich hasse Konditoreien«, sagte sie.

»Weshalb haben wir uns dann gerade da getroffen?« fragte ich verblüfft.

»Ich weiß nicht.« Sie nahm ihre Kappe ab. »Mir fiel nichts anderes ein.«

»Um so besser, daß es Ihnen dann hier gefällt. Wir sind oft hier. Abends ist diese Bude für uns schon fast so eine Art Zuhause.«

Sie lachte. »Ist das nicht eigentlich traurig?«

»Nein«, sagte ich, »zeitgemäß.«

Fred brachte mir das zweite Glas. Er legte eine grüne Havanna dazu auf den Tisch. »Von Herrn Hauser.«

Valentin winkte aus seiner Ecke herüber und hob sein Glas. »31. Juli 17, Robby«, sagte er mit schwerer Stimme.

Ich nickte ihm zu und hob ebenfalls mein Glas.

Er mußte immer jemand zutrinken; ich hatte ihn abends schon getroffen, wie er dem Mond oder einem Fliederbusch in einer Bauernkneipe zutrank. Dann erinnerte er sich an irgendeinen Tag aus den Schützengräben, wo es besonders schwer zugegangen war, und war dankbar dafür, daß er noch da war und so sitzen konnte.

»Er ist mein Freund«, sagte ich zu dem Mädchen. »Ein Kamerad aus dem Kriege. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der aus einem großen Unglück ein kleines Glück gemacht hat. Er weiß nicht mehr, was er mit seinem Leben anfangen soll – deshalb freut er sich einfach, daß er noch lebt.«

Sie sah mich nachdenklich an. Ein Streifen Licht fiel schräg über ihre Stirn und ihren Mund. »Das kann ich gut verstehen«, sagte sie.

Ich blickte auf. »Das sollten Sie aber nicht. Dafür sind Sie viel zu jung.«

Sie lächelte. Es war ein leichtes, schwebendes Lächeln, das nur in den Augen war. Das Gesicht veränderte sich kaum dabei; es wurde nur heller, von innen heraus heller. »Zu jung«, sagte sie, »das ist so ein Wort. Ich finde, zu jung ist man nie. Nur immer zu alt.«

Ich schwieg einen Augenblick. »Dagegen ließe sich eine Menge sagen«, erwiderte ich dann und machte Fred ein Zeichen, mir noch etwas zu trinken zu bringen. Das Mädchen war so sicher und selbstverständlich; ich fühlte mich wie ein Holzblock dagegen. Ich hätte gern ein leichtes, spielerisches Gespräch geführt, so ein richtiges Gespräch, wie es einem gewöhnlich hinterher einfällt, wenn man wieder allein ist. Lenz konnte das; bei mir aber wurde es immer gleich ungeschickt und schwer. Gottfried behauptete nicht mit Unrecht von mir, als Unterhalter stände ich ungefähr auf der Stufe eines Postsekretärs.

Zum Glück war Fred vernünftig. Er brachte mir statt der kleinen Fingerhüte jetzt gleich ein anständiges Weinglas voll heran. So brauchte er nicht immer hin und her zu laufen, und es fiel auch nicht so auf, wieviel ich trank. Ich mußte trinken; anders konnte ich diese stockige Schwere nicht loswerden.

»Wollen Sie nicht noch einen Martini nehmen?« fragte ich das Mädchen.

»Was trinken Sie denn da?«

»Das hier ist Rum.«

Sie betrachtete mein Glas. »Das haben Sie neulich auch schon getrunken.«

»Ja«, sagte ich, »das trinke ich meistens.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß das schmeckt.«

»Ob es schmeckt, weiß ich schon gar nicht mehr.«

Sie sah mich an. »Weshalb trinken Sie es denn?«

»Rum«, sagte ich, froh, etwas gefunden zu haben, über das ich reden konnte. »Rum hat mit Schmecken nicht viel zu tun. Er ist nicht so einfach ein Getränk – er ist schon mehr ein Freund. Ein Freund, der alles leichter macht. Er verändert die Welt. Und deshalb trinkt man ja« – Ich schob das Glas beiseite. »Aber soll ich Ihnen nicht noch einen Martini bestellen?«

»Lieber einen Rum«, sagte sie. »Ich möchte ihn auch mal versuchen.«

»Gut«, erwiderte ich, »aber nicht diesen. Der ist für den Anfang zu schwer. Bring einen Baccardi-Cocktail«, rief ich zu Fred hinüber.

Fred brachte die Gläser. Er setzte auch eine Schale mit Salzmandeln und schwarzgebrannten Kaffeebohnen dazu. »Laß meine Flasche nur gleich hier stehen«, sagte ich.



Langsam bekam alles Griff und Glanz. Die Unsicherheit schwand, die Worte kamen von selber, und ich achtete nicht mehr so darauf, was ich sagte. Ich trank weiter und spürte, wie die große, weiche Welle herankam und mich erfaßte, wie sich die leere Stunde der Dämmerung mit Bildern füllte und geisterhaft über den gleichgültigen, grauen Bezirken des Daseins der lautlose Zug der Träume wiederauftauchte. Die Wände der Bar weiteten sich, und plötzlich war es nicht mehr die Bar – es war eine Ecke der Welt, ein Winkel der Zuflucht, ein halbdunkler Unterstand, um den ringsumher die ewige Schlacht des Chaos brauste und in dem wir geborgen hockten, rätselhaft zueinandergeweht durch das Zwielicht der Zeit. Das Mädchen saß zusammengekauert in seinem Stuhl, fremd und geheimnisvoll, als wäre es hierher verschlagen von der anderen Seite des Lebens. Ich hörte mich sprechen, aber es war, als wäre ich es nicht mehr, als spräche jetzt ein anderer, einer, der ich hätte sein mögen. Die Worte stimmten nicht mehr, sie verschoben sich, sie drängten hinüber in andere, buntere Gebiete, als sie die kleinen Ereignisse meines Lebens geben konnten – ich wußte, daß sie schon nicht mehr Wahrheit waren, daß sie zu Phantasie und Lüge wurden, aber es war mir gleich —, die Wahrheit war trostlos und fahl, und nur das Gefühl und der Abglanz der Träume waren Leben…

In der kupfernen Wanne der Bar glühte das Licht. Ab und zu hob Valentin sein Glas und murmelte ein Datum vor sich hin. Draußen spülte sich gedämpft die Straße mit den Raubvogelrufen der Autos vorbei. Sie schrie herein, wenn jemand die Tür öffnete. Sie schrie wie ein keifendes, neidisches, altes Weib.



Es war schon dunkel, als ich Patrice Hollmann nach Hause brachte. Langsam ging ich zurück. Ich fühlte mich plötzlich allein und leer. Ein feiner Regen sprühte hernieder. Ich blieb vor einem Schaufenster stehen. Ich hatte zuviel getrunken, das merkte ich jetzt. Nicht, daß ich schwankte – aber ich merkte es doch deutlich.

Mir wurde mit einem Schlage mächtig heiß. Ich knöpfte den Mantel auf und schob den Hut zurück. Verdammt, es hatte mich wieder einmal überrumpelt! Was mochte ich da vorhin nur alles zusammengeredet haben? Ich wagte gar nicht, genau darüber nachzudenken. Ich wußte es nicht einmal mehr, das war das schlimmste. Hier allein, auf der kalten, autobusdröhnenden Straße sah das alles ganz anders aus als im Halbdunkel der Bar. Ich verfluchte mich selber. Einen schönen Eindruck mußte das Mädchen von mir bekommen haben! Sie hatte es sicher gemerkt. Sie hatte ja selbst fast nichts getrunken. Beim Abschied hatte sie mich auch so sonderbar angesehen…

Herrgott! Ich drehte mich um. Dabei stieß ich mit einem dicken kleinen Mann zusammen. »Na«, sagte ich wütend.

»Sperren Sie doch Ihre Augen auf, Sie bockender Strohwisch!« bellte der Dicke.

Ich starrte ihn an.

»Wohl noch nicht oft Menschen gesehen, was?« kläffte er weiter.

Er kam mir gerade recht. »Menschen wohl«, sagte ich, »aber noch keine Bierfässer, die Spazierengehen.«

Der Dicke besann sich keine Sekunde. Er stoppte und schwoll. »Wissen Sie was?« fauchte er. »Gehen Sie in den Zoo! Träumerische Känguruhs haben auf der Straße nichts zu suchen.«

Ich merkte, daß ich einen Schimpfer hoher Klasse vor mir hatte. Es galt, trotz aller Depression, die Ehre zu wahren.

»Wandere weiter, geisteskrankes Siebenmonatskind«, sagte ich und hob segnend die Hand.

Er beachtete meine Aufforderung nicht. »Laß dir Beton ins Gehirn spritzen, runzliger Hundsaffe!« bellte er.

Ich gab ihm einen dekadenten Plattfuß zurück. Er mir einen Kakadu in der Mauser; ich ihm einen arbeitslosen Leichenwäscher. Darauf bezeichnete er mich, schon mit Respekt, als krebskranken Kuhkopf; ich ihn, um ein Ende zu machen, als wandelnden Beefsteakfriedhof. Sein Gesicht verklärte sich plötzlich. »Beefsteakfriedhof ist gut!« sagte er. »Kannte ich noch nicht. Kommt in mein Repertoire! Alsdann…« Er lüftete den Hut, und wir trennten uns voll Achtung voneinander.

Das Schimpfen hatte mich erfrischt. Aber der Ärger war geblieben. Er wurde sogar immer stärker, je nüchterner ich wurde. Ich kam mir vor wie ein ausgewrungenes nasses Handtuch. Aber allmählich ärgerte ich mich nicht nur über mich – ich ärgerte mich über alles —, auch über das Mädchen. Sie war ja der Anlaß gewesen, daß ich mich betrunken hatte. Ich schlug den Kragen hoch. Sollte sie meinetwegen denken, was sie wollte, mir war es jetzt egal – sie wußte so wenigstens gleich, woran sie war. Und meinetwegen sollte die ganze Sache zum Teufel gehen – was geschehen war, war geschehen. Konnte man nichts mehr dran tun. War vielleicht sogar besser…

Ich ging in die Bar zurück und betrank mich nun erst richtig.




IV


Das Wetter wurde warm und feucht, und es regnete einige Tage lang. Dann klärte es sich auf, die Sonne fing an zu brüten, und als ich am Freitagmorgen in die Werkstatt kam, sah ich Mathilde Stoß auf dem Hof stehen, den Besen unter den Arm geklemmt, mit einem Gesicht wie ein gerührtes Nilpferd.

»Nu sehen Sie doch mal, Herr Lohkamp, die Pracht! Is doch immer wieder’n Wunder.«

Ich blieb überrascht stehen. Der alte Pflaumenbaum neben der Benzinpumpe war über Nacht aufgeblüht.

Er hatte den ganzen Winter krumm und kahl dagestanden, wir hatten alte Reifen darangehängt und Ölkanister zum Trocknen über die Äste gestülpt, er war nichts anderes gewesen als ein bequemer Ständer für alles, vom Putzlappen bis zur Motorhaube – noch vor ein paar Tagen hatten unsere gewaschenen blauen Leinenhosen daran herumgeflattert, noch gestern hatte man ihm kaum etwas angemerkt —, und nun auf einmal, über Nacht, war er verwandelt und verzaubert in eine schimmernde Wolke von Rosa und Weiß, eine Wolke von hellen Blüten, als hätte sich ein Schmetterlingsschwarm auf unsern dreckigen Hof verflogen…

»Und der Geruch«, sagte Mathilde schwärmerisch und verdrehte die Augen, »wunderbar – genauso wie Ihr Rum…«

Ich roch nichts. Aber ich verstand sofort. »Es riecht mehr nach dem Kundenkognak«, behauptete ich.

Sie wehrte energisch ab. »Herr Lohkamp, Sie müssen erkältet sein. Vielleicht ha’m Sie auch Polypen in der Nase. Polypen hat heute fast jeder Mensch. Nee, die alte Stoß hat ‘ne Nase wie’n Windhund, verlassen Sie sich drauf, es ist Rum – alter Rum…«

»Na schön, Mathilde…«



Ich schenkte ihr ein Glas Rum ein und ging dann zur Benzinpumpe, Jupp saß schon da. Er hatte in einer verrosteten Konservenbüchse vor sich eine Anzahl abgeschnittener Blütenzweige stehen. »Was soll denn das heißen?« fragte ich erstaunt.

»Für die Damen«, erklärte Jupp. »Wenn sie tanken, gibt’s so einen Zweig gratis. Habe daraufhin schon neunzig Liter mehr verkauft. Der Baum ist Gold wert, Herr Lohkamp. Wenn wir den nicht hätten, müßten wir ihn künstlich nachmachen.«

»Du bist ein geschäftstüchtiger Knabe.«

Er grinste. Die Sonne durchleuchtete seine Ohren, daß sie aussahen wie rubinfarbene Kirchenfenster. »Zweimal bin ich auch schon fotografiert worden«, berichtete er. »Mit dem Baum dahinter.«

»Paß auf, du wirst noch ein Filmstar«, sagte ich und ging zur Grube hinüber, wo Lenz gerade unter dem Ford hervorkroch.

»Robby«, sagte er, »mir ist da was eingefallen. Wir müssen uns mal um das Mädchen von dem Binding kümmern.«

Ich starrte ihn an. »Wie meinst du das?«

»Genau, wie ich es sage. Aber was starrst du denn so?«

»Ich starre nicht…«

»Du stierst sogar. Wie hieß das Mädchen eigentlich noch? Pat, aber wie weiter?«

»Weiß ich nicht«, erwiderte ich.

Er richtete sich auf. »Das weißt du nicht? Du hast doch ihre Adresse aufgeschrieben! Ich habe es selbst gesehen.«

»Habe den Zettel verloren.«

»Verloren!« Er griff sich mit beiden Händen in seinen gelben Haarwald. »Und dazu habe ich damals den Binding eine Stunde draußen beschäftigt! Verloren! Na, vielleicht weiß Otto sie noch.«

»Otto weiß sie auch nicht.«

Er sah mich an. »Jammervoller Dilettant! Um so schlimmer! Weißt du denn nicht, daß das ein fabelhaftes Mädchen war? Herrgott!« Er starrte zum Himmel. »Läuft uns endlich schon mal was Richtiges über den Weg, dann verliert so ein Trauerbolzen die Adresse!«

»So großartig fand ich sie gar nicht.«

»Weil du ein Esel bist«, erwiderte Lenz, »ein Trottel, der nichts kennt, was über das Niveau der Huren aus dem Café International hinausgeht! Du Klavierspieler, du! Ich sage dir nochmals: Es war ein Glücksfall, ein besonderer Glücksfall, dieses Mädchen! Du hast natürlich keine Ahnung von so was! Hast du dir die Augen angesehen? Natürlich nicht – du hast dein Schnapsglas angesehen…«

»Halt den Schnabel!« unterbrach ich ihn, denn mit dem Schnapsglas traf er in eine offene Wunde.

»Und die Hände«, fuhr er fort, ohne mich zu beachten, »schmale, lange Hände wie eine Mulattin, davon versteht Gottfried etwas, das kannst du glauben! Heiliger Moses! Endlich einmal ein Mädchen, wie es sein muß, schön, natürlich und, was das wichtigste ist, mit Atmosphäre« – er unterbrach sich —, »weißt du überhaupt, was das ist, Atmosphäre?«

»Luft, die man in einen Reifen pumpt«, erklärte ich mürrisch.

»Natürlich«, sagte er mitleidig und verachtungsvoll, »Luft, natürlich! Atmosphäre, Aura, Strahlung, Wärme, Geheimnis – das, was die Schönheit erst beseelt und lebendig macht —, aber was rede ich – deine Atmosphäre ist der Rumdunst…«

»Hör jetzt auf oder ich lasse was auf deinen Schädel fallen«, knurrte ich.

Aber Gottfried redete weiter, und ich tat ihm nichts. Er hatte ja keine Ahnung davon, was passiert war und daß jedes Wort von ihm mich mächtig traf. Besonders jedes über das Trinken. Ich war schon drüber weg gewesen und hatte mich ganz gut getröstet; jetzt aber wühlte er alles wieder auf. Er lobte und lobte das Mädchen, und mir wurde bald zumute, als hätte ich wirklich etwas Besonderes unwiederbringlich verloren.



Ärgerlich ging ich um sechs Uhr zum Café International. Das war meine Zuflucht; Lenz hatte es mir ja auch bestätigt. Zu meinem Erstaunen herrschte ein Riesenbetrieb, als ich eintrat. Auf der Theke standen Torten und Napfkuchen, und der plattfüßige Alois rannte mit einem Tablett voll Kaffeegeschirr klappernd ins Hinterzimmer. Ich blieb stehen. Kaffee, kannenweise? Da mußte ja ein ganzer Verein schwer betrunken unter den Tischen liegen.

Aber der Wirt klärte mich auf. Heute war im Hinterzimmer die Abschiedsfeier für Rosas Freundin Lilly. Ich schlug mich vor den Kopf. Natürlich, dazu war ich ja eingeladen! Als einziger Mann sogar, wie Rosa bedeutungsvoll gesagt hatte – denn der schwule Kiki, der auch da war, zählte nicht. Ich ging rasch noch einmal los und besorgte einen Strauß Blumen, eine Ananas, eine Kinderklapper und eine Tafel Schokolade.

Rosa empfing mich mit dem Lächeln einer großen Dame. Sie trug ein schwarzes, ausgeschnittenes Kleid und thronte oben am Tisch. Ihre Goldzähne leuchteten. Ich erkundigte mich, wie es ihrer Kleinen ginge, und überreichte für sie die Zelluloidklapper und die Schokolade. Rosa strahlte.

Ich wandte mich mit der Ananas und den Blumen an Lilly. »Meine herzlichsten Glückwünsche!«

»Er ist und bleibt ein Kavalier!« sagte Rosa. »Und nun komm, Robby, setz dich zwischen uns beide.«

Lilly war die beste Freundin Rosas. Sie hatte eine glänzende Karriere hinter sich. Sie war das gewesen, was die unerreichbare Sehnsucht jeder kleinen Hure ist: eine Hotelfrau. Eine Hotelfrau geht nicht auf den Straßenstrich – sie wohnt im Hotel und macht da ihre Bekanntschaften. Fast alle Huren kommen nicht dazu – sie haben nicht genug Garderobe und auch nie genug Geld, um einmal eine Zeitlang auf Freier warten zu können. Lilly hatte zwar nur in Provinzhotels gelebt; aber sie hatte doch im Laufe der Jahre fast viertausend Mark gespart. Jetzt wollte sie heiraten. Ihr künftiger Mann betrieb ein kleines Installationsgeschäft. Er wußte alles von ihr, und es war ihm gleichgültig. Für die Zukunft konnte er unbesorgt sein; wenn eines dieser Mädchen heiratete, war es zuverlässig. Sie kannten den Rummel und hatten genug davon. Sie waren treu.

