Книга - Тотеnтаnz / Пляска смерти. Книга для чтения на немецком языке

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Тотеnтаnz / Пляска смерти. Книга для чтения на немецком языке
Bernhard Kellermann


Моderne Prosa
Действие романа «Пляска смерт». происходит в большом провинциальном немецком городе, где еще до прихода к власти Гитлера начинается процесс фашизации. Адвокат Фабиан, примыкающий к либеральной партии, долго противится давлению, которое на него оказывали нацисты, но, когда они приходят к власти, он вступает в их ряды, движимый желанием сделать карьеру. Отныне Фабиан наперекор личным желаниям и убеждениям становится проводником фашистской политики.

Среда немецкой антифашистской интеллигенции и ее трагедия изображены Келлерманом сильно и правдиво. Печать лично пережитого, заметная в романе, придает ему особую достоверность и большую разоблачительную силу.

В настоящем издании приводится неадаптированный текст романа на языке оригинала, снабженный комментариями и словарем. Печатается с сокращениями.





Bernhard Kellermann

Totentan





Все права защищены

© КАРО, 2008





Erstes Buch





I


Nach der Rückkehr aus seinem Krankheitsurlaub empfand Frank Fabian, Rechtsanwalt und Syndikus der Stadt, von der hier die Rede ist, mit großer Deutlichkeit die auffallenden Veränderungen, die in seiner Umgebung vor sich gegangen waren.

Der Nachtschnellzug, mit dem er damals ankam, hatte eine volle Stunde Verspätung, so dass er erst um ein Uhr seine Wohnung erreichte. Zu seiner Überraschung war Martha, das Mädchen, noch wach und öffnete die Tür, sobald er die Treppe heraufkam. Er drückte ihr herzhaft die Hand, indem er ihr dankte, dass sie wach geblieben war, und bat sie, ihm Rotwein ins Speisezimmer zu bringen.

«Meine Frau schläft wohl schon». fragte er, während er seinen Überzieher in der Diele ablegte. Er sprach mit gedämpfter Stimme, um seine Gemahlin, die nervös war und an Schlaflosigkeit litt, nicht aufzuwecken.

Ja, die gnädige Frau sei heute frühzeitig schlafen gegangen, antwortete Martha und versprach, den Rotwein sofort zu bringen.

Fabian befand sich in ausgezeichneter Laune. Er war froh, wieder zu Hause zu sein, und rieb sich vergnügt die Hände, während er die sommerliche Wärme in der Wohnung genoss. Sogar der sonderbare Geruch, den jede menschliche Behausung an sich hat, erfreute ihn. Nun schön, da war er also wieder!

Von der Diele begab er sich in sein Arbeitszimmer und schaltete alle Lampen ein. Alles war noch da, die bunte Bücherreihe seiner Bibliothek, auf die er stolz war, die wenigen Bilder und Kleinigkeiten, an denen er hing. Schon fühlte er sich zu Hause. Er liebte nichts mehr als seine Behaglichkeit und Ruhe. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel eingegangener Post, und er griff nach den Briefen, deren Abschriften er rasch überflog.

Auch die Arbeit wartet schon auf dich, sagte er befriedigt zu sich, während er sich in das Speisezimmer begab. Er konnte ohne Tätigkeit nicht leben, und die letzten müßigen Wochen des Urlaubs waren ihm zur Qual geworden.

Der Speisetisch war mit Blumen geschmückt und mit bestechenden Herrlichkeiten überladen. Kalter Braten und ein zerlegtes Brathuhn lagen auf einer kunstvoll garnierten Platte, umgeben von Schälchen mit allerlei Salaten und Leckerbissen. Fabian liebte es, gut zu speisen, und machte sich sofort, ausgehungert von der Reise, mit großem Appetit an die Mahlzeit.

«Und was gibt es sonst Neues in der Stadt, Martha». fragte er das Mädchen, das den Wein brachte. Er fragte eigentlich nur, um sich freundlich gegen das Mädchen zu zeigen, das so lange wach geblieben war. Martha, die schon gehen wollte, wandte sich ins Zimmer zurück und lächelte mit ihrem alten, verschlafenen Dienstbotengesicht. «Es gibt ja jetzt immer etwas Neue», antwortete sie und suchte in ihren Gedanken. «Dass Bürgermeister Krüger gehen musste[1 - Bürgermeister Krüger musste gehen – Бургомистру Крюгеру пришлось уйти со своего поста.], wissen Herr Doktor wohl schon».

Fabian fuhr zusammen, als habe er einen Stoß vor die Brust bekommen, und blickte das Mädchen mit offenem Munde an.

«Was haben Sie gesagt, Martha». fragte er ungläubig. «Wer musste gehen? Doktor Krüger musste gehen».

«Ja, Doktor Krüger musste von heute auf morgen[2 - von heute auf morgen – внезапно, вдруг] gehe», wiederholte das Mädchen.

Fabian fand noch immer kein Wort. Doktor Krüger war der erste Bürgermeister der Stadt, ein Freund und Studiengenosse Fabians. Er war bei allen Leuten geachtet und beliebt, außerordentlich tüchtig, und es ließ sich prächtig mit ihm zusammen arbeiten[3 - es ließ sich prächtig mit ihm zusammen arbeiten – с ним можно было отлично работать; с ним хорошо работалось]. Sein heiterer Optimismus ließ niemals Erschlaffung aufkommen, und Fabian hatte sich seiner besonderen Gunst erfreut.

«Ja, so sagen Sie mir nur, Marth», brachte er endlich hervor, «weshalb in aller Welt Doktor Krüger gehen musste? Weshalb denn».

Martha zuckte die Achseln und blickte zu Boden. «Man sagt, weil er Sozialdemokrat war».

Fabian lachte ärgerlich. «Krüger war Zentrum und niemals Sozialdemokrat». sagte er etwas lauter, als er wollte.

«Man sagt, er hatte soviel mit Sozialdemokraten zu tu», berichtigte das Mädchen.

Wieder lachte Fabian und schüttelte erregt den Kopf. «Nun, und wer ist denn an seine Stelle gekommen».

«Ein Herr Taubenhaus».

«Taubenhaus». fragte Fabian kopfschüttelnd. «Woher kommt er denn».

Martha zuckte die Achseln und zog sich zur Tür zurück. «Man sagt, er soll Beamter in einer kleinen Stadt in Pommern[4 - Pommern – Померания, историческая область] gewesen sein».

«In Pommern».

«Man sagt es. Ja, und dann soll das Kapuzinerkloster geschlossen werden, erzählt man sich».

Fabian lachte wiederum, diesmal aber mit gerunzelter Stirn. «Nun erzählen Sie wohl Märchen, Martha». sagte er ungläubig. «Das Kapuzinerkloster[5 - Kapuzinerkloster n – монастырь ордена капуцинов]».

Martha öffnete die Tür, da sie die Klingel auf dem Korridor gehört hatte. «Die Leute reden ja heute sehr vie», erwiderte sie achselzuckend. Dann fügte sie eilig hinzu: «Die gnädige Frau hat geklingel». und schlüpfte hinaus.

«Ich lasse meine Frau bestens grüßen, Marth», rief Fabian dem Mädchen nach. «Morgen früh werde ich ihr guten Tag sagen».

Die Ehe Fabian war seit längerer Zeit erschüttert. Die Gatten lagen in Scheidung, aber beide bewahrten vor der Welt noch freundschaftliche Formen.

Fabian goß sich ein Glas Rotwein ein und begann sich erneut an das Brathuhn zu machen. «Krüger musste gehe», murmelte er vor sich hin. Während er sich Tomatensalat auf den Teller legte, sagte er kopfschüttelnd: «Von heute auf morgen musste er gehen? Der arme Theo». Er nickte bedauernd mit dem Kopf. «Es ist schade um ihn, er war ein guter Junge. Gewiss hätte er mir auch im Januar mein Gehalt erhöht, wie».

Seine Müdigkeit war vergangen, und er war völlig wach geworden. Ja, es gingen Dinge vor sich im heiligen Deutschen Reich, es gingen wahrhaftig Dinge vor sich! Krüger entlassen, das Kapuzinerkloster vor der Auflösung, das verstand der Teufel!

Er nahm die Karaffe mit Rotwein und das Glas an sich und kehrte wieder in sein Arbeitszimmer zurück, um nach langer Abwesenheit noch eine Stunde der Stille in seinem Heim zu genießen. Aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mit der Ruhe war es vorbei. Immer wieder kehrte der Gedanke in seinem Kopf zurück, dass Dinge im heiligen Deutschen Reich vor sich gingen, unbegreifliche, überraschende und verwirrende Dinge!

Schließlich griff er nach einer Zigarre und ließ sich in einem bequemen Sessel nieder. Er streckte die Beine lässig von sich und dachte nach.

Ja, man sah sie schon seit langer Zeit in der Stadt herumlaufen. In ihren brauen Uniformen und hohen Reitstiefeln, als wären sie soeben von Schlachtrossen gestiegen, Lederriemen um die Schulter, erschienen sie halb wie Landsknechte, halb wie Cowboys. Sie sahen gut aus, man mochte sagen, was man wollte, stark, kräftig, mutig, tatendurstig, manche sogar verwegen. Sie benahmen sich im allgemeinen gesittet, manchmal etwas derb und ungehobelt, aber die Stadt hatte sich längst an sie gewöhnt. Erst waren es ihrer nur wenige, so dass die Leute sich nach ihnen umblickten, dann wurden ihrer immer mehr und mehr, aber auch an sie gewöhnte man sich. Nur wenn sie in ganzen Rudeln ankamen und mit ihren Sammelbüchsen[6 - Sammelbüchse f – банка или коробка для сбора пожертвований] rasselten, erregten sie noch Aufsehen, und manche Leute, die ihre Groschen schwer verdienten, wichen den rasselnden Büchsen aus. Er selbst hatte stets etwas Kleingeld bereitgehalten – man sollte nicht auf den Gedanken kommen, dass er sich ostentativ abseits halte, nein, es lohnte ja gar nicht die Mühe.

Auch heute im Zug hatte er sie wieder gesehen. Sie nahmen zwei Tische im Speisewagen ein und taten laut und anmaßend. Es waren zumeist junge, frische Leute, die von irgendeiner Tagung kamen, die ihnen neue Impulse einflößte. Manchmal schrien sie untereinander, und dann gingen ihre Blicke keck und herausfordernd über die anderen Gäste hin. Ohne Zweifel, ihr Selbstbewusstsein war in den vier Monaten seines Urlaubs überraschend gestiegen und ihr Machtanspruch auffallend gewachsen. Es sah ganz so aus, als seien sie über Nacht eine Macht im Staate geworden!

Fabian erhob sich und machte einige Schritte durchs Zimmer. Dann warf er sich wieder in den Sessel und überließ sich von neuem seinen Gedanken. Gut, erst waren es die sozialistischen Parteien, die ihnen nicht behagten, dann die bürgerlichen bis zu den konservativen, aber noch nicht genug, dann waren die Kirchen ihrer Machtgier im Wege. Sogar hier in der Stadt begannen sie Krieg mit den harmlosen Kapuzinern, die keiner Fliege etwas zuleide tun[7 - keiner Fliege etwas zuleide tun – мухи не обидеть]. Ohne jeden Zweifel hatte die Partei in den vier Monaten weitere und immer weitere Kreise in ihren Ansprüchen gezogen, sie war mächtiger und stärker geworden! Und er hatte geglaubt, sie würde in ein, zwei Jahren abgewirtschaftet haben wie andere Parteien vor ihr. Fabian lachte still in sich hinein. Welch ein Irrtum, welch ein unbegreiflicher Irrtum! Gottlob, dachte er, bin ich nicht der einzige, der diesen Irrtum beging, es waren viel Klügere darunter, gottlob.

Es wird ja auch allmählich Zeit, zu Bett zu gehen, sagte er sich. Morgen wirst du alles mit ruhigen und klaren Augen betrachten. Morgen beginnt so etwas wie ein ganz neuer Tag! Er gähnte, ja, nun war er in Wahrheit jämmerlich müde.

Er schaltete die Deckenlampen aus. Morgen wirst du auch Clotilde begrüßen, nicht wahr? Erst jetzt kam ihm wieder seine Frau in den Sinn und der unselige Konflikt, der seine Ehe bedrohte. Nun, Clotilde wird sich in den vier Monaten wohl alles gründlich überlegt haben, Zeit genug hatte sie dazu. Wir werden es ja sehen, morgen wird es sich zeigen! Wenn sie aber auch jetzt noch auf der Trennung bestehen sollte?

Er hielt inne und lauschte in sein Inneres. Wie eigentümlich, dachte er, dass ich jetzt in aller Ruhe darüber nachdenken kann, während ich im Sanatorium schlaflose Nächte darüber verbrachte? Er stand eine Weile am Schreibtisch, müde und fast taumelnd. Wenn sie aber auch nach diesen vier Monaten noch auf der Trennung bestehen sollte, dachte er weiter, wenn sie es unbedingt, trotz der beiden Jungen, so haben will? Nun, dann soll sie eben die Trennung haben!

Er runzelte die Brauen und staunte selbst über seine Entschlossenheit. Nun schön, Clotildes Wille war noch immer Clotildes Himmelreich.

Er war zu müde, um irgendwelche Bitterkeit oder sonst irgend etwas zu empfinden, und begab sich in sein Schlafzimmer.




II


Neu gestärkt und voller Zuversicht erwachte Fabian am Morgen. Er machte Toilette und kleidete sich mit großer Sorgfalt an, wobei er sich aufmerksam im Spiegel musterte. Er war zufrieden mit sich, die Kur hatte einen neuen Menschen aus ihm gemacht! Da es schon auf zehn Uhr ging, beeilte er sich beim Frühstück, das er wie gewöhnlich allein im Speisezimmer einnahm. Sein Urlaub ging morgen zu Ende, er wollte sich aber schon heute eine Stunde in seinem Büro einfinden. Übrigens hatte er an diesem ersten Tag nach langer Abwesenheit alle Hände voll zu tun[8 - alle Hände voll zu tun haben – быть очень занятым].

Als er sich dem Zimmer seiner Frau näherte, um sie zu begrüßen, hörte er fröhliches Geplauder und Lachen. Clotilde hatte Besuch. Das war ihm für die erste Begegnung nur angenehm, denn Clotilde pflegte in Gegenwart von Besuch gewöhnlich liebenswürdiger zu ihm zu sein, als wenn er sie allein antraf, wo sie ihn gern ihre Laune fühlen ließ.

«Wer ist da». fragte er Martha, die aus der Küche herausblickte, als sie seine Schritte im Korridor vernahm.

«Baronin Thünen ist soeben gekomme», antwortete das Mädchen.

Er trat ein. Clotilde reichte ihm die Hand zum Kusse, und die Begrüßung spielte sich in einer Weise ab, dass jedermann glauben musste, die Gatten hätten sich schon gestern abend gesehen.

Clotilde trug ein neues auffallendes Morgenkleid und kokette lackrote Pantöffelchen, die ihre zierlichen Füße gut zur Geltung brachten[9 - etwas zur Geltung bringen – выставить что-л. на показ]. Das blonde Haar trug sie in einem lockeren, verschwenderischen Schopf, unter dem ihre Augen von blassem Blau schimmerten. Es waren jene betörenden Vergissmeinnichtaugen, die Fabian einst zu lyrischen Ergüssen begeistert hatten. Das war nun schon viele Jahre her.

Ihr gegenüber saß Baronin von Thünen, deren helle Augen ihn erfreut grüßten.

Die Baronin, überschäumend von Lebendigkeit und Frische, lag in einem niedrigen Sessel, ein sehr flottes winziges Hütchen mit stahlblauen Federn auf leicht ergrauten Haaren. Dieses flotte Hütchen war die Ursache gewesen, weshalb sie der Freundin einen Morgenbesuch machte. Die Baronin war an die Fünfzig[10 - Die Baronin war an die Fünfzig – Баронессе было около пятидесяти], sah aber noch immer recht jugendlich aus, und niemand konnte ihr ansehen, dass sie bereits einen erwachsenen Sohn hatte, der um einen Kopf größer war als sie selbst. Er war Oberleutnant.

«Du wirst eine Tasse Tee mit uns nehmen, Frank, und uns einen Augenblick Gesellschaft leiste», bestimmte Clotilde und klingelte nach dem Mädchen, ohne Fabians Zusage abzuwarten. «Baronin Thünen war so reizend, auf einen Sprung zu mir heraufzukommen».

«Ich ahnte ja nicht, dass Ihr Urlaub heute zu Ende ist, mein verehrter Freun», rief Frau von Thünen lebhaft aus und lächelte ihr etwas geziertes Lächeln, das sie stets annahm, wenn ein Mann anwesend war.

«Meine erste Begegnung in der Stadt könnte nicht angenehmer sein, Baroni», entgegnete Frank mit einer jener höflichen Redensarten, wie er sie liebte.

Er hatte sofort gesehen, dass Clotilde während seines Urlaubs ihr Vorzimmer, das sie Boudoir nannte, neu tapezieren ließ. Sie hatte eine helle, goldfarbene Tapete mit großen Chrysanthemen gewählt, von der sie schon lange schwärmte. Die großen lachsfarbenen Blüten wirkten etwas unruhig, passten aber vorzüglich zu ihrem Morgenkleid, zu den wenigen niedrigen Sesseln, die im Zimmer standen, und dem kleinen gelben indischen Teppich, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

«Vergiss nicht, die Baronin zu beglückwünsche», begann Clotilde mit einem liebenswürdigen Lächeln, das jedermann täuschen könnte, nur Fabian nicht. «Herr Oberst von Thünen wurde zum Standartenführer[11 - Standartenführer m – штандартенфюрер, полковник войск СС в фашистской Германии] ernannt».

Fabian verbeugte sich. «Meinen aufrichtigen Glückwunsch, Baronin». rief er aus, aber seiner Stimme hörte man eine leichte Enttäuschung an. Er hatte geglaubt, der Oberst sei mindestens zum General befördert worden. «Herr Oberst von Thünen hatte ja schon lange die Absicht, seine großen Fähigkeiten der Partei zur Verfügung zu stellen».

Die Baronin nickte eifrig, und die stahlblauen Federn auf ihrem Hütchen schillerten. «Ja, das hatte e», versicherte sie mit verzückten Augen. «Er war ja von jeher ein begeisterter Anhänger der Bewegung und bewarb sich schon seit langem um einen Posten, der seinem Rang als Oberst entsprach. Natürlich griff er jetzt sofort zu. „Man muss dabeisein“, sagte er. „Als Patriot und Offizier erblicke ich meine Pflicht darin, mich der Bewegung mit Haut und Haaren zur Verfügung zu stellen. Wenn die Ney[12 - Ney – Ней, маршал Франции, участник наполеоновских войн] und Murat[13 - Murat – Мюрат, маршал Франции, участник всех наполеоновских войн] sich so lange besonnen hätten, bis Napoleon Cäsar wurde, wären sie nicht Marschälle und Könige geworden, sondern kleine Korporale geblieben.». Sie lachte ein helles Lachen, das ebenfalls sehr jugendlich klang. «Sie können sich nicht vorstellen, wie glücklich der Oberst is», fuhr sie fort. «Jetzt hat er wenigstens wieder etwas zu tun. Pensionierte Offiziere ohne Tätigkeit müssen ja rapide verkalken. Ich gebe Ihnen mein Wort, der Oberst ist um zwanzig Jahre jünger geworden».

Fabian drückte seine Freude aus. Oberst von Thünen war ein Offizier von altem preußischem Schlag[14 - ein Offizier vom alten preußischen Schlag sein – офицер старого прусского закала], dessen Aufrichtigkeit und Offenheit er bewunderte. Er machte keinen Hehl aus seiner kaiserlichen Gesinnung[15 - Er machte keinen Hehl aus seiner kaiserlichen Gesinnung – он не скрывал своих монархических убеждений], seinen imperialistischen Ansichten und seiner Abneigung gegen die Republik. Im Weltkrieg hatte er mit großem Erfolg ein Regiment geführt und war wiederholt im Heeresbericht erwähnt worden. Eine schwere Verwundung hatte seiner Karriere ein Ende gemacht.

Die Baronin fuhr mit großem Eifer fort: «Auch Wolf, meinen Jungen, hat er mit seiner Begeisterung angesteckt. Er predigt ihm täglich, wer heute in Deutschland nicht seinen Weg macht, sei entweder ein Esel oder ein vaterlandsloser Geselle. „Deutschlands große Stunde hat geschlagen“, wiederholt der Oberst jeden Tag ein paarmal. Ja, bei Gott, wir leben in einer herrlichen Zeit, einer wundervollen, großen Zeit, nicht wahr? Ich wundere mich auch sehr, mein verehrter Freun», wandte sie sich an Fabian mit ihrem gewinnendsten Lächeln, «dass Sie, gerade Sie, sich bis heute noch nicht positiv erklärt haben». Sie schüttelte den Kopf, und ihre hellen Augen betrachteten ihn mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens.

Fabian wurde verlegen. Er setzte sich in den Sessel zurück und legte die Hände wie zum Gebet aneinander, wie es seine Gewohnheit war, wenn er einen längeren Vortrag halten wollte. «Sie wiederholen den Wunsch Clotildes, Baroni», begann er lächelnd. «Sie hat diese Frage schon oft mit der gleichen Ungeduld an mich gerichtet».

«Ich würde mich auch heftig wundern, wenn sie es nicht getan hätt», rief die Baronin lachend aus und griff mit ihren zarten Fingern nach einer Zigarette.

«Ich befürchte nur, Frank fehlt es an der nötigen Wendigkeit, Baroni», warf Clotilde ein.

«Wendigkeit». Die Baronin schnellte entzückt im Sessel empor. «Ja, das ist das richtige Wort für unsere Tage. Wendigkeit! Alle Schwerfälligkeit ist heute ein Fehler, ein Vergehen, das völlig, aber auch völlig unverzeihlich ist».

Clotilde hatte sich offenbar vorgenommen, heute die liebenswürdige Gattin zu spielen. Sie lächelte Fabian sogar zu, wenn er auch die Aufrichtigkeit ihres Lächelns bezweifelte. «Ich befürchte nur, Frank kann seine alte Anhänglichkeit an frühere politische Parteien nicht völlig überwinde», sagte sie.

Fabian lachte. Dann versicherte er, dass ihn keineswegs so innige Beziehungen mit politischen Parteien verbunden hätten. Er habe einige Jahre der Deutschnationalen Partei[16 - Deutschnationale Partei (Deutschnationale Volkspartei) – немецкая национальная партия, основана в 1918 г.] nahegestanden, habe sich aber später dem Zentrum zugewandt, dem er ja als Katholik zuneigte, all das seien Bindungen höchst bedeutungsloser Natur gewesen. «Ich erklärte Clotilde wiederhol», fuhr er fort, «dass Übereilung nie meine Sache war und ich meine Gründe hätte zu warten, bis eine gewisse..».

«Warten? Warten». unterbrach ihn die Baronin, so heiter auflachend, dass es fast unhöflich klang. Ihr helles Lachen klang in der Tat wie das eines jungen Mädchens. «Aber ich bitte Sie, verehrter Freund». sagte sie mit liebenswürdigem Vorwurf. «Wie kann man denn da noch lange zögern! Hören Sie, was der Oberst täglich wiederholt. Er sagt: „Ein Genie ist Deutschland geboren worden, aber die Deutschen haben nie ein Genie erkannt, und auch heute scheint sich bei vielen unserer Landsleute das alte Erbübel zu wiederholen.». Sie sah Fabian noch immer lächelnd an, aber in ihr Lächeln mischte sich schon nachsichtiges Bedauern. «Und dieses Erbübel, mein Freund, ist die tragische Ursache, dass Deutschland heute nicht die Stellung in der Welt einnimmt, die ihm zukommt».

Fabian errötete.

«Verzeihen Sie, Baroni», sagte er. Er lehnte sich wieder in den Sessel zurück und führte wortreich aus, dass das Thema viel zu ernst und lebenswichtig sei, als dass man darüber mit flüchtigen Redensarten hinweggehen könne. Er habe lediglich warten wollen, bis die Entwicklung der Dinge ein klares Bild zulasse. Schließlich sei es doch die Pflicht eines jeden einzelnen, seine Überzeugungen zu überprüfen, nicht wahr? Er könnte sonst in den Verdacht der Opportunität kommen, die man heute schon vielen vorwarf. Die beiden Damen nickten. Gewiss habe er recht! Sie drückten durch ihre Haltung die Geneigtheit aus, ihm zuzuhören. Frau von Thünen betrachtete aufmerksam die glitzernden Steine an ihren Fingern und ließ sie leicht im Lichte funkeln. Clotilde nahm eine Zigarette und blies den Rauch aus den zugespitzten Lippen, während sie ihn von der Seite betrachtete.

«Abgesehen davo», schloss Fabian, der mehr und mehr seine Sicherheit zurückfand, «befand ich mich in einer Lage, die eine besonders reifliche Überlegung erforderte. Ich bin Katholik und Offizier».

Er hielt inne. Man sah ihm an, dass er seine stärksten Trümpfe ausgespielt hatte.




III


Frau von Thünen ließ weiter ihre Ringe funkeln, richtete sie an ihren Fingern und nickte. Dann blickte sie mit ihren kleinen raschen Augen zu Fabian auf.

«Gewiss, ich versteh», sagte sie. «Ich stamme aus einem Geschlecht von Offizieren und hohen Beamten, nebenbei bemerkt aus gut protestantischem Hause. Die Achtung vor allen Konfessionen liegt uns im Blut», beteuerte sie. «Ich frage mich aber, welche Haltung in der Bewegung – sie sprach stets von der Bewegung, nie von der Partei —, welche antikatholische Haltung konnten Sie denn in der Bewegung entdecken».

Es war nicht leicht, die Antwort klar und taktvoll zu formulieren. «Es schien mi», sagte Fabian dann, «als ob ich eine positiv christliche Haltung nicht in ihr finden könnte».

Wieder erstrahlte Frau von Thünens freundlichstes Lächeln. Sie nahm eine Zigarette aus der Schale auf dem Teetisch. «Scheint es Ihnen nicht positiv christlich genu», fragte sie, «dass die Bewegung stark antikommunistisch eingestellt ist? Für mich aber und für viele ist Kommunismus nichts als klarstes Antichristentum». Sie lächelte triumphierend und setzte die Zigarette in Brand.

Clotilde zuckte die Achseln. Mit einem Lächeln, aber mit einem kühlen Blick auf ihren Gatten, warf sie ein: «Um die Wahrheit zu sagen, macht sich ja Frank nichts aus der katholischen Kirche. Er besucht nur selten eine Messe und geht nicht einmal zur Beichte. Der Katholizismus ist ihm im Grunde völlig gleichgültig». Wiederum ließ sie ihr etwas leeres Lachen erklingen. Sooft Clotilde der Unterstützung eines Anwesenden sicher war, fand sie, wie viele Frauen, den Mut, ihn anzugreifen. In solchen Fällen ging sie sogar oft so weit, ihn zu desavourieren.

«Du erlaubst, Clotild», entgegnete Fabian höflich, «man kann religiöse Gefühle auch besitzen, ohne Frömmigkeit zu zeigen, nicht wahr».

Die Baronin nickte. «Natürlic», stimmte sie zu. «Trotz alledem kann ich den Katholizismus nicht gelten lassen, noch weniger aber den Offizier. Sie wissen, mein Mann ist aktiver Militär und Oberst. Ich glaube mich recht zu erinnern, dass Sie Hauptmann der Reserve sind, verehrter Freund».

Fabian richtete sich unwillkürlich auf, als sie seinen militärischen Rang erwähnte. Er war begeisterter Soldat gewesen und hatte den Weltkrieg mit Auszeichnung mitgemacht.

«Aber urteilen Sie selbst, Verehrteste», fuhr die Baronin fort, und die Ringe an ihren Händen blitzten, «ging es denn so weiter? Heute streikte die Straßenbahn und morgen das Elektrizitätswerk, und man hatte kein Licht. Wie frech und unverschämt wurden doch die Handwerker! Ein wenig Sozialismus lasse ich mir ja gefallen, aber was zuviel ist, ist zuviel. Heute gibt es das alles nicht mehr. Die Großindustrie hat nicht umsonst Milllionen geopfert, um der Bewegung in den Sattel zu helfen».

«Die Großindustrie hat es wohl in erster Linie aus patriotischen Gründen getan». warf Fabian ein.

«Ja gewiss, in erster Linie aus patriotischen Gründen, natürlic», «stimmte die Baronin be».. «Aber das Überhandnehmen des sozialistischen Einflusses spielte natürlich ebenfalls eine wichtige Rolle. Wo es um Millionen geht, verehrter Freund, da genügen Ideale allein nicht. Die Diktatur der Arbeiter und Gewerkschaften musste ebenfalls gebrochen werden». Die Baronin stieß abermals eine Rauchwolke in die Luft. Die Erregung hatte ihre Wangen gefärbt. «Und Sie, verehrter Freund, Sie sollten zurückstehen? Ein Mann Ihrer Begabung, ich bitte Sie? Das größte Rednertalent der Stadt? Es gibt noch Tausende hier, die sich an Ihre berühmte Rede im Rathaussaal zur Feier der Befreiungskriege[17 - Befreiungskriege – освободительные антинаполеоновские войны 1813-1815 гг.] erinnern. Und dazu gehöre ich». Sie deutete auf ihre Brust. «Ich».

Fabian machte eine kleine Verbeugung. «Ihre allzu große Liebenswürdigkeit, Baronin..».

Aber die Baronin fiel ihm lächelnd ins Wort. «Nein, sagen Sie das nicht! Man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen[18 - Man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. – Нельзя зарывать свой талант в землю.]. Auf keinen Fall dürfen Sie, um es geradeheraus zu sagen, zurückstehen. Sie sind es dem Lande schuldig, Sie sind es Clotilde schuldig».

Clotilde, die hinter der Baronin neuen Tee eingoß, richtete ihre Augen mit kaum erkennbarem Spott auf Fabian. «An mich, Beste, soll er gar nicht denke», sagte sie. «Das erwartet ja kein Mensch von ihm, ich am allerwenigsten. Aber vielleicht wäre es angebracht, ihn an seine beiden Jungen zu erinnern? Ein Vater, sollte man meinen, hat schließlich die Pflicht, an die Zukunft seiner Söhne zu denken».

Die Erwähnung seiner beiden Jungen, die er leidenschaftlich liebte, brachte Fabian in Verwirrung.

Die Baronin aber griff das Argument sofort auf. «Einem Vater, der seine Söhne so vergöttert wie unser Freund, braucht man das nicht erst zu sagen, meine Lieb», rief sie aus. «Jeder Mann von einiger Erziehung weiß, dass es seine oberste Pflicht ist, für seine Familie zu sorgen. Denken Sie an den neuen Herrn Taubenhaus, der aus einer winzigen pommerschen Stadt hierhergekommen ist. Denken Sie an Doktor Sandkuhl, der plötzlich Chefarzt des Krankenhauses wurde, denken..».

Das Telefon klingelte. Clotilde eilte an den Apparat. Es handelte sich um einen Ausflug zu Pferd, der am Nachmittag stattfinden sollte, und Clothilde sagte freudig zu.

Fabian benützte die Gelegenheit, sich zu erheben. «Denken Si», griff die Baronin den Faden des Gesprächs wieder auf, als Clotilde den Hörer des Telefons ablegte, «denken Sie an den Karpfenwirt! Ja, an ihn denken Sie! Er war ein einfacher Gastwirtssohn, dessen Vater das Wirtshaus „Zum Karpfen“ besaß. Heute ist er, nun, was glauben Sie? Er ist Gauleiter! Ein Fürst, ein unumschränkter Herrscher, mehr als das. Ich werde Ihnen die Geschichte von Hans Rumpf erzählen..».

Fabian unterbrach sie. Er verbeugte sich. «Ich bedauere unendlich, mich der Gesellschaft der Damen berauben zu müsse», sagte er, «ich habe hundert dringende Geschäfte».

Er ging rasch durch den Korridor. Das helle Lachen Clotildes schlug an sein Ohr.




IV


Fabian verließ rasch das Haus. Mit der gelben schweinsledernen Aktentasche unter dem Arm eilte er durch die Strassen. Er wurde häufig gegrüßt und zog selbst ununterbrochen den Hut. Die ganze Stadt kannte ihn und seine gelbe Aktentasche, denn er gehörte allen angesehenen Vereinen an, dem Musik- und Theaterverein, dem Tennisklub, dem Männerquartett, dem Verschönerungsverein und wie sie alle hießen. In den meisten dieser Gesellschaften bekleidete er irgendein Ehrenamt. Es gab auch keine öffentliche Veranstaltung in der Stadt, bei der er nicht eine Rolle gespielt hätte.

Das städtische Treiben gefiel ihm und ließ ihn die vielen Monate Kuraufenthalt in einem langweiligen Herzbad vergessen. Das Hupen der Autos, das Klingeln der Trambahnen, die dahineilenden Menschen erfüllten ihn mit einem neuen, starken Lebensgefühl.

Fabian war ein gutaussehender Mann, stattlich und mit vorzüglicher Haltung. Mit seinen vom Urlaub gebräunten Wangen, seinen lockeren braunen Haaren und seinen frischen graublauen Augen war er eigentlich zu hübsch für einen Mann. Dazu galt er für einen der bestgekleideten Männer der Stadt, der die peinlichste Sorgfalt auf sein Äußeres verwendete.

Die Stadt schien sich während seiner Abwesenheit nicht im geringsten verändert zu haben, und erst als er aufmerksamer hinsah, bemerkte er eine Wandlung in vielen Dingen.

Der Buchhändler Dillinger, der auch sein Lieferant war, hatte sich vergrößert und den Nachbarladen dazugenommen. War es nicht erstaunlich? Früher schien dieser Dillinger Demokrat mit stark sozialistischer Färbung zu sein, manche nannten ihn sogar einen Kommunisten, und jetzt hatte er sein Schaufenster voller Parteiblätter und Postkarten der heutigen Machthaber. Selbst in dem Schaufenster des Juweliers Nicolai entdeckte er eine Führerbüste, die unter einem Lorbeerbäumchen stand. Einige Häuser weiter war die Auslage des Schneiders März, angefüllt mit gelben und braunen Tuchrollen. Oder sah er sie heute das erste Mal?

Auch sonst entdeckte er noch da und dort Embleme, Abzeichen, Photographien und Führerbüsten, aber vielleicht waren sie ihm früher gar nicht aufgefallen?

Dann bog er zum Rathausplatz ein, auf dem, wie jeden Mittwoch und Sonnabend, Wochenmarkt abgehalten wurde. Er blieb stehen, um sich an dem geschäftigen Treiben zu erfreuen und die Sonne zu genießen. Dann suchte er sich den Weg zwischen Hausfrauen, Bauernweibern und Stapeln von Gemüsekörben, um zu seinem Lieblingsbrunnen zu gelangen, der in einer Ecke des Platzes stand. Seit Jahren hatte er ihn täglich erblickt, und es war selbstverständlich, dass er ihn heute mit besonderer Freude, wie einen alten Freund, begrüßte. Eine schlanke Jünglingsgestalt, die auf dem Becken des Brunnens stand, spiegelte sich träumerisch in der Wasserfläche, der Brunnen wurde Narzissbrunnen genannt. Auf dem Marmorbecken war mit deutlichen Lettern sein Name eingemeißelt. Der Brunnen stammte von seinem Bruder Wolfgang, den er liebte und bewunderte.

Wahrhaftig, es war eine Schande, dass er Wolfgang nicht mehr als einige flüchtige Karten aus seinem Urlaub geschrieben hatte! Er machte sich Vorwürfe und beschloss, seinen Bruder heute als ersten zu besuchen, mochten alle anderen sich noch etwas gedulden.

Das Rathaus, das nur einige Schritt vom Marktplatz entfernt lag, war ein modernes Barockgebäude, das prunkvoll und verschwenderisch gebaut war und doch einen nüchternen und leeren Eindruck machte. In einiger Entfernung von der breiten, repräsentativen Haupttreppe führte ein zweiter, schmaler Eingang hinauf zu den Büroräumen. Diesen benutzte Fabian, der die Rechtsabteilung der Stadt leitete, daneben aber noch eine umfangreiche Praxis als Rechtsanwalt betrieb. Er stieg eilig die Treppe zu seinen Amtsräumen empor, ohne jemand in dem kahlen, frostigen Treppenaufgang zu begegnen.

Als er aber die Tür seines Büros aufsperren wollte, fand er, dass von innen schon ein Schlüssel steckte. Er trat verwirrt zurück. Hatte er sich im Stockwerk getäuscht? In diesem Augenblick näherten sich Schritte, die Tür wurde geöffnet, und ein junger, hochaufgeschossener Mann stand vor ihm. Er hatte ein langgezogenes, hölzernes Gesicht, und besonders an den Wangen glaubte man noch die derbe Arbeit des Schnitzmessers zu erkennen. Sein Teint war unrein und der eines verbummelten Menschen.

«Sie wünschen». fragte der junge Mann mit dem hölzernen Gesicht frostig und rauh, wobei er ihn von oben herab musterte.

Fabian blickte ihn mit offenem Munde und albernem Gesichtsausdruck an. Er glaubte zu träumen und suchte sich angestrengt das rätselhafte Erscheinen des jungen Mannes zu erklären, der fast einen Kopf größer war als er.

Während er langsam zurückwich, blickte er in das unbewegte, gefrorene und dabei hochmütige Gesicht des jungen Mannes, und in dieser Sekunde glaubte er ihn zu erkennen. Dieser junge Mann war einmal Rechtsgehilfe bei Justizrat Schwabach gewesen, eine Art Praktikant und Volontär, den er einige Male kurz in irgendeiner juristischen Frage gesprochen hatte. Er hieß Schillinger oder so ähnlich. Soviel er sich erinnerte, war er ein verkommener Student, der sich keines besonders guten Rufes erfreute und nur wenige Prüfungen mit Ach und Krach bestanden hatte. Justizrat Schwabach, der keiner Fliege ein Leid antun konnte, hatte ihn einige Zeit aus lauter Gutmütigkeit oder irgendwelchen anderen Gründen beschäftigt. Er galt seit langer Zeit als fanatischer Parteianhänger, und Fabian erinnerte sich nun, ihn öfter mit der Sammelbüchse getroffen zu haben.

«Herr Schillinger – wenn ich nicht irre». sagte er endlich, «Sie sehen, dass ich einigermaßen erstaunt bin». Im gleichen Augenblick fand er seine Fassung zurück, und es gelang ihm sogar sein bestechendes Lächeln.

Der lange junge Mann machte eine steife Verbeugung, es sah aus, als verbeuge sich nur der Oberkörper, während der Unterkörper unbeweglich blieb. Gleichzeitig verzog er die wulstigen Lippen, was ein Lächeln bedeuten sollte. «Schilling, ich bitt», antwortete er kühl. «Wenn ich nicht irre, Herr Doktor Fabian». Da Fabian nickte, öffnete er die Tür weiter und lud ihn mit einer ungelenken Bewegung ein, einzutreten. Mit etwas freundlicherer Stimme setzte er hinzu: «Bitte treten Sie ein. Ich bin seit einer Woche zum Leiter der Rechtsabteilung ernannt worden. Über Ihre persönliche Verwendung gibt wohl der Brief Auskunft, der für Sie seit vielen Tagen bereitliegt». Der junge Mann ging mit steifen großen Schritten zum Schreibtisch und überreichte Fabian einen Brief in einem braunen Umschlag, der sofort als amtlich zu erkennen war. «Darf ich bitten».

Fabian fühlte, wie seine Knie schwach wurden und sein Herz heftig pochte. Dieses Herz, da sieht man es wieder, ganz gesund werde ich wohl nie mehr werden, ging es ihm durch den Kopf. Schlimme Ahnungen erfüllten ihn.

«Wir haben uns zuweilen bei Justizrat Schwabach gesprochen, Herr Kollege Schilling». sagte er zu seinem eigenen Erstaunen sehr ruhig, indem er den Brief entgegennahm. «Aber Sie waren doch lange Zeit vom Justizrat weg, glaube ich». fügte er hinzu, in einem Ton, als wolle er ein langes Gespräch einleiten.

«Ich habe einige Prüfungen nachgehol», entgegnete Schilling und wandte den Blick den hohen Fenstern zu, um anzudeuten, dass er keine Lust zu einem langen Geschräch habe. Er wandte sogar den Kopf zur Seite, so dass Fabian die Pickel und unreinen Pusteln auf seiner Wange erkennen konnte.

«Einen Augenblick darf ich wohl noch stören? Es ist ja ein dienstliches Schreibe», wandte er sich höflich an den jungen Mann.

«Aber ich bitt», erwiderte Schilling gleichgültig, ohne den Blick zu wenden. Ohne jede Rücksicht deutete er Fabian an, dass er ihn möglichst rasch wieder los sein wollte.

Schon aber hatte Fabian das Schreiben überflogen: Er war bis auf weiteres beurlaubt und sollte sich zu weiterer Verfügung bereit halten. Und da stand auch der Name des neuen Herrn, den Fabian gestern zum erstenmal gehört hatte: Taubenhaus.

Fabian erblasste. Seine schlimmen Ahnungen hatten sich erfüllt. Aber er sammelte sich rasch, trat auf den jungen Mann zu und reichte ihm die Hand. «Herzlichen Dank, Herr Schillin», sagte er in liebenswürdigem Ton und fügte hinzu: «Wenn Sie beim Durchsehen der Akten auf den einen oder anderen Punkt stoßen, über den Ihnen eine Aufklärung nötig erscheint, so klingeln Sie mich einfach an, ich stehe Ihnen gern zur Verfügung. In der Sache Kraus und Söhne zum Beispiel sind ja die Wasserrechte reichlich verworren».

Trotz der Erregung, die ihn erfasst hatte, gelang es ihm, in kühler Sachlichkeit mit dem jungen Mann zu sprechen, der von triumphierender Schadenfreude bis zum Rande angefüllt war. «Vielen Dan», sagte der junge Mann, ohne Fabian eines Blickes zu würdigen. «Ich werde Sie von Fall zu Fall anrufen, schön. Die Sache Kraus und Söhne ist ja schon lange nicht aktuell, die Firma ist doch jüdisch». Er machte wieder eine steife Verbeugung, und Fabian verließ das Zimmer.




V


Als Fabian die Tür hinter sich zugezogen hatte, lachte er vor sich hin. «Du wirst noch manchmal anrufen, du eingebildeter Ese», dachte er wütend. Langsam ging er durch den Korridor und schöpfte Atem.

Der Schrecken war ihm tüchtig in die Glieder gefahren, das musste man sagen. Noch immer fühlte er ein leises Zittern in seinen Knien, aber schon begann er seine Lage mit größerer Ruhe und Klarheit zu betrachten. Besaß er nicht einen Anstellungsvertrag mit der Stadt? Man konnte ihm doch nicht ohne weiteres den Stuhl vor die Tür setzen[19 - j-m einen Stuhl vor die Tür setzen – уволить, выгнать], oder? Es war wahrscheinlich, dass man diesen jungen Taugenichts unterbringen wollte und für ihn selbst einen anderen Posten bereithielt, einen bedeutenderen, gewichtigeren Posten.

In diesem Augenblick sah er einen kleinen, etwas beleibten Herrn die Treppe herauf stürmen und an sich vorübereilen. Der kleine, dicke Herr hatte den Hut ins Genick gerückt und eilte auf die Tür eines benachbarten Büros zu, die er hastig aufschließen wollte. An seiner Eile und seinem hastigen Wesen erkannte er ihn. Es war Baurat Krieg, ein guter Freund von ihm. Er rief ihn an, gerade als er ins Büro schlüpfen wollte.

Der Baurat wandte den Kopf. «Lieber Freun», rief er erfreut aus und so laut, dass es im Korridor widerhallte. «Ja, da sind Sie also wieder! Kommen Sie doch zu mir herein, damit ich Sie mir genau ansehen kann». Dann eilte er Fabian mit aufrichtiger Freude entgegen und schüttelte ihm die Hand. «Sie müssen mir von Ihrem Urlaub erzählen, lieber Freund! Also wieder glücklich von den Toten auferstanden». fügte er hinzu, während er Fabian in sein Büro nötigte.

Der Baurat hatte ein quecksilbriges Wesen, das sich in jeder Bewegung und jeder Geste ausdrückte. Er war klein, hatte ein rundes Bäuchchen, gesunde volle Backen und einen ergrauten Spitzbart. Wie immer trug er eine flotte Lavallierebinde[20 - Lavallierbinde f – шейный платок, повязанный особым образом] aus schwarzer Seide. «Was haben Sie denn da». unterbrach er plötzlich Fabian und deutete auf den braunen Brief, den Fabian auf seiner Aktentasche trug. Bevor er aber Fabians Antwort abwartete, sprang er zu einer Tür, stieß sie auf und steckte den Kopf hinein.

Im Nebenzimmer arbeitete sein Personal, und man hörte eifrige Schreibmaschinen klappern.

«Ich wollte nur sehen, ob die Luft rein ist. Man kann nicht vorsichtig genug sein, seit der Neue im Hause is», sagte er mit gedämpfter Stimme, indem er die Tür wieder schloss. Erneut deutete er auf den braunen Brief Fabians. «Ich wette, es ist der gleiche Brie», rief er lachend, «den Dutzende von Kollegen erhielten».

Fabian nickte, er war erleichtert zu hören, dass er sein Missgeschick mit vielen anderen teilte. «Waren es Dutzende». fragte er, ohne seine Freude zu verbergen. Seine Unruhe war völlig verschwunden, und er hatte seine gewöhnliche gute Laune zurückgefunden. «Ja, Dutzende. Mit einem Wort, alle Herren, die sich bis heute noch nicht für die Partei begeistern konnten. Auch ic», lachte der Baurat und deutete mit dem Finger auf seine Brust, «auch ich erwarte den Brief täglich, täglich! Ja, lieber Freund, wir werden wohl noch alle in den sauren Apfel beißen[21 - in den sauren Apfel beißen – проглотить горькую пилюлю] müssen, ob wir wollen oder nicht. Nun, lassen Sie es gut sein, lieber Freund, was soll Ihnen schon passieren? Ein Anwalt mit einer glänzenden Praxis, der eine Pracht heiratete, die ihm vier Häuser in die Ehe brachte, haha? Aber sehen Sie mich an, ich bitte Sie! Ich habe nur ein paar lumpige Groschen auf der Bank und dazu zwei junge Töchter, die täglich anspruchsvoller werden. Sehen Sie, lieber Freund, ich werde wohl wieder als Bauführer anfangen müssen oder als Zeichner in einem Baubüro, wie». Er lachte voller Galgenhumor und wühlte in seinen grauen Haaren. «Aber betrachten Sie nur unseren guten Krüger».

«Ja, ihm ist es schlimm ergangen, wie ich hörte».

«Der arme Theo, er ist zu bedauern». Baurat Krieg stieß einen leisen Pfiff aus. «Schlimm, sehr schlimm».

«Aber ein so außerordentlich tüchtiger Mann wie Krüger wird doch leicht wieder eine Stellung finde», sagte Fabian.

Der Baurat zuckte die Achseln. «Leicht wird er es nicht habe», entgegnete er bekümmert. «Eine Behörde darf ihn nicht aufnehmen, und private Firmen bringen nur selten den Mut dazu auf. Dazu hat die Presse seinen guten Ruf völlig zerstört, sie hat kein gutes Haar an ihm gelassen[22 - kein gutes Haar an j-m lassen – разобрать кого-л. по косточкам, зло сплетничать]».

Fabian blickte ihn verwundert an. «Aber Krüger war doch überaus belieb», rief er aus.

«Früher, ja, früher einmal». versetzte Krieg. «Die Zeiten haben sich gewaltig geändert. Ein Mann, der jede Nacht in den Weinstuben saß und mit was für fragwürdigen Leuten? Nicht mit mir oder Ihnen, mein Lieber, nein, mit sozialdemokratischen Stadtvätern und üblerem Gesindel. Ein Mann, der bei den Freimaurern[23 - Freimaurer – масоны, вольные каменщики, религиозноэтическое движение] eine maßgebende Rolle spielte? Man will ihm ja den Prozess machen».

«Den Prozess».

«Ja, den Prozess». nickte der Baurat. «Er soll städtische Gelder verschleudert haben. Da fuhr er zum Beispiel mit seiner Kleinen im Sommer abends auf die Dörfer, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Das kostet natürlich Benzin und Öl, und der Stadtsäckel muss es bezahlen. Und dann hat er, nun hören Sie, häufig mit seiner Flamme privat telefoniert, mindestens dreimal am Tag, dreimal». Der Baurat lachte, dass seine roten Bäckchen glänzten. Er lachte vor allem über Fabians verblüfftes Gesicht. «Daraus will man ihm einen Strick drehen, sehen Sie».

«Sollte man es für möglich halten». fragte Fabian ungläubig.

«Was für ketzerische Gedanken». rief Krieg aus. «Sie wissen noch immer nicht, woher der Wind weht? Es muss wieder Ordnung herrschen in deutschen Landen. Wenn Sie Partei sind, können Sie machen, was Sie wollen, wenn Sie aber nicht Partei sind, haben Sie sich in Tugend zu üben. Haben Sie übrigens schon Ihren Bruder Wolfgang gesprochen». fügte er hinzu.

«Ich werde ihm heute noch guten Tag sage», erwiderte Fabian. Der Baurat beugte sich vor. «Ihr Bruder Wolfgang ist auch so ein Ketzer, ein ganz fürchterlicher Ketze», sagte er lachend.

Und er erzählte, dass sie vor ein paar Tagen zusammen in der «Kuge». saßen, einige Freunde, Lehrer Gleichen war dabei und sein Bruder Wolfgang. Das Gespräch sei auf Redefreiheit und freie Meinungsäußerung gekommen, und bei dieser Gelegenheit sei Wolfgangs Rebellengeist zum Ausbruch gekommen. «„Haben wir, meine Herren“, begehrte Wolfgang auf, „haben wir zweitausend Jahre gegen Pfaffen und Könige gekämpft, um uns jetzt einen Maulkorb anlegen[24 - j-m einen Maulkorb anlegen – (перен.) заставить кого-л. замолчать] zu lassen? Nein und dreimal nein! Ich werde meine Meinung sagen, und wenn sie mich auch vor eine Kanone binden, wie die Engländer es mit den Hindus getan haben sollen.“ Im Lokal waren ein paar Gesellschaften, die schon aufzuhorchen begannen. Am runden Stammtisch saßen auch Leute von der Partei und spitzten bedenklich die Ohren. Einer war etwas Höheres, nach den Sternen und Abzeichen am Kragen. Auch dieser da saß dabei». Der Baurat deutete mit dem Daumen nach rückwärts. «Dieser eingebildete Esel, Ihr Nachfolger».

Fabian musste lachen, es war der gleiche Ausdruck, den er vor wenigen Minuten in Gedanken gebraucht hatte. «Schilling heißt e», sagte er.

«Ja, auch dieser Herr Schillin», fuhr Krieg fort. «Wir hatten ja alle Hände voll zu tun, Wolfgang zu beruhige», erzählte er mit großer Lebhaftigkeit, wobei er sogar die Hände rang. «Wenn Sie also heute zu ihm kommen, so bitten Sie ihn, beschwören Sie ihn, etwas mehr Zurückhaltung zu üben. Man könnte seine Worte auch einmal falsch auslegen, die Geheimpolizei ist zur Zeit wieder mächtig an der Arbeit».

Fabian versprach, die Warnung auszurichten, und erhob sich, um zu gehen. «Haben Sie den neuen Herrn der Stadt schon gesehen». fragte er, als er dem Baurat die Hand reichte. «Diesen Herrn Taubenhaus».

Der Baurat nickte. «Natürlich, ich habe oft mit ihm zu tu», erwiderte er. «Ein stattlicher Mann mit sehr gefälligen Umgangsformen. Über seine Fähigkeiten kann sich natürlich noch niemand ein Bild machen. Er kommt aus einer kleinen Stadt in Pommern, wo die Gänse und Ziegen auf dem Marktplatz herumlaufen, wie er selbst sagt. In erster Linie sieht er auf Pünktlichkeit im Dienst und auf peinlichste Sparsamkeit. Ich baue zur Zeit seine Dienstwohnung aus, und das ist wohl auch der Grund, weshalb ich noch nicht den braunen Brief habe». Krieg lachte. «Bei dem Ausbau der Wohnung freilich ist er durchaus kein Pfennigsuchser[25 - Pfennigsucher m – скряга, скупердяй]. Nichts kann ihm fein und teuer genug sein! Selbst die Klinken an den Türen mussten durch neue aus schwerer Bronze ersetzt werden, und das Schlafzimmer —! So ein fürstliches Schlafzimmer haben Sie noch nicht gesehen, mein Freund».

«Sicherlich ist es ein schwerer Verlust für die Stadt, dass Krüger gehen musst», sagte Fabian, dem die Entlassung Krügers sehr naheging.

Der Baurat begleitete ihn zur Tür. «Ein schwerer, ein sehr schwerer Verlust». versicherte er aufrichtig. «Auch für mich ist es ein schwerer Verlust, wie ich Ihnen als Freund gestehen kann! Es war mir im Laufe der Zeit gelungen, Krüger für meinen Lieblingsplan zu erwärmen». Da er aus Fabians Blicken sah, dass ihm sein Lieblingsplan unbekannt war, hielt er ihn am Mantelknopf fest. «Sie scheinen meinen Lieblingsplan nicht zu kennen, verehrtester Freund». fuhr er mit neuem Eifer fort. «Wirklich nicht? Seit Jahren träume ich schon davon, den Platz vor der alten Reitschule umzubauen. Die Gebäude ringsum werden in Kolonnaden verwandelt, Laden neben Laden, verstehen Sie? Der Wochenmarkt wird dahin verlegt und alle Messen, so dass der Rathausplatz frei wird für eine gärtnerische Ausgestaltung. Auch der Brunnen Ihres Bruders bekommt einen würdigeren Platz».

«Die Idee scheint wirklich originell zu sei», versetzte Fabian, der nur flüchtig hingehört hatte.

Der Baurat strahlte vor Begeisterung. «Kommen Sie, kommen Sie». rief er. «Ich werden Ihnen sofort meine Entwürfe zeigen, die Sie gewiss begeistern werden».

Aber Fabian dankte, er habe heute noch vieles vor. «Ein anderes Mal, mein lieber Baurat, heute bin ich allzusehr beschäftigt».




VI


Die kurze Unterhaltung mit dem Baurat hatte Fabian in eine zuversichtliche Laune versetzt. Er war nun nahezu überzeugt, dass man einen prächtigen Posten für ihn in Bereitschaft hielt. Am liebsten wäre er zu diesem Herrn Taubenhaus gegangen und hätte ihm die Hand gedrückt: «Fabian, melde mich gehorsamst vom Urlaub zurück. Als siebzehnjähriger Freiwilliger im Weltkrieg bei der Artillerie eingetreten, zum Offizier avanciert, mit dem Eisernen Erster[26 - Eiserner Erster – das Eiserne Kreuz – прусский военный орден первой степени] an der Front ausgezeichnet, deutsch bis in die Knochen». Er lächelte zufrieden, als er über den Rathausplatz ging.