Lilly sollte Montag heiraten. Heute gab Rosa ihr einen Abschiedskaffee. Alle waren dazu erschienen, um noch einmal mit Lilly zusammen zu sein. Nach ihrer Hochzeit konnte sie nicht mehr hierher kommen.

Rosa schenkte mir eine Tasse Kaffee ein. Alois trabte mit einem riesigen Napfkuchen herbei, der gespickt war mit Rosinen, Mandeln und grüner Sukkade. Sie legte mir ein mächtiges Stück davon auf. Ich wußte, was ich zu tun hatte. Kennerisch probierte ich einen Bissen und markierte gewaltiges Erstaunen. »Donnerwetter, der ist aber bestimmt nicht im Laden gekauft…«

»Selbstgebacken«, sagte Rosa glücklich. Sie war eine fabelhafte Köchin und hatte gern, wenn man es anerkannte. Besonders in Gulasch und Napfkuchen war sie unerreicht. Sie war nicht umsonst eine Böhmin.

Ich blickte mich um. Da saßen sie rings um den Tisch, die Arbeiterinnen im Weinberge Gottes, die untrüglichen Menschenkennerinnen, die Soldaten der Liebe – Wally, die Schöne, der man neulich bei einer nächtlichen Autofahrt den Weißfuchs gestohlen hatte; – Lina mit dem Holzbein, die immer noch Liebhaber fand; – Fritzi, das Luder, die den plattfüßigen Alois liebte, obschon sie längst eine eigene Wohnung hätte haben können und einen Freund, der sie aushielt; – Margot mit den roten Backen, die immer in Dienstmädchentracht ging und damit elegante Freier fing; – Marion, die jüngste, strahlend und unbedenklich; – Kiki, der als Mann nicht mitzählte, weil er Frauenkleider trug und geschminkt war; – Mimi, das arme Biest, dem das Laufen mit seinen fünfundvierzig Jahren und den Krampfadern immer schwerer fiel; – ein paar Barfrauen und Tischdamen, die ich nicht kannte; – und endlich, als zweiter Ehrengast, klein, grau und verschrumpelt wie ein Winterapfel, Muttchen, die Vertraute aller, Trost und Stütze nächtlicher Wanderer, Muttchen mit dem Wurstkessel von der Ecke Nikolaistraße, fliegendes Büfett und Wechselbüro nachts, die neben ihren Frankfurter Würstchen auch noch heimlich Zigaretten und Gummiartikel verkaufte und angepumpt werden konnte.

Ich wußte, was sich schickte. Kein Wort von Geschäft, keine unzarte Andeutung heute – vergessen die wunderbare Leistung Rosas, die ihr den Beinamen das »Eiserne Pferd« eingetragen hatte; – vergessen Fritzis Unterhaltungen mit dem Viehhändler Stefan Grigoleit über die Liebe; – vergessen Kikis Tänze um den Salzbrezelkorb im Morgengrauen. Die Unterhaltung hier konnte jedem Damenkränzchen Ehre machen.

»Alles schon vorbereitet, Lilly?« fragte ich.

Sie nickte. »Die Aussteuer hatte ich ja schon lange.«

»Wunderbare Aussteuer«, sagte Rosa. »Fehlt aber auch nicht ein Spitzendeckchen.«

»Wozu braucht man denn Spitzendeckchen?« fragte ich.

»Na hör mal, Robby!« Rosa sah mich so vorwurfsvoll an, daß ich rasch erklärte, ich wüßte es schon. Spitzendecken – gehäkelte Möbelschoner, natürlich, sie waren das Symbol kleinbürgerlicher Behaglichkeit, das geheiligte Symbol der Ehe, des verlorenen Paradies. Sie waren ja alle keine Huren aus Temperament; sie waren Gescheiterte der bürgerlichen Existenz. Ihre geheime Sehnsucht war das Ehebett; nicht das Laster. Aber das hätten sie nie eingestanden.

Ich setzte mich ans Klavier. Rosa hatte schon darauf gewartet. Sie liebte Musik wie alle diese Mädchen. Ich spielte zum Abschied noch einmal alle ihre und Lillys Lieblingsschlager. Zu Anfang das »Gebet einer Jungfrau«. Der Titel war zwar nicht ganz angebracht für das Lokal, aber es war auch nur ein Bravourstück mit viel Geklimper. Dann folgte »Der Vöglein Abendlied«, das »Alpenglühen«, »Wenn die Liebe stirbt«, »Die Millionen des Harlekin« und zum Schluß »Nach der Heimat möcht’ ich wieder«. Das liebte Rosa besonders. Huren sind ja das Härteste und Sentimentalste zugleich. Alle sangen es mit. Der schwule Kiki die zweite Stimme.

Lilly brach auf. Sie mußte ihren Bräutigam abholen. Rosa küßte sie herzhaft ab. »Mach’s gut, Lilly. Laß dich nicht unterkriegen!«

Beladen mit Geschenken ging sie davon. Weiß der Henker, sie hatte ein ganz anderes Gesicht als früher. Die harten Linien, die sich bei jedem eingraben, der mit der menschlichen Gemeinheit zu tun hat, waren weggewischt; das Gesicht war weicher geworden, es hatte wahrhaftig wieder etwas von einem jungen Mädchen.

Wir standen vor der Tür und winkten Lilly nach. Mimi fing plötzlich an zu heulen. Sie war selbst mal verheiratet gewesen. Ihr Mann war im Kriege an Lungenentzündung gestorben. Wäre er gefallen, hätte sie eine kleine Rente gehabt und nicht auf die Straße müssen. Rosa klopfte ihr auf den Rücken. »Na, Mimi, nur nicht weich werden! Komm, wir trinken noch einen Schluck Kaffee.«

Die ganze Gesellschaft kehrte in das dunkle International zurück, wie eine Schar Hühner in den Stall. Aber es kam keine rechte Stimmung mehr auf. »Spiel uns noch einen zum Schluß, Robby!« sagte Rosa. »Zum Aufmuntern.«

»Schön«, erwiderte ich. »Wollen wir mal den >Alten Kameradenmarsch< ‘runterhauen.«

Dann verabschiedete ich mich auch. Rosa steckte mir noch ein Paket Kuchen zu. Ich schenkte es Muttchens Sohn, der draußen bereits den abendlichen Wurstkessel aufbaute.

Ich überlegte, was ich machen sollte. In die Bar wollte ich auf keinen Fall; in ein Kino auch nicht; in die Werkstatt? Unschlüssig sah ich nach der Uhr. Es war acht. Jetzt mußte Köster wieder zurück sein. Wenn er da war, konnte Lenz nicht wieder stundenlang über das Mädchen reden. Ich ging hin.

In der Bude war Licht. Nicht nur in der Bude – auch der ganze Hof war überflutet. Köster war allein da. »Was ist denn hier los, Otto?« fragte ich. »Hast du vielleicht den Cadillac verkauft?«

Köster lachte. »Nein. Gottfried hat nur ein bißchen illuminiert.«

Beide Scheinwerfer des Cadillac brannten. Der Wagen war so geschoben, daß die Lichtgarben durch das Fenster in den Hof fielen, mitten auf den weißblühenden Pflaumenbaum. Es sah wunderbar aus, wie er so kreidig dastand. Die Dunkelheit zu beiden Seiten schien wie ein schwarzes Meer zu rauschen.

»Großartig«, sagte ich. »Wo ist er denn?«

»Er holt was zu essen.«

»Glänzende Idee. Fühle mich so ein bißchen windig. Kann aber sein, daß es bloß Hunger ist.«

Köster nickte »Essen ist immer gut. Hauptgesetz aller alten Krieger. Ich habe heute nachmittag auch was Windiges gemacht. Habe Karl zum Rennen gemeldet.«

»Was?« sagte ich. »Etwa zum Sechsten?«

Er nickte.

»Verdammt noch mal, Otto, da starten doch allerlei Kanonen.«

Er nickte wieder. »In der Sportwagenklasse Braumüller.«

Ich krempelte mir die Ärmel auf. »Dann ‘ran, Otto! Große Ölwäsche für unsern Liebling.«

»Halt«, rief der letzte Romantiker, der gerade hereinkam, »erst futtern!« Er packte das Abendbrot aus – Käse, Brot, steinharte Räucherwurst und Sprotten. Dazu tranken wir gut gekühltes Bier. Wir aßen wie eine Kolonne ausgehungerter Drescher. Dann gingen wir Karl zu Leibe. Zwei Stunden arbeiteten wir an ihm herum und kontrollierten und schmierten alle Lager. Hinterher aßen Lenz und ich zum zweitenmal Abendbrot. Gottfried beleuchtete jetzt auch den Ford. Durch Zufall war bei dem Zusammenstoß einer der Scheinwerfer heil geblieben. Der starrte nun von dem hochgebogenen Chassis schräg hinauf in den Himmel.

Lenz drehte sich zufrieden um. »So, Robby, nun hol mal die Flaschen. Wir wollen das >Fest des blühenden Baumes< feiern.«

Ich stellte den Kognak, den Gin und zwei Gläser auf den Tisch.

»Und du?« fragte Gottfried.

»Ich trinke nichts.«

»Was? Warum nicht?«

»Weil ich keine Lust zu dieser verdammten Sauferei mehr habe.«

Lenz betrachtete mich eine Weile. »Unser Kind ist übergeschnappt, Otto«, sagte er dann zu Köster.

»Laß ihn doch, wenn er nicht will.«

Lenz schenkte sich sein Glas voll. »Der Junge ist schon seit einiger Zeit etwas verrückt.«

»Ist noch nicht das Schlechteste«, erklärte ich.

Der Mond kam groß und rot hinter dem Dach der Fabrik gegenüber hervor. Wir saßen eine Weile und schwiegen. »Sag mal, Gottfried«, begann ich dann, »du bist doch ein Fachmann in der Liebe, nicht?«

»Fachmann? Ich bin der Altmeister der Liebe«, erwiderte Lenz bescheiden.

»Schön. Ich möchte nämlich mal wissen, ob man sich eigentlich dabei immer blödsinnig benimmt.«

»Wieso blödsinnig?«

»Na so, als ob man halb trunken ist. Herumredet und Unsinn quatscht und schwindelt.«

Lenz brach in ein Gelächter aus. »Aber Baby! Das Ganze ist doch Schwindel. Ein wunderbarer Schwindel von Mama Natur. Schau dir den Pflaumenbaum an! Er schwindelt auch gerade. Macht sich schöner, als er nachher ist. Es wäre ja scheußlich, wenn Liebe was mit Wahrheit zu tun hätte. Gott sei Dank, alles können die verdammten Ethiker doch nicht unterjochen.«

Ich richtete mich auf. »Du meinst, ohne etwas Schwindel geht’s überhaupt nicht?«

»Überhaupt nicht, Kindchen.«

»Kann man sich aber doch verflucht lächerlich durch machen.«

Lenz grinste. »Merke dir eins, Knabe: Nie, nie, nie kann man sich lächerlich bei einer Frau machen, wenn man etwas ihretwegen tut. Selbst beim albernsten Theater nicht. Mach, was du willst – steh kopf, rede den dümmsten Quatsch, prahle wie ein Pfau, singe vor ihrem Fenster, nur eins tu nicht; sei nicht sachlich! Nicht vernünftig!«

Ich wurde lebendig. »Was meinst du dazu, Otto?«

Köster lachte. »Wird wohl stimmen.«

Er stand auf und klappte Karls Motorhaube auf. Ich holte meine Rumflasche und ein Glas und stellte sie auf den Tisch. Otto ließ den Wagen an. Der Motor schlurfte ganz tief und verhalten. Lenz hatte die Füße auf der Fensterbank und starrte hinaus. Ich setzte mich neben ihn. »Warst du schon mal betrunken, wenn du mit einer Frau zusammen warst?«

»Oft«, erwiderte er, ohne sich zu rühren.

»Und?«

Er sah mich aus schrägen Augen an. »Du meinst, wenn man dann was verboxt hat? Nie entschuldigen, Baby. Nie reden. Blumen schicken. Ohne Brief. Nur Blumen. Die decken alles zu. Sogar Gräber.«

Ich sah ihn an. Er rührte sich nicht. Seine Augen glitzerten im Widerschein des weißen Lichtes draußen. Der Motor lief immer noch, leise grollend, als bebe unter uns die Erde.

»Könnte nun eigentlich ruhig etwas trinken«, sagte ich und machte die Flasche auf.

Köster stellte den Motor ab. Dann wandte er sich an Lenz.

»Der Mond ist jetzt hell genug, um ein Glas zu finden, Gottfried. Mach die Illumination aus. Besonders den Ford. Das Biest erinnert mich mit dem schrägen Scheinwerfer an den Krieg. War kein Spaß nachts, wenn die Dinger nach dem Flugzeug langten.«

Lenz nickte. »Und mich erinnert das da – na, ist ja egal…« Er stand auf und machte die Scheinwerfer aus.

Der Mond war über das Fabrikdach emporgestiegen. Er war immer heller geworden und hing nun wie ein gelber Lampion in den Ästen des Pflaumenbaumes. Die Zweige schwankten leise hin und her im schwachen Wind. »Merkwürdig«, sagte Lenz nach einer Weile, »warum setzt man allen möglichen Leuten Denkmäler – warum nicht mal dem Mond oder einem blühenden Baum?«



Ich ging früh nach Hause. Als ich die Korridortür aufschloß, hörte ich Musik. Es war das Grammophon Erna Bönigs, der Sekretärin. Eine leise, klare Frauenstimme sang. Dann kam ein Geglitzer von gedämpften Geigen und Banjopizzikatis. Und wieder die Stimme, eindringlich, weich, als wäre sie ganz erfüllt von Glück. Ich horchte, um die Worte zu verstehen. Es klang sonderbar rührend, hier auf dem dunklen Korridor, zwischen der Nähmaschine von Frau Bender und den Koffern der Familie Hasse, wie die Frau da so leise sang. Ich sah den ausgestopften Wildschweinschädel über der Küche an. Ich hörte das Dienstmädchen mit Geschirr rumoren. »Wie hab’ ich nur leben können ohne dich«, sang die Stimme, ein paar Schritte weiter hinter der Tür.

Ich zuckte die Achseln und ging in mein Zimmer.

Nebenan hörte ich erregtes Gezänk. Ein paar Minuten später klopfte es bei mir und Hasse kam herein.

»Störe ich Sie?« fragte er müde.

»Gar nicht«, sagte ich. »Wollen Sie was trinken?«

»Lieber nicht. Nur etwas sitzen.«

Er sah stumpf vor sich hin. »Sie haben’s gut«, sagte er, »Sie sind allein…«

»Ach Unsinn«, erwiderte ich. »Immer so allein ‘rumsitzen, das ist auch nichts – können Sie mir schon glauben…«

Er saß zusammengesunken in seinem Sessel. Seine Augen waren gläsern im Halbdunkel, das der Widerschein der Laternen von draußen hereinwarf. Die schmalen, abfallenden Schultern… »Hab’ mir das Leben ganz anders vorgestellt«, sagte er nach einer Weile.

»Haben wir alle«, sagte ich.

Nach einer halben Stunde ging er wieder hinüber, um sich mit seiner Frau zu vertragen. Ich gab ihm ein paar Zeitungen und eine halbe Flasche Curaçao mit, die noch von irgendwann auf meinem Schrank herumstand – ein unangenehmes, süßes Zeug, aber für ihn ganz gut. Er verstand doch nichts davon.

Leise, fast lautlos ging er hinaus, ein Schatten im Schatten, als wäre er schon erloschen. Ich machte die Tür hinter ihm zu. Vom Korridor her wehte dabei wie ein buntes Seidentuch ein Fetzen Musik noch mit herein – Geigen, gedämpfte Banjos – »wie hab’ ich nur leben können ohne dich…«

Ich setzte mich ans Fenster. Draußen lag der Friedhof im blauen Mondlicht. Die bunten Würfel der Lichtreklamen kletterten über die Wipfel der Bäume, und die Grabsteine schimmerten aus der Dunkelheit hervor. Sie waren still und ohne Schrecken. Autos hupten dicht an ihnen entlang, und das Licht der Scheinwerfer huschte über ihre verwitterten Inschriften.

Ich saß ziemlich lange und dachte an allerlei Dinge. Auch daran, wie wir damals zurückgekommen waren aus dem Kriege, jung, ohne Glauben, wie Bergleute aus einem eingestürzten Schacht. Wir hatten marschieren wollen gegen die Lüge, die Ichsucht, die Gier, die Trägheit des Herzens, die all das verschuldet hatten, was hinter uns lag – wir waren hart gewesen, ohne anderes Vertrauen als das zu dem Kameraden neben uns und das eine andere, das nie getrogen hatte: zu den Dingen – zu Himmel, Tabak, Baum und Brot und Erde —; aber was war daraus geworden? Alles war zusammengebrochen, verfälscht und vergessen. Und wer nicht vergessen konnte, dem blieben nur die Ohnmacht, die Verzweiflung, die Gleichgültigkeit und der Schnaps. Die Zeit der großen Menschen- und Männerträume war vorbei. Die Betriebsamen triumphierten. Die Korruption. Das Elend.



»Sie haben’s gut, Sie sind allein«, sagte Hasse. Alles ganz schön – wer allein war, konnte nicht verlassen werden. Aber manchmal, abends, dann zerbrach das künstliche Gebäude, das Leben verwandelte sich in eine schluchzende, jagende Melodie, einen Strudel von wilder Sehnsucht, von Begehren, Schwermut und Hoffnung, herauszukommen aus diesem sinnlosen Betäuben, heraus aus dem sinnlosen Geleier dieser ewigen Drehorgel, ganz gleich, wohin es ging. Ach, dieses armselige Bedürfnis nach einem bißchen Wärme – konnten es denn nicht zwei Hände sein und ein geneigtes Gesicht? Oder war das auch nur Täuschung und Verzicht und Flucht? Gab es denn etwas anderes als Alleinsein?

Ich schloß das Fenster. Nein, es gab nichts anderes. Für alles andere hatte man viel zuwenig Boden unter den Füßen.

Aber am nächsten Morgen brach ich frühzeitig auf und klopfte den Besitzer eines kleinen Blumenladens aus seiner Wohnung, bevor ich zur Werkstatt ging. Ich suchte einen Busch Rosen bei ihm aus und sagte ihm, er möge sie gleich fortschicken. Es war ein wenig sonderbar für mich, als ich die Adresse langsam auf die Karte schrieb: Patrice Hollmann.




V


Köster war in seinem ältesten Anzug zum Finanzamt gefahren. Er wollte versuchen, unsere Steuern herunterzukriegen. Lenz und ich waren allein in der Werkstatt.

»Los, Gottfried«, sagte ich, »’ran an den dicken Cadillac.«

Am Abend vorher war unser Inserat erschienen. Wir konnten also heute mit Kunden rechnen – wenn überhaupt jemand kam. Es galt, den Wagen vorzubereiten.