Wieder blieb Fabian einige Augenblicke am Narzissbrunnen stehen. Schade, dachte er, indem er weiterging, dass Wolfgang so geringen Ehrgeiz besitzt. Man hatte ihm vor einem Jahr eine Professur in Berlin angeboten, aber er hatte es vorgezogen, hierzubleiben, wo er eine Lehrstelle an der Kunstschule bekleidete. Er hatte eine förmliche Angst vor Berlin und befürchtete, Berlin würde ihn zu stark in seiner künstlerischen Produktion hemmen. Schade, schade!

Sein Bruder Wolfgang lebte in Jakobsbühl, einem alten Dorf, eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Dort hatte er sich von dem Erlös des Narzissbrunnens ein altes Bauernhaus gekauft, das inmitten eines Obstgartens lag. Nach Jakobsbühl führte eine Straßenbahn, aber das schöne Herbstwetter verlockte Fabian, zu Fuß zu gehen.

Er durchquerte den Norden der Stadt, wo zumeist Arbeiter wohnten, und kam an den ausgedehnten, modernen Werken Schellhammer vorbei, die gegen fünftausend Arbeiter beschäftigten. Sie hatten im wesentlichen den Wohlstand der Stadt begründet. Etwas später gelangte er aufs offene Land und in die alte Pappelallee, die nach Jakobsbühl führte.

Als Fabian die kleine hölzerne Gartentür neben dem Brunnen öffnete, nickte ihm die Wirtschafterin Wolfgangs, eine alte Bäuerin, aus dem niedrigen Küchenfenster zu. Durch eine kleine Diele gelangte er in Wolfgangs geräumigen Arbeitsraum, der so sehr mit Zigarrenrauch erfüllt war, dass er anfangs nichts unterscheiden konnte. Dann sah er bei dem hohen Atelierfenster, das in die Giebelwand des früheren Bauernhauses eingebaut war, zwei lebhaft plaudernde, zigarrenrauchende Männer in niedrigen Sesseln sitzen. Sie saßen vor einer lebensgroßen Figur, deren Ton noch feucht glänzte, auf einem runden Tisch vor ihnen standen zwei halbleere Weingläser. An dem hellen Arbeitskittel, dem wirren Schopf angegrauter dunkler Haare und der dünnen Virginia[27 - Virginia – сорт сигар] im Mund erkannte er seinen Bruder, während die krausen braunen Haare den Lehrer Gleichen vermuten ließen, der häufig bei ihm verkehrte. «Empörend und schamlos». rief Lehrer Gleichen eben mit einer lebhaften Gebärde aus und griff nach seinem Glas.

Wolfgang erblickte ihn zuerst, sprang auf und eilte ihm entgegen. «Der Frank». rief er erfreut aus. «Seht an, der Frank».

Auch Lehrer Gleichen erhob sich, um ihn zu begrüßen, und augenblicklich fiel Fabian wieder der Zauber seiner weichen schönen Stimme auf. «Welch eine angenehme Überraschung». fuhr der Bildhauer fort. «Du kommst gerade recht zu unserer kleinen Beratung, und wir wollen dich mit einem Gläschen begrüßen». Dabei öffnete er einen großen, mit roten Rosen bemalten Bauernschrank, der Reihen von Flaschen und Gläser aller Größen enthielt. Einige Gläser und eine Flasche stellte er auf die Tonkiste neben der noch feuchten Figur. «Ein Portwein, sage ich dir, Frank, der einen Toten aufwecken kann». rief er frohgelaunt aus und goß die Gläser voll, während er den Bruder mit zärtlichen Blicken betrachtete. «Ich habe mich nämlich heute entschlossen, den Akt endlich fertigzumachen und ihn im Oktober zur großen Ausstellung nach München zu schicken. Das also ist es, worüber wir uns beide besprachen. Dass du nun noch dazugekommen bist, Frank, betrachte ich als ein günstiges Zeichen des Himmels».

Fabian wandte den Blick zu der noch feuchten Tonfigur hin. «Der Kettensprenger». rief er aus. «Endlich also bist du soweit».

Wolfgang nickte. «Ja, das ist e», sagte er. «Er soll nun endlich fertig werden. Natürlich wird es noch einige heiße Wochen kosten». «Sie kennen ja Wolfgan», mischte sich Gleichen ein. «Er ist nie zufrieden. Ich behaupte aber, auch nur die kleinste Veränderung wäre ein Verbrechen».

Der Bildhauer lachte. «Am Rücken ist noch manches zu verbesser», widersprach er. «Nun, noch vier Wochen und dann mache ich Schluss. Ich verspreche es Ihnen, Gleichen». Er gab viel auf Gleichens Urteil.

Gleichen war nichts als ein kleiner Schullehrer, aber als Schriftsteller äußerst geachtet. Er schrieb besonders für Kunstzeitschriften.

Fabian kannte den «Kettensprenge». seit langer Zeit. Wolfgang arbeitete seit einem Jahr daran. Monatelang stand er zuweilen, in feuchte Lappen eingehüllt, unbeachtet in einer Ecke des Ateliers. Nun freute es ihn, dass Wolfgang die Arbeit endlich zu Ende gebracht hatte und sie ihm ganz außerordentlich gelungen zu sein schien.

Es war die Gestalt eines zarten Jünglings, der mit verhaltener Kraft und einem unmerklichen Lächeln der trotzigen Lippen die Glieder einer Kette über dem Knie sprengte. Nichts sonst. Die leicht vorgeneigte Haltung des Jünglings, das Aufatmen und Dehnen seiner Brust, die gebundene und unwiderstehliche Ballung seiner Kräfte schienen Fabian vollendet. Wolfgang verabscheute alles Übertriebene, Gewaltmäßige, Brutale, «mit Muskeln macht man keine Plasti», sagte er. Fabian gab seiner Bewunderung Ausdruck. «Herrlich». sagte er.

Erst jetzt aber sah Fabian, dass die Figur einen Sockel bekommen hatte, auf dem die Worte «Lieber tot als Skla». eingegraben waren. «Der Kettensprenger hat ja neuerdings einen Wahlspruch bekommen». sagte er. «Oder habe ich es früher übersehen».

Wolfgang schwieg eine Weile, dann lachte er auf. «Das ist ja die Sache». rief er aus. «Dieser Wahlspruch ist in erster Linie die Ursache, dass ich die Figur ausstellen will, und zwar gerade jetzt. Nicht wahr, Gleichen? Wir sprachen lange darüber».

Lehrer Gleichen nickte. «Es ist ein Protest». erklärte er, und flüchtige rote Flecke erschienen auf seinen fahlen Wangen. «Es ist ein Protest gegen würdelose Unterwürfigkeit». «Wird man den Protest nicht als Provokation empfinden». fragte Fabian.

Wolfgang zuckte die Achseln. «Es fragt sich sehr, ob man den Protest überhaupt als Protest erkennen wird. Wenn man ihn als Provokation empfinden sollte, um so besser. Mir ist alles einerlei. Jedenfalls werden Tausende den Protest sofort verstehen, und damit habe ich meine Absicht erreicht! Und nun wollen wir den Akt vorläufig wieder einhüllen».

Er legte feuchte Tücher um die Figur, dann verhüllte er den Sockel mit dem Spruch.

«Und nun wirst du uns erzählen, Frank, wie es in der Welt aussieh», wandte er sich an den Bruder. «Natürlich wirst du bei mir zum Mittagessen bleiben, das versteht sich von selbst. Gleichen hat schon zugesagt. Es gibt Pfannkuchen, die meine Retta herrlich zuzubereiten versteht. Setzen wir uns an den Tisch am Fenster».

Wolfgang war von einer fast immer gleichmäßigen Heiterkeit erfüllt, der Heiterkeit schöpferischer Menschen. Er war um zwei Jahre älter als sein Bruder, kleiner und stämmiger und hatte kräftigere und derbere Gesichtszüge. Sein Haar machte einen wirren und unordentlichen Eindruck und war schon stark von weißen Fäden durchzogen. Seine hellbraunen Augen waren ebenfalls von Heiterkeit erfüllt, aber sie hatten einen merkwürdigen, geheimnisvollen Ausdruck, den man nicht so rasch ergründen konnte. Im Gegensatz zu seinem Bruder schien er auf sein Äußeres geringen Wert zu legen. Sein heller Arbeitskittel war verknittert, voller Asche und Flecke trockenen Tons. Man sah deutlich, dass er mitten in der Arbeit steckte und Tätigkeit und Gedanken ihn erregt hatten. Er lachte häufig und sprach keineswegs die fließende, korrekte Sprache Fabians.

Lehrer Gleichen war etwas größer als beide, ein Mann mit krausen, fast schon völlig ergrauten Haaren, einem kantigen, zergrübelten Gesicht und düster glimmenden großen Augen. Er war sehr schweigsam, aber sobald er den Mund öffnete, war man aufs neue erstaunt über die Weichheit und Schönheit seiner Sprache.

Wolfgang zündete sich eine neue Virginia an und machte den Bruder auf die Glasur einer Schale aufmerksam, die auf dem Tische stand. «Es ist eine echte Sungschale[28 - Sungschale f – чаша или блюдо династии Сун, правившей в Китае в IХ-ХIII вв.], sieh sie dir aufmerksam an, Frank, ich will das Geheimnis ihrer Glasur ergründen». Sie sprachen über Glasuren und Wolfgangs Brennofen, auf den er besonders stolz war.

Während sie plauderten, trat Wolfgangs Wirtschafterin ein, die Margarete hieß und Retta genannt wurde. Wolfgang war nicht verheiratet. Er war der Ansicht, dass Frauen und Kinder zuviel Unruhe ins Haus brächten und ein Künstler nur seiner Kunst leben sollte. Offenbar schien er sich ziemlich wenig aus Frauen zu machen, und Fabian hatte ihn nur einmal über eine Frau mit uneingeschränktem Lob sprechen hören, es war Frau Beate Lerche-Schellhammer, die sie schon seit ihrer Jugend kannten.

Diese Retta, eine ältliche, Bäuerin von der seltenen Häßlichkeit einer Hexe, trat ins Atelier und ging ohne alle Umstände auf Wolfgang zu. Dabei wurde sie immer kleiner, und ihre hageren Züge sahen unruhig und verstört aus. Es stände ein Auto vor dem Haus von Tierarzt Schubring, sagte sie aufgeregt, das käme ihr nicht geheuer vor. Die Leute deuteten hierher. «Nicht geheuer sieht das Auto aus». fragte Wolfgang und lachte.

Nein, nicht geheuer. Zwei Leute in Uniformen säßen darin, und den Chauffeur, den kenne sie. Es sei der gleiche Chauffeur wie damals, als sie den Pfarrer Rechtling mitnahmen nach seiner Pfingstpredigt. «Die Herren können Sie ja sehe», schloss Retta und schlich an eines der kleinen Bauernfenster, die auf die Straße hinausgingen.

Vor dem Haus des Tierarztes Schubring, der eine der geschmacklosen Villen bewohnte, die Wolfgang auf den Tod hasste, stand ein ganz gewöhnliches, ziemlich großes Auto. Der Chauffeur ging um das Auto herum und schlug das Verdeck hoch. Zwei Herren in brauner Univorm standen bei einem kleinen dicken Herrn in Zivil, dem Tierarzt Schubring. Der kleine Herr schien ihnen etwas zu erklären, wobei er auf das Haus des Bildhauers deutete.

«Sie deuten fortwährend hierher». wiederholte die alte Retta erregt, wobei sie vom Fenster zurücktrat. «Sie wollen gewiss zu Ihnen, Herr Professor».

Der Chauffeur öffnete den Schlag des Autos, und die beiden Herren in braunen Uniformen stiegen ein. «Sie kommen hierher, Herr Professo», wiederholte die Bäuerin in heller Angst. Ihr Gesicht war ganz gelb geworden. «Es war mir gleich nicht geheuer».

«Nun schön, Retta, weshalb die Angst? Sie wollen vielleicht ein Denkmal bei mir bestellen». scherzte Wolfgang.

Da rollte das Auto auch schon vor das Haus und hielt plötzlich an.

Retta zuckte zusammen. «Habe ich es nicht gesagt». flüsterte sie und krümmte sich noch mehr zusammen.

Schon hörte man die Glocke anschlagen. Sie gab nur einen heiseren Laut von sich.

«Gehen Sie hinaus auf die Äcker, Herr Professo», zischelte Retta zitternd. «Ich sage, Sie sind ausgegangen. Sonst haben Sie nichts als Scherereien».

Sie wollte zur Tür, aber Wolfgang hielt sie zurück.

Lehrer Gleichen wandte sich mit besorgter Miene an den Bildhauer: «Sagte ich es Ihnen nicht gleich damals in der „Kugel“? Sie waren zu unvorsichtig. Es sind Leute aus der Heiligengeistgasse, ich kenne sie».

Wieder schlug die Glocke an, der Draht rasselte vernehmlich. Gleich darauf wurde heftig an die Tür geklopft.

Nun wurde auch Fabian von Unruhe ergriffen. «Retta hat recht, gehe hinaus auf die Felder, Wolfgan», sagte er rasch. «Du ersparst dir Unannehmlichkeiten. Ich werde öffnen».

Wolfgang aber ging statt aller Antwort rasch zur Tür. «Lasst euch nicht auslache», entgegnete er und öffnete die Tür. «Ist jemand da». rief er laut und verließ das Atelier.

Alle drei lauschten und regten sich nicht.

Man hörte Stimmen auf dem kleinen Flur, dann wurde eine Tür geschlossen, und man vernahm die Stimmen hinter der Wand, diesmal etwas lauter. Einige Minuten vergingen, die Stimmen drangen noch immer durch die Wand, dann hörte man wieder im Flur sprechen. «Sie werden pünktlich sein». sagte eine unhöfliche Stimme. Die Haustür wurde geschlossen.

Wolfgang kehrte wieder in den Arbeitsraum zurück. Er sah blaß und verstört aus, und seine Hand zitterte, als er nach den Streichhölzern griff, um die erloschene Zigarre wieder anzuzünden. «Das waren wahrhaftig widerliche Burschen». knurrte er wütend vor sich hin.

Retta war die erste, die den Mut fand, ein Wort an ihn zu richten. «Lieber Gott, wie blass Sie aussehen, Herr Professor». rief sie aus.

Endlich hatte Wolfgang die Zigarre wieder in Gang gebracht. Das Blut schoss in sein Gesicht zurück. «Geh in deine Küche, Retta, und sieh zu, dass dein Essen fertig wird». herrschte er Retta an.

Retta verschwand augenblicklich. So außer Rand und Band[29 - außer Rand und Band sein – разойтись, разбушеваться, как с цепи сорваться] hatte sie den Professor noch nicht gesehen.

«Gottlob, dass du wieder da bist, Wolfgang». sagte Fabian. «Was wollten die Leute denn».

Wolfgang zuckte wütend die Achseln. «Die Burschen traten in der Tat recht anmaßend au», sagte er, während er an der Virginia zog. «Welch bodenlose Unverschämtheit! Die beiden Kerle überbrachten mir eine Vorladung».

«Eine Vorladung». fragte Gleichen erschrocken. «In die Heiligengeistgasse». Gleichen wusste in diesen Dingen Bescheid.

«Jawohl! Heiligengeistgasse sieben, sagten si», erwiderte Wolfgang, der sich allmählich beruhigte. «Morgen früh um neun Uhr habe ich zu erscheinen».

«Mit diesen Burschen ist nicht zu spaßen, Professo», rief Gleichen aus. «Ich kenne sie ja. Aber es scheint noch einmal gut abgegangen zu sein? Sagten sie etwas von der „Kugel“».

«J», knurrte Wolfgang. «Man wünscht Aufklärung über Bemerkungen, die ich vor wenigen Tagen in der „Kugel“ fallen ließ».

Gleichen stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne. «Sehen Sie». rief er. «Ich sagte ja damals schon, Vorsicht, es sind verdächtige Kerle». Der Bildhauer warf die halbgerauchte Virginia auf den Boden und zertrat sie mit dem Fuß. Damit aber schien er seinen Ärger überwunden zu haben. Er nahm eine neue Zigarre aus der Tasche und sagte mit seiner gewohnten Stimme: «Nun aber Schluss mit dem Unfug, bitte ich». Er fand sogar seine frühere gute Laune zurück. «Kommen Sie, meine Herren». bat er. «Lassen wir uns von diesen widerlichen Flegeln nicht den Appetit verderben».




VII


«Und nun bitte ich Sie zuzugreifen, meine Herren». forderte der Bildhauer seine Gäste mit heiterer Stimme auf. «Sie werden sehen, niemand kann so herrliche Pfannkuchen backen wie Retta. Wir wollen bei einem Glas Mosel[30 - ein Glas Mosel – стакан мозельского вина] diese widerlichen Dinge vergessen. Trinken wir darauf, dass die Zeiten sich bald wieder bessern werden».

Während der schlichten Mahlzeit schien Wolfgang den unangenehmen Zwischenfall völlig vergessen zu haben. Dann holte er aus einer Truhe zwei Tafelleuchter hervor, die er für eine Porzellanfabrik geschaffen hatte. Die Fabrik wollte einen Satz sechs solcher Leuchter herausbringen, deren Hauptmotiv lebendig gesehene, farbige Papageien und Kakadus bildeten. Wolfgang hatte sie in seinem eigenen Brennofen gebrannt.

Die Leuchter waren prächtig und erinnerten an altes Meißner Porzellan[31 - Meißner Porzellan – мейсенский фарфор, изделие из мей- сенского фарфора]. Fabian und Gleichen waren begeistert. Fabian bat, die erste Serie für ihn reservieren zu wollen, während Gleichen immer wieder betonte, welch ein großes Verdienst es wäre, das armselige Kunstgewerbe neu zu beleben.

«Natürlich weiß ich recht wohl, Gleiche», sagte Wolfgang, «dass bei dem schauerlichen Schund in unserem Lande gutes Kunstgewerbe so dringend wie das tägliche Brot ist. Aber ich frage mich trotzdem, ob ich den Auftrag annehmen kann? Zeit, Zeit, woher soll ich all die Zeit nehmen».

«Vor allem andern, vergessen Sie den „Kettensprenger“ nicht». mahnte Gleichen. «Ich werde wirklich böse, wenn Sie nicht Wort halten».

Sofort nach Tisch verließen Fabian und Gleichen das Haus des Bildhauers. Fabian musste in die Stadt zurückkehren, und Gleichen, der noch einen Besuch in der Nachbarschaft vorhatte, wollte ihn einige Schritte begleiten.

Eine Weile gingen die beiden schweigend nebeneinander auf der Landstraße dahin, die an beiden Seiten von mächtigen Pappeln bestanden war. Während sie bei Tisch saßen, musste es heftig geregnet haben. Die Pappeln glänzten noch vor Nässe, und an vielen Blättern hingen Tropfen.

Schließlich begann Gleichen in seiner schönen Sprechweise: «Es hat den Anschein, als ob Ihr Bruder die Vorladung ein wenig auf die leichte Schulter nähme[32 - etw. auf die leichte Schulter nehmen – относиться кчему-л. несерьезно, легкомысленно]. Und doch hat sie gewiss nichts Gutes zu bedeuten». «Was wollen Sie, Herr Gleichen? Wolfgang hatte immer ein sorgloses Naturel», versetzte Fabian zerstreut.

«Ich habe Ihren Bruder schon öfter darauf hingewiesen, dass man seine Worte, so harmlos sie auch sein mochten, falsch auslegen könnte. Die Geheimpolizei ist zur Zeit wieder erschreckend eifrig. Man hat zum Beispiel eine junge Verkäuferin verhaftet, weil sie bei einer Rede des Führers ganz offen herauslachen musste. Sie ist seitdem spurlos verschwunden».

Fabian lachte leicht auf. «Sie werden mir zugeben, Gleiche», sagte er, «dass ein Staatsoberhaupt sich nicht auslachen lassen kann».

Die düstere Glut in Gleichens grauen Augen belebte sich für einen Augenblick. Das leichte Lachen Fabians, das ganz harmlos war, hatte ihm mißfallen.

Fabian begann etwas rascher auszuschreiten und schwieg, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Immer noch glaubt Wolfgang, dachte er, dass die Zeiten sich bald ändern werden. Nein, nein, mein Lieber, auch ich glaubte es einmal. Heute weiß ich, dass ich mich täuschte. Es wird noch lange Jahre dauern.

Gleichen ging ebenfalls rascher und warf einen unruhigen Blick über die Stoppelfelder. Er wartete eine Weile, ob sein Begleiter noch etwas sagen wolle, dann schwieg auch er und sah Fabian von der Seite an. Er betrachtete seinen Gang, seine elegante Kleidung, den kurzen Mantel aus englischem Stoff, seine Bügelfalten und Schuhe. Seine glatten, rasierten Wangen mißfielen ihm plötzlich, etwas wie Hochmut lag um seinen locker geschlossenen frauenhaften Mund. Gleichen war Wolfgang bedingungslos ergeben, er schwor auf ihn, aber vor Fabian hatte er stets eine gewisse Scheu empfunden. Auf ihn hätte er nicht geschworen. Man konnte nie wissen, was er dachte.

Hübsche Männer neigen zur Oberflächlichkeit, ging es ihm durch den Sinn, gewiss ist er zu hübsch und zu gewandt, um tief und aufrichtig zu sein.

Nach geraumer Zeit aber drängte es Gleichen von neuem zu sprechen. «Das Recht ist das feste Fundament, in dem ein Volk steht und fäll», begann er von neuem. «Halten Sie es als Jurist nicht für bedenklich, Einrichtungen zu schaffen, die die Rechtssicherheit des Volkes verwirren können».

Es dauerte längere Zeit, bis Fabian antwortete. «Vor allem wäre es nötig, dem Volk klarzumachen, dass es sich um Übergangserscheinungen handel», erwiderte er. «Übergangserscheinungen». Gleichen lachte. «Ja, wenn man wüsste, dass es sich nur um vorübergehende Einrichtungen handelt? Wie aber sollte man das wissen».

Darauf gab Fabian nur eine unverständliche, kurze Antwort.

Seine unverkennbare Abneigung, ernsthaft auf ein Gespräch eingehen zu wollen, mahnte Gleichen zur Vorsicht.

Er zog die Stirn seines zergrübelten Gesichts kraus und begann erneut zu schweigen. Wieder betrachtete er Fabian, und etwas wie leichtes Misstrauen erschien in seinen düster glimmenden Augen. Schweigend ging er weiter, aber er fühlte sich unbehaglich in Fabians Nähe.

Nach einigen Minuten erblickte er den Seitenweg, den er einschlagen musste.

«Ich muss hier abbiege», sagte er, indem er den Hut zog. «Ich will zu einem Kollegen in dem Dorf da drüben. Er ist krank, und ich besuche ihn an jedem freien Tag». Er deutete auf eine Gruppe roter Dächer, die über den gelben Stoppelfeldern zu sehen war. Als er Fabian die Hand reichte, blickte er ihn mit düsteren Augen an, die von einem fragenden, forschenden Ausdruck erfüllt waren.

Etwas verwirrt durch den forschenden Blick Gleichens, verfolgte Fabian seinen Weg zur Stadt. Über den fernen bunten Dächern kam ihm ein großer blauer Fleck am Himmel rasch entgegen. Er war, offen gestanden, froh, dass sein Begleiter ihn verließ, damit er seinen Gedanken ungestört nachhängen konnte. Alles, was er heute erlebt hatte, seit dem Gespräch mit den beiden Damen in Clotildes Zimmer, ging ihm durch den Kopf und erfüllte seinen Sinn mit Unruhe.

War es nicht sonderbar, dachte er, diese vielgeschmähte Partei verfolgt mich heute auf Schritt und Tritt. Sie scheint wahrhaftig allgegenwärtig zu sein und wird auch nicht so rasch verschwinden, wie Wolfgang und viele es glauben, Jahre wird sie dauern, viele, viele Jahre, vielleicht Generationen!

Ja, man muss sich klarwerden, sagte er zu sich. Man kann ja jetzt auch schon deutlicher die Entwicklung überblicken, nicht wahr? Jedenfalls wird es höchste Zeit, einen klaren Entschluss zu fassen. Auf keinen Fall wird man mir vorwerfen können, dass ich leichtfertig in die Sache hineingegangen wäre, wie es so viele getan haben. Nachdenklich blieb er vor einer Regenlache stehen und blickte nach oben. Zwischen den Pappeln sah er den großen blauen Fleck, der rasch über die Stadt heraufgestiegen war und ihn nahezu erreicht hatte. Wie so viele, wiederholte er. Ich habe lange beobachtet und zugesehen, viele werden sagen, zu lange, aber lass sie doch reden, was kümmert es dich? Eine Menge von Vorurteilen hat mich anfangs abgeschreckt. Vieles erschien mir unecht und billig, vieles ging mir zu rasch. Ich hielt das Tempo für überstürzt. Die Rassenfrage hielt ich, offen gesagt, für eine Schrulle, eine Laune, für völlig unnötig. Heute aber begreife ich, dass flüchtige Vorurteile mich scheu gemacht haben.

Ja, richtig scheu gemacht, wiederholte er seine Gedanken. Das Rassenbewusstsein sollte gestärkt und gehoben werden. Die Anhänger der Partei wurden ganz offensichtlich bevorzugt, zugegeben, ganz wie in anderen Ländern auch, zum Beispiel in Amerika, und das war wiederum richtig und sinnvoll. Die Partei aber wollte diese Bevorzugten vorher erst zu bestimmten Parteitugenden erziehen und diese Tugenden im Volk weiterverarbeiten. Natürlich konnte man das nicht von heute auf morgen erreichen, aber allmählich wird auf diese Weise ein ganz neues Volk entstehen. Das verwahrloste, unsicher gewordene, zum Teil auch in seinen sittlichen Grundsätzen schon schwankende Volk sollte auf eine völlig neue ethische Basis gestellt werden. All diese Dinge verwirrten mich, wie sie viele verwirrten. Dabei habe ich aber nie die Großtat der Partei vergessen: die Überwindung der Arbeitslosigkeit! Die Partei hat damit das deutsche Volk vor dem gänzlichen Zusammenbruch bewahrt.

Ja natürlich, nahm er seine Gedanken wieder auf, es kamen wohl manche Dinge vor, die diese Großtat wieder verdunkelten, zugegeben. Vieles war erlogen, vieles wahr, man muss die Menschen kennen. Aber schließlich war es ja eine Revolution, nicht wahr, und für eine bis in die Tiefe des Volkes gehende Revolution bedeuteten solche Dinge nichts, nichts, rein nichts. In der Französischen Revolution zum Beispiel schlug man den Leuten, die die neuen Ideen nicht begreifen wollten, ganz einfach die Köpfe ab. Was ist dir nun lieber, dass man dir den Kopf abschlägt oder dich in einem Lager etwas, vielleicht etwas unsanft anpackt? Was ist dir lieber? Die Franzosen haben den Adligen den Kopf abgeschlagen, weil sie ganz einfach nicht begreifen konnten, dass auch die Bürger Rechte hatten. Sie begriffen es einfach nicht.

Fabian hielt die Hand in die Luft. Der Regen hatte aufgehört. Das reinste Aprilwetter, dachte er.

Aber wir wollen weiter denken. Die Partei verfügt auf jeden Fall über viele beachtenswerte Ideen, ein Volk zu erziehen, ohne jede Frage. Natürlich können viele diese Ideen nicht begreifen, auch Wolfgang nicht, der sonst doch klug ist. Auch ich konnte sie ja bis heute in ihrer ganzen Bedeutung nicht erfassen. Es ist eine Revolution der Ideen, mein lieber Wolfgang, werde ich zu ihm sagen, eine Revolution, verstehst du? Man schlägt dir nicht den Kopf ab, nein, sondern man ersucht dich, mehr oder weniger höflich, einige Zeit den Mund zu halten, sagen wir, ein, zwei Jahre, bis das Volk eine gewisse Reife erreicht hat. Dann wird man dir gewiss wieder eine Privatmeinung erlauben, aber dann wirst du vielleicht gar keinen Wert mehr darauf legen, wie?

Fabian lachte vor sich hin.

Eins aber erscheint heute schon völlig klar, die neuen Ideen ergreifen heute das Volk, sie sind überall, sie sind allgegenwärtig und allzeit gegenwärtig. Die neuen Leute haben heute schon dazu ein System der Überwachung und Kontrolle eingerichtet, wozu sie vollkommen berechtigt sind, nicht wahr? Sie wären ja kurzsichtig, es nicht zu tun, oder?

Die Baronin kann nicht verstehen, dass ich bis heute meine Kräfte nicht in den Dienst der neuen Ideen stellte wie alle Welt. Sie war sehr unzufrieden mit mir und sprach es ganz offen aus. Schließlich hat man ja auch als erwachsener Mann und Vater zweier Söhne die Pflicht, daran zu denken, was weiter wird? Die Partei wird von Tag zu Tag mächtiger, das sieht ein Blinder. Und sie wird lange bleiben, solange ich lebe, wird sie wahrscheinlich bleiben und vielleicht noch viel länger. Ja, natürlich wären Ney und Murat ewig kleine Korporale geblieben, wenn sie gewartet hätten, bis Napoleon Cäsar wurde. Das hat die Baronin übrigens sehr hübsch gesagt, nicht wahr? Man darf selbstverständlich nicht erst warten, bis alle einflussreichen Positionen in anderen Händen sind! Clotilde will ja nichts für sich, ganz und gar nichts, aber sie ist der Ansicht, dass ich an die Jungen denken müsste. Das ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt, und auch daran muss man denken, wenn man einen Entschluss fassen will. Unterdessen hatte er die ersten Häuser der Stadt erreicht. Erst als er Menschen und Trambahnen erblickte, erwachte er aus seinen Gedanken, die ihn willenlos mit sich fortgetragen hatten. Er wurde gleichsam nüchtern und machte sich Vorwürfe, dass er sich so lange bei seinem Bruder aufgehalten hatte. Sein Tagesprogramm war dadurch völlig in Unordnung geraten. Für viele seiner Besuche war es zu spät geworden. Ohne sich lange zu besinnen, beschloss er, Frau Lerche-Schellhammer aufzusuchen, eine langjährige Klientin, die ihm geschrieben hatte, bei ihr in dringender Angelegenheit vorzusprechen, sobald er aus dem Urlaub zurückkäme. Zudem wusste er, dass er bei Frau Beate Lerche-Schellhammer als Freund des Hauses jederzeit willkommen war. Er hatte zu diesem Besuch allerdings noch einen Beweggrund, über den er sich aber kaum vor sich selbst Rechenschaft ablegte.




VIII


Frau Beate Lerche-Schellhammer wohnte mit ihrer Tochter Christa in dem alten Sehellhammerschen Haus auf einer Anhöhe neben dem Hofgarten. Jedermann kannte es. Es war ein altmodisch aussehendes, wenig anziehendes breites Gebäude, das sich der alte Schellhammer, der als einfacher Autoschlosser begann, vor fünfzig Jahren erbauen ließ. Sobald sich ein Schritt dem Hause näherte, kam Nero, ein Bernhardiner[33 - Bernhardiner m – бернская пастушья собака, названа в честь святого Бернара, сенбернар], aus seiner Hütte hinter dem Hause hervor und strich mit bernsteingelben Augen lautlos am Eisengitter entlang, so dass niemand Lust hatte, lange stehenzubleiben. Wehe, wenn jemand das Gitter berührte! Entfernte sich der Schritt, so verschwand Nero wieder in seine Hütte.

Fabian kam den kleinen Seitenweg aus dem Hofgarten gegangen, und sobald er den schmalen Fahrweg überschritt, stand Nero schon am Tor. Der Hund kannte ihn von vielen Besuchen und schlug freudig an. Sofort erschien eines der hübschen Dienstmädchen, die im Hause beschäftigt waren, um ihm zu öffnen.

Aus dem Hause drang Klavierspiel, jemand übte fleißig eine schwierige Köhler-Etüde[34 - Köhler – Кёлер – известный композитор XIX в.], brach aber sofort ab, als der Hund bellte. Es war die gleiche Köhler-Etüde, die Fabian oft gehört hatte, als er sich mit Clotilde verlobte, die später in der Ehe kaum noch das Klavier anrührte. Man vernahm rasche Schritte im Haus, und im gleichen Augenblick erblickte er Christa Lerche-Schellhammer in der geöffneten Haustür. Als sie ihn sah, schritt sie rasch die wenigen Stufen herab und kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Ihre sanften, warmen Augen strahlten, und sie lächelte.

«Wie gut, dass Sie zurück sind». begrüßte sie ihn. «Sie ahnen nicht, wie langweilig es war, die Menschen hier sind zu armselig».

Schon wochenlang hatte Fabian sich auf dieses Wiedersehen gefreut und ihm voller Spannung entgegengesehen. Seitdem seine Ehe mit Clotilde in die Brüche gegangen war[35 - in die Brüche gehen – разрушиться, рухнуть], übte er eine große Zurückhaltung gegen Frauen. Er empfand eine starke Zuneigung zu Christa und hatte im Grund seines Herzens gewünscht, dass sie ihn nach der langen Trennung enttäuschen würde. Fast ärgerlich über sich selbst, musste er sich gestehen, dass er sie in gleichem Maße anziehend fand wie früher.

«Ich bin glücklich, Sie wiederzusehe», sagte er aufrichtig. Von allen seinen Bekannten hatte er in Wahrheit am häufigsten an sie gedacht.

Christa Lerche-Schellhammer war eine junge Dame mit braunen Augen, so weich wie Samt. Ihre regelmäßigen, schlichten, auffallend klaren Gesichtszüge fanden viele für ungewöhnlich schön, während andere diese Schönheit nicht entdecken konnten. Niemand aber leugnete den Reiz ihres Lächelns, das ihr ganzes Wesen erhellte, wie ein Licht, das von irgendwoher aus ihrem Innern strahlte.

Auch heute war Fabian von ihrem Lächeln wieder bezaubert.

Wie reizend ist doch ihr Lächeln? dachte er, während er plaudernd mit ihr ins Haus trat. Ist es nicht merkwürdig, dass ich es selbst während meiner langen Abwesenheit nicht ganz vergessen konnte? Und wie wundervoll ist doch der Klang ihrer Stimme! Nein, du kannst sagen, was du willst, sie ist wirklich ein wahrhaft reizendes Wesen. «Sie kommen gerade recht zum Tee, Mama erwartete Sie seit Tage», sagte Christa und öffnete die Tür zum Empfangszimmer.

Auch diese einfachen Worte gefielen ihm. Es ist schließlich ganz gleichgültig, was sie sagt, dachte er. Es liegt am Zauber ihrer weichen Stimme.

«Ich bitte Sie herzlich, beruhigend auf Mama einzuwirke», begann Christa und deutete auf einen Sessel. «Sie war in den letzten Tagen unsagbar aufgeregt».

«Aufgeregt, sagt sie». rief in diesem Augenblick mit lauter Stimme Frau Beate Lerche-Schellhammer, die breit und mit vor Zorn geröteten Wangen in der geöffneten Tür erschien. «Geplatzt bin ich vor Wut! Räuber und Spitzbuben, das sind meine verehrten Herren Brüder, Banditen». Sie lachte wütend auf, indem sie auf Fabian zuging. «Endlich zurück von der Reise, lieber Freund». fügte sie ruhiger hinzu und reichte ihm die Hand.

Fabian begrüßte sie herzlich wie eine alte Bekannte. «Behalten Sie ruhig Platz, mein verehrter Freun», fuhr sie fort. «Ich habe wieder, wie so oft, Ihren Rat dringend nötig. Sofort werde ich Ihnen den Brief geben, den meine edlen Brüder an mich geschrieben haben. Wo habe ich denn den Brief dieser Schurken hingelegt, Christa».

Frau Beate Lerche-Schellhammer war eine schwere, massige Frau mit kräftigen Schultern und einem geröteten, in die Breite gegangenen Gesicht. Sie hatte die gleichen braunen Augen wie Christa, nur dass sie um eine Schattierung dunkler waren und nicht dieselbe samtartige Weichheit zeigten. Sie waren härter. Wenn man die beiden auf der Straße sah, so konnte man nicht eine Sekunde im Zweifel darüber sein, dass sie Mutter und Tochter waren.

Endlich hatte Frau Beate den Brief auf einer Kommode in der Ecke gefunden und reichte ihn Fabian:«Lesen Sie den Brief in aller Ruh», sagte sie, «und erklären Sie mir dann, worauf meine edlen Brüder hinauswollen. Es scheint, als hätten sie endlich die Maske abgeworfen! Wenn ich sie recht verstehe, soll ich aus den Werken Schellhammer ausscheiden, kurzerhand ausbooten wollen sie mich, da ich ihnen im Wege bin! Sie werden ja sehen». Sie entnahm einer Schachtel eine schwarze Zigarre, ließ sichin einen bequemen Sessel nieder und begann in erregten Zügen zu paffen. Dabei ließ sie Fabian nicht eine Sekunde aus den Augen.

Sobald er nur die Brauen hochzog, richtete sie sich im Sessel auf und rief: «Nun, habe ich recht». «Er muss ja den Brief erst lese», warf Christa ein.

Fabian nickte nachdenklich. «Es scheint, dass Sie recht behalten, gnädige Fra», erwiderte er.

Frau Beate stieß eine mächtige Rauchwolke zur Decke empor und lachte wütend. «Natürlich kann ich meine edlen Brüder recht gut verstehe», begann sie von neuem. «Nützen kann ich ihnen nichts mehr, und schaden kann ich ihnen noch weniger. Was für ein Interesse sollten sie also an mir haben? Ich bin nicht in der Lage, ihnen den Ehrendoktor zu verleihen oder glänzende Orden, wie ihre Weiber sie lieben, oder haushohe Titel, vor denen ihre Dienstboten herumkriechen. Ich verstehe ja, dass ihnen ihre Weiber näherstehen als ihre Schwester».

Das Mädchen brachte den Tee, und sie brach ab. Christa half, den Tisch zurechtzumachen.

Fabian las den Brief zu Ende und versuchte sich nochmals, die Rechtslage vorzustellen.

Die Schellhammerschen Werke repräsentieren heute einen bedeutenden Wert, den man auf mehrere Millionen schätzte. Im Weltkrieg hatte der alte Schellhammer die erste große Halle gebaut, heute waren es zehn riesenhafte Anlagen. Erst heute hatte er sie im Vorbeigehen bewundert. In erster Linie fabrizierten die Werke schwere Lastwagen, Autobusse und Schlepper, erst in den letzten Jahren produzierten sie auch landwirtschaftliche Maschinen. Der alte Schellhammer hatte die Werke seinen Kindern hinterlassen, zwei Söhnen und einer Tochter. Von den Söhnen leitete der ältere, Otto, den kaufmännischen Teil, während der jüngere, Hugo, der als Ingenieur einen ziemlichen Ruf genoss, die technische Leitung übernahm. Die einzige Tochter war Frau Beate Lerche-Schellhammer.

Fabian stand Frau Beate seit Jahren als Anwalt zur Seite. Sie hatte sich wiederholt über die Bezüge beklagt, die ihr die Brüder zubilligten. Mehrmals stand man vor einem Prozess. Schließlich hatte aber immer die Rücksichtnahme der Brüder, die Fabian als großzügige Menschen kannte, die Oberhand gewonnen[36 - die Oberhand gewinnen – ваять верх, превзойти]. Auch in dem heutigen Schreiben deutete eine Wendung auf die Bereitwilligkeit der Brüder hin, einen Weg der Verständigung zu suchen, die für beide Teile tragbar wäre.

Als das Mädchen aus dem Zimmer schlüpfte, erhob sich Fabian, um den Brief auf den Tisch zu legen.

«Es kann gar kein Zweifel mehr bestehen, gnädige Fra», sagte er, «der Wunsch Ihrer Brüder, dass Sie aus der Firma ausscheiden, könnte kaum unverhüllter ausgedrückt werden». Frau Beate fuhr auf, und abermals färbte der Zorn ihre Wangen dunkelrot. Sie zerdrückte die schwarze Zigarre in einer Aschenschale. «Nicht unverhüllter, wahr, wahr». rief sie mit erregter Stimme aus. «Aber können Sie mir den Grund angeben? Was hat all das zu bedeuten».

Fabian zuckte die Achseln. «Wir werden erst Klarheit gewinnen müssen».

«Ich bitte dich, Mama, rege dich nicht von neuem auf». bat Christa.

«Ich rege mich nicht im geringsten au», beruhigte sie Frau Beate. «Ich will nur wissen, was das bedeutet». Sie schlug heftig auf die Lehne des Sessels. «Was ist plötzlich in meine edlen Brüder gefahren? Ein kleines Gläschen». Frau Beate goß sich aus der Karaffe Kognak ein.

«Ihre Brüder schreibe», erläuterte Fabian, «dass wir lebhaften Zeiten entgegengehen, die oft blitzschnelle Entscheidungen fordern werden. Das könnte immerhin manches andeuten».

Frau Beate schüttelte den Kopf. «Ich kenne doch meine Brüde», sagte sie. «Es müssen besondere Ereignisse eingetreten sein». Sie begann nachdenklich durch das Zimmer zu gehen. «Besondere Ereignisse». wiederholte sie zuweilen.

«Der Brief scheint mir sogar eine schlecht verborgene Dringlichkeit zu verrate», warf Fabian ein.

«Nicht wahr». Frau Beate blickte Fabian ins Gesicht, und zum erstenmal sah er die feinen Linien, die ihren Mund umgaben. «Sie scheinen es eilig zu haben, die beiden Räuber. Um so unerklärlicher erscheint mir die ganze Geschichte». Sie nahm eine neue Zigarre aus der Schachtel und steckte sie in Brand. «Oh, ich werde euch schon auf die Schliche kommen[37 - j-m auf die Schliche kommen – раскусить кого-л., напасть на след], ihr Spitzbuben». rief sie aus, während sie sich in einem Sessel am Teetisch niederließ. Sie schwieg nachdenklich, dann stieß sie eine mächtige Rauchwolke in die Luft. «Und doch fällt es mir schwer, zu denken, dass die beiden Spitzbuben aus reiner Gewinnsucht handel», sagte sie mehr zu sich selbst. «Aber schließlich wäre auch das möglich, warum nicht? Vielleicht ließen sie sich von ihren Weibern aufputschen, die noch nicht reich genug sind». Frau Beate brach in lautes Gelächter aus, das aber gutmütig klang. Ihre verdrießliche Laun schien plötzlich vergangen zu sein, sie war fast heiter geworden. «Sie nehmen doch gewiss eine Tasse Tee mit uns, lieber Freund». wandte sie sich an Fabian, und Christa rief sie zu, sofort an den Teetisch zu kommen.

Nachdem sie sich aus der Karaffe noch zwei Kognaks eingegossen hatte, begann sie in der heitersten Laune von ihren Schwägerinnen und ihren Brüdern zu sprechen, sie schien ihren Zorn völlig vergessen zu haben.

«Was ist die Königin Viktoria gewesen gegen die beiden Durchlauchten Cäcilie und Angelika, hahaha». rief sie lachend aus.

Nein, auf ihre beiden Schwägerinnen war sie nicht gut zu sprechen, das konnte man wohl nicht sagen. Sie verachtete sie noch mehr als ihre Brüder, deren Hörigkeit und Verschwendungssucht sie mit Spott übergoß. Wenn sie auf dieses Thema zu sprechen kam, konnte man sie schwer davon abbringen.

Da war zunächst Cäcilie, die Frau des Ingenieurs Hugo, nun, was war sie schon früher? Eine kleine Sängerin mit einer hohen Stimme. Über ihr Vorleben wollte sie sich nicht näher auslassen, nein, das konnte sie Christa nicht zumuten. Dann war da die Angelika von Otto, sie hieß früher Anna und war nichts als eine kleine Buchhalterin, ihr Vater war Schneider, was ja keine Schande ist. Aber heute, da spielten sich die beiden Weiber auf, als seien sie aus königlichem Geblüt, weiß Gott! Und da waren die Kinder, die drei Jungen von Hugo und die beiden Mädchen von Otto, fünf im ganzen. Aber, wie sie sich zu bemerken erlaube, alles reinste Wunderkinder! Nichts als Wunderkinder! «Sie hatten einen Schwarm von Erziehern und Lehrerinnen, Bonnen und Nurses, und das alles kostete natürlich Geld, schandhaftes Geld, und ihre Männer bezahlten es». schloss Frau Beate. «Es dürfte Sie als Anwalt interessieren, mein Freund».

«Gewiss, ich erhalte interessante Einblicke, gnädige Fra», antwortete Fabian lächelnd, obschon er nur mit halbem Ohr hinhörte, denn die meisten Geschichten kannte er schon, Christa goß ihm lächelnd eine neue Tasse Tee ein und reichte ihm Kuchen. Er streifte sie zuweilen mit dem Blick.

Ja, wie ist ihr Lächeln nur? fragte er sich wieder. Es gibt tausend Arten von Lächeln, aber das ihre bezaubert. Was lächelt eigentlich an ihr? Die Lippen, die Grübchen und Wangen, die Stirn, die Augen, was noch? Es ist wie eine geheimnisvolle Sprache, die ich nur in den Augenblicken, da ich bei ihr bin, verstehe. Jedenfalls ist es rätselhaft und unergründlich. Er bemühte sich, Christas Blick zu meiden. Ihr Lächeln scheint in die Tiefen meines Wesens einzudringen, wohin sonst nichts reicht, dachte er weiter.

Es fehlte gerade noch, dass du dich in sie verliebst, ging es ihm durch den Sinn, und er errötete. Seine Gedanken verwirrten sich, und er versuchte wiederum, Frau Beate zuzuhören.

Frau Beate war nun bei ihren Brüdern angekommen, deren verschwenderisches Leben sie verspottete. Sie sprach von ihren Autos, ihrem Park von Automobilen und den beiden protzigen Villen, die ja jedermann kannte. Ihrer Schwester aber hatten sie großmütig das altmodische Haus des Vaters überlassen! Und ihre Weiber behängten sie mit Brillanten und Perlen und Pelzen. Voriges Jahr hatten sie ein Gut in der Schweiz gekauft. «Für den Fal», sagte Frau Beate, «dass ein neuer Weltkrieg kommen sollte und ihre dicken Weiber nicht verhungerten».

Wieder lachte sie heiter.

Plötzlich aber brach sie mitten im Wort ab. «Schlus», rief sie heftig, «Schluss mit diesen albernen Sachen! Sie, mein lieber Freund, werden in der Stadt Erkundigungen einziehen, und dann wollen wir beraten, was wir den beiden Spitzbuben antworten sollen». Sie griff nach einer neuen Zigarre. «Und jetzt wollen wir von anderen Dingen plaudern. Der Doktor muss uns von seiner Reise erzählen. Ich hoffe, Sie haben noch ein Viertelstündchen Zeit».

Fabian blickte auf die Uhr. «Ein Viertelstündchen, gewis», erwiderte er. «Ich muss leider heute noch in mein Büro».

Er blieb noch eine volle Stunde.




IX


Das sanfte Lächeln Christas begleitete Fabian, während er durch den stillen Hofgarten zurückging. Ich fühle mich leicht und unbeschwert in ihrer Nähe, dachte er. Sobald er aber die erhellten Schaufenster der Stadt erblickte, kehrten wieder jene Gedanken zurück, die ihn auf dem Nachhauseweg von Wolfgang beschäftigt hatten.

Nun gut, er war entschlossen zu handeln! Es gab keinen andern Weg für ihn. Noch sah er den Weg, der ihm vorgezeichnet war, nicht völlig klar vor sich, wie eine Straße in der Morgendämmerung lag er vor ihm. Aber er wusste, dass er ihn zum Ziele führen würde.

Das Geschäft des Schneiders März war völlig leer, und da ihm nichts erwünschter sein konnte, als völlig unbeobachtet zu sein, trat er ein. Es war ja schließlich auch nötig, dass er sich um seine Wintergarderobe kümmerte, wozu er während seines Urlaubs keine Gelegenheit hatte. Der schneeweiße, fast durchsichtig erscheinende Schneidermeister März, zu dessen besten Kunden er zählte, begrüßte ihn mit devoter Zuvorkommenheit und holte sofort den neuen Wintermantel aus einem Schrank.

«Mit dem Mantel kann ich mich überall sehen lasse», sagte Fabian und betrachtete sich befriedigt im Spiegel.

«Überall». erwiderte März mit der leicht heiseren Stimme eines alten Mannes. «Mit der schönsten jungen Dame der Stadt können Sie getrost Arm in Arm durch die Wilhelmstraße spazieren».

Fabian lachte. Er liebte Schmeicheleien, auch wenn sie plump waren. Dann bat er, Muster für Winteranzüge sehen zu dürfen, und der Schneider holte Stoffbündel aus den Regalen und warf sie auf den Ladentisch. Fabian wünschte gern einen Stoff, den nicht jeder Beamte und Verkäufer trug. Während er seine Stoffe aussuchte, streifte er öfter einige dicke Ballen brauner Stoffe, wie man sie zu den Uniformen der Partei trug, mit den Blicken. «Schöne Stoffe». lobte er und prüfte das Tuch zwischen den Fingern.

«Erstklassige Ware, einfach unverwüstlich». versicherte der Schneider, das Metermaß um den Rockkragen gehängt. «Sind Sie inzwischen schon bei Habicht gewesen, um sich eintragen zu lassen».

Fabian schüttelte den Kopf. «Sie wissen, ich war wegen einer Herzgeschichte vier Monate auf Urlaub».

«Ja, das weiß ich. Nun aber bleiben Sie ja wohl vorläufig hier bei uns? Sie kennen doch Habicht, den Leiter der Ortsgruppe».

«Ja, natürlich kenne ich ih», erwiderte Fabian. «Er hat mir vor zwei Jahren meine Reitstiefel ausgebessert».

«Ausgebessert». Der Schneider lachte. «Heute bessert er nichts mehr aus. Er kann sich ja heute nicht mehr retten vor Aufträgen und beschäftigt fünfzig Gesellen. Es ist ihm zu gönnen[38 - es ist ihm zu gönnen – не стоит ему завидовать]. Tag und Nacht war er für die Partei tätig, Tag und Nacht, und das in einer Zeit, wo es noch Leute gab, die einen nicht ernst nahmen, wenn man sich für die Partei einsetzte. Habicht und ich sind fast die ersten hier in der Stadt gewesen. Nun, Habicht hat sein Glück gemacht, er hat das lange Haus der Witwe Kirsch gekauft und eine Unmenge Maschinen angeschafft. Einem Ortsgruppenleiter leiht jede Bank Geld! Er dürfte wohl bald eine Fabrik eröffnen! Dieser Stoff würde Sie herrlich kleiden, sehen Sie? Sie werden ja doch noch zu uns kommen, ich wette mit Ihnen, was Sie wollen».

«Ich weiß es nich», antwortete Fabian ausweichend. «Als ehemaliger Militär müsste ich mich ja wohl einer militärischen Formation anschließen».

«Ganz unbedingt! Sie waren Hauptmann, soviel ich weiß? Nun, da würden Sie sehr rasch einen hohen Posten erhalten».

Fabian sah wenig begeistert aus und schüttelte den Kopf. «Das will ich eben vermeide», erwiderte er. «Sie ahnen nicht, wie wenig Zeit ich habe».

«Ach, Sie meinen wegen des Postens». fuhr der Schneider eifrig fort. «Nun, wenn Sie keine Zeit haben, nehmen Sie eben nichts an. Das machen ja viele. Ein Mann, der so sprechen kann wie Sie, gehört zu uns. Oft habe ich zu den Kameraden gesagt: „Warum ist Doktor Fabian nicht bei uns? Solch einen Mann müssten wir haben, einen solchen Redner!“ Noch heute höre ich Sie im Rathaussaal sprechen, das war wirklich eine Rede».

Fabian ließ sich noch eine Auswahl von Stoffen zeigen, die März mit großer Gewandtheit auf den Tisch warf. Dabei saß er auf dem Ladentisch und telefonierte mit seinem Büro. Er bat seine Sekretärin, Fräulein Zimmermann, noch eine Viertelstunde zu warten, er werde in wenigen Minuten ins Büro kommen. Endlich schien März seinen Geschmack getroffen zu haben. Fabian liebäugelte mit einem etwas helleren, zimtfarbenen Ton, der fast wie Plüsch aussah. «Ich würde diesen Stoff vorziehe», sagte er. «Nun habe ich in den ersten Tagen allerdings noch soviel Dringliches zu erledigen, aber immerhin, wir könnten ja mit dem Anzug beginnen, Herr März».

Der kleine weißhaarige Schneider dienerte. «Sehr wohl, sehr wohl». rief er diensteifrig aus. «Es wird jedenfalls gut sein, sich daranzuhalten, denn es kann jederzeit wieder eine Sperre kommen. Jetzt will jeder in die Partei eintreten. In dieser Woche allein haben sich drei Professoren vom Gymnasium eintragen lassen, Rektor Müller, Redakteur Schill, die ganze Intelligenz der Stadt. Habicht weiß schon nicht mehr, wo ihm der Kopf steht[39 - nicht wissen, wo einem der Kopf steht – запутаться, растеряться]». «Aber hören Sie, unter einer Bedingung». begann Fabian von neuem und dämpfte seine Stimme. «Niemand darf etwas davon erfahren, niemand, unter gar keinen Umständen».

Der Schneider hob beide Hände beschwörend in die Höhe und erwiderte: «Keine Seele, bei meinem Wort».

Fabian fühlte nochmals den zimtfarbenen Stoff zwischen den Fingern. «Gut, diesen also nehme ich». sagte er. «Dann habe ich den Anzug fertig daliegen, wenn ich ihn brauche, und zu Habicht kann ich ja jeden Tag gehen, er bringt die Sache wohl schnell in Ordnung». «Aber natürlich. Bei Ihnen wird er sich besondere Mühe geben». Der Schneider lachte heiser und öffnete die Ladentür.

Vom Schneider begab sich Fabian sofort in sein Büro. Doktor Hammerschmidt, der ihn während seiner Abwesenheit vertrat, war bereits gegangen, ebenso sein Büropersonal, aber seine Sekretärin, Fräulein Zimmermann, ein älteres, unansehnliches Mädchen, erwartete ihn noch, den Hut schon auf dem Kopf. «Die ganze Stadt scheint schon zu wissen, dass Sie aus dem Urlaub zurück sin», empfing sie ihn. «Die Anrufe habe ich hier notiert. Herr Sanitätsrat Fahle hat heute schon dreimal angeklingelt und lässt Sie bitten, ihn, wenn möglich, noch heute in Amselwies anzurufe», bestellte sie.