Zunächst gingen wir mit Polierwasser über den Lack. Er bekam dadurch Hochglanz und sah aus, als hätte er hundert Mark mehr gekostet. Dann füllten wir das dickste Öl, das es gab, in den Motor. Die Kolben waren nicht mehr ganz erstklassig und lärmten etwas. Durch das dicke Öl wurde das ausgeglichen, und die Maschine lief wunderbar ruhig. Auch in das Getriebe und das Differential gaben wir dickes Fett, um sie völlig ruhig zu machen.

Dann fuhren wir hinaus. In der Nähe war ein Stück sehr schlechter Straße. Wir gingen mit fünfzig Kilometertempo darüber. Die Karosserie klapperte. Wir ließen eine Viertel Atmosphäre Luft aus den Reifen und versuchten es noch einmal. Es war schon besser. Wir ließen noch ein Viertel heraus. Jetzt rührte sich nichts mehr.

Wir fuhren zurück, ölten die quietschende Motorhaube, klemmten etwas Gummi dazwischen, füllten heißes Wasser in den Kühler, damit der Motor gleich gut ansprang, und spritzten den Wagen unten noch einmal mit einem Petroleumzerstäuber ab, damit er auch da glänzte. Dann hob Gottfried Lenz die Hände zum Himmel. »Nun komm, gesegneter Kunde! Komm, lieblicher Brieftaschenbesitzer! Wir harren deiner wie der Bräutigam der Braut!«



Die Braut ließ auf sich warten. Wir schoben deshalb das Dampfroß des Bäckermeisters über die Grube und begannen, ihm die Vorderachse auszubauen. Ein paar Stunden arbeiteten wir ruhig, ohne viel zu reden. Dann hörte ich Jupp von der Benzinpumpe her das Lied: »Horch, was kommt von draußen ‘rein…« pfeifen.

Ich kletterte aus der Grube und schaute durchs Fenster. Ein kleiner, untersetzter Mann strich um den Cadillac herum. Er sah bürgerlich und solide aus. »Schau mal, Gottfried«, flüsterte ich, »sollte das da eine Braut sein?«

»Klar«, sagte Lenz nach dem ersten Blick. »Sieh dir das Gesicht an. Der ist schon mißtrauisch, bevor jemand da ist. Los, ‘ran! Ich bleibe hier als Reserve. Komme nach, wenn du es nicht schaffst. Denk an meine Tricks!«

»Gut.« Ich ging ‘raus.

Der Mann sah mir aus klugen schwarzen Augen entgegen. Ich stellte mich vor. »Lohkamp.«

»Blumenthal.«

Das war Gottfrieds erster Trick: sich vorzustellen. Er behauptete, es gäbe gleich eine intimere Atmosphäre. Sein zweiter Trick war, sehr reserviert zu beginnen und den Kunden auszuhorchen, um dann da einzuhaken, wo es richtig war.

»Sie kommen wegen des Cadillacs, Herr Blumenthal?« fragte ich. Blumenthal nickte.

»Da drüben ist er«, sagte ich und zeigte hinüber.

»Das sehe ich«, erwiderte Blumenthal.

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Achtung! dachte ich, ein Heimtücker!

Wir gingen über den Hof. Ich öffnete eine Tür des Wagens und ließ den Motor an. Dann schwieg ich, um Blumenthal Zeit zur Besichtigung zu lassen. Er würde sicher etwas zu kritisieren haben; da wollte ich dann ansetzen.

Aber Blumenthal besichtigte nicht. Er kritisierte auch nicht. Er schwieg ebenfalls und stand wie ein Ölgötze da. Es blieb mir nichts übrig, ich mußte aufs Geratewohl vom Leder ziehen.

Ich begann langsam und systematisch, den Cadillac zu beschreiben, wie eine Mutter ihr Kind, und versuchte dabei herauszukriegen, ob der Mann irgend etwas verstand. War er Fachmann, dann mußte ich mehr auf Motor und Chassis gehen – verstand er nichts, auf Komfort und Kinkerlitzchen.

Doch er verriet auch jetzt nichts. Er ließ mich reden, bis ich mir vorkam wie ein Luftballon.

»Wozu wollen Sie den Wagen haben? Für die Stadt oder für die Reise?« fragte ich schließlich, um vielleicht da einen Punkt zu finden.

»Für alles mögliche«, erklärte Blumenthal.

»Aha! Und wollen Sie ihn selbst fahren oder mit Chauffeur?«

»Je nachdem.«

Je nachdem. Antworten gab der Mann wie ein Papagei. Er schien einem Orden schweigender Brüder anzugehören.

Um ihn aufzumuntern, versuchte ich, ihn irgend etwas probieren zu lassen. Gewöhnlich wurden Kunden zugänglicher dadurch. Ich fürchtete, daß er mir sonst einschlief.

»Das Verdeck geht für ein so großes Kabriolett besonders leicht«, sagte ich. »Versuchen Sie selbst einmal, es zu schließen. Sie können es mit einer Hand.«

Aber Blumenthal meinte, es wäre nicht nötig. Er sähe es schon. Ich warf die Türen krachend ins Schloß und rüttelte an den Griffen.

»Nichts ausgeleiert. Fest wie das Steuer. Probieren Sie.«

Blumenthal probierte nicht. Er fand es selbstverständlich. Eine verflucht harte Nuß.

Ich führte ihm die Fenster vor. »Spielend leicht zu kurbeln. Stehen auf jeder Höhe fest.«

Er rührte sich nicht.

»Dazu unzerbrechliches Glas«, fuhr ich, schon leicht verzweifelt, fort.

»Ein unschätzbarer Vorteil! In der Werkstatt drüben steht ein Ford…« Ich erzählte die Sache von der Frau des Bäckermeisters und schmückte sie noch etwas aus, indem ich ein Kind mit verunglücken ließ.

Aber Blumenthal hatte ein Innenleben wie ein Kassenschrank.

»Unzerbrechliches Glas haben alle Wagen«, unterbrach er mich, »das ist doch nichts Besonderes.«

»Unzerbrechliches Glas gehört bei keinem Wagen zur Serienausrüstung«, erwiderte ich mit sanfter Schärfe. »Höchstens bei einigen Typen die Vorderscheibe. Auf keinen Fall aber die großen Seitenfenster.«

Ich ließ die Hupen ertönen und ging zur Beschreibung des inneren Komforts über – der Koffer, der Sitze, der Taschen, des Schaltbretts —, ich ging bis in jede Kleinigkeit, ich reichte Blumenthal sogar den Zigarettenanzünder hin und benutzte die Gelegenheit, ihm eine Zigarette anzubieten, um ihn vielleicht damit etwas umzustimmen – aber er lehnte ab.

»Ich rauche nicht, danke«, sagte er und sah mich so gelangweilt an, daß mir plötzlich ein fürchterlicher Verdacht kam: vielleicht wollte er gar nicht zu uns, vielleicht hatte er sich nur geirrt und wollte etwas ganz anderes kaufen, eine Maschine, um Knopflöcher zu nähen, oder einen Radioapparat, und er stand hier nur ein bißchen unschlüssig herum, ehe er weiterging.

»Machen wir eine Probefahrt, Herr Blumenthal«, schlug ich schließlich, schon stark abgekämpft, vor.

»Probefahrt?« erwiderte er, als hätte ich Bahnhof gesagt.

»Ja, Probefahrt. Sie müssen doch sehen, was der Wagen leistet. Er liegt wie ein Brett auf der Straße. Wie auf Schienen. Und die Maschine zieht an, als wäre das schwere Kabriolett eine Flaumfeder…«

»Ach, Probefahrten…«, er machte eine wegwerfende Handbewegung, »Probefahrten zeigen nichts. Was am Wagen fehlt, merkt man immer erst hinterher.«

Natürlich, du gußeiserner Satan, dachte ich ärgerlich, oder meinst du, ich stoße dich mit der Nase drauf? »Na schön, dann nicht«, sagte ich und ließ alle Hoffnung fahren. Der Mann wollte nicht, das war klar.

Aber da wandte er sich plötzlich um, sah mir voll in die Augen und sagte leise und scharf und sehr rasch: »Was kostet der Wagen?«

»Siebentausend Mark«, erwiderte ich, ohne mit der Wimper zu zucken, wie aus der Pistole geschossen. Dieser Mann durfte nicht merken, daß ich auch nur einen Moment überlegte, das wußte ich. Jede Sekunde Zögern hätte tausend Mark gekostet, die er abgehandelt hätte. »Siebentausend Mark netto«, wiederholte ich fest und dachte: Wenn du jetzt fünf bietest, hast du ihn weg.

Aber Blumenthal bot gar nichts. Er stieß nur ein kurzes Schnaufen aus. »Viel zu teuer!«

»Natürlich!« sagte ich und gab den Fall endgültig auf.

»Wieso natürlich?« fragte Blumenthal auf einmal ziemlich menschlich.

»Herr Blumenthal«, erwiderte ich, »haben Sie heutzutage schon mal jemanden getroffen, der auf einen Preis was anderes antwortet?«

Er sah mich aufmerksam an. Dann zog so etwas wie der Schimmer eines Lächelns über sein Gesicht. »Stimmt. Aber der Wagen ist wirklich zu teuer.«

Ich traute meinen Ohren nicht. Da war er ja endlich, der richtige Ton! Der Ton des Interessenten! Oder war das wieder ein neuer verfluchter Dreh?

In diesem Augenblick kam ein eleganter Stutzer durch das Hoftor. Er zog eine Zeitung aus der Tasche, verglich die Hausnummer noch einmal und schritt auf mich zu. »Ist hier der Cadillac zu verkaufen?«

Ich nickte und sah sprachlos auf den gelben Bambusspazierstock und die Wildlederhandschuhe des Stutzers.

»Könnte ich ihn mal sehen«, fragte der weiter, ohne eine Miene zu verziehen.

»Das ist er hier«, sagte ich, »aber vielleicht gedulden Sie sich einen Moment, ich habe noch zu tun. Wollen Sie solange drinnen Platz nehmen?«

Der Stutzer horchte einen Augenblick auf das Summen des Motors, machte erst ein kritisches, dann ein anerkennendes Gesicht und ließ sich von mir in die Werkstatt führen.

»Idiot«, knurrte ich ihn an und ging dann rasch zu Blumenthal zurück.

»Wenn Sie den Wagen einmal gefahren haben, werden Sie anders über den Preis denken«, sagte ich. »Sie können ihn gern so lange probieren, wie Sie wollen. Vielleicht kann ich Sie auch abends zu einer Probefahrt abholen, wenn Ihnen das besser paßt.«

Aber die flüchtige Regung war bereits verflogen. Blumenthal stand schon wieder da wie ein Gesangvereinspräsident aus Granit. »Lassen Sie nur«, sagte er, »ich muß jetzt gehen. Wenn ich eine Probefahrt machen will, kann ich Ihnen ja noch telefonieren.«

Ich sah, daß vorläufig nichts weiter zu machen war. Dieser Mann war nicht zu bereden. »Gut«, erklärte ich, »aber wollen Sie mir nicht Ihre Telefonnummer geben, damit ich Ihnen Bescheid sagen kann, wenn noch ein Interessent da ist?«

Blumenthal sah mich merkwürdig an. »Interessenten sind noch keine Käufer.«

Er zog eine Zigarrentasche heraus und hielt sie mir hin. Auf einmal rauchte er. Sogar Corona-Coronas – er mußte Geld wie Heu haben. Aber es war mir schon egal. Ich nahm die Zigarre.

Er gab mir freundlich die Hand und ging. Ich sah ihm nach und verfluchte ihn leise, aber gründlich. Dann ging ich zurück in die Werkstatt.

»Na«, begrüßte mich der Stutzer Gottfried Lenz, »wie hab’ ich das gemacht? Sah, wie du da herumwürgtest, und wollte mal etwas nachhelfen. Ein Glück, daß Otto sich hier fürs Finanzamt umgezogen hat! Sah seinen guten Anzug da hängen – sauste im Galopp ‘rein, durchs Fenster ‘raus und wieder hierher als seriöser Käufer! Gut gemacht, was?«

»Idiotisch gemacht«, erwiderte ich, »der Mann ist schlauer als wir beide zusammen! Sieh dir die Zigarre an! Eine Mark fünfzig das Stück. Du hast mir einen Milliardär verjagt.«

Gottfried nahm mir die Zigarre aus der Hand, beroch sie und zündete sie sich an. »Ich habe dir einen Schwindler verjagt. Milliardäre rauchen nicht solche Zigarren. Die rauchen welche zu einem Groschen das Stück.«

»Unsinn«, antwortete ich, »Schwindler nennen sich nicht Blumenthal. Die nennen sich Graf Blumenau oder so.«

»Der Mann kommt wieder«, meinte Lenz, hoffnungsvoll wie immer, und blies mir den Rauch meiner Zigarre ins Gesicht.

»Der nicht«, sagte ich überzeugt. »Aber wie kommst du nur zu dem Bambusknüppel und den Handschuhen?«

»Geliehen. Drüben im Geschäft von Benn und Co. Ich kenne da die Verkäuferin. Vielleicht behalte ich den Stock sogar. Er gefällt mir.« Selbstgefällig wirbelte er den dicken Prügel durch die Luft.

»Gottfried«, sagte ich, »du bist hier zu schade. Weißt du was? Geh zum Variete. Da gehörst du hin.«

»Sie sind angerufen worden«, sagte Frida, das schielende Dienstmädchen Frau Zalewskis, als ich mittags auf einen Sprung nach Hause kam.

Ich drehte mich um. »Wann?«

»Vor ‘ner halben Stunde. War ‘ne Dame.«

»Was hat sie denn gesagt?«

»Sie will abends noch mal anrufen. Aber ich habe ihr gleich gesagt, es hätte nicht viel Zweck. Sie wären abends nie zu Hause.«

Ich starrte sie an. »Was? Das haben Sie gesagt? Herrgott, wenn Ihnen doch mal jemand telefonieren beibringen würde.«

»Ich kann telefonieren«, erklärte Frida pomadig. »Und zu Hause sind Sie abends auch so gut wie nie.«

»Das geht Sie doch gar nichts an«, fluchte ich. »Nächstens erzählen Sie noch, ob ich Löcher in den Strümpfen habe.«

»Kann ich ja machen«, gab Frida zurück und sah mich hämisch mit ihren roten entzündeten Augen an. Wir waren alte Feinde.

Ich hätte sie am liebsten in ihren Suppentopf gesteckt, beherrschte mich aber, griff in die Tasche, drückte ihr eine Mark in die Hand und fragte versöhnlich: »Hat die Dame nicht ihren Namen genannt?«

»Nee«, sagte Frida.

»Was hatte sie denn für eine Stimme? Ein bißchen dunkel und tief und so, als wäre sie etwas heiser?«

»Weiß ich nicht«, erklärte Frida phlegmatisch, als hätte ich ihr nie eine Mark in die Hand gedrückt.

»Einen hübschen Ring haben Sie da an der Hand, wirklich reizend«, sagte ich, »und nun besinnen Sie sich mal genau, ob Sie sich nicht doch erinnern.«

»Nee«, erwiderte Frida, und die Schadenfreude leuchtete ihr nur so aus dem Gesicht.

»Dann häng dich auf, du Satansbesen«, fauchte ich und ließ sie stehen.



Abends um sechs Uhr war ich pünktlich zu Hause. Als ich die Tür aufmachte, bot sich mir ein ungewohntes Bild. Auf dem Korridor stand Frau Bender, die Säuglingsschwester, umgeben von sämtlichen Damen der Pension. »Kommen Sie mal her«, sagte Frau Zalewski.

Die Ursache der Versammlung war ein schleifengeschmückter Säugling, der vielleicht ein halbes Jahr alt war. Frau Bender hatte ihn aus ihrem Heim in einem Kinderwagen mitgebracht. Es war ein völlig normales Kind; aber die Damen beugten sich mit einem Ausdruck so irrsinnigen Entzückens darüber, als wäre es der erste Säugling, den die Welt hervorgebracht hätte. Dazu stießen sie glucksende Rufe aus, zwirbelten mit den Fingern vor den Augen der kleinen Kreatur und spitzten die Lippen. Sogar Erna Bönig in ihrem Drachenkimono beteiligte sich an dieser Orgie platonischer Mütterlichkeit.

»Ist es nicht ein reizendes Wesen?« fragte Frau Zalewski mit schwimmenden Blick.

»Das kann man erst so in zwanzig, dreißig Jahren richtig beurteilen«, erwiderte ich und schielte nach dem Telefon. Hoffentlich kam der Anruf nicht gerade, während hier alles versammelt war.

»Sehen Sie sich’s doch mal richtig an«, forderte Frau Hasse mich auf.

Ich sah hin. Es war ein Säugling wie alle. Ich konnte nichts Besonderes daran entdecken. Höchstens die furchtbar kleinen Hände und daß es merkwürdig war, selbst auch mal so winzig gewesen zu sein. »Der arme Wurm«, sagte ich, »der hat noch keine Ahnung, was ihm bevorsteht. Möchte wissen, für was für einen Krieg der gerade zurechtkommt.«

»Rohling«, erwiderte Frau Zalewski. »Haben Sie denn kein Gefühl?«

»Viel zuviel«, erklärte ich, »sonst käme ich ja nicht auf solche Gedanken.« Damit zog ich ab in mein Zimmer.

Zehn Minuten später klingelte das Telefon. Ich hörte meinen Namen und ging hinaus. Richtig, die ganze Gesellschaft war noch da! Sie wich auch nicht, als ich den Hörer am Ohr hatte und die Stimme von Patrice Hollmann vernahm, die sich für die Blumen bedankte. Im Gegenteil, der Säugling, der scheinbar der Vernünftigste von allen war und genug von der Afferei hatte, fing plötzlich an zu brüllen. »Entschuldigen Sie«, sagte ich verzweifelt in das Telefon, »ich kann Sie nicht verstehen, hier tobt ein Säugling; aber es ist nicht meiner.« Die Damen zischten wie ein Nest von Riesenschlangen, um das schreiende Geschöpf zu beruhigen. Sie erreichten prompt, daß es noch stärker loslegte. Jetzt erst bemerkte ich, daß es tatsächlich ein besonderer Säugling war; seine Lungen mußten bis in die Beine reichen, anders war diese schmetternde Stimme nicht zu erklären. Ich war in einer schwierigen Lage; mit den Augen schoß ich wütende Blicke auf den Mutterkomplex vor mir, mit dem Munde versuchte ich freundliche Worte in die Hörmuschel zu sprechen – vom Scheitel bis zur Nase war ich Gewitter, von der Nase bis zum Kinn eine sonnige Frühlingslandschaft —, es war mir ein Rätsel, daß ich es fertigbrachte, mich trotzdem zum nächsten Abend zu verabreden.

»Sie sollten sich eine schalldichte Telefonzelle anschaffen«, sagte ich zu Frau Zalewski.