Fabian bat, ihn sogleich mit Sanitätsrat Fahle zu verbinden. Der Sanitätsrat war seit Jahren Fabians Hausarzt, dem er sehr verpflichtet war und den er, wie die ganze Stadt, aufrichtig verehrte. Sanitätsrat Fahle sprach mit müder Stimme und ziemlich verworren. «Es handle sich um eine private Angelegenheit, die sich am Telefon nur schwer berichten lass».. Ja, er lebe seit einiger Zeit auf seinem Landsitz und sei von all den Aufregungen krank geworden.

Fabian versprach, morgen bei ihm vorzusprechen. Dann gab er Fräulein Zimmermann den Auftrag, ihm alle aktuellen Akten bereitzulegen, er wolle heute bis in die späte Nacht arbeiten. «Bringen Sie mir auch bitte die Jahresberichte der Schellhammerschen Werk», fügte er hinzu. «Die Berichte Schellhammer werde ich sofort heraussuchen. Die Akten liegen schon berei», erwiderte die Sekretärin. «Es ist übrigens wenig Neues hinzugekommen, wie Sie wissen. In der Praxis ist es zur Zeit sehr still». fügte sie hinzu. Da Fabian nichts entgegnete, wünschte sie ihm gute Nacht und ging.

«Gute Nach», sagte Fabian. Er war allein und vertiefte sich in den Stapel Akten. Seine Praxis als Anwalt, die vordem außerordentlich florierte, war in den letzten Monaten ganz auffällig zurückgegangen, sie deckte kaum noch seine Spesen.

«In der Praxis ist es zur Zeit sehr still». Er lachte vor sich hin. «Sie scheinen noch immer nicht zu verstehen, Fräulein Zimmermann, dass man uns ganz einfach boykottiert». sagte er zu seiner Sekretärin und erinnerte sich erst, dass sie schon gegangen war, «Noch immer scheinen Sie die wahre Lage der Dinge zu erkennen, mein wertes Fräulei», fuhr er sarkastisch fort. Und mit einem überlegenen Lächeln fügte er hinzu: «Ich glaube, Ihnen indessen verraten zu dürfen, meine Beste, dass sich das bald ändern dürfte, sehr bald».

Er griff nach einem Aktenstück und begann darin zu lesen. «Glauben Sie, dass ich ein Mann bin, der die geringste Lust hat, unterzugehen? Wie? Nun, man kennt doch die Geschichte, Verehrteste. Murat und Ney wären zeit ihres Lebens kleine Korporale geblieben, wenn sie nicht die Klugheit und den Mut besessen hätten, Entschlüsse zu fassen».




X


Am nächsten Morgen frühstückte Fabian mit großer Befriedigung im Herzen. Nun wohl, er hatte gehandelt! Es gab natürlich noch dieses und jenes, womit er nicht einverstanden war, aber er war froh über seine Entschlossenheit. Nur ein Narr konnte in dieser Welt Vollkommenheit erwarten, sagte er sich. Die Interessen seiner Familie und seiner beiden Jungen hatten einen Entschluss von ihm gefordert. In wenigen Wochen hätte man ihm das Büro geschlossen, und dann saß er auf der Straße. Er war aber keineswegs geneigt, wegen einer Formalität seinen Lebensstandard aufzugeben, solange es noch andere Möglichkeiten gab. Das konnte wahrhaftig niemand von ihm verlangen. Und noch etwas kam dazu, etwas sehr Wesentliches! War er in der Partei, so ließ man ihn in Ruhe, und er brauchte nicht in der Angst zu leben, von den Leuten der Heiligengeistgasse abgeholt zu werden, wenn es ihnen gerade Vergnügen machte!

An diesem Morgen hielt er sich länger in seinem Büro auf. Er dankte seinen Mitarbeitern und sprach die Hoffnung aus, dass sie ihm auch die Treue bewahren würden, wenn die Arbeit sich verdoppeln und verdreifachen würde.

Ein Rechtspraktikant, der als Volontär mäßig bezahlt war, bat ihn um Gehaltsaufbesserung, sonst müsse er sich um eine andere Stellung bemühen, er habe seine alte Mutter zu erhalten. «Eine andere Stellung». fiel ihm Fabian ins Wort. «Und gerade jetzt, da die Praxis wieder aufblühen wird? Daraus wird nichts, mein Freund». Er bewilligte dem Volontär seine Bitte und gab ihm sofort den besonderen Auftrag, sich in die Materie Schellhammer gründlich einzuarbeiten. Er brauche eine zuverlässige Kraft, die in jeder Einzelheit beschlagen sei, er selbst habe ja nicht die Zeit dazu.

Einige Stunden erledigte er die dringendsten Arbeiten in seinem Büro, dann bat er Fräulein Zimmermann, ihn mit seinem Bruder Wolfgang in Jakobsbühl zu verbinden.

Wolf gang war in gereizter Laune. Er knurrte wütende Worte ins Telefon, sprach von Würdelosigkeit, Beschimpfung, Unverschämtheit und Anmaßung, so dass Fabian laut auflachen musste. «In der Französischen Revolution hätte man dir einfach den Kopf abgeschlage», rief er aus, was Wolfgang zu beruhigen schien. Man hatte ihn heute morgen in der Heiligengeistgasse eine volle Stunde warten lassen, was er skandalös fand, dann hatten ihm zwei Grünschnäbel einen unverschämten Vortrag über die Pflichten im Tausendjährigen Reich und allen möglichen Unsinn gehalten. Es ging etwas laut dabei her, und schließlich hatten sie ihm mit «Birkhol». gedroht. Mit einem Wort, Würdelosigkeit, Schamlosigkeit und Frechheit! Am Schluss hatten sie ihn mit einer Verwarnung entlassen.

Fabian versuchte ihn zu beruhigen. Heute oder morgen würden sie beide eine Flasche Wein im «Ster». zusammen trinken und die Welt durch das herrliche Rubinrot eines vollen Glases betrachten, nicht wahr?

Zur Mittagszeit verließ Fabian sein Büro. Langsam schlenderte er durch die Strassen. Er hatte die Absicht, sich zu Baurat Krieg zu begeben, um vielleicht etwas in der Angelegenheit Schellhammer zu erfahren, lief ihm aber zu seiner Überraschung auf dem Marktplatz in die Arme. Den Schlapphut in der Hand, mit fliegender Lavallierebinde, stürmte der Baurat am Narzissbrunnen vorbei, ohne jemand zu sehen, tief in Gedanken versunken. «Krieg». rief ihn Fabian an. «Zu Ihnen wollte ich gerade».

Der Baurat befand sich mitten in einer Pechserie, wie er klagte. Seine Frau und seine beiden Töchter, die Zwillinge, waren gestern abend nach Hamburg abgereist. Am Morgen musste er sein Frühstück allein kochen. Es war, um die Wände hinaufzuklettern.

Fabian ließ sein tröstendes Lachen hören und lud den Baurat ein, mit ihm Leberknödel in der «Kuge». zu essen.

Mit einem Pilsner und Leberknödeln sah Krieg seine Pechserie nicht mehr so hoffnungslos an, und Fabian brachte das Gespräch auf die Werke Schellhammer.

«Die Schellhammerschen Werke». Baurat Krieg bestellte sich ein neues Pilsner. «Die Werke Schellhammer». Ja, da wusste er mancherlei zu sagen. Sein Freund Schimmelpfeng, der Architekt, sei ja seit zwei Jahren Architekt bei Schellhammer. Schimmelpfeng habe ihm vor einigen Wochen den Entwurf einer neuen Werkhalle gebracht, um einige statische Schwierigkeiten mit ihm zu besprechen. Es wäre eine mächtige Werkhalle, nichts als Eisen und Glas.

«Sie bauen wohl». fragte Fabian, mit seinen Knödeln beschäftigt. Krieg nickte: «Es hat den Anschei», lachte er. «Drei solcher Riesenhallen wollen sie bauen».

«Drei».

«Ja, drei. Nichts als Eisen und Glas. Die beiden Schellhammer sind größenwahnsinnig geworden. Das Werk soll mehr als doppelt so groß werden. Vor einiger Zeit schwebten Verhandlungen um das Gut des alten Barons Metz am Nordrand der Stadt».

«Schwebten». fragte Fabian. «Finden Sie die Knödel nicht einfach wunderbar».

«Herrlich». nickte Krieg. «Ob man sich noch eine Portion bestellen kann? Ja, schwebten. Ob etwas daraus geworden ist, weiß ich nicht. Das Gut von Metz wäre ein herrlicher Platz für das neue Werk».

«Haben denn die Schellhammer so große Aufträge». fragte Fabian. Der Baurat lachte, dann blickte er sich argwöhnisch und vorsichtig um, beugte sich näher zu Fabian und sagte flüsternd: «Sie sollen jetzt mächtige Heeresaufträge haben, sagt man. Man weiß ja, dass die Schellhammer kürzlich eine halbe Million für politische Zwecke gezeichnet haben. Eine halbe Million, jedenfalls eine bedeutende Summe. Aber das bleibt unter uns, nicht wahr». Plötzlich sprang Krieg auf und zupfte einen vorübergehenden Herrn am Rock. «Herr Assessor». rief er fachend. «An unserem Tisch ist noch Platz».

Auch Fabian erhob sich. «Aber gewis», rief er und deutete auf seinen Stuhl. Er verabschiedete sich, da er dringend gehen müsse.

Auf der Straße winkte er ein Auto heran, das ihn nach dem nahen Dorf Amselwies bringen sollte.




XI


In dem sonnigen, stattlichen Dorf Amselwies, eine halbe Autostunde von der Stadt gelegen, befand sich das Landgut, das Sanitätsrat Fahle im Sommer bewohnte. Es hieß kurz «Amse».. Im Winter lebte er in seinem Haus am Rathausplatz. Er war Internist und Röntgenologe im städtischen Krankenhaus, ein ausgezeichneter Arzt und als Röntgenspezialist eine internationale Kapazität. Seine Röntgenograhme der Lunge hatten ihn in der ganzen Welt berühmt gemacht. In seinem Stadthause hatte er zwei Säle für röntgenologische Forschungen errichtet, ausgestattet mit den besten, zum Teil von ihm selbst erfundenen und konstruierten Apparaten der Welt, die häufig von bedeutenden Ärzten des In- und Auslandes in Anspruch genommen wurden. Er war wohlhabend und verdiente dazu mit seinen Büchern achtbare Summen, besonders in Amerika und England mit seinem Standardwerk «The secret of the x-rays[40 - the secret of the x-rays – (англ.) тайна рентгеновых лучей]. Ganz nebenbei bemerkt, hatte er auch Wolfgang Fabians Narzissbrunnen der Stadt gestiftet. Er wollte ihn zuerst in seinem Landgut in Amselwies aufstellen, hatte sich aber später entschlossen, den Brunnen der Öffentlichkeit zum Geschenk zu machen.

Das Gut Amsel war jedermann in der Stadt bekannt, denn Fahle war sehr gastfreundlich, und seine Einladungen hatten Berühmtheit erlangt. Es war indessen nicht einfach, zugezogen zu werden, denn der Sanitätsrat liebte nur Menschen von Originalität und Rechtschaffenheit um sich. Frau Beate Lerche-Schellhammer fehlte bei keiner Einladung, ebenso Christa, die mit der Tochter Fahles, Marion, befreundet war. Doktor Krüger, der frühere Bürgermeister, war hier öfter zu Gast, Wolfgang Fabian, der Bildhauer, verkehrte häufig dort, er war vielleicht der einzige Mann in der Stadt, mit dem der Sanitätsrat wahrhaftig befreundet war. Als Wolfgangs Freund, Lehrer Gleichen, vor einem Jahr an die Dorfschule von Amselwies strafversetzt wurde, führte er ihn bei Fahle ein, und die beiden verstanden sich sofort. «Ein seltener Mensc», sagte der Sanitätsrat, «er beherrscht gleich zwei Dinge meisterhaft: Schweigen und Schachspielen». Die beiden spielten jeden Montagabend eine Partie Schach, und an diesem Abend durfte sie niemand stören.

Fabian selbst kam nur selten nach Amsel. Ein einziges Mal hatte ihn Clotilde begleiten dürfen, die vor Erstaunen völlig schweigsam wurde. «Warum hast du nicht solch einen Besitz». fragte sie erregt und blaß. «Da könnte man menschenwürdig leben». Tagelang kam sie nicht darüber hinweg. «Dieser Geschmack, diese Möbel! Wir leben ja im Vergleich dazu in einer Spelunke! Nun, hoffentlich lädt mich Fahle bald wieder ein». Aber der Sanitätsrat erwähnte ihren Namen nicht mehr.

Das Gebäude war ein ausgedehntes, sehr einfach gebautes Landhaus, das beim ersten Anblick enttäuschte, denn man erwartete, eine Art Schloss zu sehen. Im Grunde genommen, war es eigentlich nichts als eine einzige, durch alle Stockwerke gehende Bibliothek. Die einzelnen Räume waren eingerichtet mit meist alten, kostbaren Möbeln, die der Sanitätsrat im Laufe seines Lebens erworben hatte. Die Gasträume waren kleine Wohnungen, die mit jedem erdenkbaren Komfort ausgestattet waren. Hier hatten schon englische Lords, Nobelpreisträger, Mitglieder der französischen Akademie wiederholt viele Tage und Wochen gewohnt. In der Stadt erzählte man sich wahre Märchen von den Badezimmern, die aber alle übertrieben waren. Einmal ließ Rebekka, Hausdame und Wirtschafterin, Fabian, der sehr neugierig war, einen Blick hineinwerfen, und er fand, dass die Gasträume keineswegs über den Geschmack und Komfort erstklassiger Hotels hinausgingen. Das Haus selbst aber, ja natürlich, es war kein Kunststück, dass es jemand gefiel. «Clotilde hat recht, in solch einem Haus würde man menschenwürdig leben». sagte er zu sich.

Schöner und bestechender noch als das Haus war der Park, in dem es lag. Er bestand fast nur aus exotischen Sträuchern und Bäumen. Er war nicht groß, aber nach Art japanischer Gärten täuschte er Größe vor. Zu dem Landhaus gehörte ein ausgedehnter Obstgarten mit edlen und großgepflegten Bäumen, Treibhäusern und eine kleine Landwirtschaft. Das war die Welt, wo der Sanitätsrat sich wohl fühlte. Er verbrachte im Sommer jeden Vormittag von sechs Uhr an im Obstgarten bei seinen Bäumen, von deren Pflege er mehr verstand als ein Gärtner, und in der Landwirtschaft, die musterhaft geführt wurde. Der Sinn des Sanitätsrats ging nicht auf Reichtum, er war sogar dafür bekannt, dass er besondere Krankheitsfälle ohne jedes Honorar behandelte. Arme Frauen und Kinder hatte er häufig auf längere Zeit zur Rekonvaleszenz in einen Kurort geschickt.

In Amsel lebte der Sanitätsrat, der verwitwet war, mit seiner Tochter Marion, einer älteren Hausdame Rebekka und einigen Dienstboten. Rebekka war wie die Herrin im Hause. Sie hatte Marion von Kindheit an wie eine Mutter erzogen und wurde Mamuschka genannt.

Als Fabian nach kurzer Autofahrt vor Amsel ankam, vernahm er vom Hause her ein heiteres, herzliches Lachen, an dem er sofort die ausgelassene Heiterkeit Marions erkannte. Zur gleichen Zeit erblickte er auch Marion, die unter einem Busch auf einer Steinbank saß und mit einem kleinen weißen Kätzchen spielte, das auf ihrem schwarzen lockeren Haarschopf herumkletterte. Marion neckte das Kätzchen mit einem kleinen Zweig, nach dem das Kätzchen gierig hechelte. Als sie die Gartentüre hörte und Fabian erblickte, sprang sie sofort auf, ohne sich um das Kätzchen im geringsten zu kümmern, und kam ihm, noch das ausgelassene Lachen auf den Lippen, rasch entgegen.

«Herrlich, dass Sie kommen, Doktor». rief sie ihm zu und reichte ihm die Hand. Das Kätzchen glitt dabei über ihre Schulter auf den Weg herab und flüchtete eilig in die Büsche.

Marion war ein junges Mädchen von ungewöhnlicher Schönheit und Frische. Sie machte den Eindruck einer dunkelhäutigen Italienerin mit schwarzen Haarlocken und dunklen Augen, die wie Steinkohle aus dem bläulichen Weiß funkelten. Etwa zwanzig Jahre alt, trieb sie leidenschaftlich Sport. Sie galt als eine der vorzüglichsten Tennisspielerinnen der Stadt und gewann vor zwei Jahren das große Klubturnier. Ihr heiteres, herzliches Lachen war überall bekannt, es umflatterte sie Tag und Nacht wie bunte Schmetterlinge. Die Frische und Heiterkeit, mit der sie das Leben hinnahm, hatte sie in der ganzen Stadt beliebt gemacht. Natürlich war sie stets von einer Schar von Verehrern und Bewunderern umschwärmt. Auch der junge Oberleutnant Wolf von Thünen machte ihr vor Jahren auffällig den Hof[41 - j-m den Hof machen – ухаживать за кем-л.]. Er war damals bis über die Ohren in sie verliebt und erzählte in dieser Zeit allen seinen Kameraden, dass er sich bald mit Marion verloben werde. Aber daran war nichts wahr.

«Papa freut sich ganz ungeheuer, dass Sie zu uns herauskomme», rief Marion aus, als sie Fabian zum Hause geleitete.

«Das Semester hat wohl noch nicht begonnen». begrüßte sie Fabian, der Marion seit Monaten nicht gesehen hatte. Marion studierte Medizin und wollte sich später als Röntgenologin im Institut ihres Vaters ausbilden. Das junge Mädchen errötete jäh. Wie eine Flamme schoss ihr das Blut in die Wangen, so dass sie jetzt noch mehr einer Italienerin ähnlich sah, die von der glühenden Sonne verbrannt war.

«O nei», stotterte sie, «o nein, mit dem Semester ist es diesmal nichts geworden». Sie brach unvermittelt ab und strich sich ordnend über das schwarze Haar, das das Kätzchen zerwühlt hatte. «Sie haben vergessen, dass ich zur Zeit als Hilfslehrerin in unserer Schule beschäftigt bi», fügte sie hinzu.

In diesem Augenblick wandte sie sich ab und ging voran ins Haus. «Sie erlauben, dass ich vorangeh», rief sie mit ihrer hellen Stimme. «Bitte, treten Sie ein. Papa wartet schon sehnsüchtig auf Sie». Fabian folgte ihr zögernd und betreten. Ihr jähes Erröten und die unerklärliche Hast hatten ihn erschreckt. In dieser Sekunde fiel ihm ein, dass er eine unverzeihliche Taktlosigkeit begangen hatte: Marion war ja Jüdin! Er hatte es im Moment völlig vergessen.

Welch unbegreifliche Torheit, die Frage nach dem Semesterbeginn! schoss es ihm durch den Kopf. Er errötete voller Beschämung und war glücklich, dass ihn niemand beobachtete.

Da hörte er Marions frische Stimme, die laut in die Halle hineinrief: «Mamuschka, Mamuschka». Er atmete auf, niemand hatte seine Verwirrung bemerkt.

Im gleichen Moment kam auch schon die Hausdame Rebekka aus einer Tür, gefolgt von einem Mädchen, das eine Schüssel voll ausgesuchter Birnen trug.

«Welch herrliche Birnen Sie da haben». rief Fabian aus.

«Es ist die Köstliche aus Charne», sagte Rebekka und presste Fabian herzlich die Hand, wobei sie ihm dankbar in die Augen blickte. Sie hielt seine Hand fest und liebkoste sie mit ihren weichen Händen.

«Haben Sie vielen Dank, dass Sie zu uns herauskommen. Wir sehen nur selten Menschen bei uns. Zuweilen kommt Ihr Bruder Wolfgang zu uns, jede Woche auch Herr Gleichen. Sonst aber haben uns alle vergessen».

«Ich werde Herrn Doktor Fabian bei Papa anmelden, Mamuschk», rief Marion und eilte durch die Diele. «Sie kennen ja den Weg, Papa ist oben auf der Terrasse». Leichtfüßig rannte sie die Treppe empor. Das weiße Kätzchen war ihr, ohne dass jemand es beobachtet hatte, gefolgt. Es flog hinter ihr her, kletterte blitzschnell auf ihren Rücken und ihren Kopf.

«Da ist Michel wieder, Mamuschk», schrie Marion lachend, und man hörte ihr Gelächter noch, als sie die Tür hinter sich schloss.

«Sie ist nichts als der reinste Übermut, diese Marion». sagte Rebekka und schüttelte verliebt den grauweißen Tituskopf[42 - Tituskopf m – прическа с короткими кудряшками, названная в честь римского императора Тита].

Fabian folgte Marion durch das große Bibliothekszimmer, eine Art Saal, der nahezu das ganze Erdgeschoss einnahm. Er hatte auf drei Seiten bis zum Boden reichende Fenster, durch die eine Flut helles Licht aus dem Garten strömte. Die Wände waren bis oben mit Büchern angefüllt, eine breite bequeme Treppe, auf der soeben Marion verschwunden war, führte in die erste Etage empor. Sobald man diesen Raum betrat, fühlte man sich von der Ruhe und Feierlichkeit eines Museums umgeben, und Fabian überkam abermals sein alter Gedanke, wie wundervoll es sich hier denken ließ. Wiederum betrachtete er im Vorübergehen die vereinzelten Möbel, Schränke, Truhen. Sie waren alle gediegen und erlesen, ohne prächtig zu sein. Ihr Zauber, wie der des ganzen Hauses, bestand in ihrer Gediegenheit und Vollendung. In allen Dingen hatte Fahle Pracht und Prunk vermieden.

Die Terrasse war breit und geräumig. Zwischen den grünen Blattpflanzen, Myrten und Lorbeerbäumchen, stand ein Ruhebett, auf dem Sanitätsrat Fahle lag. Er wandte Fabian das blasse, magere Gesicht mit den dunklen, leicht fiebrigen Augen zu, als er eintrat.




XII


«Sie erlauben, dass ich liegenbleibe, lieber Freund». sagte Fahle mit dünner, kraftloser Stimme. «Ich kann Sie auch so willkommen heißen und Ihnen danken für Ihren Besuch bei einem Verfemten[43 - verfemt sein – быть объявленным вне закона, подвергаться преследованиям]». Er deutete mit seiner weißen, durchsichtigen Hand auf einen Korbsessel an seiner Seite.

Fabian begrüßte ihn mit herzlichen Worten.

Sanitätsrat Fahle nickte. «Sie sehen, die Erregungen der letzten Monate haben mich niedergeworfe», fuhr er fort. «Heute versuchte ich noch ein wenig, die letzten Sonnenstrahlen zu genießen».

Fahle hatte stets das asketische, magere Gesicht eines Menschen gehabt, der Zeit seines Lebens geistig arbeitete, heute aber erweckte er den Eindruck eines leidenden Greises. Sein kurzer Bart schien dünner geworden zu sein und erschien nun fast weiß. Der hohe Schädel war fast völlig kahl, und in seinem abgezehrten Kopf lebten nur noch die dunklen Augen mit den buschigen dunkelgrauen Brauen. An seiner Rechten trug er wie stets einen Handschuh, um die Verstümmelungen zu verbergen, die er vor einem Menschenalter bei Experimenten mit Röntgenstrahlen erlitt. «Ich liege hier und denke daran, wie schön das deutsche Land is», begann er von neuem und richtete die dunklen Augen voller Trauer auf den kleinen Park, wo eine exotische Buche mit rotem Laub stand, als sei sie soeben in Flammen aufgegangen. «Können Sie begreifen, wie schwer es ist, nicht mehr dabeizusein, ausgeschlossen zu sein aus einem Lande, in dem man aufwuchs und siebzig Jahre alt wurde? Können Sie das? Ich sehe vor mir das Gebäude des deutschen Geistes, unsichtbar für die meisten, kristallen und herrlich, vor dem die ganze Kulturwelt Achtung empfand. Ich bin stolz, dass auch ich mit meinen bescheidenen Kräften an diesem Gebäude mitarbeiten durfte! Ich sehe vor mir das Reich der Forscher und Wissenschaftler, das erhabene Reich der Musik, Dichtkunst und Philosophie. Es ist nicht leicht, all diese Reiche zu überblicken! Ein ganzes Leben lebte ich in diesen Reichen, und heute bin ich gezwungen, ausschließlich in ihnen zu leben, da ich meine irdische Heimat verloren habe. Können Sie die Befriedigung begreifen, die mich bei dem Gedanken erfasst, dass man mich aus diesen Reichen nicht vertreiben kann. Können Sie das». Er schwieg, den Blick auf Fabian gerichtet, und strich mit seiner durchsichtigen Hand über den fast weiß gewordenen Bart, so leicht, dass seine Fingerspitzen ihn kaum berührten.

«Ich glaube, Sie zu verstehe», entgegnete Fabian, erschüttert von der Trauer des alten Mannes.

Ein Lächeln erwachte in Fahles Zügen. «Befriedigung». fuhr er fort, ohne Fabians Einwurf zu beachten. «Wenn ich zur Zeit nicht an einer Depression litte, würde ich sagen: das Glück? Können Sie das Glück begreifen? Es ist mein kostbarster Besitz, und niemand kann ihn mir nehmen. Niemand, niemand».

Marion kam auf die Terrasse und brachte Kaffee, den sie mit heiteren Worten servierte. Das weiße Kätzchen lief wie ein Hund hinter ihr her.

Marion lachte belustigt auf. «Du siehst, Pap», rief sie aus, «ich habe eine ernste Eroberung gemacht».

Fahles Augen strahlten beglückt. «Du eroberst nicht nur Menschen, mein Kin», rief er.

Marion ergriff das Kätzchen und setzte es auf ihre Schulter. Mit einem hellen Lachen verließ sie die Terrasse.

Der beglückte Ausdruck verklärte noch immer Fahles dunkle Augen, als er ihr mit den Blicken folgte. «Ich danke Got», sagte er zu Fabian, «dass das Geschick Marion nicht so zermalmend niederdrückt wie ihren alten Vater. Sie trägt es tapferer als ich, mit der Tapferkeit der Jugend, die ja selbst den Tod nicht fürchtet, weil sie nicht an ihn denkt. Ihr Herz ist voller Heiterkeit und Lachen. Sie wissen, dass man ihr das Studium an der Universität untersagt hat».

Fabian nickte und errötete stark, da er sich wieder der Taktlosigkeit seiner Frage beim Eintritt erinnerte.

«Welch eine schmachvolle Bestimmung». fuhr Fahle fort. «Bedenken Sie, es ist die gleiche Universität, an der Marions Großvater zwanzig Jahre lang einen Lehrstuhl für Augenchirurgie innehatte». Fahle hielt einen Moment inne und richtete die Blicke wieder düster auf den Park. «Heute ist sie in der jüdischen Schule als Lehrerin tätig. Sie haben dort dreißig Schüler und nur einen kellerähnlichen Unterrichtsraum. Aber das Unterrichten befriedigt sie, und sie scheint glücklich zu sein. Wenigstens habe ich von ihr noch nie die leiseste Klage gehört». «Es sind schwere Prüfungen für alle Wel», sagte Fabian. «Sie erinnern sich wohl meiner Ansichten über diese unsinnigen Dinge? Ich habe mein Urteil darüber bis heute nicht geändert und werde es auch niemals ändern. Übrigens bin ich noch immer überzeugt, dass alle diese unbegreiflichen Maßnahmen Übergangserscheinungen und vorübergehend sind».

Fabian gelang es, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Er erzählte von seiner Kur, den Sanatorien, den Ärzten, den Bädern, den Spaziergängen, der Verpflegung. Das Interesse des Sanitätsrats erwachte nach kurzer Zeit, und schon warf er kurze Fragen dazwischen, erbat Ergänzungen über das und jenes, lobte, tadelte. Bald hatte er seine niedergedrückte Stimmung völlig überwunden, und etwas von seiner gewohnten alten Lebendigkeit kehrte zurück.

«Ich freue mich über Ihre Fortschritte, die ja unverkennbar sin», sagte er schließlich. «Und nun darf ich wohl von meinen eigenen Sorgen sprechen und von der Angelegenheit, in der ich Ihre Hilfe und Ihren Rat nötig habe».

Fabian beteuerte, dass er alles tun werde, was in seine Macht stände. «Verfügen Sie über mic», versicherte er.

«Ich wusste ja, dass ich mich auf Sie verlassen kann, lieber Freun», erwiderte Fahle dankbar. «Ihr Bruder Wolfgang war neulich bei mir und gab mir den Rat, auf Ihre Rückkehr zu warten. „Mein Bruder“, sagte er, „hat sich sein offenes Herz und seinen Kopf bewahrt und wird schon Rat schaffen.».

Man hatte Sanitätsrat Fahle auf Grund der bekannten Rassengesetze seines Postens im städtischen Krankenhaus enthoben und nach einer gewissen Zeit nur das Praktizieren unter seinen Rassegenossen erlaubt. Dann aber ging es um sein Röntgeninstitut, dessen Leitung er nach wie vor behalten hatte. Zunächst entließ man seine beiden Assistenten, Juden, sehr tüchtige Leute, und ersetzte sie durch neue; schließlich wurde auch ein neuer Direktor für das Institut ernannt. Vor wenigen Wochen nun hatte ihm der neue Direktor das Betreten des Instituts verboten. Es war letzten Endes Fahles Institut, das er aus eigenen Mitteln aufgebaut und unterhalten hatte, eine Menge seltener Apparate waren sogar seine eigene Erfindung. Der neue Direktor aber erklärte ihm, dass das kostbare Institut mit seinen unersetzbaren Einrichtungen unter gar keinen Umständen der Gefahr der Sabotage ausgesetzt werden dürfe.

Fabian sank in seinen Sessel zurück. «Gefahr der Sabotage». rief er empört aus. «Ja». Sanitätsrat Fahle nickte. Sein Gesicht verschwamm vor Fabians Augen. Er sah nur noch seine großen dunklen Augen, die von Gram erfüllt waren, und die buschigen dunklen Brauen darüber.

Nach einer Weile fand Fabian seine Fassung wieder. «Unmöglich». rief er. «Das ist ja der Gipfel der Schamlosigkeit, mein verehrter Herr Sanitätsrat». Er richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf. «Gewiss, ja, ganz sicher handelt es sich um den Willkürakt eines untergeordneten Beamte», sagte er endlich. «Ich werde jedenfalls sofort, morgen vormittag, mit dem Direktor des Krankenhauses Rücksprache nehmen, Doktor Franke ist mir ja gut bekannt».

Fahle lächelte bitter. «Doktor Franke». entgegnete er. «Doktor Franke werden Sie nicht mehr antreffen. Er wurde schon vor Monaten entlassen».

Voller Erstaunen blickte Fabian auf ihn. «Ich kannte Doktor Franke sehr gu», rief er aus, «er war ein selten gütiger und begabter Mann. Sie wissen nicht, aus welchem Grunde man ihn entließ».

Fahle nickte. «Doch, ich weiß es, wie alle Welt es wei», erwiderte er mit müder Stimme. «Es schwebte lange Zeit eine Untersuchung gegen ihn, dann griff der Staatsanwalt ein. Eine frühere Krankenschwester hat Anklage gegen Doktor Franke erhoben, vor fünf Jahren einen unerlaubten Eingriff an ihr ausgeführt zu haben». «Dann muss ja wohl der Eingriff mit ihrem Einverständnis erfolgt sein». «Auf ihren Wunsch sogar. Sie war damals erst siebzehn Jahre alt. Nun, man wollte Doktor Franke vernichten, und man hat ihn vernichtet. Die Krankenschwester dagegen, die der Partei angehört, wurde freigesprochen und bekam einen auskömmlichen Posten». Fahle lachte kurz auf.

Fabian schwieg und blickte in den Park hinaus, ohne das Geringste zu sehen.

«Der Leiter des Krankenhauses ist heute ein Doktor Sandkuhl, noch sehr jung und völlig unnahba», fuhr Fahle nach heftigem Husten fort. «Es dürfte schwer sein, ihn zu einer Änderung der neuen Bestimmungen über das Institut zu bewegen, die wahrscheinlich von ihm selbst ausgehen»..

Das Institut sei zu gemeinnützigen Zwecken beschlagnahmt worden, begann Fahle nach kurzem Schweigen, während Fabian mit unruhiger Miene seinen Gedanken nachging und kaum zuzuhören schien. Es diente ja immer schon gemeinnützigen Zwecken, zwanzig Jahre lang, wenn es auch nebenbei der reinen Forschung gewidmet war. Fahle hatte ohnedies die Absicht gehabt, das Institut bei seinem Tode der Stadt zu vermachen.

«Seit Wochen indessen beschäftigt mich eine eigenartige Ide», sprach Fahle weiter, und Fabian wachte aus seinen Gedanken auf, und seinen Augen war es anzusehen, dass er wieder zuhörte, «eine eigenartige Idee, die ich aber nur mit meinen neuesten Apparaten im Institut nachprüfen kann, verstehen Sie? Es ist eine Idee von großer Tragweite. Ich müsste zu diesem Zweck zuweilen im Institut arbeiten, vielleicht an den Sonntagen, wo kein Mensch im Institut ist. Das würde gewiss nicht stören. Es wäre also nichts anderes zu tun, als mir bei Doktor Sandkuhl diese Erlaubnis zu erwirken. Glauben Sie, dass Sie diese Sache in die Wege leiten[44 - etw. in die Wege leiten – налаживать, устраивать] können? Das war die Bitte, weshalb ich Sie zu mir bat».

Fabian erhob sich, und seine Miene zeigte einen entschlossenen Ausdruck. «Ich glaube bestimmt, dass es nicht allzuschwer sein wird. Jedenfalls will ich alles, was in meiner Macht steht, versuche», versicherte er. «Man wird doch schließlich eine politische Schrulle für einen Augenblick vergessen können, wenn es sich um eine wissenschaftliche Forschung handelt».

«Danke, lieber Freund». Fahle griff nach Fabians Hand. Mit einem bitteren Lächeln fügte er hinzu: «Vor einigen Jahren hat mir die Universität Cambridge einen Lehrstuhl angeboten. Leider habe ich das Angebot ausgeschlagen. Unser Freund Krüger wollte mich auf keinen Fall gehen lassen und schwor mir, sich zu jeder Zeit wie ein Erzengel schützend vor mich stellen zu wollen, wenn es einmal nötig sein sollte. Wie ein Erzengel! Und heute muss ich darum betteln, einige Stunden in meinem Institut arbeiten zu dürfen».

Er brach ab. Wieder war es Marion, die eintrat. Sie entschuldigte sich, es fange an, kühl zu werden, und sie müsse die Herren bitten, sofort ins Haus zu kommen. Dann wandte sie sich an Fabian: «Ich hoffe, Sie machen uns die große Freude, mit uns zu Abend zu speisen». fragte sie.

Fabian bedauerte. Er habe halb und halb seinem Bruder den heutigen Abend versprochen.

«Halb und halb». rief Marion lachend, während sie ans Telefon eilte. Sofort führte sie ein heiteres Telefongespräch mit Wolfgang, den sie ebenfalls zum Essen einlud. Aber Wolfgang konnte nicht, er konnte auch heute nicht in den «Ster». kommen zu seinem Bruder, eine plötzliche Arbeitswut hatte ihn befallen.

Im Augenblick war alles in Ordnung gebracht. «Nun gibt es kein Hindernis meh», rief sie Fabian triumphierend zu, während sie dem Vater behilflich war, sich vom Diwan zu erheben. «Übrigens werden auch Frau Lerche-Schellhammer und Christa zu Tisch sein. Die Damen nehmen Sie sicher gern in ihrem Wagen mit zur Stadt zurück».

Christa? Fabian sah ihr mildes Lächeln vor sich, als er ihren Namen hörte. Er freute sich, sie überraschend wiederzusehen.




XIII


Fabian war aufrichtig entschlossen, sich der Sache Fahles anzunehmen. Er fand es empörend, dass man einen Gelehrten von Fahles internationaler Bedeutung so herabwürdigend und schamlos behandelte.

Es handelt sich in erster Linie darum, an den neuen Direktor des Krankenhauses, diesen Doktor Sandkuhl, heranzukommen, und der aussichtsreichste Weg schien ihm über Justizrat Schwabach zu führen, der eine maßgebende Rolle in der Partei spielte. Schwabach war Vorsitzender in der Anwaltskammer der Stadt und vertrat Fabian gleichzeitig in seiner Scheidungsangelegenheit. Das traf sich sehr gut, er hatte ohnehin mit ihm zu tun. Sofort vereinbarte er mit Schwabach telefonisch eine Unterredung auf den nächsten Tag. Nun erst war er beruhigt.

Justizrat Schwabachs Büroräume lagen in der Hauptgeschäftsstraße, im Hause des Juweliers Nicolai, das völlig renoviert worden war. Der Treppenaufgang machte einen wahrhaft großstädtischen Eindruck, und ebenso eindrucksvoll war das blitzende Messingschild mit der Aufschrift: Edler von Schwabach.

Fabian lächelte. Edler von Schwabach! Das hörte sich gut an und war in diesen Tagen nicht mit Gold zu bezahlen. Dieser Schwabach gehört zu den Menschen, bei denen alles zum Guten ausschlägt[45 - zum Guten ausschlagen – благополучно кончаться, оборачиваться добром], dachte er. Schwabach hatte wie alle Anwälte eine Reihe von Urkunden vorlegen müssen, um seine arische Abkunft zu beweisen. In seiner Heimat, einem kleinen Dorf in Württemberg, hatte er erfahren, dass er einer alten adligen Familie entstammte. Als Bürgerlicher fuhr er hin, als Adliger kam er zurück. Seine Briefbogen trugen jetzt ein Wappen: ein Vogel, der einen Fisch im Schnabel hält.

Das wie ein Salon eingerichtete Wartezimmer saß voller Klienten, was Fabian nicht ohne gewissen Neid wahrnahm. Schwabach galt als einer der besten Anwälte der Stadt, und zur Zeit benötigten auch viele seinen bekannten Einfluss als mächtiges Parteimitglied. Der Bürovorsteher meldete Fabian aber sofort an, und er brauchte kaum einige Minuten zu warten.

«Sie sind ja zur Zeit als Syndikus beurlaubt, lieber Kollege». sagte Schwabach, als er Fabian begrüßte. «Bürgermeister Taubenhaus hat es mir gestern in der Sitzung erzählt».

Schwabach war ein untersetzter, beleibter Herr und sah wie ein Pudel aus, ein gutmütiger grauer Pudel. Jedenfalls erinnerten der wirre graue Haarschopf und der aufgeplusterte Schnurrbart Fabian immer an einen Pudel. Dazu hatte er einige tiefe Schmisse, die ihm die fleischigen Backen und das runde Kinn förmlich in Stücke zerschnitten hatten. Er war in seiner Jugend ein großer Raufbold gewesen. «Hoffentlich nicht allzu lang», erwiderte Fabian, zuversichtlich lächelnd.

«Ja, wir wollen es hoffe», entgegnete der Justizrat. «Nun, schließlich liegt es ja bei Ihnen. Wie mir Taubenhaus erzählte, haben Sie schon die einleitenden Schritte unternommen».

Fabian war äußerst erstaunt. «Ich hatte doch um äußerstes Stillschweigen gebete», sagte er.

Schwabach lachte. «Stillschweigen? Stillschweigen». erwiderte er. «Wir leben in einem geordneten Staatswesen, in dem es in vielen Dingen kein Stillschweigen mehr geben darf! Jedenfalls erfährt Taubenhaus alles, und als Stadtoberhaupt muss er auch schließlich alles wissen, was in der Stadt vor sich geht, nicht wahr». Er deutete auf einen bequemen Sessel hinter seinem Schreibtisch. Mit der Hast des vielbeschäftigten Anwalts begann er ohne jede Vorbereitung von der Scheidungsangelegenheit zu sprechen. «Die Gegenpartei bezeigte nach Ihrer Rückkehr mit auffallender Eile sofort wieder die alte Aktivität, ich nehme an, der Motor ist Ihre Frau Gemahlin».

Fabian nickte. «Mit größter Wahrscheinlichkei», stimmte er zu. Oh, er kannte Clotildes Augen zu gut, um sich zu täuschen. Seit seiner Rückkehr sahen sie härter und gleichgültiger aus, in den letzten Tagen hatte er sie nur glänzend und hart gesehen, manchmal erschienen sie völlig gläsern. Sie verachtete ihn, weil er, wie sie glaubte, nicht genug Entschlossenheit in jenen politischen Dingen zeigte, die ihr am Herzen lagen.

Schwabach kramte in einem Stoß von Schriftstücken. «Ihr Anwalt hat mir einen neuen Schriftsatz übersand», sagte er, «einen Schriftsatz, der eine gewisse Verschärfung der Lage bedeutet». Schwabach war sehr kurzsichtig, so dass er gezwungen war, die Brille dicht auf das Schreiben zu senken. Fabian erblickte jetzt nur noch den Pudelkopf und seine mächtige Glatze, die den roten Schädel in einem Gewirr grauer Haare entblößte.

Unerwartet schielte der Justizrat in die Höhe, um Fabian ins Gesicht zu blicken. «Ihre Beziehungen zur Sängerin Lucie Ölenschläger haben Sie ja nie bestritten». fragte er.

Fabian schüttelte den Kopf. «Ich würde mich auch schämen, es zu tu», antwortete er, während er an diese unglückliche Frau dachte, die er einmal vorübergehend liebte. Sie weinte fast immer und vergiftete sich ein Jahr später in einem Hamburger Hotel. Einige Tage vor dieser Liebelei hatte ihn Clotilde kurzerhand ausquartiert. Sie hatte ihr Schlafzimmer im Salon aufgeschlagen. «Es ist ja immerhin schon geraume Zeit he», fuhr der Pudelkopf nickend fort. «Nun behauptet der gegnerische Schriftsatz, Frau Fabian hätte es als besondere Schmach empfinden müssen, dass Frau Lucie Ölenschläger Jüdin war. Dieser Umstand sei besonders gravierend».

Fabian verzog ironisch die Lippen. «Frau Fabia», sagte er, «hatte damals keine Ahnung, dass Frau Ölenschläger Jüdin war, ebensowenig wie ich».

Schwabach wühlte in den grauen Haaren. «Immerhin wäre es sehr wirksa», begann er von neuem, «wenn wir diesen Vorstoß mit einem Gegenangriff erwidern könnten. Behaupteten Sie nicht, dass Ihre Ehe in die Brüche ging, weil Ihre Frau keine Kinder mehr haben wollte? Sagten Sie nicht, sie wolle sich nicht die Figur verderben lassen? War es nicht so? Wenn ich nur das geringste Beweismaterial in Händen hätte, einen Brief, eine Notiz».

«Clotilde drückte ihre Abneigung gegen eine erneute Schwangerschaft noch viel derber au», erwiderte Fabian, «leider aber habe ich kein schriftliches Beweisstück in Händen».

«Schade, schade». rief der Justizrat aus, indem er den grauen Pudelkopf hin und her wiegte. «Keinerlei Aufzeichnung, keinen Brief? Das hätte stärksten Eindruck gemacht! Eine deutsche Frau, die ihre Figur schonen will! Schade, schade». Wieder wiegte er den grauen Pudelkopf hin und her. «Auf jeden Fall werden wir dieses Verhalten in das grellste Licht setzen, auch wenn man es abstreitet».

Sie besprachen noch dies und jenes, während Fabian über seine Ehe nachdachte.

Traurigkeit überkam ihn, dass eine Liebesheirat ein solch beschämendes Ende nehmen sollte.

Er sah Clotilde als Mädchen vor sich, einen schneeweißen wippenden Florentinerhut auf den blonden Haaren. Sie war frisch und reizend wie alle jungen Mädchen, strebsam, voller Interesse für Kunst und Literatur, wissbegierig, fleißig, spielte eifrig Klavier und lernte fremde Sprachen. Damals reiste sie viel mit ihrer Mutter, die eine launenhafte und hochmütige Frau war und gern die große Dame spielte. In dieser Zeit galt Clotilde für vermögend, ihre Mutter besaß vier stattliche Mietshäuser, und Fabian konnte nicht leugnen, dass ihn diese vier Häuser besonders reizten, sich um die Hand des jungen Mädchens zu bewerben.

Von einer Mitgift war natürlich nicht die Rede, denn Clotilde würde ja als einziges Kind die vier Häuser erben. Als aber die Mutter starb, stellte sich heraus, dass die vier Häuser mit Hypotheken überlastet und so stark vernachlässigt waren, dass Fabian froh war, sie endlich abstoßen zu können.

All das ging ihm durch den Sinn, während der Justizrat verschiedene Punkte aus dem Schriftsatz des Gegenanwalts halblaut vorlas. Er hatte alles schon oft gehört, und es interessierte ihn kaum noch, als beträfe es einen Fremden.

Der ganze unglückliche Verlauf seiner Ehe mit Clotilde stand ihm vor Augen. Vielleicht verändern sich alle Frauen völlig in der Ehe? dachte er. Vielleicht bricht ihre wahre Natur in der Ehe durch, jetzt, da sie ihr Ziel erreicht haben? Wer weiß es?

Clotilde spielte prächtig Klavier, und er, der die Musik über alles liebte, hatte sich auf die Musikabende gefreut. Aber in der Ehe rührte Clotilde das Klavier kaum mehr an. Sie öffnete auch kaum noch ein Buch und fand alle Gespräche über Bücher und Literatur zum Sterben langweilig. Mehr und mehr hing sie ihr Herz an äußerliche Dinge.

Die vier Häuser, die sie in die Ehe brachte, hatten sich zwar als völlig wertlos erwiesen, trotzdem behielt sie ganz die Passionen einer reichen Erbin bei. Natürlich musste sie ein Auto haben, einen bestechenden Wagen, dass ihre «Freundinnen vor Neid platzte», später entdeckte sie ihre Liebe zu Pferden und hielt Reitpferde. Sie liebte elegante Kleider und Hüte, sie liebte luxuriöse Badeorte und Hotels, Ostende[46 - Ostende – бельгийский порт и климатический курорт] zum Beispiel oder das «Stephani». in Baden-Baden. Vornehme Herrschaften erträumte sie sich als ihre Gesellschaft. Auch ihre Freundschaft mit der Baronin Thünen ließ sich mit dieser Neigung erklären. Ihre Liebe verging, ihre Oberflächlichkeit blieb zurück.

Er verdiente damals viel Geld, aber wenn er nur wagte, etwas Sparsamkeit in dem und jenem zu empfehlen, pflegte sie die Achseln zu zucken und zu lachen: «Mein Gott, wenn ich denke, welche Unsummen andere Männer verdienen». Reichtum, das war ihr Traum!

Ihre Ansichten über Sinn und Ziel des Lebens trennten sich immer mehr, und als er es gewahr wurde, waren sie schon hoffnungslos entfernt voneinander.

Er konnte mit einem guten Buch, einer Flasche Wein und einer guten Zigarre zufrieden sein, Clotilde aber hatte nur kostbare Dinge im Kopf, Mäntel, Pelze, Hotels, Autos, Pferde, alles andere war Unsinn. Allmählich waren sie in die Zone des Schweigens geraten, die gefährlichste Zone in einer Ehe, denn aus ihr führt kaum mehr ein Weg zurück.

Wir leben auf zwei verschiedenen geistigen Ebenen, dachte Fabian oft. Diese Erkenntnis überkam ihn endlich, und er war stolz auf seine Weisheit. Und vielleicht, ging es ihm oft durch den Sinn, ist es das schlimmste Schicksal, das einen Mann treffen konnte, mit einer Frau auf verschiedener geistiger Ebene verheiratet zu sein?




XIV


Es wäre natürlich unsinnig gewesen, eine derart zermürbte Ehe wieder zusammenflicken zu wollen. Fabian sah das längst ein. Jetzt handelte es sich darum, die nicht geringen Forderungen Clotildes auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen. Auf keinen Fall aber, erklärte er Schwabach, werde er die Erziehung der beiden Jungen der Mutter überlassen. Als Vater und Christ sei ihm das völlig unmöglich!

Der Justizrat warf einige Notizen aufs Papier, dann legte er den Schriftsatz zur Seite und erhob sich, indem er sich reckte und den Pudelkopf schüttelte.

Nun trug Fabian die Angelegenheit von Sanitätsrat Fahle vor. Sofort hörte Schwabach mit dem Recken und Strecken auf und kehrte wieder auf seinen Stuhl zurück. «Ich stehe zur Verfügung[47 - j-m zur Verfügung stehen – быть, находиться в чьем-л. распоряжении], Herr Kollege».

Schwabach, an dessen Gutherzigkeit niemand zweifelte, hörte aufmerksam zu, aber allmählich wurden seine Züge leblos, selbst seine dicken Lippen bewegten sich nicht mehr. «Fahle? Fahle». murmelte er halblaut vor sich hin, als höre er den Namen zum erstenmal. «Ich war stets ein großer Bewunderer Fahles». Schwabach hatte die Stimme gedämpft, obwohl alle Türen seines Arbeitszimmers gepolstert waren. «Es handelt sich um eine neue Entdeckung, die von epochaler Bedeutung sein kann, Herr Justizra», schloss Fabian sein Ansuchen.

Schwabach tastete mit seiner fleischigen Hand nach Fabians Arm. «Man möchte natürlich einem so bedeutenden und prachtvollen Mann wie Fahle gern behilflich sein, von Herzen gern, verstehen Sie? Ich sehe aber keine Möglichkeit, nicht die geringst», sagte er endlich.

«Wenn ich oder noch besser Sie mit dem neuen Direktor des Krankenhauses sprächen». widersprach Fabian.

«Direktor Sandkuhl ist ein Fanatike», raunte Schwabach so leise und tief, als befürchte er, jemand lausche an der Tür. «Er lebt wahrscheinlich in der Furcht, dass Fahle als fanatischer Jude die unersetzlichen Instrumente zerstören könnte. Lächeln Sie nicht! Wie ein Katholik an das Dogma glaubt, ohne zu deuteln, so glaubt er an die Unfehlbarkeit der höchsten Stelle. Wir kennen die Gedankengänge der höchsten Stelle nicht. Vielleicht ist sie der Ansicht, dass die Juden für die deutsche Mentalität schädlich sind, vielleicht glaubt sie, dass der Einfluss des Judentums die deutsche Mentalität in hundert Jahren zerstören und vernichten wird? Wer soll es wissen? Sandkuhl wagt es nicht, eine eigene Meinung zu haben. Er kommt von der Armee und ist gewohnt, Befehle blind auszuführen».

Fabian erhob sich. «Sie erlauben mir, dass ich es trotzdem versuch»,versetzte er. «Vielleicht gelingt es mir, Sandkuhl zu überzeugen, dass die von der ganzen Stadt geschätzte Persönlichkeit Fahles und seine wissenschaftlichen Forschungen eine Ausnahme zulassen».

Schwabach stand ebenfalls auf, schüttelte den Kopf. «Sie werden nichts erreichen, lieber Freund, nichts und bei niemand». fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. «Ich weiß, wie man an höchster Stelle denkt, glauben Sie es mir. Als Kollege aber, der Sie schätzt, gebe ich Ihnen den guten Rat, lassen Sie die Hände von diesen Dingen».

Fabian blickte Schwabach forschend an und zögerte zu antworten.

Darauf legte Schwabach seine fleischige Hand auf Fabians Schulter und setzte hinzu: «Es ist der Rat eines Freundes. Sie begeben sich auf ein heikles Gebiet, ja auf ein gefährliches Gebiet! Hören Sie auf mich».

Er geleitete Fabian bis ins Vorzimmer und sagte mit seiner gewöhnlichen lauten Stimme: «Und das mit der Stadt bringen Sie wohl am besten bald ins reine[48 - etw. ins reine bringen – выяснить, урегулировать что-л.]? Taubenhaus ist ein großzügiger Mann, der das Herz auf dem rechten Fleck hat». Da Fabian nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: «Wir müssen ja alle unser Scherflein auf dem Altar des Vaterlandes niederlegen[49 - unser Scherflein niederlegen – внести свою лепту], nicht wahr? Und ich weiß doch, dass Sie immer ein großer Patriot und Idealist gewesen sind». «Patriot werde ich wohl immer bleiben». erwiderte Fabian lächelnd. «Und auch Idealist bin ich noch immer, leider, hätte ich fast gesagt».

Schwabach lachte. «Gott sei Dank, wollen wir lieber sagen». rief er aus und reichte Fabian die Hand. «Wir haben in der Anwaltskammer oft von Ihnen gesprochen und im Hinblick auf Ihre Begabung so sehr bedauert, dass Sie zu keinem Entschluss kommen können. Allerdings, viel länger könnten wir nun nicht mehr warten, will ich Ihnen ganz im Vertrauen sagen… Leben Sie wohl, lieber Kollege».

Wenige Stunden später rief Fabian bei Sanitätsrat Fahle an. Er berichtete ihm, dass er bereits die ersten Schritte in der bewussten Angelegenheit unternommen habe. Er werde sich weiter nach Kräften bemühen und bäte nur um etwas Geduld, alles brauche Zeit. Es war ihm unmöglich, Fahle die bittere Wahrheit mitzuteilen, die ihn vernichtet hätte.

Schade, dachte er voll echten Mitleids, als er den Hörer ablegte. Es ist nichts zu machen, dreimal schade. Schwabachs Haltung hat mich mehr als überzeugt. Er ist immer vorzüglich orientiert. Gefährliches Gebiet? Hast du gehört, dass er gefährliches Gebiet sagte?

Er begab sich völlig zermürbt in den «Ster», um zu Abend zu essen. Da es noch früh war, befand sich noch kein Gast im Speisesaal. Trotz aller Erschöpfung verspeiste er mit gutem Appetit ein vorzügliches Sahnegulasch, und bei einer Zigarre und einer Flasche Bordeaux, die er langsam austrank, Glas um Glas, gab er sich seinen Gedanken über das Leben hin, das sich vor ihm ausbreitete.

Ein Abschnitt seines Lebens lag hinter ihm, er hatte schwere Fehler begangen, zugegeben, Clotildes Ansprüche würden auf keinen Fall gering sein, das war sicher. Die vier wertlosen Mietshäuser Clotildes werden mich eine schöne Stange Geld kosten – er lachte —, aber vergessen wir nicht, dass sie mir zwei prächtige Jungen geboren hat. Das wollen wir niemals, niemals außer acht lassen! Er hob das Glas und trank auf seine Jungen, Harry und Robby hießen sie. Was war, das war!

Gottlob hatte er Kraft und Mut genug behalten, um ein neues Leben zu beginnen. Wenn er ehrlich sein sollte, so hatte er nur aus Bequemlichkeit bis heute die Verhältnisse nicht geändert. Clotilde hielt das Haus in Ordnung und sorgte für eine feine Küche. Ihre Küche werde ich ja wohl vermissen, dachte er und lachte. Er hob das Glas. «Mut, Fabian». sagte er laut, er trank sich selbst zu.