Aber die war nicht auf den Mund gefallen. »Wieso«, fragte sie funkelnd zurück, »haben Sie soviel zu verbergen?«

Ich schwieg und drückte mich. Mit aufgerührten Muttergefühlen soll man keinen Streit anfangen. Die haben die Moral der ganzen Welt hinter sich.

Abends waren wir bei Gottfried verabredet. Ich aß in einer kleinen Kneipe und ging dann hin. Unterwegs kaufte ich mir im elegantesten Herrenmodengeschäft zur Feier des Tages eine prachtvolle neue Krawatte. Ich war immer noch überrascht, wie glatt alles gegangen war, und ich gelobte mir, morgen seriös zu sein wie der Generaldirektor eines Beerdigungsinstitutes.

Gottfrieds Bude war eine Sehenswürdigkeit. Sie hing voll von Reiseandenken, die er aus Südamerika mitgebracht hatte. Bunte Bastmatten an den Wänden, ein paar Masken, ein eingetrockneter Menschenschädel, groteske Tontöpfe, Speere und als Hauptstück eine großartige Sammlung von Fotografien, die eine ganze Wand einnahmen – Indiomädchen und Kreolinnen, schöne, braune, geschmeidige Tiere von unbegreiflicher Anmut und Lässigkeit.

Außer Lenz und Köster waren Braumüller und Grau noch da. Theo Braumüller hockte mit sonnenverbranntem, kupfernem Schädel auf der Sofalehne und musterte begeistert Gottfrieds fotografische Sammlung. Er war Rennfahrer für eine Autofabrik und seit langem mit Köster befreundet. Am Sechsten fuhr er das Rennen mit, zu dem Otto Karl gemeldet hatte.

Ferdinand Grau saß massig, aufgeschwemmt und ziemlich betrunken am Tisch. Als er mich sah, zog er mich mit seiner breiten Pratze zu sich heran. »Robby«, sagte er mit schwerer Stimme, »was willst du hier unter den Verlorenen? Du hast hier nichts zu suchen. Geh wieder weg. Rette dich. Du kannst es noch!«

Ich blickte zu Lenz hinüber. Er zwinkerte mir zu. »Ferdinand ist hoch in Form. Er versäuft seit zwei Tagen eine liebe Tote. Hat ein Porträt verkauft und gleich Geld bekommen.«

Ferdinand Grau war Maler. Dabei wäre er aber längst verhungert, wenn er nicht eine Spezialität gehabt hätte. Er malte nach Fotografien fabelhaft lebensechte Porträts von Verstorbenen für pietätvolle Angehörige. Davon lebte er – sogar ganz gut. Seine Landschaften, die ausgezeichnet waren, kaufte kein Mensch. Das gab seiner Unterhaltung einen etwas pessimistischen Unterton.

»Ein Gastwirt war’s diesmal, Robby«, sagte er, »ein Gastwirt mit einer verstorbenen Erbtante in Essig und Öl.« Er schüttelte sich. »Schauderhaft.«

»Hör mal, Ferdinand«, erwiderte Lenz, »du solltest nicht so harte Ausdrücke gebrauchen. Du lebst ja von einer der schönsten menschlichen Eigenschaften: von der Pietät.«

»Unsinn«, erklärte Grau, »ich lebe vom Schuldbewußtsein. Pietät ist nichts als Schuldbewußtsein. Man will sich rechtfertigen für das, was man dem lieben Verstorbenen bei Lebzeiten alles gewünscht und angetan hat.« Er fuhr sich mit der Hand langsam über den glühenden Schädel. »Was meinst du, wie oft mein Gastwirt seiner Tante den Tod an den Hals gewünscht hat – dafür läßt er sie jetzt in den feinsten Farben malen und hängt sie übers Sofa. So ist sie ihm lieber. Pietät! Der Mensch erinnert sich seiner spärlichen guten Eigenschaften immer erst, wenn es zu spät ist. Dann ist er gerührt darüber, wie edel er hätte sein können, und hält sich für tugendhaft. Tugend, Güte, Edelmut« – er winkte mit seiner mächtigen Pratze ab —, »die wünscht man sich bei andern, damit man sie hereinlegen kann.«

Lenz grinste. »Du rüttelst an den Grundpfeilern der menschlichen Gesellschaft, Ferdinand!«

»Die Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft sind Habgier, Angst und Korruption«, gab Grau zurück. »Der Mensch ist böse, aber er liebt das Gute – wenn andere es tun.« – Er hielt Lenz sein Glas hin. »So, und nun schenk mir ein und rede nicht den ganzen Abend – laß auch mal andere Leute zu Wort kommen.«

Ich kletterte über das Sofa zu Köster hinüber. Mir war plötzlich etwas eingefallen. »Otto, du mußt mir mal einen Gefallen tun. Ich brauche morgen abend den Cadillac.«

Braumüller unterbrach das intensive Studium einer wenig bekleideten kreolischen Tänzerin. »Kannst du denn schon Kurven fahren?« erkundigte er sich. »Ich dachte bis jetzt, du könntest nur geradeaus fahren, wenn ein anderer für dich steuert.«

»Sei du ruhig, Theo«, erwiderte ich, »aus dir werden wir beim Rennen am Sechsten schon Hackfleisch machen.«

Braumüller gluckste vor Lachen. »Also wie ist das, Otto?« fragte ich gespannt.

»Der Wagen ist nicht versichert, Robby«, sagte Köster.

»Ich werde wie eine Schnecke schleichen und wie ein Omnibus hupen. Nur ein paar Kilometer in der Stadt.«

Otto schloß die Augen bis auf einen kleinen Spalt und lächelte. »Gut, Robby; meinetwegen.«

»Brauchst du den Wagen vielleicht zu deiner neuen Krawatte?« fragte Lenz, der herangekommen war.

»Halt den Schnabel«, sagte ich und schob ihn beiseite.

Aber er ließ nicht locker. »Zeig mal her, Baby!« Er befühlte die Seide. »Herrlich. Unser Kind als Gigolo. Mir scheint, du willst auf Brautschau!«

»Du kannst mich heute nicht beleidigen, du Verwandlungskünstler«, erwiderte ich.

»Brautschau?« Ferdinand Grau hob den Kopf. »Warum soll er denn nicht auf Brautschau gehen?« Er wurde lebhafter und wandte sich mir zu. »Tu’s ruhig, Robby! Du hast noch das Zeug dazu. Zur Liebe gehört eine gewisse Einfalt. Die hast du. Bewahre sie dir. Sie ist ein Gottesgeschenk. Nie wieder zu kriegen, wenn man sie mal verloren hat.«

»Nimm dir’s nicht allzusehr zu Herzen«, grinste Lenz. »Dumm geboren zu werden ist keine Schande. Nur dumm zu sterben.«

»Schweig, Gottfried.« Grau wischte ihn mit einer Bewegung seiner mächtigen Tatze beiseite. »Auf dich kommt’s nicht an, du Etappenromantiker. Um dich ist’s nicht schade.«

»Sprich dich nur ruhig aus, Ferdinand«, sagte Lenz. »Aussprechen erleichtert immer.«

»Du bist ein Drückeberger«, erklärte Grau, »ein pathetischer Drückeberger.«

»Sind wir alle«, grinste Lenz. »Wir leben nur noch von Illusionen und Krediten.«

»Jawohl«, sagte Grau und sah uns der Reihe nach unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an. »Von Illusionen aus der Vergangenheit und Krediten auf die Zukunft.« Dann wandte er sich mir wieder zu. »Einfalt habe ich gesagt, Robby. Nur neidische Leute nennen es Dummheit. Kränke dich nicht deswegen. Es ist kein Fehler, sondern eine Begabung.«

Lenz wollte etwas einwerfen. Aber Ferdinand sprach schon weiter. »Du weißt, was ich meine. Ein einfaches Gemüt, noch nicht zerfressen von Skepsis und Überintelligenz. Parzival war dumm. Wäre er klug gewesen, hätte er nie den heiligen Gral erobert. Nur wer dumm ist, siegt im Leben; der andere sieht viel zu viele Hindernisse und wird unsicher, ehe er beginnt. In schwierigen Zeiten ist Einfalt das kostbarste Gut – ein Zaubermantel, der Gefahren verbirgt, in die der Superkluge wie hypnotisiert hineinrennt.«

Er trank einen Schluck und sah mich mit seinen riesigen blauen Augen an, die wie ein Stück Himmel in dem zerklüfteten Gesicht saßen. »Nie zuviel wissen wollen, Robby! Je weniger man weiß, desto einfacher ist es, zu leben. Wissen macht frei – aber unglücklich. Komm, trink mit mir auf die Einfalt, die Dummheit und was zu ihr gehört – auf die Liebe, den Glauben an die Zukunft, die Träume vom Glück —, auf die herrliche Dummheit, das verlorene Paradies…«

Er saß schwer und massig da, plötzlich in sich selbst und seine Trunkenheit versunken, wie ein einsamer Hügel von unangreifbarer Schwermut. Sein Leben war kaputt, und er wußte, daß er es nicht mehr zusammenbringen konnte. Er hauste in seinem großen Atelier und hatte ein Verhältnis mit seiner Haushälterin. Die Frau war fest und derb. Grau dagegen, trotz seines mächtigen Körpers, empfindsam und haltlos. Er kam nicht los von ihr, und es war ihm wohl auch schon egal. Er war zweiundvierzig Jahre alt.

Obschon ich wußte, daß es die Betrunkenheit war, fühlte ich doch einen leisen, merkwürdigen Schauer, als ich ihn so sah. Er kam nicht oft und trank fast immer allein in seinem Atelier. Das bringt einen rasch ‘runter.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er drückte mir ein Glas in die Hand. »Trink, Robby. Und rette dich. Denk daran, was ich dir gesagt habe.«

»Gut, Ferdinand!«

Lenz zog das Grammophon auf. Er hatte einen Haufen Negerplatten und spielte ein paar – vom Mississippi, von Baumwollpflückern und von den schwülen Nächten an den blauen tropischen Flüssen.




VI


Patrice Hollmann wohnte in einem großen gelben Häuserblock, der durch ein schmales Rasenstück von der Straße getrennt war. Vor dem Eingang stand eine Laterne. Ich parkte den Cadillac direkt darunter. Er sah in dem bewegten Licht aus wie ein mächtiger Elefant aus fließendem schwarzem Glanz.

Ich hatte meine Garderobe noch weiter vervollständigt. Zu der Krawatte hatte ich noch einen neuen Hut und ein Paar Handschuhe gekauft – außerdem trug ich einen Ulster von Lenz, ein herrliches graues Stück aus feinster Shetlandwolle. So ausgerüstet, wollte ich meinen ersten säuferischen Eindruck nachdrücklich in die Flucht schlagen.

Ich hupte. Gleich darauf flammte wie eine Rakete in fünf Fenstern übereinander die Treppenbeleuchtung auf. Der Lift begann zu summen. Ich sah ihn herunterschweben wie einen hellen Förderkorb, der vom Himmel herabgelassen wurde. Patrice Hollmann öffnete die Tür und kam rasch die Treppe herunter. Sie trug eine kurze braune Pelzjacke und einen engen braunen Rock.

»Hallo!« Sie streckte mir die Hand entgegen. »Ich freue mich so, herauszukommen. Ich war den ganzen Tag zu Hause.«

Ich hatte gern, wie sie die Hand gab – mit einem Druck, der kräftiger war, als man vermutete. Ich haßte Leute, die einem schlaff die Hand hinhielten wie einen toten Fisch.

»Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt«, erwiderte ich. »Ich hätte Sie dann schon mittags abgeholt.«

»Haben Sie denn soviel Zeit?«

»Das nicht. Aber ich hätte mich schon frei gemacht.«

Sie holte tief Atem. »Wunderbare Luft! Es riecht nach Frühling.«

»Wenn Sie Lust haben, können wir in der Luft herumfahren, soviel Sie wollen«, sagte ich, »nach draußen, vor die Stadt, durch den Wald – ich habe einen Wagen mitgebracht.« Damit zeigte ich so nachlässig auf den Cadillac, als wäre er ein alter Ford.

»Der Cadillac?« Überrascht sah sie mich an. »Gehört der Ihnen?«

»Heute abend, ja. Sonst gehört er unserer Werkstatt. Wir haben ihn aufgearbeitet und wollen das Geschäft unseres Lebens damit machen.« Ich öffnete die Tür. »Wollen wir zuerst in die >Traube< fahren und essen? Was meinen Sie dazu?«

»Essen schon, aber wozu gerade in der >Traube
Ich sah verdutzt auf. Die »Traube« war das einzige elegante Restaurant, das ich kannte.

»Offen gestanden«, sagte ich, »etwas anderes weiß ich nicht. Ich denke auch, der Cadillac verpflichtet uns etwas.«

Sie lachte. »In der >Traube< ist es bestimmt steif und langweilig. Gehen wir doch woanders hin!«

Ich stand ratlos da. Meine seriösen Träume lösten sich in Dunst auf.

»Dann müssen Sie schon etwas vorschlagen«, sagte ich. »Die Lokale, die ich nämlich sonst noch kenne, sind etwas handfest. Ich glaube, das ist nichts für Sie.«

»Warum glauben Sie das?«

»Das sieht man doch so ungefähr…«

Sie blickte mich rasch an. »Wir können es ja mal versuchen.«

»Gut.« Ich warf entschlossen mein ganzes Programm um.

»Dann weiß ich was, wenn Sie nicht schreckhaft sind. Wir gehen zu Alfons.«

»Alfons klingt schon sehr gut«, erwiderte sie, »und schreckhaft bin ich heute abend auch nicht.«

»Alfons ist ein Bierwirt«, sagte ich, »ein guter Freund von Lenz.«

Sie lachte. »Lenz hat wohl überall Freunde?«

Ich nickte. »Er findet sie auch leicht. Das haben Sie ja bei Binding gesehen.«

»Ja, weiß Gott«, erwiderte sie. »Das ging ja wie der Blitz.«

Wir fuhren los.



Alfons war ein schwerer, ruhiger Mann. Vorstehende Backenknochen. Kleine Augen. Aufgekrempelte Hemdsärmel. Arme wie ein Gorilla. Er warf jeden, der ihm in seiner Kneipe nicht paßte, selbst ‘raus. Auch die Mitglieder des Sportvereins Heimattreue. Für sehr schwierige Gäste hatte er einen Hammer unter der Theke bereit. Das Lokal lag praktisch; dicht beim Krankenhaus. Alfons sparte so die Transportkosten.

Er wischte mit der behaarten Tatze über die helle Tischplatte aus Tannenholz. »Bier?« fragte er.

»Korn und was zu essen«, sagte ich.

»Und die Dame?« fragte Alfons.

»Die Dame will auch einen Korn«, sagte Patrice Hollmann.

»Heftig, heftig«, meinte Alfons. »Es gibt Schweinerippchen mit Sauerkraut.«

»Selbstgeschlachtet?« fragte ich.

»Klar.«

»Aber die Dame möchte sicher etwas Leichteres essen.«

»Kann nicht ihr Ernst sein«, meinte Alfons. »Schauen Sie sich erst mal die Rippchen an.«

Er ließ den Kellner eine Portion zeigen. »War eine wunderbare Sau«, sagte er. »Prämiiert. Zwei erste Preise.«

»Da kann natürlich niemand widerstehen«, erwiderte Patrice Hollmann zu meinem Erstaunen mit einer Sicherheit, als verkehre sie schon Jahre in der Kaschemme hier.

Alfons zwinkerte. »Also zwei Portionen?«

Sie nickte.

»Schön! Werde mal selbst aussuchen.«

Er ging in die Küche. »Ich nehme meine Zweifel wegen des Lokals zurück«, sagte ich. »Sie haben Alfons im Sturm erobert. Selbst aussuchen, das macht er sonst nur bei Stammgästen.«

Alfons kam zurück. »Habe euch noch eine frische Wurst ‘reingegeben.«

»Keine schlechte Idee«, sagte ich.

Alfons sah uns wohlwollend an. Der Korn kam. Drei Gläser. Eins für Alfons mit. »Na, denn Prost«, sagte er. »Auf daß unsere Kinder reiche Eltern kriegen.«

Wir kippten die Gläser. Das Mädchen nippte nicht, es kippte auch.

»Heftig, heftig«, sagte Alfons und schlurfte zur Theke zurück.

»Schmeckt Ihnen der Korn?« fragte ich.

Sie schüttelte sich. »Etwas kräftig. Aber ich kann mich doch vor Alfons nicht blamieren.«

Die Schweinerippchen hatten es in sich. Ich aß zwei große Portionen, und auch Patrice Hollmann aß bedeutend mehr, als ich ihr zugetraut hatte. Ich fand es großartig, daß sie so gut mitmachte und sich so ohne weiteres in das Lokal fand. Sie trank auch ohne Ziererei noch einen zweiten Korn mit Alfons.

Der zwinkerte mir heimlich zu, er fände die Sache richtig. Und Alfons war ein Kenner. Nicht gerade in bezug auf Schönheit und Kultur – wohl aber in bezug auf Kern und Gehalt.

»Wenn Sie Glück haben, lernen Sie Alfons in seiner menschlichen Schwäche kennen«, sagte ich.

»Das möchte ich mal«, erwiderte sie. »Er sieht aus, als hätte er keine.«

»Doch!« Ich zeigte auf einen Tisch neben der Theke. »Da…«

»Was? Das Grammophon?«

»Nicht das Grammophon. Chorgesang! Alfons hat eine Schwäche für Chorgesang. Keine Tänze, keine klassische Musik – nur Chöre: Männerchöre, gemischte Chöre —, alles, was da an Platten liegt, sind Chöre. Da sehen Sie, er kommt.«

»Geschmeckt?« fragte Alfons.

»Wie bei Muttern«, erwiderte ich.

»Die Dame auch?«

»Die besten Schweinerippchen meines Lebens«, erklärte die Dame kühn.

Alfons nickte befriedigt. »Spiele euch jetzt mal meine neue Platte vor. Werdet staunen.«

Er ging zum Grammophon. Die Nadel kratzte, und machtvoll erhob sich ein Männerchor, der mit gewaltigen Stimmen das »Schweigen im Walde« sang. Es war ein verflucht lautes Schweigen.

Vom ersten Takt an wurde alles im Lokal still. Alfons konnte gefährlich werden, wenn jemand keine Andacht zeigte. Er stand an der Theke, die haarigen Arme aufgestützt. Sein Gesicht veränderte sich unter der Macht der Musik. Es wurde träumerisch – so träumerisch, wie eben ein Gorilla werden kann. Chorgesang hatte eine unbeschreibliche Gewalt über ihn. Er wurde dabei sanft wie ein Rehkitz. Er konnte mitten in einer Schlägerei sein – wenn ein Männerchor ertönte, ließ er, wie von einem Zauberschlag getroffen, los, horchte und war bereit zur Versöhnung. Früher, als er noch jähzorniger war, hatte seine Frau immer Platten spielfertig liegen, die er besonders liebte. Wenn es dann gefährlich wurde und er schon mit dem Hammer hinter der Theke hervorkam, setzte sie rasch die Nadel an – und Alfons ließ den Hammer sinken, lauschte und wurde ruhig. Inzwischen war das nicht mehr so nötig – die Frau war tot, ihr Bild, ein Geschenk Ferdinand Graus, der dafür hier Freitisch hatte, hing über der Theke —, und auch Alfons war älter und kälter geworden.