XV


Der Schuhmacher Habicht, ehemals nichts als ein kleiner Flickschuster, hatte sein Geschäft früher in einem Keller am Hafenplatz, aber dort sagte man Fabian, dass er seit langem verzogen sei. Im Schottengraben fiel Fabian sofort ein langgestrecktes Gebäude auf, dessen Aufstockung soeben beendet wurde. Das Erdgeschoss des langen Gebäudes, das fast den ganzen Schottengraben einnahm, enthielt die Büroräume der Fabrik von Habicht.

Soeben fuhr ein Lastauto, beladen mit herb riechenden Lederballen, durch die Einfahrt zum Fabrikhof. Ein Diener in schlichter, grauer Livree, der nach Fabians Wünschen fragte, bedeutete ihm, dass der Herr Sturmführer, so nannte er ihn, im Kontor beschäftigt sei, zu dem einige neue granitene Stufen emporführten. Hier saß Habicht, eine Zigarre im Mund, und diktierte einer Sekretärin Geschäftsbriefe in die Maschine.

Fabian war aufs äußerste erstaunt. Ein tadellos gekleideter Herr mit weißem Kragen und einer kostbaren Krawatte erhob sich, und er hatte Habicht nur mit der Lederschürze und einem blauen Arbeitskittel in Erinnerung, in seinem düsteren Keller damals. Immerhin waren die großen Ohren, die wie Klappen von seinem kugelrunden Schädel abstanden und vom Licht rot durchleuchtet wurden, unverkennbar. Als Fabian eintrat, schickte er die Sekretärin ins Nebenzimmer.

Das Büro war mit großem Luxus eingerichtet. Teppiche, Holzvertäfelung an den Wänden, vier dunkelrote Klubsessel standen um einen großen, gediegenen Schreibtisch. Ein schwerer Siegelring und ein Brillant am kleinen Finger schmückten die roten Hände des früheren Flickschusters.

Da siehst du, wie es gemacht wird, dachte Fabian, er ist früher aufgestanden als du.

«Darf ich bitten». sagte Habicht und deutete auf einen der dunkelroten Klubsessel. «Seit Jahren warte ich schon auf Ihren Besuch, Herr Doktor».

Fabian hatte nur zehn Minuten mit Habicht zu sprechen, der ihn nach der Unterredung bis an die Einfahrt hinaus begleitete und ihm wie einem alten Bekannten die Hand schüttelte.

Wenige Tage später erhielt er vom Bürgermeister Taubenhaus die Aufforderung, ihn zu besuchen.

Wenn man früher zu Doktor Krüger ging, so wurde man von einem Fräulein Braun, einer stets liebenswürdigen und gewandten Dame empfangen, mit der es sich vorzüglich plaudern ließ. Mit Krüger war auch seine liebenswürdige Sekretärin verschwunden. Fabian war äußerst überrascht, ein junges, hübsches Mädchen in gelber Seidenbluse vor sich zu sehen. «Herr Oberbürgermeister erwartet Si», sagte die junge Dame in der gelben Seidenbluse und öffnete die Tür, die in das Amtszimmer des Stadtoberhauptes führte.

Der Bürgermeister empfing Fabian mit gemessener Freundlichkeit, die Besprechung aber dauerte länger als eine Stunde.

Über diesen Taubenhaus hatte Fabian nur einiges von Baurat Krieg gehört, der ihn als engstirnigen Pedanten beschrieb, der peinlich auf die Einhaltung der Dienststunden achtete. Bei Krüger konnte man getrost eine Stunde später kommen oder früher gehen, das gab es jetzt nicht mehr. Taubenhaus sollte an den Türen lauschen, um zu hören, ob die Damen schwatzten, anstatt mit der Maschine zu klappern, wie es sich gehörte. Seine Sparsamkeit sollte schon an Knickerei grenzen, jeder Bleistift, jedes Farbband und jeder Bogen Papier musste peinlich gebucht werden. Natürlich war das stark übertrieben, und Fabian war angenehm überrascht, einen nicht unsympathischen Herrn, der kaum die Vierzig überschritten hatte, anzutreffen.

Bürgermeister Taubenhaus war ganz Würde. Gekleidet in einen schwarzen Gehrock, hatte er halblanges, wie schwarze Borsten emporstehendes Haar und ein gestutztes schwarzes Schnurrbärtchen unter den Nasenlöchern, das an zwei Rußflecke erinnerte.

Er trug eine goldene Brille, die beim Sprechen lebhaft funkelte. Im Knopfloch war das Parteiabzeichen zu sehen, und auf der Brust seines Gehrocks gewahrte man eine Ordensschnalle, an der die Miniaturausgaben von mehreren Auszeichnungen hingen. Im Laufe der Besprechung konstatierte Fabian, dass es sich um recht alltägliche Auszeichnungen handelte, einfaches Blech, wie es jeder Offizier besaß.

Der neue Bürgermeister hatte eine volle und tiefe Stimme, die zuweilen etwas scharf und knarrend klang und preußischen Tonfall verriet. Er sprach rasch und mit einer Gewandtheit, die Fabian oft bei Leuten gefunden hatte, die sich nicht durch besonderen Reichtum an Gedanken auszeichneten.

Zuerst tauschten sie Erlebnisse aus dem Weltkrieg aus, und es fand sich, dass sie beide längere Zeit im Argonner Wald gelegen hatten. Seht an! Fabian stieg augenblicklich in der Achtung von Taubenhaus, weil er das «Storchennes». im Argonner Wald kannte.

«Das Storchennest[50 - das Storchennest im Argonner Wald – укрепленная позиция немецких войск в Аргонском лесу во время Первой мировой войны]». rief Taubenhaus erfreut aus. «Ich habe das „Storchennest“ für schwere Minenwerfer ausgebaut».

«Ich bediente die schweren Minenwerfer im „Storchennest», sagte Fabian.

«Ist es möglich? Im „Storchennest“». lachte Taubenhaus, der nur selten lachte, und eine ganze Weile sprachen sie nur vom «Storchennes»..

«Eine böse Ecke, der Argonner Wald». rief Taubenhaus aus. «Also das „Storchennest“ kennen Sie auch, seht an? Eine vortreffliche Schule für den Soldaten, der Argonner Wald! Nu», fügte er mit einem bösen Funkeln der goldenen Brille hinzu, «mit dem schamlosen Friedensvertrag von Versailles hat es ja von jetzt an, Gott sei Dank, ein Ende! Ich bin überzeugt, dass die Engländer und Franzosen jeden Groschen wieder ausspucken müssen und noch einige Groschen dazu! Dafür werden wir schon sorgen, nicht wahr».

Endlich begannen sie von ihrem eigentlichen Thema zu sprechen. Taubenhaus berichtete, dass er aus einer kleinen Stadt in Pommern käme, wo die «Gänse und Ziegen auf dem Marktplatz herumliefe».. Das waren seine eigenen Worte. An maßgebender Stelle habe man auch sofort erkannt, dass das nicht der Ort war, wo er seine Fähigkeiten entfalten konnte, und ihm diese herrliche Stadt anvertraut.

Natürlich müsse er sich hier erst einleben, fuhr Taubenhaus fort, die Stadt, ihre Bürger, die sozialen Verhältnisse genau kennenlernen, ehe er mit der Arbeit des Aufbaus beginnen könne. Das werde natürlich eine wahre Herkulesarbeit werden, alle Wetter!

«Sehen Sie sich nur einmal das Pflaster an». rief Taubenhaus aus, und seine goldene Brille funkelte. «Ein Pflaster wie in einem Bauerndorf, bucklig und krumm, kein Stein dem anderen gleich, keine Linie gerade, eine Affenschande. Gleich am Bahnhofsplatz fiel mir das fürchterliche Pflaster auf. Und diese winkligen Gassen in der Altstadt mit ihren armseligen Häusern, die noch aus dem Mittelalter stammen, ohne alle hygienischen Einrichtungen. Es gibt Leute, die für die alten Giebel schwärmen, aber ich sage mir, fort mit dem alten Gerumpel».

Taubenhaus richtete sich auf und strich seine Weste glatt. Er hatte sich warm geredet, und seine Haltung verriet großes Selbstbewusstsein. «In wenigen Monate», fuhr er fort und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, «wird diese Stadt zu den bestverwalteten Städten unseres geliebten Vaterlandes zählen, das kann ich Ihnen schriftlich geben». Fabian nickte voller Überzeugung, als zweifle er nicht einen Augenblick daran.

Ermutigt entwickelte Taubenhaus sein Programm und seine Pläne. Die goldene Brille funkelte, und häufig schlug er mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Man hatte ihm diese herrliche Stadt anvertraut, und, beim Himmel, man sollte es nicht zu bereuen haben! «Die Stadt sollte die schönste im Kranze der deutschen Städte werden». rief er aus. «Eine Musik- und Theaterstadt soll sie werden, etwa wie München, eine Kunststadt, etwa wie Düsseldorf, kurz, alle Künste sollen erblühen, und dabei will ich den Wohlstand nach Möglichkeit heben. Die Bürgerschaft soll zur wahren Vaterlandsliebe und zu echtem Opfersinn erzogen werden, zur wahren Volksgemeinschaft. Es soll eine Stadt werden, in der zu leben man uns beneiden soll! Verstehen Sie mich».

Fabian nickte. Etwas viel auf einmal, dachte er. Es ist der Geist der Partei, dem nichts unmöglich erscheint! Er setzt sich das Unmögliche zum Ziel, um das Mögliche zu erreichen. «Ich glaube, Sie zu verstehe», entgegnete er. «Wenn man die Fähigkeit besitzt, die geistigen und seelischen Motoren der Stadt anzuwerfen, so ist die ungeheure Aufgabe möglich».

«Die geistigen und seelischen Motoren der Stadt». rief Taubenhaus begeistert aus. «Ein herrliches Wort! Ich sehe, dass Sie mich verstanden haben. Sie bezeichnen die Aufgabe selbst als ungeheuer, sie ist gewiss kein Kinderspiel. Nun ist es ja natürlich, dass ich mir dazu Mitarbeiter heranziehen muss, aufgeklärte, tüchtige Kräfte, wie sie sich mir bieten und wie ich sie im Laufe meiner Tätigkeit zu entdecken hoffe. Ich gestehe ganz offen, dass ich dabei auch an Sie, Herr Fabian, gedacht habe».

Fabian erhob sich und nahm straffe Haltung an, wie ein Offizier, der den Befehl seines Kommandeurs in Empfang nimmt. Dann, als er sich daran erinnerte, dass sie nicht im Argonner Wald waren, machte er eine leichte Verbeugung. «Ich stehe Ihnen mit meiner ganzen Kraft zur Verfügun», sagte er fast feierlich. «Jedenfalls können Sie über mich verfügen. Ich habe nur die eine Bitte, mir bald mein Arbeitsfeld anzuweisen». Die diensteifrige Haltung Fabians hatte auf Taubenhaus einen günstigen Eindruck gemacht. Er lächelte befriedigt, und seine Miene wurde noch selbstbewusster. «Ich freue mich ungemein, dass wir uns so gut verstehe», antwortete er, und seine Stimme schnarrte kräftiger. «Ihre Tätigkeit kann ich Ihnen natürlich erst zuweisen, sobald ich Ihre Fähigkeiten genauer kenne. Den ersten Auftrag aber kann ich Ihnen schon jetzt erteilen».

Fabian antwortete wieder mit einer leichten Verbeugung.

Taubenhaus fuhr fort: «Ich habe die Absicht, mich der Stadt und der Bürgerschaft in einigen Wochen in einer öffentlichen größeren Kundgebung vorzustellen. Nun wissen Sie ja, dass gesellschaftliche Verpflichtungen aller Art und besonders meine umfangreiche amtliche Tätigkeit mir in den ersten Monaten kaum eine freie Stunde Zeit lassen. Ich bitte Sie daher, mir diese Antrittsrede nach den soeben dargelegten Gesichtspunkten zu entwerfen. Sie verstehen mich».

Fabian nickte. «Sehr woh», erwiderte er. «Ich empfinde diesen Auftrag als besondere Auszeichnung und werde mich bemühen, ihn zu Ihrer Zufriedenheit zu erfüllen».

Taubenhaus erhob sich ebenfalls und reichte Fabian die Hand. Sein steifer und etwas harter Gesichtsausdruck wurde von einer Art Freundlichkeit gelockert. «Sie sind ja in dieser Stadt aufgewachse», sagte er, «und wissen besser als ich, was man aus ihr machen kann. Ich hatte ja noch gar nicht die Zeit, mich viel mit ihr zu beschäftigen. Von meinem Freund, Justizrat Schwabach, auf dessen Urteil ich viel gebe[51 - auf j-s Urteil viel geben – придавать большое значение чужим словам; ценить чье-л. мнение], hörte ich, dass Sie vor einigen Jahren einmal im Rathaussaal eine Rede gehalten haben, die geradezu enormes Aufsehen erregte. Vielleicht gelingt Ihnen etwas Ähnliches! Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, dass die Rede in die weiteste Öffentlichkeit dringen wird, die ganze deutsche Presse wird sie aufgreifen, höchstwahrscheinlich wird auch der Gauleiter anwesend sein. Es hängt also viel davon ab, vergessen Sie das nicht. In etwa vierzehn Tagen werden Sie wohl mit dem Entwurf ins reine kommen».

Fabian warf Taubenhaus einen raschen Blick zu. «Wenn es nötig ist, kann ich den Entwurf in zwei, drei Tagen unterbreite», sagte er.

Taubenhaus lachte. «So eilig habe ich es nich», sagte er. «Gut Ding will Weile haben[52 - Gut Ding will Weile haben ~ поспешишь – людей насмешишь]. Also sagen wir in zwei Wochen? Und vergessen Sie mir das furchtbare Pflaster der Stadt nicht».

Damit war Fabian entlassen. Er klappte mit den Absätzen und verbeugte sich. Ein freundliches Lächeln geleitete ihn zur Tür.

Dieser Taubenhaus ist ja ein ganz prächtiger Mann, dachte er, als er die Tür hinter sich schloss. Wie kurzsichtig urteilte doch dieser Baurat Krieg?

Es schien ihm, als ob ihn die Sekretärin in der gelben Seidenbluse mit besonderer Aufmerksamkeit grüße, als er das Vorzimmer durchschritt.




XVI


Auf der Treppe des Rathauses blieb Fabian eine Weile stehen und blickte über den Platz. Man konnte ihm deutlich ansehen, dass das Gespräch mit Taubenhaus ihn mit tiefer Befriedigung erfüllt hatte.

Er empfand den Auftrag von Taubenhaus als überaus ehrenvoll. Welches Vertrauen setzte dieser ihm unbekannte Taubenhaus in ihn? Natürlich würde er sich hüten, auch nur mit einer Seele darüber zu sprechen! Die Rede würde ihn in der ganzen Stadt, ja im ganzen Land bekannt machen. Vielleicht lenkte sie auch die Aufmerksamkeit des Gauleiters auf ihn? Seine Position war gerettet. Viele Leute, das wusste er genau, zweifelten nicht an seiner Begabung, andere aber, Mißgünstige und Neidische, erklärten ihn für einen «Blende».. Nun, diesen Leuten würde er den «Blende». zeigen! Eitelkeit und Stolz färbten seine hübschen Wangen.

Der Entwurf der Rede beschäftigte ihn Tag und Nacht, selbst während er in seinem Büro Schriftsätze diktierte. Viele Stunden am Tage und am Abend ging er in der Stadt spazieren, die zur schönsten Stadt des Reiches werden sollte. Hier war er geboren, hier kannte er jeden Stein, und doch sah er sich alles nochmals genau an, mit neuen, prüfenden, kritischen Augen gleichsam, vom Pflaster bis zu den Dächern und Turmspitzen. Die barocken Häuser in der Altstadt, die Taubenhaus störten, gefielen ihm wie immer außerordentlich. Zwar waren sie nur schmal und standen eng, aber sie verliehen der Stadt ihren Charakter. Natürlich sollten sie erhalten bleiben.

Fabian besuchte den Historischen Verein, der in einem ehemaligen Nonnenkloser untergebracht war. Hier waren nur einige gotische Grabplatten mit abgeschlagenen Nasen zu sehen, ein paar verstaubte Säulenstümpfe und zwei kleine Vitrinen mit allerlei Feuersteinsplittern und Topfscherben aus germanischer Zeit, die von einer Ausgrabung bei Amselwies stammten und die niemand beachtete.

Auch dem Städtischen Museum stattete er einen Besuch ab. Hier sah man eine Anzahl von Stichen und alten Bildern, einige Truhen, Kommoden und Schränke, alles mit auffallender Lieblosigkeit angeordnet.

Am meisten fesselte ihn hier ein altes Gemälde, auf dem die Stadt mit den früher vergoldeten Turmspitzen des Doms dargestellt war. «Die Stadt mit den goldenen Türme». hieß das Gemälde, das ihn nicht mehr losließ. In diesem Augenblick durchfuhr ihn der Gedanke, in seinem Entwurf von diesen goldenen Turmspitzen auszugehen, denn er hatte den Eindruck gewonnen, dass es Taubenhaus vor allem darum zu tun war, Aufsehen zu erregen.

Die Stadt mit den goldenen Türmen! Dieser Gedanke erfüllte ihn, als er dem Hofgarten zustrebte, um sich mit seinem Auftrage zu beschäftigen. War das nicht ein prachtvolles Schlagwort, eine wirkungsvolle Empfehlung für die neue Stadt und das neue Programm? Eine Weile wurde er durch die herrlichen prunkvollen Dahlien abgelenkt, die vor dem Haus des Hofgärtners standen, dann verlor er sich in den Alleen, bis er an entlegene Stellen des Hofgartens kam, wo ihn eine magisch grüne Dämmerung völlig einhüllte, die zum Nachdenken wie geschaffen war. Dort nahm er auf einer stillen Bank Platz, zog einen Notizblock aus der Tasche und versenkte sich in tiefes Nachdenken. Niemand sollte auf den Gedanken kommen, dass Rechtsanwalt Fabian am lichten Tag im Hofgarten säße und untätig vor sich hinträumte.

In der Stadt gab es eine alte Brücke, die «Bischofsbrück». genannt wurde. Ein Bischof und die Apostel, herrliche Barockstatuen, bildeten ihren Schmuck. Kaum tausend Schritt von der «Bischofsbrück». entfernt führte eine moderne, höchst nüchterne Brücke über den Fluss, die kurz «Neue Brück». hieß. Fabian wollte sie, ganz wie die «Bischofsbrück», ebenfalls mit einer Anzahl von Statuen schmücken. Sie sollten Krieger aus allen Epochen der deutschen Geschichte darstellen, Germanen mit Keulen, Landsknechte mit Spießen, einen Trommler aus den Freiheitskriegen, einen Reitergeneral, etwa Friedrich den Großen[53 - Friedrich der Große – Фридрих Великий (1712-1786), прусский король]. Alle zusammen würden sie das Pendant zu dem Bischof mit den Aposteln bilden, und die Brücke sollte fortan «Heldenbrück». heißen.

Es war zur Zeit beliebt, das Heldische im Volk zu betonen. Fabians altes Soldatenherz selbst begeisterte sich dafür, und Taubenhaus, Pionierhauptmann aus dem Weltkrieg, würde von dem Vorschlag sicher hell entzückt sein.

Auch den Gedanken des Baurats Krieg, die alte Reitschule umzubauen, verflocht er in seine Vorschläge. Wenn es auch nicht sein eigener Gedanke war, er war gut zu verwenden. Ohne Zweifel würde es für die Stadt einen ungeheuren Gewinn bedeuten, einen neuen Marktplatz zu erhalten. Man konnte auf diese Weise den heutigen Rathausplatz prächtig und würdig ausgestalten. Wolfgangs Narzissbrunnen kam in die Mitte, vor dem Rathaus selbst aber stand, wie in vielen alten deutschen Städten, eine hoheitsvolle Rolandfigur[54 - Rolandfigur f – статуи Роланда, служила символом свобод и независимости города]. Wolfgang müsste sie schaffen. Ein herrlicher Auftrag für ihn!

Jeden Tag dichtete er etwas in seiner «Stadt mit den goldenen Türme»..

Daneben versäumte Fabian keineswegs seine beruflichen oder gesellschaftlichen Pflichten. Seine Arbeitskraft war erstaunlich. Man konnte kaum durch die Strassen der Stadt gehen, ohne seiner gelben Aktentasche zu begegnen.

Er hielt Besprechungen in seinem Büro ab, diktierte Fräulein Zimmermann stundenlang Schriftsätze, nahm Termine wahr, man sah ihn im Theater, am späten Abend noch und häufig auch nachts war sein Büro noch hell erleuchtet.

Zuweilen kam er auch zu seinem Bruder Wolfgang, der in diesen Wochen fieberhaft an seinem «Kettensprenge». arbeitete, und öfter besuchte er auch Frau Lerche-Schellhammer, um ihr Bericht zu erstatten.

«Ich höre, dass die Werke drei neue große Hallen, ganz Glas und Eisen, zu bauen gedenken und vielleicht das Gut von Baron Metz im Norden der Stadt aufkaufen wollen».

Frau Beate lachte: «Weiß ich alles, dazu brauche ich doch keinen Anwalt, mein Lieber». Sie lachte Fabian einfach aus. «Sie sollen herausfinden, weshalb mich meine Brüder ausbooten wolle», forderte sie.

Um die Wahrheit zu sagen, machte Fabian diese häufigen Besuche nur, um Christa wiederzusehen. Er wollte sich darüber klarwerden, ob ihr Lächeln und ihre Sprache noch dieselbe starke Macht auf ihn ausübten.

In der Tat, sie taten es. Er fühlte, dass er nahe daran war, sich in Christa Lerche-Schellhammer zu verlieben. Sie plauderten oft ganze Stunden lang, und Christa erzählte ihm von ihren Reisen, die sie im letzten Jahr in Spanien gemacht hatte. Zuweilen kam es vor, dass ihn ein dringender Anruf in sein Büro zurückrief. Er hatte eine wichtige Besprechung völlig vergessen.




XVII


Eines Tages überfiel Fabian ganz plötzlich der Gedanke, die Stadt in eine Gartenstadt umzuwandeln! Er war wie im Fieber. Der Hofgarten und einige Alleen aus der bischöflichen Zeit bildeten einen herrlichen Anfang, der sich mit Grünflächen, Alleen und Blumenrabatten vervollständigen ließ. Es war in der Tat ein wundervoller Einfall! Ohne großen Aufwand an Geld und Zeit konnte man der Stadt besondere Schönheit und Großartigkeit verleihen. Eine Gartenstadt, Herr Taubenhaus!

Seinen ganzen Stolz aber bildete sein neuer Bahnhofsplatz. Wie war er heute? Nun, heute war er völlig reizlos, um nicht zu sagen öde und langweilig. Er war, offen gestanden, nichts als eine triviale Haltestelle der Trambahnen, um die sich die Leute bei Regen mit entsetzlichen Regenschirmen drängten. Morgen aber, morgen sollte er eine prächtige gärtnerische Anlage darstellen, mit einem lustig plätschernden Springbrunnen in der Mitte und reizvollen Kolonnaden für die Trambahnen. Kurz, ein Bahnhofsplatz ganz nach dem Geschmack Fabians, das würdige Vorzimmer einer noblen, beglückenden und reichen Stadt.

Er nahm eigens eine Tram, um sich von der Reizlosigkeit des heutigen Bahnhofsplatzes zu überzeugen. Einige veraltete Gasthöfe lagen hier, zweitklassige, schlecht bewirtschaftete Wirtschaften.

Während er im grünen Dämmer der alten Kastanien und Linden saß und an seiner Stadt baute, beschäftigte ihn fast ununterbrochen ein geheimer Gedanke, der immer da war, sooft er seine Theaterbauten, Sportplätze und Schwimmhallen auch nur auf Sekunden vergaß, es war die Erinnerung an Christa. Ihr Haus lag nicht weit entfernt, zuweilen sah er ein kleines hurtiges Auto vorüberfliegen, das ihn an den kleinen Wagen gemahnte, den sie steuerte, zuweilen hörte er hinter sich einen leisen Schritt und wandte sich um, und sein Herz pochte. Christa? Wie reizend hatte sie neulich von Spanien erzählt, und ihr Lächeln stand noch vor ihm.

Sobald er seine Einfälle geordnet hatte, ging er an die formale Fassung seiner Rede. Das fiel ihm nicht schwer, denn es war ja sein Beruf, seine Gedanken gewandt und klar auszudrücken. Dabei besaß er auch eine gewisse journalistische Gewandtheit und das, was er seine «poetische Ade». nannte.

Es handelte sich, kurz gesagt, darum, die geistigen und seelischen Kräfte der Stadt zu wecken und Gleichgültigkeit und Lauheit zu überwinden. Die Stadt musste von allen Bürgern in leidenschaftlicher Anteilnahme mitgebaut werden, wie in alten Zeiten von den Zünften. Da aber spürte Fabian einen Ruck im Herzen und sah augenblicklich auf. Kein Zweifel, das war Christa! Er erkannte jede Linie, obschon sie fast ganz von den Gebüschen verborgen war. Sie schlenderte langsam den schmalen Weg entlang, den sie gewöhnlich mit ihrem Auto fuhr, weil er asphaltiert war. In Gedanken ging sie dahin und schwang einen Zweig in der Hand, den sie zuweilen wie einen Taktstock bewegte.

Wenn er laut gerufen hätte, würde sie ihn gehört haben, aber das wagte er nicht, er sprach ihren Namen nur ganz leise aus.

Da blieb sie wie durch einen Zauber stehen und blickte sich um. Dann aber schlenderte sie weiter. Ich werde rufen, dachte er, aber im gleichen Augenblick hielt Christa erneut den Schritt an, um sich umzublicken. Diesmal ging sie näher an das Gebüsch heran. Sie war zu weit entfernt, als dass sie ihn erkennen konnte, aber etwas an der Gestalt auf der Bank im dämmerigen Gebüsch musste sie gefesselt haben, denn sie ging einige Schritte zurück, um auf einem schmalen Seitenweg zu erscheinen. Sofort erhob er sich, voller Freude, dass ein Zufall, oder was es sein mochte, sie zu ihm geführt hatte. Im gleichen Augenblick eilte sie auf ihn zu, sie hatte ihn erkannt.

«Ist es möglich». rief sie erfreut aus, als sie noch einige Schritt entfernt war. «Ich hatte das Gefühl, es ist jemand in der Nähe, den du kennst. Wie sonderbar ist das». Sie lächelte.

«Ich sah Sie an den Büschen entlanggehen und erkannte Sie sofor», rief Fabian und ging ihr entgegen.

Sie reichte ihm die Hand. «Sie arbeiten hier im Hofgarte», fragte sie und blickte auf den Block, den er noch in der Hand hielt. «Ich störte Sie doch nicht».

«Nicht im geringsten. Ich bin eben fertig geworden, als ich Sie erblickte».

«Ich hatte eine Pann», fuhr Christa lebhaft fort, «und musste den Wagen in der Stadt stehenlassen, um zu Fuß nach Hause zu gehen. Begleiten Sie mich ein Stückchen, wenn Sie Zeit haben».

«Gern».

Sofort begann Christa eifrig zu plaudern. «Die Photos von meiner Spanienreis», sagte sie, «von denen ich das letztemal sprach, als der dumme Anruf aus Ihrem Büro kam, sind wirklich so interessant, dass Sie sie sehen müssen. Sobald Sie wieder zu uns kommen, müssen Sie sich ein Stündchen Zeit frei halten. Oder noch besser, Mama ist auf einige Tage verreist, und ich trinke jetzt häufig im „Residenzcafe“ meinen Tee. Haben Sie Zeit, mir einmal im „Residenzcafe“ Gesellschaft zu leisten».