Die Platte lief aus. Alfons kam heran.

»Wunderbar«, sagte ich.

»Besonders der erste Tenor«, ergänzte Patrice Hollmann.

»Richtig«, meinte Alfons und wurde zum erstenmal lebhafter, »Sie verstehen was davon! Der erste Tenor ist ganz große Klasse.«

Wir verabschiedeten uns von ihm. »Grüßt Gottfried«, sagte er. »Soll sich mal wieder sehen lassen.«

Wir standen auf der Straße. Die Laternen vor dem Hause warfen unruhige Lichter und Schatten nach oben in das Ästegewirr eines alten Baumes. Die Zweige hatten schon einen leichten grünen Schimmer, und durch das flackernde, undeutliche Licht von unten erschien der Baum viel mächtiger und höher; er sah aus, als verlöre sich die Krone in der Dämmerung darüber – wie eine riesige, gespreizte Hand, die in einer ungeheuren Sehnsucht nach dem Himmel griff.

Patrice Hollmann schauerte ein wenig.

»Ist Ihnen kalt?« fragte ich.

Sie zog die Schultern hoch und steckte die Hände in die Ärmel ihrer Pelzjacke. »Nur einen Augenblick. Es war drinnen ziemlich warm.« – »Sie sind zu leicht angezogen«, sagte ich. »Es ist abends noch kalt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich trage nicht gern schwere Sachen. Und ich möchte, daß es endlich einmal warm wird. Ich mag keine Kälte. Wenigstens nicht in der Stadt.«

»Im Cadillac ist es warm«, sagte ich. »Zur Vorsicht habe ich auch eine Decke mitgebracht.«

Ich half ihr in den Wagen und legte ihr die Decke über die Knie. Sie zog sie höher hinauf. »Herrlich! So ist es wunderbar. Kälte macht traurig.«

»Nicht nur Kälte.« Ich setzte mich ans Steuer. »Wollen wir jetzt etwas spazierenfahren?«

Sie nickte. »Gern.«

»Wohin?«

»Einfach so langsam durch die Straßen. Ganz gleich, wohin.«

»Gut.«

Ich ließ den Motor an, und wir fuhren langsam und planlos durch die Stadt. Es war die Zeit, wo der Abendverkehr am stärksten ist. Wir glitten fast unhörbar hindurch, so leise summte die Maschine. Es war, als sei der Wagen ein Schiff, das lautlos über die bunten Kanäle des Lebens trieb. Die Straßen wehten vorüber, die hellen Portale, die Lichter, die Laternenreihen, der süße, weiche, abendliche Aufruhr des Daseins, das sanfte Fieber der erleuchteten Nacht, und über allem, zwischen den Dächerrändern, der eisengraue, große Himmel, gegen den die Stadt ihr Licht warf.

Das Mädchen saß schweigend neben mir; Helligkeit und Schatten glitten durch das Fenster über ihr Gesicht. Ich sah manchmal zu ihr hinüber; sie erinnerte mich jetzt wieder an den Abend, wo ich sie zum erstenmal gesehen hatte. Ihr Gesicht war ernster geworden, es erschien fremder als vorher, aber sehr schön – es war das Gesicht, das mich damals angerührt und nicht losgelassen hatte. Mir schien, als wäre etwas von dem Geheimnis der Stille darin, das die Dinge haben, die der Natur nahe sind – Bäume, Wolken, Tiere – und manchmal eine Frau.



Wir kamen in die ruhigen Straßen der Vororte. Der Wind wurde stärker. Er schien die Nacht vor sich her zu treiben. An einem großen Platz, um den rundherum kleine Häuser in kleinen Gärten schliefen, hielt ich den Wagen an.

Patrice Hollmann machte eine Bewegung, als erwache sie.

»Schön ist das«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn ich einen Wagen hätte, würde ich jeden Abend so langsam herumfahren. Es hat etwas Unwirkliches, so lautlos überall vorüberzugleiten.

Man ist wach und träumt zur selben Zeit. Ich kann mir denken, daß man keine Menschen mehr brauchte, abends…«

Ich zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. »Abends braucht man welche, was?«

Sie nickte. »Abends schon. Das ist eine sonderbare Sache, wenn es dunkel wird.«

Ich riß das Päckchen auf. »Es sind amerikanische Zigaretten. Mögen Sie die?«

»Ja. Lieber als andere sogar.«

Ich gab ihr Feuer. Einen Augenblick beleuchtete das warme, nahe Licht des Streichholzes ihr Gesicht und meine Hände, und ich hatte plötzlich den verrückten Gedanken, als gehörten wir seit langem zusammen.

Ich drehte das Fenster herunter, damit der Rauch abziehen konnte.

»Wollen Sie jetzt etwas fahren?« fragte ich. »Es macht Ihnen doch sicher Spaß.«

Sie wendete sich mir zu. »Ich möchte schon; aber ich kann es nicht.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Ich habe es nie gelernt.«

Ich sah meine Chance. »Das hätte Binding Ihnen doch längst zeigen können«, sagte ich.

Sie lachte. »Binding ist viel zu verliebt in seinen Wagen. Der läßt niemand heran.«

»Das ist ja albern«, erklärte ich, vergnügt, dem Dicken eins auswischen zu können. »Ich lasse Sie ohne weiteres fahren. Kommen Sie.«

Ich schlug alle Mahnungen Kösters in den Wind und stieg aus, um sie ans Steuer zu lassen. Sie wurde aufgeregt. »Aber ich kann wirklich nicht fahren.«

»Doch«, erwiderte ich. »Sie können es. Sie wissen es nur noch nicht.« Ich zeigte ihr, wie man schaltet und kuppelt. »So«, sagte ich dann, »und nun mal los!«

»Einen Moment!« Sie zeigte auf einen Omnibus, der einsam die Straße entlangschlich. »Wollen wir den nicht erst vorbeilassen?«

»Auf keinen Fall!« Ich schaltete rasch und ließ die Kupplung ein.

Sie hielt das Steuerrad krampfhaft fest und sah angespannt über die Straße. »Mein Gott, wir fahren ja viel zu schnell!«

Ich blickte auf den Tachometer. »Sie fahren jetzt genau fünfundzwanzig Kilometer. Das sind in Wirklichkeit zwanzig. Gutes Tempo für einen Langstreckenläufer.«

»Mir kommt’s vor wie achtzig.«

Nach ein paar Minuten war die erste Angst überwunden. Wir fuhren eine breite, gerade Straße hinunter. Der Cadillac torkelte ein bißchen hin und her, als ob er statt Benzin Kognak im Tank hätte, und manchmal streifte er verdächtig nahe die Bordschwelle – aber allmählich ging es ganz gut, und es wurde so, wie ich es mir gedacht hatte: Ich bekam Übergewicht, weil wir plötzlich Lehrer und Schüler geworden waren, und das nutzte ich aus.

»Achtung«, sagte ich, »drüben steht ein Polizist!«

»Soll ich anhalten?«

»Dazu ist es jetzt zu spät.«

»Und was passiert, wenn er mich erwischt? Ich habe doch keinen Führerschein.«

»Dann kommen wir beide ins Gefängnis.«

»Um Gottes willen!« Sie suchte erschreckt mit dem Fuß die Bremse.

»Gas!« rief ich. »Gas! Feste drauftreten! Wir müssen stolz und schnell vorbei. Das beste Mittel gegen das Gesetz ist Frechheit.«

Der Polizist beachtete uns gar nicht. Das Mädchen atmete auf. »Ich wußte bis jetzt noch gar nicht, daß Verkehrspolizisten aussehen können wie feuerspeiende Drachen«, sagte sie, als wir ihn ein paar hundert Meter hinter uns hatten.

»Das tun sie erst, wenn man sie anfährt.« Ich zog langsam die Bremse. »So, hier haben wir eine prachtvolle, leere Seitenstraße. Hier wollen wir nun mal richtig üben. Zunächst das Anfahren und das Halten.«

Patrice Hollmann würgte ein paarmal den Motor ab. Sie knöpfte ihre Pelzjacke auf. »Mir wird warm dabei! Aber ich muß es lernen!«

Sie saß eifrig und aufmerksam am Steuer und beobachtete, was ich ihr vormachte. Dann fuhr sie mit aufgeregten kleinen Ausrufen ihre ersten Kurven und hatte vor entgegenkommenden Scheinwerfern Angst wie vor dem Teufel, und ebensoviel Stolz, wenn sie glücklich passiert waren. Bald entstand in dem kleinen, vom Licht des Schaltbretts halb erhellten Raum ein Gefühl von Kameradschaft, wie es sich rasch bei technischen und sachlichen Dingen einstellt – und als wir nach einer halben Stunde die Plätze wechselten und ich zurückfuhr, waren wir vertrauter miteinander geworden, als wenn wir uns gegenseitig unsere ganze Lebensgeschichte erzählt hätten.



In der Nähe der Nikolaistraße hielt ich den Wagen wieder an. Wir standen gerade unter einer roten Kinoreklame. Der Asphalt schimmerte matt darunter wie verblichener Purpur. An der Bordschwelle glänzte ein großer schwarzer Ölfleck.

»So«, sagte ich, »jetzt haben wir uns redlich ein Glas zu trinken verdient. Wo wollen wir das tun?« Patrice Hollmann überlegte einen Augenblick. »Gehen wir doch wieder in die hübsche Bar mit Segelschiffen«, schlug sie dann vor.

Ich war im Augenblick in höchstem Alarm. In der Bar saß jetzt todsicher der letzte Romantiker. Ich sah schon sein Gesicht. »Ach«, sagte ich rasch, »das ist doch nichts Besonderes. Es gibt viel nettere Lokale…«

»Ich weiß nicht – ich fand es sehr hübsch neulich.«

»Tatsächlich?« fragte ich verblüfft. »Sie fanden es neulich hübsch?«

»Ja«, erwiderte sie lachend. »Sehr sogar…«

So was! dachte ich, und deshalb habe ich mir Vorwürfe gemacht! »Ich glaube aber, es ist um diese Zeit sehr voll da«, versuchte ich noch einmal.

»Wir können es uns ja mal ansehen.«

»Ja, das können wir.« Ich überlegte, was ich machen sollte.

Als wir ankamen, stieg ich rasch aus. »Ich schaue schnell mal nach. Bin gleich wieder da.«

Es war kein Bekannter da, außer Valentin. »Sag mal«, fragte ich, »war Gottfried schon hier?«

Valentin nickte. »Mit Otto. Sind vor ‘ner halben Stunde weggegangen.«

»Schade«, sagte ich aufatmend. »Hätte sie gern getroffen.«

Ich ging zum Wagen zurück. »Wir können es riskieren«, erklärte ich. »Zufällig ist es nicht so schlimm heute.« Zur Vorsicht jedoch parkte ich den Cadillac um die nächste Ecke im tiefsten Schatten.

Aber wir saßen noch keine zehn Minuten, als der strohblonde Kopf von Lenz an der Theke erschien. Verflucht, dachte ich, jetzt ist’s passiert! Ein paar Wochen später war’s mir lieber gewesen.

Gottfried schien nicht bleiben zu wollen. Schon glaubte ich gerettet zu sein, da sah ich, daß Valentin ihn auf mich aufmerksam machte. Das hatte ich für meine Lüge von vorhin. Gottfrieds Gesicht, als er uns erblickte, wäre eine hervorragende Studie für einen lernbegierigen Filmschauspieler gewesen. Die Augen traten ihm heraus wie Spiegeleier, und ich hatte Sorge, daß ihm der Unterkiefer wegfiel. Es war schade, daß kein Regisseur in diesem Augenblick in der Bar saß; ich wäre sicher gewesen, daß er Lenz vom Fleck weg engagiert hätte. Für Rollen zum Beispiel, wo vor einem schiffbrüchigen Matrosen plötzlich die Seeschlange mit Gebrüll auftaucht.

Gottfried hatte sich rasch wieder in der Gewalt. Ich warf ihm einen beschwörenden Blick zu, zu verschwinden. Er beantwortete ihn mit einem niederträchtigen Grinsen, zog sich den Rock glatt und kam heran.

Ich wußte, was mir bevorstand, und griff sofort an. »Hast du Fräulein Bomblatt schon nach Hause gebracht?« fragte ich, um ihn gleich zu neutralisieren.

»Ja«, erwiderte er, ohne mit einem Wimperzucken zu verraten, daß er bis vor einer Sekunde von Fräulein Bomblatt nichts gewußt hatte.

»Sie läßt dich grüßen, und du möchtest sie morgen früh gleich anrufen.«

Das war ganz gut wiedergehauen. Ich nickte. »Werde ich machen. Hoffe doch, daß sie den Wagen kaufen wird.«

Lenz öffnete aufs neue den Mund. Ich trat ihn gegen das Schienbein und sah ihn mit einem derartigen Blick an, daß er schmunzelnd aufhörte.

Wir tranken ein paar Glas. Ich nur Sidecars, mit viel Zitrone. Ich wollte nicht wieder von mir selbst überrumpelt werden.

Gottfried war glänzend aufgelegt. »Ich war eben bei dir«, sagte er. »Wollte dich abholen. Hinterher war ich auf dem Rummelplatz. Da ist ein großartiges neues Karussell. Wollen wir mal hin?« Er sah Patrice Hollmann an.

»Sofort!« erwiderte sie. »Ich liebe Karussells über alles!«

»Dann wollen wir gleich aufbrechen«, sagte ich. Ich war froh, daß wir ‘rauskamen. Im Freien war die Sache einfacher.



Drehorgelmänner – äußerste Vorposten des Rummelplatzes. Melancholisch süßes Gebrumm. Auf den zerschlissenen Samtdecken der Orgeln manchmal ein Papagei oder ein frierender, kleiner Affe in einer roten Tuchjacke. Dann die scharfen Stimmen der Verkäufer von Porzellankitt, Glasschneidern, türkischem Honig, Luftballons und Anzugstoffen. Das kalte blaue Licht und der Geruch der Karbidlampen. Die Wahrsager, die Sterndeuter, die Pfefferkuchenzelte, die Schiffsschaukeln, die Buden mit den Attraktionen – und endlich, brausend von Musik, bunt, glanzvoll, erleuchtet wie Paläste, die kreisenden Türme der Karussells.

»Los Kinder!« Lenz stürzte sich mit wehenden Haaren auf die Berg-und-Tal-Bahn. Sie hatte das größte Orchester. Bei jeder Runde traten sechs Posaunenbläser aus vergoldeten Nischen, drehten sich nach allen Seiten, schmetterten, schwenkten die Instrumente und traten zurück. Es war glorios.

Wir setzten uns in einen großen Schwan und sausten auf und ab. Die Welt glitzerte und glitt, sie schwankte und fiel in einen schwarzen Tunnel zurück, den wir mit Trommelwirbeln durchjagten, um gleich darauf wieder von Glanz und Posaunen empfangen zu werden.

»Weiter!« Gottfried steuerte auf ein fliegendes Karussell mit Luftschiffen und Aeroplanen zu. Wir enterten einen Zeppelin und machten auf ihm drei Runden.

Etwas atemlos standen wir wieder unten. »Und jetzt zum Teufelsrad!« erklärte Lenz.

Das Teufelsrad war eine große, glatte, in der Mitte etwas erhöhte Scheibe, die sich immer rascher drehte und auf der man sich behaupten mußte. Gottfried bestieg sie mit etwa zwanzig Personen. Er steppte wie ein Rasender und erhielt Sonderapplaus. Zum Schluß war er allein mit einer Köchin, die einen Hintern wie ein Sechstalerpferd hatte. Die schlaue Person setzte sich, als die Sache schwierig wurde, einfach mitten auf die Scheibe, und Gottfried fegte, dicht vor ihr steppend, herum. Die andern waren schon alle heruntergewirbelt. Schließlich ereilte das Schicksal auch den letzten Romantiker; er taumelte in die Arme der Köchin und rollte, umschlungen von ihr, zur Seite. Als er wieder zu uns stieß, führte er die Köchin am Arm. Er nannte sie ohne weiteres Lina. Lina lächelte verschämt. Er fragte, womit er sie bewirten dürfe. Lina erklärte, daß Bier gut gegen Durst sei. Die beiden verschwanden in einem Schuhplattlerzelt.

»Und wir? Wohin gehen wir jetzt?« fragte Patrice Hollmann mit glänzenden Augen.

»Ins Geisterlabyrinth«, sagte ich und zeigte auf eine große Bude.

Das Labyrinth war ein Weg voller Überraschungen. Nach ein paar Schritten wackelte der Boden, Hände tasteten im Dunkel nach einem, Fratzen sprangen aus den Ecken, Gespenster heulten – wir lachten, aber einmal fuhr das Mädchen vor einem grün beleuchteten Totenkopf jäh zurück. Einen Augenblick lag sie in meinem Arm, ihr Atem streifte mein Gesicht, ich fühlte ihr Haar an meinem Mund – gleich darauf lachte sie wieder, und ich ließ sie los.

Ich ließ sie los; aber etwas in mir ließ sie nicht los. Als wir längst draußen waren, fühlte ich immer noch ihre Schulter in meinem Arm, spürte das weiche Haar, den schwachen Pfirsichgeruch ihrer Haut —. Ich vermied, sie anzusehen. Sie war plötzlich anders geworden für mich.

Lenz wartete schon auf uns. Er war allein. »Wo ist Lina?« fragte ich.

»Säuft«, erwiderte er und deutete mit dem Kopf auf das bäurische Zelt. »Mit einem Schmied.«

»Mein Beileid«, sagte ich.

»Unsinn«, meinte Gottfried, »laß uns jetzt lieber zu ernster Mannesarbeit übergehen.«

Wir gingen zu einer Bude, wo man Hartgummiringe auf Haken werfen mußte und alles mögliche gewinnen konnte. »So«, sagte Lenz zu Patrice Hollmann und schob seinen Hut in den Nacken, »jetzt werden wir Ihnen eine Aussteuer zusammenholen.«

Er warf als erster und gewann eine Weckuhr. Ich folgte und schnappte einen Teddybären. Der Budenbesitzer übergab uns beides und machte viel Hallo davon, um weitere Kunden anzulocken. »Dir wird das Hallo schon vergehen«, schmunzelte Gottfried und eroberte eine Bratpfanne. Ich einen zweiten Teddybären. »Nanu, so was von Schwein«, sagte der Budenbesitzer nur und reichte uns die Sachen.

Der Mann wußte nicht, was ihm bevorstand. Lenz war der beste Handgranatenwerfer der Kompanie gewesen, und im Winter, wenn wenig zu tun war, hatten wir monatelang geübt, unsere Hüte auf alle möglichen Haken zu werfen. Dagegen waren die Ringe hier ein Kinderspiel. Gottfried holte sich mühelos als nächstes eine kristallene Blumenvase. Ich ein halbes Dutzend Grammophonplatten. Der Budenbesitzer schob sie uns schweigend zu und prüfte dann seine Haken. Lenz zielte, warf und gewann ein Kaffeegeschirr, den zweiten Preis. Wir halten jetzt schon einen Haufen Zuschauer. Ich warf drei Ringe ganz rasch auf denselben Haken. Ergebnis: die büßende heilige Magdalena im Goldrahmen.

Der Budenbesitzer zog ein Gesicht, als ob er beim Zahnarzt wäre, und weigerte sich, uns weiter werfen zu lassen. Wir wollten aufhören, aber die Zuschauer machten Krach. Sie verlangten von dem Mann, daß er uns weitertrudeln ließ. Sie wollten sehen, wie er ausgeplündert wurde. Am meisten Krach machte Lina, die plötzlich mit ihrem Schmied wieder da war. »Vorbeiwerfen dürfen die Leute, was?« krähte sie, »aber treffen nicht, wie?« Der Schmied brummte beifällig.

»Schön«, meinte Lenz, »jeder noch einen Wurf.«

Ich warf als erster. Eine Waschschüssel mit Krug und Seifenschale. Dann kam Lenz. Er nahm fünf Ringe. Vier warf er rasch auf denselben Haken. Vor dem fünften machte er eine Kunstpause und zog eine Zigarette hervor. Drei Mann reichten ihm Feuer. Der Schmied klopfte ihm auf die Schulter. Lina fraß vor Aufregung ihr Taschentuch. Dann visierte Gottfried und warf ganz leicht, damit er nicht abprallte, den letzten Ring über die vier andern. Er blieb hängen. Donnerndes Gebrüll. Er hatte den Hauptgewinn gekapert – einen Kinderwagen mit rosa Decke und Spitzenkissen.

Der Budenbesitzer schob ihn fluchend heraus. Wir packten alles hinein und zogen zur nächsten Bude. Lina schob den Wagen. Der Schmied machte darüber solche Witze, daß ich vorzog, mit Patrice Hollmann ein Stück zurückzubleiben. Bei der nächsten Bude mußte man Ringe über Weinflaschen werfen. Wenn der Ring richtig fiel, hatte man die Flasche gewonnen. Wir holten sechs Flaschen heraus, Lenz besah die Etiketten und schenkte sie dem Schmied.

Es gab noch eine Bude ähnlicher Art. Aber der Besitzer hatte Lunte gerochen und erklärte sie, als wir ankamen, für geschlossen. Der Schmied wollte Radau machen; er hatte gesehen, daß hier Bierflaschen erstritten werden konnten. Aber wir wehrten ab. Der Mann, der diese Bude besaß, hatte nur einen Arm.

In großer Begleitung erschienen wir beim Cadillac. »Was nun?« fragte Lenz und kratzte sich den Schädel. »Am besten binden wir den Kinderwagen hinten an.«

»Natürlich«, sagte ich. »Aber du mußt ‘rein und ihn steuern, damit er nicht kippt.«

Patrice Hollmann protestierte. Sie hatte Sorge, Lenz würde es tatsächlich machen. »Schön«, meinte Gottfried, »dann wollen wir mal sortieren. Die beiden Teddys behalten Sie unbedingt. Die Grammophonplatten auch. Die Bratpfanne?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Geht dann in den Besitz der Werkstatt über«, erklärte Gottfried. »Nimm sie an dich, Robby, alter Meister des Spiegeleierbratens. Das Kaffeegeschirr?«

Das Mädchen nickte zu Lina hinüber. Die Köchin errötete. Gottfried überreichte ihr die Stücke wie bei einer Preisverteilung. Dann griff er die Steingutschale heraus. »Das Waschgeschirr hier? An den Herrn Nachbarn, nicht wahr? Kann’s gut gebrauchen im Beruf. Die Weckuhr ebenfalls. Schmiede haben einen schweren Schlaf.«

Ich übergab Gottfried die Blumenvase. Er reichte sie Lina. Die wollte stotternd ablehnen. Ihre Augen klebten an der büßenden Magdalena. Sie glaubte, wenn sie die Vase nähme, bekäme der Schmied das Bild. »Ick schwärme for Kunst«, brachte sie heraus. Rührend gierig stand sie da und kaute vor Aufregung an ihren roten Fingern.

»Gnädiges Fräulein«, fragte Lenz mit großer Geste und drehte sich um, »was meinen Sie dazu?«

Patrice Hollmann nahm das Bild und gab es der Köchin. »Es ist ein sehr schönes Bild, Lina«, sagte sie.

»Häng’s über dein Bett und nimm’s dir zu Herzen«, ergänzte Lenz.

Lina griff zu. Das Wasser stand ihr in den Augen. Sie bekam einen mächtigen Schluckauf vor Dankbarkeit.

»Und nun du«, sagte Lenz nachdenklich zu dem Kinderwagen. Linas Augen wurden trotz allen Magdalenenglückes schon wieder gierig. Der Schmied meinte, man könne nie wissen, wann man so was nötig hätte, und lachte darüber derartig, daß er eine Weinflasche fallen ließ. Aber Lenz wollte nicht. »Augenblick, hab’ da vorhin was gesehen«, sagte er und verschwand. Ein paar Minuten später holte er den Wagen und schob ihn davon. »Erledigt«, meinte er, als er allein wiederkam. Wir stiegen in den Cadillac. »Wie Weihnachten!« sagte Lina glücklich in all ihrem Kram und gab uns die rote Pratze zum Abschied.

Der Schmied nahm uns noch eine Sekunde beiseite. »Hört mal zu«, sagte er, »wenn ihr mal jemand zu verhauen habt – ich wohne Leibnizstraße sechzehn, Hinterhof, zwei Treppen links. Eventuell, wenn’s mehrere sind, komme ich auch mit meinem Verein.«

»Gemacht«, erwiderten wir und fuhren los. Als wir um die Ecke des Rummelplatzes bogen, zeigte Gottfried aus dem Fenster. Da stand unser Kinderwagen, ein richtiges Kind drin und eine blasse, immer noch verstörte Frau daneben, die ihn untersuchte.

»Gut, was?« meinte Gottfried.

»Bringen Sie ihr noch die Teddybären!« rief Patrice Hollmann. »Die gehören dazu.«

»Einen vielleicht«, sagte Lenz, »einen müssen Sie behalten.«

»Nein, beide.«

»Gut.« Lenz sprang aus dem Wagen, warf die Plüschdinger der Frau in die Arme und raste, ehe sie etwas sagen konnte, davon, als würde er verfolgt. »So«, sagte er aufatmend, »jetzt ist mir vor meinem eigenen Edelmut ganz schlecht geworden. Setzt mich am International ab. Ich muß unbedingt einen Kognak haben.«

Er stieg aus, und ich brachte das Mädchen nach Hause. Es war anders als das letztemal. Sie stand in der Tür, und das Licht der Laterne überflackerte ihr Gesicht. Sie sah herrlich aus. Ich wäre gern mit ihr gegangen. »Gute Nacht«, sagte ich, »schlafen Sie gut.«

»Gute Nacht.«

Ich sah ihr nach, bis die Beleuchtung erlosch. Dann fuhr ich mit dem Cadillac los. Ich fühlte mich merkwürdig. Es war nicht wie sonst, wenn man mal abends auf ein Mädchen verrückt war. Es war viel mehr Zärtlichkeit dabei. Zärtlichkeit und der Wunsch, sich einmal ganz loslassen zu können. Fallen zu lassen, irgendwohin…



Ich fuhr zu Lenz ins International. Es war fast leer. In einer Ecke saß Fritzi mit ihrem Freund, dem Kellner Alois. Sie stritten miteinander. Gottfried saß mit Mimi und Wally auf dem Sofa neben der Theke. Er war reizend mit beiden, auch mit Mimi, dem armen alten Geschöpf.

Die Mädchen gingen bald. Sie mußten ins Geschäft; jetzt war die Hauptzeit. Mimi ächzte und seufzte wegen ihrer Krampfadern. Ich setzte mich neben Gottfried. »Schieß nur los«, sagte ich.

»Wozu, Baby?« erwiderte er zu meinem Erstaunen. »Ist ganz richtig, was du machst.«

Ich war erleichtert, daß er es so einfach nahm. »Hätte ja schon vorher einen Ton reden können«, sagte ich.

Er winkte ab. »Unsinn.«

Ich bestellte mir einen Rum. »Weißt du«, sagte ich dann, »ich habe keine Ahnung, was sie ist und so. Auch nicht, wie sie zu dem Binding steht. Hat er dir damals eigentlich was gesagt?«

Er sah mich an. »Kümmert dich das was?«

»Nein.«

»Wollt’ ich auch meinen. Der Mantel steht dir übrigens gut.«

Ich errötete.

»Brauchst nicht rot zu werden. Hast ganz recht. Wollte, ich könnte es auch.«

Ich schwieg eine Weile. »Wieso, Gottfried?« fragte ich schließlich.

Er sah mich an. »Weil alles andere Dreck ist, Robby. Weil es heute nichts gibt, was lohnt. Denk daran, was Ferdinand dir gestern erzählt hat. Hat gar nicht unrecht, der alte dicke Leichenpinseler. Na, nun komm, setz dich an den Kasten da und spiel ein paar von den alten Soldatenliedern.«

Ich spielte »Drei Lilien« und den »Argonnerwald«. Es klang geisterhaft in dem leeren Lokal, wenn man daran dachte, wann wir es immer gesungen hatten.




VII


Zwei Tage später kam Köster eilig aus der Bude. »Robby, dein Blumenthal hat telefoniert. Du sollst um elf mit dem Cadillac zu ihm kommen. Er will eine Probefahrt machen.«

Ich schmiß Schraubenzieher und Engländer hin. »Mensch, Otto – wenn das was würde!«

»Was habe ich euch gesagt«, ließ Lenz sich aus der Grube unter dem Ford her vernehmen. »Er kommt wieder, habe ich gesagt. Immer auf Gottfried hören!«

»Halt den Schnabel, die Situation ist ernst«, schrie ich hinunter. »Otto, wieviel kann ich äußerst vom Preis nachlassen?«

»Äußerst zweitausend. Alleräußerst zweitausendzweihundert. Wenn’s gar nicht anders geht, zweifünf. Wenn du siehst, daß du einen Wahnsinnigen vor dir hast, zweisechs. Aber sag ihm, daß wir ihn dann in alle Ewigkeit verfluchen werden.«

»Gut.«

Wir putzten den Wagen blitzblank. Ich stieg ein. Köster legte mir die Hand auf die Schulter. »Robby, bedenke, daß du als Soldat andere Sachen mitgemacht hast. Verteidige die Ehre unserer Werkstatt bis aufs Blut. Stirb stehend, die Hand an Blumenthals Brieftasche.«

»Gemacht«, grinste ich.

Lenz kramte eine Medaille aus der Tasche und hielt sie mir vors Gesicht. »Faß mein Amulett an, Robby!«

»Meinetwegen.« Ich faßte zu.

»Abrakadabra, großer Schiwa«, betete Gottfried, »segne diese Memme mit Mut und Stärke! Halt, hier, noch besser, nimm’s mit! So, jetzt spuck noch dreimal aus.«

»In Ordnung«, sagte ich, spuckte ihm vor die Füße und fuhr los, vorbei an Jupp, der aufgeregt mit dem Benzinschlauch salutierte.



Unterwegs kaufte ich ein paar Nelken und dekorierte sie künstlerisch in den Kristallvasen des Wagens. Ich spekulierte damit auf Frau Blumenthal.

Leider empfing mich Blumenthal in seinem Büro, nicht in der Wohnung. Ich mußte eine Viertelstunde warten. Liebling, dachte ich, den Trick kenne ich, damit machst du mich nicht mürbe. Ich forschte im Vorzimmer eine hübsche Stenotypistin, die ich mit der Nelke aus meinem Knopfloch bestach, über das Geschäft aus. Trikotagen. Umsatz gut, neun Personen im Büro, ein stiller Sozius, schärfste Konkurrenz Meyer und Sohn, der Meyersohn fuhr roten Zweisitzer Essex – soweit war ich, als Blumenthal mich rufen ließ.

Er schoß sofort mit Kanonen. »Junger Mann«, sagte er, »ich hab’ nicht viel Zeit. Neulich der Preis war ein Wunschtraum von Ihnen. Also Hand aufs Herz, was kostet der Wagen?«

»Siebentausend Mark«, erwiderte ich.

Er wandte sich kurz ab. »Dann ist nichts zu machen.«

»Herr Blumenthal«, sagte ich, »sehen Sie sich den Wagen noch einmal an…«

»Nicht nötig«, unterbrach er mich, »ich habe ihn mir ja neulich genau angesehen…«

»Sehen und Sehen ist zweierlei«, erklärte ich. »Sie sollen Details sehen. Die Lackierung erstklassig, von Voll und Ruhrbeck, Selbstkosten 250 Mark – die Bereifung neu, Katalogpreis 600 Mark, macht schon 850. Die Polsterung, feinster Cord…«

Er winkte ab. Ich begann von neuem. Ich forderte ihn auf, das luxuriöse Fahrzeug zu besichtigen, das herrliche Verdeckleder, den verchromten Kühler, die modernen Stoßstangen, sechzig Mark das Paar – wie ein Kind zur Mutter strebte ich zu dem Cadillac zurück und versuchte Blumenthal zu überreden, herunterzukommen. Ich wußte, daß mir, wie Antäus, neue Kräfte auf der Erde wachsen würden. Preise verlieren viel von ihrem abstrakten Schrecken, wenn man was dafür zeigen kann.

Aber Blumenthal wußte ebenso, daß seine Stärke hinter seinem Schreibtisch lag. Er setzte seine Brille ab und ging mich jetzt erst richtig an. Wir kämpften wie ein Tiger mit einer Pythonschlange. Blumenthal war der Python. Ehe ich mich umsehen konnte, hatte er mir schon fünfzehnhundert Mark abgehandelt.

Mir wurde angst und bange. Ich griff in die Tasche und nahm Gottfrieds Amulett fest in die Hand. »Herr Blumenthal«, sagte ich ziemlich erschöpft, »es ist ein Uhr, Sie müssen sicher zum Essen!« Ich wollte um alles in der Welt ‘raus aus dieser Bude, in der die Preise wie Schnee zerschmolzen.

»Ich esse erst um zwei«, erklärte Blumenthal ungerührt, »aber wissen Sie was? Wir können jetzt die Probefahrt machen.«

Ich atmete auf.

»Nachher reden wir dann weiter«, fügte er hinzu. Ich atmete wieder ein.

Wir fuhren zu seiner Wohnung. Zu meinem Erstaunen war er im Wagen plötzlich wie ausgewechselt. Gemütlich erzählte er mir den Witz vom Kaiser Franz Josef, den ich längst kannte. Ich versetzte ihm dafür den vom Straßenbahnschaffner; er mir den vom verirrten Sachsen; ich ihm sofort den vom schottischen Liebespaar – erst vor seiner Wohnung wurden wir wieder Seriös. Er bat mich zu warten, er wolle seine Frau holen.

»Mein lieber dicker Cadillac«, sagte ich und klopfte dem Wagen auf den Kühler, »hinter dieser Witzeerzählerei steckt sicher wieder eine neue Teufelei. Aber sei nur ruhig, wir kriegen dich schon unter Dach und Fach. Er kauft dich schon – wenn ein Jude wiederkommt, dann kauft er. Wenn ein Christ wiederkommt, kauft er noch lange nicht. Er macht ein halbes Dutzend Probefahrten, um eine Droschke zu sparen, und dann fällt ihm plötzlich ein, daß er statt dessen eine Kücheneinrichtung braucht. Nein, nein, Juden sind gut, die wissen, was sie wollen. Aber ich schwöre dir, mein guter Dicker: Wenn ich diesem direkten Nachkommen des streitbaren Judas Makkabäus auch nur noch hundert Mark nachlasse, will ich mein ganzes Leben keinen Schnaps mehr trinken.«

Frau Blumenthal erschien. Ich erinnerte mich an alle Ratschläge von Lenz und verwandelte mich aus einem Kämpfer in einen Kavalier. Blumenthal hatte dafür nur ein niederträchtiges Lächeln. Der Mann war aus Eisen. Er hätte Lokomotiven verkaufen sollen, aber keine Trikotagen.

Ich sorgte dafür, daß er hinten in den Wagen kam und seine Frau neben mich. »Wohin darf ich Sie fahren, gnädige Frau?« fragte ich schmelzend.

»Wohin Sie wollen«, meinte sie, mütterlich lächelnd.

Ich begann zu plaudern. Es war eine Wohltat, einen harmlosen Menschen vor sich zu haben. Ich sprach so leise, daß Blumenthal nicht viel verstehen konnte. So sprach ich freier. Es war ohnehin schon schlimm genug, daß er hinten saß.

Wir hielten. Ich stieg aus und sah meinen Feind fest an. »Sie müssen doch zugeben, daß der Wagen sich wie Butter fährt, Herr Blumenthal.«

»Was heißt schon Butter, junger Mann«, entgegnete er sonderbar freundlich, »wenn die Steuern einen auffressen. Der Wagen kostet zuviel Steuern. Ihnen gesagt.«

»Herr Blumenthal«, sagte ich, bestrebt, den Ton festzuhalten, »Sie sind Geschäftsmann, zu Ihnen kann ich, aufrichtig reden. Das sind keine Steuern, das sind Spesen. Sagen Sie selbst, was erfordert ein Geschäft denn heute? Sie wissen es – nicht mehr Kapital wie früher —, Kredit braucht es! Und wie kriegt man Kredit? Immer noch durchs Auftreten. Ein Cadillac ist solide und flott – behäbig, aber nicht altmodisch – gesundes Bürgertum —, er ist die lebendige Reklame fürs Geschäft.«

Blumenthal wandte sich belustigt an seine Frau. »Ein jüdisches Köpfchen hat er, wie? Junger Mann«, sagte er dann, immer noch familiär, »die beste Reklame für Solidität ist heute ein schäbiger Anzug und Autobusfahren. Wenn wir beide das Geld hätten, das für die eleganten Autos, die da ‘rumflitzen, noch nicht bezahlt ist, könnten wir uns bequem zur Ruhe setzen. Ihnen gesagt. Im Vertrauen.«

Ich sah ihn mißtrauisch an. Was hatte er nur mit seiner Freundlichkeit vor? Oder dämpfte die Gegenwart seiner Frau seinen Kampfgeist? Ich beschloß, eine Pistole abzufeuern. »So ein Cadillac ist doch was anderes als ein Essex, nicht wahr, gnädige Frau? Der Junior von Meyer und Sohn fährt so ein Ding, aber ich möchte ihn nicht geschenkt haben, diesen grellroten, auffälligen Schlitten…«

Ich hörte Blumenthal schnauben und fuhr rasch fort: »Die Farbe hier kleidet Sie übrigens sehr gut, gnädige Frau – gedämpftes Kobaltblau zu Blond…«

Plötzlich sah ich Blumenthal wie einen ganzen Wald voll Affen grinsen. »Meyer und Sohn – tüchtig, tüchtig…«, stöhnte er. »Und jetzt auch noch Schmonzes – Schmonzes!«

Ich blickte ihn an. Ich traute meinen Augen nicht; das war echt! Sofort schlug ich weiter in dieselbe Kerbe. »Herr Blumenthal, gestatten Sie, daß ich etwas richtigstelle. Bei einer Frau sind Schmonzes nie Schmonzes. Es sind Komplimente, die in unserer Jammerzeit leider immer seltener werden. Die Frau ist kein Stahlmöbel; sie ist eine Blume – sie verlangt keine Sachlichkeit; sie verlangt die heitere Schmonzessonne. Besser, ihr jeden Tag etwas Hübsches zu sagen, als mit tierischem Ernst das ganze Leben für sie zu arbeiten. Ihnen gesagt. Ebenfalls im Vertrauen. Und dabei habe ich nicht einmal Schmonzes geredet, sondern ein physikalisches Grundgesetz herangezogen. Blau paßt gut zu Blond.«

»Gut gebrüllt, Löwe«, sagte Blumenthal strahlend. »Hören Sie, Herr Lohkamp! Ich weiß, daß ich Ihnen noch glatt tausend Mark abhandeln kann…«

Ich trat einen Schritt zurück. Tückischer Satan, dachte ich, das ist der erwartete Schlag. Ich sah mich bereits als Abstinent durchs Leben wandern und warf den Blick eines gemarterten Rehkitzes zu Frau Blumenthal hinüber. »Aber Vater…«, sagte sie.

»Laß mal, Mutter«, erwiderte er. »Also ich könnte es – aber ich tue es nicht. Es hat mir Spaß als Geschäftsmann gemacht, wie Sie gearbeitet haben. Noch etwas zu phantasievoll, aber immerhin – das mit Meyer und Sohn war schon gut. Haben Sie eine jüdische Mutter?«

»Nein.«

»Waren Sie mal in der Konfektion?«

»Ja.«

»Sehen Sie, daher der Stil. In was für ‘ner Branche?«

»Seele«, erwiderte ich, »ich wollte mal Schulmeister werden.«

»Herr Lohkamp«, sagte Blumenthal. »Respekt! Wenn Sie mal ohne Stellung sind, rufen Sie bei mir an.«

Er schrieb einen Scheck aus und gab ihn mir. Ich traute meinen Augen nicht! Vorauszahlung! – ein Wunder! »Herr Blumenthal«, sagte ich überwältigt, »erlauben Sie mir, zu dem Wagen zwei kristallene Aschenbecher und eine erstklassige Gummifußmatte gratis dreinzugeben.«

»Schön«, meinte er, »da kriegt der alte Blumenthal auch mal was geschenkt.« Dann lud er mich für den nächsten Tag zum Abendessen ein. Frau Blumenthal lächelte mir mütterlich zu.

»Es gibt gefüllten Hecht«, sagte sie weich.

»Eine Delikatesse«, erklärte ich. »Dann bringe ich Ihnen gleich den Wagen mit. Morgen früh lassen wir ihn zu.«



Ich flog wie eine Schwalbe zurück zur Werkstatt. Aber Lenz und Köster waren zum Essen gegangen. Ich mußte meinen Triumph noch bezähmen. Nur Jupp war da. »Verkauft?« fragte er.

»Das möchtest du wohl wissen, du Strolch«, sagte ich. »Hier, da hast du einen Taler. Bau dir ein Flugzeug dafür.«

»Also verkauft«, grinste Jupp.

»Ich fahre jetzt zum Essen«, sagte ich, »aber wehe, wenn du den andern was sagst, bevor ich zurück bin.«

»Herr Lohkamp«, beteuerte er und wirbelte den Taler durch die Luft, »ich bin ein Grab.«

»So siehst du aus«, sagte ich und gab Gas.

Als ich auf den Hof zurückkam, machte Jupp mir ein Zeichen. »Was ist los?« fragte ich. »Hast du den Schnäbel nicht gehalten?«

»Herr Lohkamp! Wie Eisen!« Er grinste. »Nur – der Fordfritze ist drin.«

Ich ließ den Cadillac auf dem Hof stehen und ging in die Werkstatt. Der Bäckermeister war da und beugte sich gerade über ein Buch mit Farbproben. Er trug einen karierten Gürtelmantel mit breitem Trauerflor. Neben ihm stand eine hübsche Person mit hurtigen schwarzen Augen, einem offenen Mäntelchen mit verrupftem Kaninchenfellbesatz und zu kleinen Lackschuhen. Die schwarze Person war für leuchtendes Zinnober; aber der Bäcker hatte gegen Rot Bedenken, weil er doch in Trauer war. Er schlug ein fahles Gelbgrau vor.

»Ach was«, maulte die Schwarze, »ein Ford muß auffallend lackiert sein. Sonst sieht er nach nichts aus.«

Sie schickte verschwörerische Blicke nach uns aus, zuckte mit den Achseln, als der Bäcker sich bückte, verzog den Mund und blinzelte uns zu. Ein munteres Kind! Schließlich einigten sich beide auf Resedagrün. Das Mädchen wollte ein helles Verdeck dazu haben. Doch da wurde der Bäckermeister stark: Irgendwo sollte die Trauer herauskommen. Er setzte ein schwarzes Lederverdeck durch. Dabei machte er nebenbei noch ein Geschäft; denn er bekam das Verdeck ja gratis und Leder war teurer als Stoff.

Die beiden gingen. Aber auf dem Hof gab es noch einen Aufenthalt. Die Schwarze hatte den Cadillac kaum erblickt, als sie drauflos schoß. »Sieh mal, Puppi, das ist ein Wagen! Fabelhaft! Das lass’ ich mir gefallen!«

Im nächsten Augenblick hatte sie die Tür schon offen und saß drin, schielend vor Begeisterung. »Das sind Sitze! Kolossal! Wie Klubsessel! Das ist was anderes als der Ford!«

»Na, komm schon«, sagte Puppi mißmutig.

Lenz stieß mich an – ich sollte in Aktion treten und versuchen, dem Bäcker den Wagen aufzuhängen. Ich sah Gottfried von oben herab an und schwieg. Er stieß stärker. Ich stieß zurück und drehte ihm den Rücken zu.

Mit Mühe bekam der Bäcker sein schwarzes Juwel endlich aus dem Wagen und zog etwas gekränkt und stark verärgert ab.

Wir sahen dem Paar nach. »Ein Mann von schnellen Entschlüssen!« sagte ich. »Reparierter Wagen – neue Frau – alle Achtung!«

»Na«, meinte Köster, »an der wird er noch Freude haben.«

Kaum waren die beiden um die Ecke, da blubberte Gottfried los. »Bist du denn ganz von Gott verlassen, Robby? Verpaßt so eine Gelegenheit! Das war doch ein Schulbeispiel, wie man anspringen muß!«

»Unteroffizier Lenz«, erwiderte ich, »nehmen Sie die Knochen zusammen, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden! Glauben Sie, ich bin ein Bigamist und verheirate den Wagen zweimal?«

Es war ein großer Moment, Gottfried dastehen zu sehen. Er machte Augen wie Teller. »Treib keinen Scherz mit heiligen Dingen«, stotterte er.

Ich beachtete ihn gar nicht, sondern wandte mich an Köster. »Otto, nimm Abschied von unserm Cadillac-Kinde! Es gehört nicht mehr uns. Es wird der Unterhosenbranche fortan Glanz verleihen! Hoffe, daß es ein gutes Leben dort haben wird! Nicht so heldisch wie bei uns – dafür aber sicherer.«

Ich zog den Scheck heraus. Lenz fiel beinahe auseinander.

»Doch nicht – was? Etwa – bezahlt?« flüsterte er heiser.

»Was dachten Sie Anfänger denn?« fragte ich und schwenkte den Scheck hin und her. »Ratet!«

»Vier!« rief Lenz mit geschlossenen Augen.

»Vierfünf«, sagte Köster.

»Fünf«, schrie Jupp von der Pumpe aus herüber.

»Fünffünf«, schmetterte ich.

Lenz riß mir den Scheck aus der Hand. »Unmöglich! Wird bestimmt ungedeckt sein!«

»Herr Lenz«, sagte ich mit Würde, »der Scheck ist so sicher, wie Sie unsicher sind! Mein Freund Blumenthal ist für die zwanzigfache Summe gut. Mein Freund, verstehen Sie, bei dem ich morgen abend gefüllten Hecht esse. Nehmen Sie sich ein Beispiel daran! Freundschaft schließen, Vorauszahlung bekommen und zum Abendbrot eingeladen werden: das heißt verkaufen! So, jetzt können Sie rühren!«

Gottfried faßte sich mit Mühe. Er versuchte ein letztes. »Mein Inserat und das Amulett!«

Ich schob ihm die Medaille hin. »Hier hast du deine Hundemarke wieder. Hab’ sie ganz vergessen gehabt.«

»Du hast tadellos verkauft, Robby«, sagte Köster. »Gottlob, daß wir den Schlitten los sind. Können den Zaster verdammt gut gebrauchen.«

»Gibst du mir fünfzig Mark Vorschuß?« fragte ich.

»Hundert. Hast’s verdient.«

»Möchtest du nicht auch meinen grauen Mantel auf Vorschuß dazu haben?« fragte Gottfried mit zugekniffenen Augen.

»Möchtest du ins Krankenhaus, trauriger, indiskreter Bastard?« fragte ich zurück.

»Kinder, wir machen Schluß für heute!« schlug Köster vor. »Genug für einen Tag verdient! Man soll Gott auch nicht versuchen. Wollen mit Karl ‘rausfahren und zum Rennen trainieren.«

Jupp hatte längst seine Benzinpumpe im Stich gelassen. Er wischte sich aufgeregt die Hände. »Herr Köster, dann übernehme ich wohl solange hier wieder das Kommando, wie?«

»Nein, Jupp«, sagte Otto lachend, »du kommst mit!«

Wir fuhren zunächst zur Bank und gaben den Scheck ab. Lenz ruhte nicht, bis er wußte, daß er in Ordnung war. Dann hauten wir ab, daß die Funken aus dem Auspuff stoben.




VIII


Ich stand meiner Wirtin gegenüber. »Wo brennt’s?« fragte Frau Zalewski.

»Nirgendwo«, erwiderte ich. »Ich will nur meine Miete bezahlen.« Es war noch drei Tage zu früh, und Frau Zalewski fiel vor Erstaunen fast um, »Dahinter steckt doch was«, meinte sie argwöhnisch.

»Nicht die Spur«, erwiderte ich. »Kann ich heute abend mal die beiden Brokatsessel aus Ihrem Salon haben?«

Kampfbereit stemmte sie die Arme auf die dicken Hüften. »Da haben wir es! Gefällt Ihnen Ihr Zimmer nicht mehr?«

»Doch. Aber Ihre Brokatsessel gefallen mir besser.«

Ich erklärte ihr, daß ich vielleicht Besuch von einer Kusine bekäme und dazu das Zimmer gern etwas hübscher haben möchte. Sie lachte, daß ihr Busen nur so wogte. »Kusine«, wiederholte sie verächtlich, »und wann kommt die Kusine?«

»Es ist noch gar nicht sicher«, sagte ich, »aber wenn sie kommt, natürlich früh, frühabends, zum Essen. Warum soll es übrigens keine Kusinen geben, Frau Zalewski?«

»Es gibt schon welche«, erwiderte sie, »aber für die borgt man keine Sessel.«

»Ich wohl«, behauptete ich, »ich habe sehr viel Familiensinn.«

»So sehen Sie aus! Rumtreiber seid ihr alle miteinander. Die Brokatsessel können Sie haben. Stellen Sie die roten Plüsch solange in den Salon.«

»Danke schön. Morgen bringe ich alles zurück. Den Teppich auch.«

»Teppich?« Sie drehte sich um. »Wer hat denn hier ein Wort vom Teppich gesagt?«

»Ich. Und Sie auch, eben gerade.«

Sie sah mich entrüstet an. »Der gehört doch dazu«, sagte ich. »Die Sessel stehen doch drauf.«

»Herr Lohkamp«, erklärte Frau Zalewski majestätisch, »treiben Sie es nicht zu weit! Mäßigkeit in allem, war ein Wort des seligen Zalewski. Das könnten Sie auch mal beherzigen.«

Ich wußte, daß der selige Zalewski sich trotz dieses Wahlspruches buchstäblich totgesoffen hatte. Seine Frau hatte mir das selbst bei anderen Gelegenheiten oft genug erzählt. Aber das machte ihr nichts aus. Sie benützte ihren Mann, wie andere Leute die Bibel: zum Zitieren. Und je länger er tot war, desto mehr schob sie ihm zu. Er paßte jetzt schon auf alles – wie die Bibel.



Ich war dabei, meine Bude auszuschmücken. Nachmittags hatte ich mit Patrice Hollmann telefoniert. Sie war krank gewesen, und ich hatte sie fast eine Woche nicht mehr gesehen. Jetzt waren wir um acht Uhr verabredet, und ich hatte ihr vorgeschlagen, bei mir zu essen und nachher in ein Kino zu gehen.

Die Brokatsessel und der Teppich wirkten pompös; aber die Beleuchtung dazu war schrecklich. Ich klopfte deshalb nebenan bei der Familie Hasse, um mir eine Tischlampe auszuleihen. Frau Hasse saß müde am Fenster. Ihr Mann war noch nicht da. Er arbeitete jeden Tag freiwillig ein bis zwei Stunden länger, um nur ja nicht entlassen zu werden. Die Frau hatte etwas von einem kranken Vogel. In ihren schwammigen, alternden Zügen war immer noch das schmale Gesicht eines Kindes zu erkennen – eines enttäuschten, traurigen Kindes.

Ich brachte mein Anliegen vor. Sie lebte auf und holte mir die Lampe. »Ach ja«, sagte sie seufzend, »wenn ich noch so daran denke, früher…«

Ich kannte die Geschichte. Sie handelte von den Aussichten, die sie gehabt hätte, wenn sie Hasse nicht genommen hätte. Ich kannte dieselbe Geschichte auch in der Fassung Hasses. Da handelte sie von den Aussichten, die er gehabt hätte, wenn er Junggeselle geblieben wäre. Es war wahrscheinlich die häufigste Geschichte der Welt. Auch die aussichtsloseste.

Ich hörte eine Weile zu, erwiderte ein paar Gemeinplätze und begab mich zu Erna Bönig, um mir ihr Grammophon zu holen.

Frau Hasse sprach von Erna nur als von der Person nebenan. Sie verachtete sie, weil sie sie beneidete. Ich mochte sie ganz gern. Sie machte sich nichts vor über das Leben und wußte, daß man sich dranhalten mußte, um ein bißchen von dem zu erwischen, was man so Glück nannte. Sie wußte auch, daß man es doppelt und dreifach bezahlen mußte. Glück war die ungewisseste Sache der Welt mit dem höchsten Preis.

Erna kniete vor ihrem Koffer nieder und suchte mir eine Anzahl Platten heraus. »Wollen Sie Foxtrotts?« fragte sie.

»Nein«, erwiderte ich. »Ich kann nicht tanzen.«

Sie sah erstaunt auf. »Sie können nicht tanzen? Ja, was machen Sie dann, wenn Sie ausgehen?«

»Ich tanze mit der Gurgel. Das geht auch ganz gut.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ein Mann, der nicht tanzen kann, wäre bei mir abgemeldet.«

»Sie haben strenge, Grundsätze«, erwiderte ich. »Aber es gibt ja auch noch andere Platten. Sie spielten da neulich eine sehr schöne – es war eine Frauenstimme mit so einer Art Hawaiimusik…«

»Ah, die ist fabelhaft. >Wie hab’ ich nur leben können ohne dich…<, nicht wahr?«

»Richtig! Was so Schlagerdichtern alles einfällt! Ich glaube, es sind die einzigen Romantiker, die es noch gibt.«

Sie lachte. »Warum auch nicht? So ein Grammophon ist ja auch wie eine Art Stammbuch. Früher schrieb man sich Verse ins Album – heute schenkt man sich Grammophonplatten. Wenn ich mich an irgend etwas erinnern will, brauche ich nur die Platte von damals aufzulegen, und schon ist alles wieder da.«

Ich sah auf die Stöße von Platten herab, die auf der Erde lagen. »Daran gemessen, Erna, müssen Sie einen Haufen Erinnerungen haben.«

Sie stand auf und strich sich das rötliche Haar zurück. »Ja«, sagte sie und schob einen Pack mit dem Fuß beiseite, »aber eine einzige richtige wäre mir lieber…«

Ich packte aus, was ich zum Abendbrot eingekauft hatte, und machte alles zurecht, so gut ich konnte. Aus der Küche war keine Hilfe für mich zu erwarten, dazu stand ich mit Frida zu schlecht. Sie hätte mir höchstens etwas umgeworfen. Aber es ging auch so, und bald kannte ich meine alte Bude nicht wieder in ihrem neuen Glanz. Die Sessel, die Lampe, der gedeckte Tisch – ich spürte, wie eine unruhige Erwartung sich in mir sammelte.

Ich brach auf, obschon ich noch über eine Stunde Zeit hatte. Draußen wehte der Wind in langen Stößen um die Ecken der Häuser. Die Laternen brannten schon. Die

Dämmerung zwischen den Häusern war blau wie ein Meer. Das International schwamm darin wie ein abgetakeltes Kriegsschiff. Ich machte einen Sprung hinein.

»Hoppla, Robert«, sagte Rosa.

»Was machst du denn hier?« fragte ich. »Willst du nicht auf Tour?«

»Ist noch etwas zu früh.«

Alois schlich heran. »Einstöckig?« fragte er.

»Dreistöckig«, erwiderte ich.

»Gehst ja mächtig ‘ran«, meinte Rosa.

»Brauche etwas Mumm«, sagte ich und kippte den Rum.

»Spielst du was?« fragte Rosa.

Ich schüttelte den Kopf. »Keine Lust heute. Zu windig, Rosa. Was macht das Kleine?«

Sie lächelte mit all ihren Goldzähnen. »Unberufen, gut. Morgen gehe ich wieder hin. Habe diese Woche gute Kasse gehabt; den alten Böcken steckt das Frühjahr schon in den Knochen. Da bringe ich ihr ein neues Mäntelchen mit. Rote Wolle.«

»Rote Wolle ist der letzte Modeschrei.«

»Du bist ein Kavalier, Robby.«

»Wenn du dich da man nicht irrst. Komm, trink eins mit. Anisette, was?«

Sie nickte. Wir stießen an. »Sag mal, Rosa, was hältst du eigentlich von der Liebe?« fragte ich. »Du verstehst doch was davon.«

Sie brach in ein schallendes Gelächter aus. »Hör auf damit«, sagte sie dann. »Liebe! Ach, mein Arthur – wenn ich an den Lumpen denke, werde ich immer noch schwach in den Knien. Will dir was sagen, Robby, im Ernst gesprochen: Das menschliche Leben ist zu lang für die Liebe. Einfach zu lang. Das hat mir mein Arthur erklärt, als er abgehauen ist. Und das stimmt. Liebe ist wunderbar. Aber einem ist sie immer zu lang. Und der andere, der sitzt dann da und stiert. Stiert wie wahnsinnig.«

»Klar«, sagte ich. »Aber ohne Liebe ist man doch eigentlich auch bloß ‘ne Leiche auf Urlaub.«

»Mach’s wie ich«, erwiderte Rosa, »schaff dir ein Kind an. Da hast du was zum Lieben und hast deine Ruhe dabei.«

»Nicht dumm«, sagte ich. »Hat mir grade noch gefehlt.«

Rosa wiegte träumerisch den Kopf. »Was hab’ ich von meinem Arthur für Schläge gekriegt – und trotzdem, wenn er jetzt hier ‘reinkäme, die Melone so schief nach hinten auf dem Kopf —, Mensch, Junge, ich bibbere schon, wenn ich dran denke.«

»Wollen eins auf Arthurs Wohl trinken.«

Rosa lachte. »Der Hurenbock soll leben! Prost!«

Wir tranken aus. »Wiedersehen, Rosa. Gutes Geschäft heute abend!«

»Danke! Wiedersehen, Robby!«



Die Haustür klappte. »Hallo«, sagte Patrice Hollmann, »so tief in Gedanken?«

»Nein, gar nicht! Aber wie geht es Ihnen? Sind Sie wieder gesund? Was haben Sie denn gehabt?«

»Ach, nichts Besonderes. Erkältet und ein bißchen Fieber.«

Sie sah gar nicht krank und angegriffen aus, Im Gegenteil, – ihre Augen waren mir noch nie so groß und strahlend erschienen, ihr Gesicht war ein wenig gerötet, und ihre Bewegungen waren geschmeidig wie bei einem schmalen, schönen Tier.

»Sie sehen prachtvoll aus«, sagte ich. »Ganz gesund! Wir können eine Menge unternehmen.«

»Das wäre schön«, erwiderte sie. »Aber heute geht es nicht. Ich kann heute nicht.«

Ich starrte sie verständnislos an. »Sie können nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«

Ich begriff immer noch nicht. Ich glaubte, sie hätte sich das mit meiner Bude anders überlegt und wollte nur nicht bei mir essen.

»Ich habe schon bei Ihnen angerufen«, sagte sie, »damit Sie nicht vergebens kämen. Aber Sie waren schon weggegangen.«

Jetzt verstand ich endlich. »Sie können wirklich nicht? Den ganzen Abend nicht?« fragte ich.

»Heute nicht. Ich muß irgendwohin. Leider habe ich es auch erst vor einer halben Stunde erfahren.«

»Können Sie das denn nicht verschieben?«

»Nein, das geht nicht.« Sie lächelte. »Es ist so etwas wie eine geschäftliche Sache.«

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Ich glaubte ihr kein Wort. Geschäftliche Sache – sie sah nicht nach geschäftlichen Sachen aus! Wahrscheinlich war es nur eine Ausrede. Sicher sogar. Was konnte man abends schon für geschäftliche Besprechungen haben? So was machte man vormittags! Und man erfuhr es auch nicht erst eine halbe Stunde vorher. Sie wollte einfach nicht, das war alles.

Ich war auf eine geradezu kindische Weise enttäuscht. Jetzt spürte ich erst, wie sehr ich mich auf den Abend gefreut hatte. Ich ärgerte mich darüber, daß ich so enttäuscht war, und ich wollte nicht, daß sie es merkte. »Also schön«, sagte ich, »dann ist nichts zu machen. Auf Wiedersehen.«

Sie sah mich forschend an. »So eilig ist es nicht. Ich bin erst um neun verabredet. Wir können noch etwas Spazierengehen. Ich war die ganze Woche nicht draußen.«

»Gut«, sagte ich widerstrebend. Ich fühlte mich plötzlich müde und leer.

Wir gingen die Straße entlang. Der Abend war klargeworden, und die Sterne standen zwischen den Dächern. Wir kamen an einer Rasenanlage vorbei, auf der im Schatten ein paar Büsche standen. Patrice Hollmann blieb stehen. »Flieder«, sagte sie, »es riecht nach Flieder! Aber das ist doch ganz unmöglich, es ist ja noch zu früh.«

»Ich rieche auch nichts«, erwiderte ich.

»Doch!« Sie beugte sich über das Geländer.

»Es ist eine Daphne indica, meine Dame«, kam eine rauhe Stimme aus dem Dunkel.

Ein städtischer Gartenarbeiter mit einer Mütze mit einem Messingschild lehnte da an einem Baum. Er kam etwas schwankend heran. Ein Flaschenhals blinkte aus seiner Tasche. »Wir ha’m sie heute gesetzt«, erklärte er unter mächtigem Schluckauf. »Drüben steht sie.«

»Danke schön«, sagte Patrice Hollmann und wandte sich mir zu. »Riechen Sie es immer noch nicht?«

»Doch, jetzt rieche ich was«, antwortete ich widerwillig. »Guten, alten Kornschnaps.«

»Prima geraten!« Der Mann im Schatten rülpste gewaltig.

Ich spürte ganz gut den süßen, schweren Duft, der durch die weiche Dunkelheit schwamm; aber ich hätte es um alles in der Welt nicht zugegeben.

Das Mädchen lachte und dehnte sich in den Schultern. »Wie schön das ist, wenn man so lange im Zimmer gewesen ist! Zu schade, daß ich fort muß! Dieser Binding – immer eilig und im letzten Moment —, er hätte wirklich die Sache auf morgen verlegen können!«

»Binding?« fragte ich. »Sie sind mit Binding verabredet?«

Sie nickte. »Mit Binding und noch jemand. Auf diesen Jemand kommt es an. Ernsthaft geschäftlich. Können Sie sich das denken?«

»Nein«, erwiderte ich, »das kann ich mir nicht denken.«

Sie lachte und sprach weiter. Aber ich hörte nicht mehr zu. Binding – das war mir wie ein Blitz in die Knochen gefahren. Ich dachte nicht daran, daß sie ihn viel länger kannte als mich, ich sah nur überlebensgroß und strahlend seinen Buick, seinen teuren Anzug und sein Portemonnaie vor mir auftauchen. Meine arme, brave, geschmückte Bude! Was hatte ich mir da nur eingebildet! Die Hassesche Lampe, die Zalewskischen Sessel! Das Mädchen paßte ja überhaupt nicht zu mir! Was war ich denn schon? Ein Fußgänger, der sich mal einen Cadillac geborgt hatte, eine täppische Schnapsdrossel, nichts weiter! So was war an jeder Straßenecke zu finden. Ich sah bereits den Portier der »Traube« vor Binding salutieren, ich sah helle, warme, gepflegte Räume, Zigarettengewölk und elegante Leute, ich hörte Musik und Gelächter, Gelächter über mich. Zurück, dachte ich, rasch zurück! Eine Ahnung, eine Hoffnung – was war schon viel gewesen! Es war sinnlos, sich darauf einzulassen. Nichts wie zurück!

»Wir können uns morgen abend treffen, wenn Sie wollen«, sagte Patrice Hollmann.

»Morgen abend habe ich keine Zeit«, erwiderte ich.

»Oder übermorgen oder irgendwann in dieser Woche. Ich habe in den nächsten Tagen nichts vor.«

»Es wird schwierig sein«, sagte ich. »Wir haben heute einen eiligen Auftrag bekommen, da müssen wir wahrscheinlich die ganze Woche durch bis nachts arbeiten.«

Es war Schwindel, aber ich konnte nicht anders. Es steckte plötzlich zuviel Wut und Beschämung in mir.

Wir überquerten den Platz und gingen die Straße am Friedhof entlang. Aus der Richtung des International sah ich Rosa herankommen. Ihre hohen Stiefel glänzten. Ich hätte abbiegen können und hätte es sonst auch wohl getan – aber jetzt ging ich geradeaus weiter, ihr entgegen. Rosa sah an mir vorüber, als wären wir todfremd. Das war selbstverständlich; keines dieser Mädchen kannte einen auf der Straße, wenn man nicht allein war. »Tag, Rosa«, sagte ich.

Sie sah erst mich, darauf Patrice Hollmann verdutzt an, nickte dann hastig und ging verwirrt weiter. Ein paar Schritte hinter ihr kam Fritzi, die Handtasche schlenkernd, mit sehr roten Lippen und wiegenden Hüften. Sie schaute gleichgültig durch mich hindurch wie durch eine Fensterscheibe. »Grüß Gott, Fritzi«, sagte ich.

Sie neigte den Kopf wie eine Königin und verriet durch nichts ihr Erstaunen; aber ich hörte sie schneller gehen, als sie vorbei war – sie wollte mit Rosa den Fall besprechen. Ich hätte immer noch in eine Nebenstraße abbiegen können, denn ich wußte, daß auch die andern noch kamen – es war gerade die Zeit des ersten großen Patrouillenganges. Aber ich ging in einer Art Trotz geradeaus weiter – warum sollte ich ihnen aus dem Wege gehen; ich kannte sie ja viel besser als das Mädchen neben mir mit seinem Binding und seinem Buick. Sollte sie es ruhig sehen – gründlich sogar.

Sie kamen alle, die lange Laternenreihe entlang – Wally, die Schöne, blaß, schmal, elegant, Lina mit dem Holzbein, die stämmige Erna, Marion, das Küken, Margot mit den roten Backen, der schwule Kiki im Fehmantel und zum Schluß Mimi, die Großmutter mit den Krampfadern, die aussah wie ein ruppiger Uhu. Ich grüßte alle, und als wir dann noch an Muttchen mit dem Wurstkessel vorüberkamen, schüttelte ich ihr herzlich die Hand.

»Sie haben viele Bekannte hier«, sagte Patrice Hollmann nach einer Weile.

»Solche ja«, erwiderte ich bockig.

Ich merkte, daß sie mich ansah. »Ich glaube, wir müssen jetzt umkehren«, sagte sie.

»Ja«, erwiderte ich, »das glaube ich auch.«

Wir standen vor der Haustür. »Leben Sie wohl«, sagte ich, »und viel Vergnügen noch.«

Sie antwortete nicht. Mit ziemlicher Mühe brachte ich meine Augen von dem Klingelknopf an der Tür los und sah sie an. Und wahrhaftig – ich traute meinen Blicken nicht —, da stand sie, und anstatt gründlich eingeschnappt zu sein, zuckte es um ihren Mund, ihre Augen flimmerten, und dann lachte sie, herzlich und unbekümmert, sie lachte mich einfach aus. »Sie Kindskopf«, sagte sie, »o Gott, was sind Sie noch für ein Kindskopf!«

Ich starrte sie an. »Na ja…«, sagte ich dann, »immerhin« – und bekam auf einmal Sinn für die Situation – »Sie finden mich wohl etwas idiotisch, was?«

Sie lachte. Rasch machte ich einen Schritt vor und zog sie fest an mich, mochte sie denken, was sie wollte. Ihr Haar streifte meine Wange, ihr Gesicht war dicht vor mir, ich spürte den schwachen Pfirsichgeruch ihrer Haut – dann näherten sich ihre Augen, und ich fühlte plötzlich ihre Lippen auf meinem Mund —

Sie war fort, ehe ich richtig wußte, was los war.

Ich ging zurück und kam an Muttchens Wurstkessel vorbei.

»Gib mir mal eine große Bockwurst«, sagte ich strahlend.

»Mit Senf?« fragte Muttchen in ihrer sauberen, weißen Schürze.

»Mit sehr viel Senf, Muttchen!«

Ich aß die Wust genießerisch im Stehen auf und ließ mir aus dem International von Alois dazu ein Glas Bier herausreichen.

»Der Mensch ist ein komisches Wesen, Muttchen, was?« fragte ich.

»Das kannst du wohl glauben«, erwiderte sie eifrig. »Kommt da gestern ein Herr, ißt zwei Wiener mit Senf, und nachher kann er sie nicht bezahlen. Schön, es war spät, kein Mensch sonst da, was sollte ich machen, das kennt man ja, ich lasse ihn laufen. Und stell dir vor, heute kommt er wieder und bezahlt die Wiener und gibt mir noch ein Trinkgeld.«

»Eine Vorkriegsnatur, Muttchen. Wie steht das Geschäft denn sonst?«

»Schlecht! Gestern sieben Paar Wiener und neun Bockwürste. Weißt du, wenn ich die Mädchen nicht hätte, wäre ich schon längst fertig.« Die Mädchen waren die Huren, die Muttchen unterstützten, wo sie nur konnten. Wenn sie einen Freier gekapert hatten und es war irgendwie möglich, dann brachten sie ihn bei Muttchens Wurstkessel vorbei, um vorher noch eine Bockwurst zu essen, damit die alte Frau etwas verdiente.

»Jetzt wird’s ja bald wärmer«, erzählte Muttchen weiter, »aber im Winter, in der Nässe und in der Kälte – da kann man anziehen, was man will, man holt sich was weg.«

»Gib mir noch eine Bockwurst«, sagte ich, »ich habe so eine Lust am Leben. Und wie steht’s zu Hause?«

Sie sah mich mit ihren wasserhellen kleinen Augen an. »Immer dasselbe. Neulich hat er das Bett verkauft.«

Muttchen war verheiratet. Vor zehn Jahren war ihr Mann beim Aufspringen auf eine fahrende Untergrundbahn abgestürzt und überfahren worden. Man hatte ihm beide Beine abnehmen müssen. Das Unglück hatte eine merkwürdige Wirkung auf ihn gehabt. Er schämte sich vor seiner Frau als Krüppel so sehr, daß er nicht mehr mit ihr schlief. Im Krankenhaus hatte er sich außerdem an Morphium gewöhnt. Das brachte ihn rasch herunter, er geriet in homosexuelle Kreise, und bald trieb sich der Mann, der fünfzig Jahre normal gewesen war, nur noch mit schwulen Jungens herum. Vor denen schämte er sich nicht, weil sie Männer waren. Bei Frauen war er ein Krüppel, der glaubte, Ekel und Mitleid zu erregen – das ertrug er nicht —, bei Männern war er nur ein Mensch, der Unglück gehabt hatte. Um sich das Geld für die Jungens und für das Morphium zu verschaffen, nahm er Muttchen weg, was er fand, und verkaufte, was zu verkaufen war. Aber Muttchen hielt zu ihm, obschon er sie oft prügelte. Sie stand mit ihrem Sohn jede Nacht bis morgens um vier Uhr an ihrem Wurstkessel. Tagsüber wusch sie Wäsche und scheuerte Treppen. Sie war dauernd unterleibskrank und wog neunzig Pfund; aber man sah sie nie anders als freundlich. Sie glaubte, daß es ihr noch ganz gut ginge. Manchmal kam der Mann, wenn er sich elend fühlte, zu ihr und weinte. Das waren ihre schönsten Stunden.

»Hast du deinen feinen Posten noch?« fragte sie mich.

Ich nickte. »Ja, Muttchen. Ich verdiene jetzt gut.«

»Sieh man zu, daß du ihn hältst.«

»Werde schon aufpassen, Muttchen.«

Ich kam nach Hause. Auf dem Vorplatz stand, wie von Gott gerufen, das Dienstmädchen Frida. »Sie sind ein süßes Kind«, sagte ich, denn ich hatte Lust, etwas Gutes zu tun.

Sie machte ein Gesicht, als hätte sie Essig getrunken.

»Im Ernst!« fuhr ich fort. »Was hat das ewige Streiten für Zweck! Das Leben ist kurz, Frida, und voller Zufälle und Gefahren. Heute muß man zusammenstehen. Wollen uns vertragen!«

Sie übersah meine ausgestreckte Hand, murmelte etwas von verdammten Saufgurgeln und entschwand türendonnernd.

Ich klopfte bei Georg Block. Eine Lichtritze stand unter seiner Tür. Er büffelte. »Komm, Georgie, fressen«, sagte ich.

Er sah auf. Sein blasses Gesicht rötete sich. »Hab’ keinen Hunger.« Er dachte, es wäre aus Mitleid. Deshalb wollte er nicht.

»Sieh dir’s erst mal an«, sagte ich. »Es wird sonst schlecht. Tu mir den Gefallen.«

Als wir über den Korridor gingen, sah ich, daß die Tür Erna Bönigs einen Spalt offenstand. Dahinter hörte ich einen leisen Atem. Aha, dachte ich und hörte, wie bei Hasses ganz vorsichtig das Schloß schnappte und die Tür ebenfalls um einen Zentimeter nachgab. Die ganze Pension lauerte auf meine Kusine.

Im grellen Oberlicht der Bude standen die Brokatsessel von Frau Zalewski. Die Hassesche Lampe prangte, die Ananas leuchtete, die hochfeine Leberwurst, der Lachsschinken, die Flasche Sherry…

Als ich mit dem sprachlosen Georgie im besten Einhauen war, klopfte es an die Tür. Ich wußte, was jetzt kam. »Paß mal auf, Georgie«, flüsterte ich und rief: »Herein!«

Die Tür öffnete sich, und herein trat, funkelnd vor Neugier, Frau Zalewski. Zum erstenmal in meinem Leben brachte sie mir persönlich die Post, eine Drucksache, in der ich dringend zum Rohkostessen aufgefordert wurde. Sie war feenhaft aufgemacht; ganz große Dame aus früheren besseren Tagen, Spitzenkleid mit Fransenschal und Brosche mit dem Bild des seligen Zalewski als Medaillon. Ein zuckersüßes Lächeln gefror jäh auf ihrem Gesicht; verblüfft starrte sie auf den verlegenen Georgie. Ich brach in ein herzloses Gelächter aus. Sie faßte sich rasch. »Aha, versetzt«, sagte sie giftig.

»Stimmt«, gab ich zu, noch ganz versunken in ihre Aufmachung. Welch ein Glück, daß es mit der Einladung nichts geworden war.

Mutter Zalewski sah mich mißbilligend an. »Und da lachen Sie noch? Ich habe ja immer gesagt: Wo andere Menschen ein Herz haben, sitzt bei Ihnen eine Schnapsflasche.«

»Ein gutes Wort«, erwiderte ich. »Wollen Sie uns nicht ein wenig die Ehre geben, gnädige Frau?«

Sie zögerte. Aber dann siegte die Neugier, vielleicht doch noch etwas zu erfahren. Ich öffnete die Flasche Sherry.





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Роман «Три товарища» – одно из самых известных и читаемых произведений Э. М. Ремарка. История крепкой дружбы и верной любви покоряет читателей разных поколений. В книге приводится полный неадаптированный текст романа с оригинальной авторской орфографией.

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