Ihre Aufforderung war so herzlich und natürlich, ihre braunen Augen schimmerten freudig aus ihrem lächelnden Gesicht, dass Fabian errötete. Es war fast, als ob sie gesagt hätte: Ich liebe Sie.

«Ja natürlch? ich würde mich sehr freue», eriwderte Fabian. «Sie brauchen nur den Tag zu bestimmen».

Christa lachte und blieb stehen. «Wenn ich aber morgen sage».

Fabian lächelte. Es tat ihm leid, nicht sofort zustimmen zu können. «Morgen bin ich bestellt. Aber sagen wir übermorgen? Zu welcher Zeit».

«Gegen fünf Uhr».

«Gut, fünf Uhr».




XVIII


Genau zwei Wochen, nachdem Fabian seinen Auftrag erhalten hatte, meldete er Taubenhaus, dass der Entwurf fertig sei.

Taubenhaus empfing ihn leutselig. Sein Arbeitszimmer war nur matt beleuchtet.

«Lassen Sie hören, was Sie sich ausgedacht habe», begann er und putzte seine goldene Brille mit dem Taschentuch. «Stellen Sie sich an meinen Schreibtisch. Ich nehme borne Platz und spiele Publikum».

Fabian klappte mit den Absätzen und postierte sich an den schweren Schreibtisch des Stadtoberhauptes, an dem schon Napoleon gesessen haben sollte. Taubenhaus nahm auf einem der Stühle für die Besucher Platz. Das breite Gesicht neigte sich, und Fabian begann seine Rede.

«Ich komme aus einer kleinen pommerschen Stad», rief er aus, «wo die Gänse und Ziegen über den Marktplatz laufen».

Das breite Gesicht unter der schwarzen Haarbürste fuhr in die Höhe und die goldene Brille funkelte unwillig.

«Auch in dieser schönen und großen Stadt, in die ich gesandt wurde, laufen noch häufig Gänse und Ziegen über den Marktplat», fuhr Fabian mit erhobener Stimme fort, «die Gänse und Ziegen sind der Geist der Gleichgültigkeit, der Gedankenlosigkeit, der Trägheit».

«Ausgezeichnet». rief Taubenhaus lachend aus. «Ganz ausgezeichnet». Er lachte so herzlich, dass er husten und spucken musste.

Ein neuer Geist müsse die Stadt erfassen, rief Fabian voller Pathos, die geistigen Motoren der Stadt müssen angeworfen werden, die schlummernden seelischen Kräfte und Energien geweckt! Fort mit der Gleichgültigkeit, Gedankenlosigkeit, Trägheit, ja, zum Teufel mit ihnen! Wie Sturmwind in halberloschene Glut fährt, so müsse ein neuer Geist in die Asche fahren und eine züngelnde Lohe emporschlagen, eine helle, heilige Lohe!

Taubenhaus hob das Gesicht und nickte befriedigt.

Und Fabian baute vor seinen Augen die neue «Stadt mit den goldenen Türme». auf, gebettet in Grün, funkelnd wie ein Garten. Als er ihm seine neue Brücke zeigte, die «Heldenbrück». mit den Germanen, Trommlern, Grenadieren, Friedrich dem Großen in ihrer Mitte, setzte Taubenhaus sich aufrecht, er machte Miene aufzuspringen und rief ein paarmal halblaut: «Gut, gut».

Fabian baute unaufhaltsam weiter. Der neue Rathausplatz mit der Rolandstatue, Symbol des Rechts und der Gerechtigkeit, das neue Theater, das Museum, Sportplätze, Schwimmhallen, der Straßendurchbruch Nord-Süd, der neue Bahnhofsplatz mit dem heiter sprudelnden Springbrunnen, er fand kein Ende. Taubenhaus nickte und rief zuweilen «Gut! Ausgezeichnet». dazwischen. Sein Lob trieb Röte in Fabians Wangen.

Er hatte einen guten Tag. Er sprach ausgezeichnet und trug große Teile der Rede völlig frei vor. «Es gibt hier einen Museumsverei», rief er aus. «Er schläft, es gibt einen Historischen Verein, auch er schläft. Und dabei gab es prähistorische Grabstätten nahe der Stadt. Es gibt hier einen Fremdenverkehrsverein, einen Verschönerungsverein, auch die schlafen, schlafen. Wacht auf, wacht auf! Die Zeiten, da man nur Geld verdienen will und andere für sich denken lässt, sie sind vorbei».

Taubenhaus lachte. Doch das war seine letzte Äußerung, fortan hielt er sich ganz still. Er saß mit ausgestreckten Beinen und blickte zur Decke empor, als sei er müde und gleichgültig geworden. War er müde? Ganz und gar nicht, dachte Fabian, der seiner Sache gewiss war. Er spielt den Gleichgültigen. Ich kenne dich sehr gut, Taubenhaus.

Als Fabian geendet hatte, stand Taubenhaus langsam auf und putzte sehr umständlich die goldene Brille. «Gu», brummte er in etwas zu deutlich gespielter Gleichgültigkeit vor sich hin. Dann blickte er auf Fabian, der in bescheidener Haltung neben dem Schreibtisch stand. «Sie haben meine Andeutungen ganz vorzüglich aufgegriffe», sagte er, «als Unterlage ist Ihr Entwurf recht gut geeignet, ich danke Ihnen. Wollen Sie mir bitte eine Liste aller prominenten Persönlichkeiten aufstellen, die unbedingt eingeladen werden müssen».

Wie gut ich dich doch kenne, dachte Fabian und verbeugte sich.

In glänzender Laune kam er in sein Büro zurück.

«Wir haben einen äußerst ehrenvollen Auftrag erhalten, Fräulein Zimmermann». begann er, und die hagere Sekretärin wurde blutrot vor Freude. «Wir sollen eine Liste aller prominenten Persönlichkeiten der Stadt aufstellen, die zur Rede des Bürgermeisters eingeladen werden müssen».

«Sind Sie sich darüber im klaren, welch bedeutende Leute wir geworden sind? Es liegt in unserer Macht, jemand eine hohe Ehre zu erweisen oder aufs tiefste zu verletzen. Verstehen Sie».

Am späten Abend erschien er im «Ster». und bestellte sich eine Flasche Sekt und ein halbes Dutzend der besten Zigarren. «Wir haben es uns verdien», sagte er zu sich.




XIX


Das kleine «Residenzcaf». lag in einem barocken Pavillon neben dem früheren bischöflichen Schloss. Es bot einen schönen Ausblick auf die alte Lindenallee, war aber nur an Sonn- und Feiertagen während des Promenadenkonzertes stärker besucht. Sonst traf man dort nur stille Zeitungsleser und häufig Damen, die ihren Kaffeeklatsch veranstalteten. Als Fabian um fünf Uhr die Promenade überschritt, fühlte er, dass Christa schon anwesend war. Er empfand es an dem stärkeren Daseinsgefühl, das ihn durchströmte, augenblicklich fühlte er sich freier, leichter und fröhlicher. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Als er die Tür öffnete, sah er Christa an einem kleinen Fenstertisch sitzen. Sie hob in diesem Augenblick den Kopf, sah ihn mit einem zarten Lächeln ihrer braunen Augen an, und ihr Lächeln und ihr Blick erfüllten ihn mit Freude. Er war von diesem Augenblick an ein völlig neuer, verwandelter Mensch.

«Sie kommen gerade zur rechten Zei», begrüßte sie ihn, «nehmen Sie bitte hier an meiner Seite Platz, wir können so die Photos zusammen besser betrachten».

«Das also ist die Ausbeute Ihrer letzten Spanienreise». fragte Fabian, indem er Platz nahm. «Sie sind außerordentlich fleißig gewesen».

Auf dem Tisch vor Christa lag ein großer Stapel Photos, in denen sie soeben geblättert hatte. Es waren kleinere und größere Aufnahmen, viele hatte sie mit der eigenen Kamera festgehalten.

Christa Lerche-Schellhammer hatte sich einige Jahre mit Modellieren und Malen beschäftigt, war aber nunmehr endgültig, wie sie sagte, zur Architektur übergegangen, um die sie sich mit größtem Ernst bemühte. Zusammen mit ihrer Mutter unternahm sie jedes Jahr eine Reise im Auto, das die beiden Frauen abwechselnd steuerten. Im vergangenen Jahr hatten sie einige Monate Spanien bereist und all diese Photos mitgebracht, meist Aufnahmen von Bauwerken und architektonische Einzelheiten, Portale, Treppen, Kapitäle und andere Details, die Christa besonders interessierten.

Christa nickte. «Warten Si», begann sie eifrig, «ich will Ihnen zuerst diese herrliche kleine Kapelle aus Toledo zeigen, eben hatte ich sie noch in der Hand, ich glaube, sie ist eine der ältesten Kirchen Spaniens. Im Kirchenschiff hängen einige der herrlichsten Grecos[55 - El Greco – Эль Греко (1541-1614), испанский художник греческого происхождения]. Hier ist sie».

Und sie erzählte, dass gegenüber von dieser Kapelle eine Weinkneipe lag, in die sie sich beide verliebt hatten, besonders ihre Mutter. Das war ein kleiner Keller, in dem Reihen von mannshohen Weinkrügen, Amphoren, standen. Die riesigen Amphoren waren aus rotem Ton, und der ganze Keller sah wohl überhaupt noch ebenso aus wie zur Zeit der alten Römer. Es war einfach herrlich! Es gab hier die köstlichsten alten Weine, und sie tranken beide hier jeden Tag ein Gläschen. Ihre Mutter pflegte zu sagen: «Gehe du ruhig zu deinen Grecos, ich bleibe hier bei meinen Amphoren».

Sie erzählte reizend, mit einer seltenen Anschaulichkeit. Jede Einzelheit schien ihr in der Erinnerung plastisch vor Augen zu stehen. Ihre schlanken Hände formten die hohen Amphoren, und die herrlichen Grecos leuchteten im Glanz ihrer Augen. Fabian genoss erneut den Klang ihrer weichen Stimme und die Klarheit ihrer Sprache. «Ich bin erstaun», sagte er, «dass Sie sich an jede Kleinigkeit erinnern».

«Man erinnert sich immer gut an Dinge, die man lieb», erwiderte Christa.

Sie waren so eifrig mit dem Studium der Photos und dem Austausch ihrer Meinungen beschäftigt, dass sie alles ringsum vergaßen. Wenn der eine einen Gedanken nicht mit voller Klarheit auszudrücken vermochte, so kam ihm der andere zu Hilfe, und wenn auch das mißlang, so genügte ihnen eine Geste oder ein Lächeln.

An einem Nebentisch hatte sich nach und nach ein Kaffeekränzchen weißhaariger Damen zusammengefunden, die lebhaft schnatterten. Sie beachteten es kaum. Sie übersahen auch die beiden jungen Herren, die dicht neben ihnen die Schachfiguren aufzustellen begannen, während sie Kaffee bestellten und ihre Zigarren anzündeten.

Christa zeigte nun einige Klosterhöfe, die sie meist selbst aufgenommen hatte. Es waren Bilder, die den Frieden, die Stille und Unwirklichkeit einer anderen Welt verkörperten.

«Sie wisse», wandte sie sich an Fabian, «man hat zuweilen solche Anwandlungen. Hatten Sie nicht auch einmal den Wunsch, Priester zu werden? Erzählten Sie es nicht».

Fabian antwortete nicht sofort. Er betrachtete Christas Hand, die auf den Photos lag, und es schien ihm, als ob er zum erstenmal sehe, wie frauenhaft zart ihre Hand war. Wolfgang hatte sie einmal modelliert. Ihre Hand hatte Grübchen an den Knöcheln, wie man es oft bei Kindern sieht. Zum erstenmal sehe ich, wie frauenhaft schön ihre Hand ist, ging es ihm durch den Sinn, dann erst erwachte Christas Frage in seinem Ohr, und er sagte, während er flüchtig errötete: «Gewiss, ich habe es erzählt. Es war damals eine fixe Idee von mir, nun, ich war noch sehr jung. Ich sagte Ihnen auch, dass ich bereits in einem Priesterseminar ausgebildet wurde».

Christa streifte sein Gesicht mit den flachen Wangen und dem frauenhaften Mund, sie blickte auf seine männlich geformte Hand und dachte: In der Tat, er hätte recht wohl einen Priester abgegeben[56 - er hätte recht wohl einen Priester abgeben – из него получился бы хороший священник]. Dann errötete sie plötzlich.

«Wie lange waren Sie im Priesterseminar». fragte sie. Fabian sprach nur ungern von dieser Epoche seines Lebens. «Ziemlich lang», antwortete er. «Ich stand dicht vor der ersten Weihe».

«Und weshalb haben Sie Ihre Absicht wieder aufgegeben, Priester zu werden». forschte Christa weiter, während sie Fabian mit einem Lächeln ermutigte.

Fabian wurde verlegen. «Nun, ich war unterdessen älter geworden und zur Einsicht gekommen, dass ich nicht die nötige Eignung zum Priester besa», erwiderte er.

«Nicht die nötige Eignung».

«Nein. Ich fand, dass ich zu weltlich gesinnt war. Es fehlte mir der entsagungsvolle Charakter, den ein Priester haben muss».

«Gut, dass Sie rechtzeitig zu dieser Erkenntnis kame», erwiderte Christa und lächelte. «Nur auf Wahrheit und Lauterkeit lässt sich ein Leben aufbauen, pflegt Mama oft zu sagen».

Christa wandte sich wieder den Photos zu. «Das hie», begann sie von neuem, indem sie auf einen Stoß von Abzügen gleichen Formats deutete, «sind die Aufnahmen vom letzten Winter, den wir auf Palma de Mallorca[57 - Palma de Mallorca – Пальма-де-Мальорка, испанский курорт] verbrachten. In diesem Dom hie», fuhr sie fort, «der berühmten Kathedrale von Palma de Mallorca, habe ich eines der tiefsten Erlebnisse meines Lebens gehabt. Hören Sie zu! Wir wohnten der Christnachtmesse bei, Mama und ich. Es war unvergesslich – einfach unvergesslich».

Und Christa erzählte, dass tausend Kerzenflammen den mächtigen Dom erhellten. Hunderte von armdicken Kerzen brannten auf dem Hauptaltar, und doch waren die ungeheuren Umrisse des Kirchenschiffes kaum zu ahnen. Auch von der dichtgedrängten Menge sah man nicht mehr als schattenhafte Umrisse. Die Männer knieten im linken Kirchenschiff, auch ihre Bekannten, Ärzte, Anwälte, die höchsten Beamten, sonst so vornehme Herren, alle knieten, die Frauen in ihren dunklen, spanischen Mantillen knieten auf der rechten Seite. Auch sie knieten, ihre Mutter und sie. Priester wandelten die Stufen zum Hauptaltar auf und nieder, der Bischof zelebrierte die Messe. Eine Unzahl von Ministranten bewegte sich lautlos beim Altar, der Weinrauch stieg im Schein der Kerzenflammen in die Höhe, die helle Glocke klingelte, ein Buch wurde feierlich hin und her getragen. Und das alte Latein, es hatte einen feierlichen, nie gehörten Klang! Herrlich erzählte Christa.

«Die Orgel ertönte! Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass der Dom von Palma eine der größten und wunderbarsten Orgeln der Welt besitzt? Diese Orgel konnte mehr als ein Mensch, sie konnte flüstern, seufzen, schluchzen, schreien, wimmern, lachen, weinen, frohlocken, jubeln, was konnte sie nicht? Ja, sie konnte noch mehr als ein Mensch, sie konnte brausen, donnern, rasen, verdammen und segnen. Wenn Gott eine Stimme hätte, so müsste er reden! Ein Mönch saß oben bei der Orgel, der berühmte Franziskaner[58 - Franziskaner m – францисканец, член католического монашеского ордена] Francesco, einer der größten und unübertroffensten Meister nicht nur Spaniens, sondern der Welt. Unvergesslich wird mir für immer sein Spiel in dem von Tausenden von Kerzen erleuchteten Dom bleiben! Und das beschwörende alte Latein, es war wie ein Fest im Himmel». Sie hielt inne.

«Ich kenne den Wortlaut der Messe sehr gu», sagte Fabian halblaut und nickte, völlig benommen von ihrer Schilderung.

«Alle Leute weinten vor Ergriffenhei», schloss Christa, «auch Mama weinte, die niemals weint. Und auch ich weinte, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen, überwältigt wie alle». Sie blickte Fabian an und lächelte.

Ihr Gesicht war blasser geworden und spiegelte in allen Zügen so klar ihre Erregung wider, dass es sich verwandelte und förmlich verklärte. Niemals hatte Fabian ihr Gesicht so gesehen, niemals hatte er ein menschliches Antlitz so wahr gesehen.

Lange blieben sie still. Fabian wagte nicht, sich zu bewegen. Er blickte in ihr verändertes, verklärtes Gesicht.

Ich liebe diese Frau, dachte er. Ja, nun weiß ich, dass ich sie liebe.




XX


Noch am gleichen Abend schrieb Fabian einen Brief an Christa, aber er empfand schon beim Schreiben, dass es ihm nicht gelang, die Gedanken und Empfindungen, die ihn bewegten, auszudrücken. Immer sah er ihr verändertes, verklärtes Gesicht vor sich und zerriss dreimal den Brief. Er ging spät schlafen, aber unaufhörlich sah er ihr verklärtes Gesicht, ob er die Augen offenhielt oder schloss. Ja, bei Gott, er liebte diese Frau! Am nächsten Morgen erstand er einen Strauß herrlicher Marschall-Niel-Rosen[59 - Marschal-Niel-Rosen – розы, названные в честь французского маршала Адольфа Нила], die er mit seinem Kärtchen, das nur wenige Worte trug, an Christa senden ließ.

Christa fand die Rosen in ihrem Zimmer, als sie ihre Mutter von der Bahn abgeholt hatte, und war hocherfreut darüber. «Dank für die Christmesse auf Palma de Mallorc», stand auf der Karte. Nichts sonst. Sie wählte drei der herrlichsten Rosen aus dem Strauß und brachte sie hinunter zu ihrer Mutter.

«Mam», rief sie erfreut aus, «ich bin erst jetzt in der Lage, dich würdig willkommen zu heißen». Sie beugte ein Knie und überreichte ihrer Mutter die Rosen mit einer reizenden Geste. «Lass die Faxen, Christ», erwiderte lachend Frau Beate, die noch müde von der Reise war. «Woher hast du denn die herrlichen Rosen bekommen».

Christa erhob sich. «O», sagte sie, «ich fand einen riesigen Strauß auf meinem Zimmer. Ein Verehrer hat sie mir geschick», fügte sie hinzu und wurde plötzlich rot.

«Ein Verehrer? Ich sehe, die Männer sind immer noch so verrückt wie vor zweitausend Jahren».

Christa tat ein wenig gekränkt. «Aber es ist ein Verehrer, der mir außerordentlich sympathisch ist, Mama». entgegnete sie.




Zweites Buch





I


Die große Rede, mit der Taubenhaus sich im Rathaussaal der Stadt vorstellte, war ohne Zweifel ein bedeutender Erfolg. Auf elf Uhr war die Ansprache angesetzt, aber bereits eine halbe Stunde vorher sah man Scharen von Geladenen die Treppe des Rathauses emporsteigen.

Fabian war schon früh auf den Beinen. Er brauchte fast eine Stunde, um sich für die Feier in Gala zu werfen[60 - sich in Gala werfen – принарядиться, надеть парадный костюм]. Heute wollte er zum erstenmal seine neue Uniform vorführen, die Menschen sollten staunen. Die Breeches, die scharf wie Messer auf den Schenkeln abstanden, gaben ihm das verwegene und herausfordernde Aussehen eines Menschen, mit dem nicht zu spaßen ist. Außerordentlich gut kleidete ihn der Rock, der seine Schultern breiter und kräftiger erscheinen ließ. Dieser kleine weißhaarige März war wirklich ein Künstler in seinem Fach, man konnte sagen, was man wollte. Seine Ordensauszeichnungen putzte Fabian mit einem Läppchen, bevor er sie anlegte, das Eiserne Erster trug er links unten an der Brust, wie es sich gehörte. Geschniegelt und gebügelt, sah er wahrhaftig stattlich aus. Er war nicht mehr als ein schlichter Soldat der Partei und wollte auch gar nicht mehr sein, man sollte nur seinen guten Willen sehen, der Idee zu dienen, alles andere würde sich ja finden. Ehrgeizige Ambitionen lagen ihm fern, aber man konnte schließlich nicht von ihm verlangen, den Offizier zu verleugnen, der er nun einmal war. In seiner Uniform, mit seinen Orden und seiner soldatischen Haltung musste man ihn unbedingt für einen hohen Kommandeur halten.

Als er sich anschickte zu gehen, kam Clotilde auf den Korridor, im eleganten Mantel, einen Silberfuchs um die Schultern gelegt, den Hut auf dem Kopf. Dieser Hut war ein kunstvolles Gebäude von hellbraunen Samtschleifen, die beim Gehen lustig auf ihrem blonden Haarschopf wippten.

«Nimm mich mit, bitte! Es wird doch das beste sein, wenn ich gleich mit dir komm», rief sie, als sei es die alltäglichste Sache der Welt, dass sie ihn begleite. «Bitt», erwiderte er und öffnete ihr höflich die Tür. Clotilde befand sich in angeregter, vorzüglicher Laune. Das bevorstehende Ereignis regte sie auf wie eine Premiere im Theater. Befriedigt schritt sie an der Seite ihres Gatten einher und genoss die erstaunten und anerkennenden Blicke, die man ihm zuwarf. Also auch er ist bei der Partei! Es war zum ersten Mal seit vielen Wochen, dass man sie zusammen auf der Straße sah. Nun, etwas war in ihrer Ehe nicht in Ordnung, das wusste die ganze Stadt, aber schließlich war ja heute ein besonderer Tag. Clotilde hielt manchmal den Schritt an und musterte ihren Mann mit prüfenden Blicken. Ohne Tadel, wahrhaftig, ohne den geringsten Tadel! Mit solch einem Mann konnte man sich recht gut auf der Straße sehen lassen!

«Vorzüglich siehst du aus». sagte sie voll aufrichtiger Anerkennung. Es war seit langer Zeit das erste anerkennende Wort, das er von ihr hörte.

«Ja, März hat wirklich gut gearbeite», erwiderte er.

«Die ganze Stadt erwartet in großer Spannung die Rede von Taubenhau», fuhr Clotilde fort. «Alle Welt wundert sich, was er zu sagen haben wird».

Seht an, dachte Fabian, eine richtige Konversation will sie beginnen. Er aber hatte keineswegs die Bosheiten ihrer Scheidungsklage vergessen und zögerte zu antworten.

«Er wird sicher ganz interessant spreche», erwiderte er. «Er ist ja ein aufgeweckter Kopf. Natürlich hat man ihn in vielen Dingen informiert, er ist ja noch ganz neu».

Clotilde lächelte in sich hinein. Oh, sie wusste ganz genau, was Taubenhaus sagen würde. Die «Heldenbrück», der Springbrunnen auf dem Bahnhofsplatz, der Roland am Rathaus, nicht wahr? Seit drei Tagen lagen Durchschläge der Rede auf dem Schreibtisch ihres Mannes mit der blauen Anschrift «Streng vertraulich[61 - Streng vertraulich – совершенно секретно]».. Fabian wusste recht wohl, wie man Geheimnisse in der Stadt bekanntmachte, wenn es sein musste. Auch Fräulein Zimmermann würde aus lauter Wichtigtuerei den Mund nicht halten[62 - den Mund halten – помалкивать, держать язык за зубами].

«Sieh doch, die vielen Leute». rief Clotilde aus, als sie über den Rathausplatz gingen. Eine Menge Menschen stieg soeben hastig die Treppe empor. Unter ihnen befand sich Baurat Krieg, der eine zu enge Leutnantsuniform trug, die sich kaum über dem Bauch schließen ließ. Er war bei den Pionieren gewesen. Seine beiden Töchter, die Zwillinge, waren mit ihm. Es waren zwei hübsche Mädchen, Hermine und Helene, die einander so ähnlich sahen, dass es schwer war, sie zu unterscheiden. Beide hatten sie die gleichen roten Pausbacken und die gleichen reizenden Stupsnäschen. Sie lächelten auch das verwirrend gleiche Lächeln.

«Ein General! Nehmt Haltung an, Mädchen, ein wirklicher General». – scherzte Krieg und bestaunte Fabian. «Wahrhaftig, Sie verstehen es, Ihre Freunde zu überrasche», fügte er hinzu, und man konnte aus seinem Lachen nicht recht klug werden[63 - man konnte aus seinem Lachen nicht klug werden – по его смеху ничего нельзя было понять].

«Du entschuldigst mic», sagte Fabian zu seiner Frau am Eingang des Saales, als er ihr höflich die breite Tür öffnete. «Ich muss noch zum Bürgermeister, er hat vielleicht noch Aufträge für mich».

Clotilde verabschiedete sich von ihm mit ihrem reizendsten Lächeln, die Töchter Kriegs standen neben ihr. Sie waren beide völlig gleich gekleidet und gebrauchten auch das nämliche Parfüm. Fabian will sich wohl bei Taubenhaus in der neuen Uniform zeigen? dachte Clotilde. Es war ja alles Berechnung bei ihm, sie kannte ihn ganz genau.

Uniformen, Menschen, Hüte, Flaggen und wieder Flaggen, es war ein Anblick, der Clotilde begeisterte. Der Saal war mit vielen Lorbeerbäumchen geschmückt und von Fahnen geradezu übersät. Nur wenige Fahnen zeigten die Farben der Stadt, die meisten trugen das Hakenkreuz. Auch die Rednertribüne war mit der Hakenkreuzfahne ausgeschlagen. Der Eindruck war förmlich berauschend, und Clotildes Herz jubelte, als sie sich den Weg durch die Menge bahnte. Natürlich behaupteten einige Nörgler, es sei eine Feier der Partei und nicht der Stadt, und Doktor Krüger sollte nicht einmal ein privates Telefongespräch erlaubt sein, da konnte man schon lachen.

Es wimmelte von Militärs, selbst die Offiziere der Reserve benutzten den Anlass, sich in ihren Uniformen sehen zu lassen. Man sah sogar eine richtige rote Husarenverschnürung, die man schon für ausgestorben hielt, und die drei breiten Ärmelstreifen der Marine. Nun, das Stadtoberhaupt hatte sie eingeladen, und sie hielten es für ihre Pflicht, alle in großer Gala zu erscheinen. Ganz auffallend aber waren die vielen Orden! Ja, war denn ein Ordensregen auf die Stadt niedergegangen? Man konnte glauben, sie alle seien in der mörderischen Schlacht von Verdun[64 - die Schlacht von Verdun – битва под Верденом, самое кровопролитное сражение Первой мировой войны (1916 г.)] gewesen, obschon viele von ihnen nicht einmal den Geruch von Pulver kannten.

Ja, und du lieber Himmel, heute konnte man auch sehen, dass fast jedermann, der etwas auf sich hielt, Mitglied der Partei war! Gerichtspräsident Liborius, Museumsdirektor Graß, Direktor des Krankenhauses Sandkuhl, Justizrat Schwabach, natürlich, er spielte ja eine ganz große Rolle in der Partei, Rektor des Gymnasiums Pett, Medizinalrat Haverlag, die Professoren Koppenheide und Rhode, Direktor der Kunstschule Sanftleben, alle, einfach alle. Die Herren sahen sämtlich würdig, gut genährt und zufrieden aus, manche hatten sich im Laufe ihres Lebens Schmerbäuche erworben, und viele zeigten ihre glänzenden Glatzen, die man sonst überhaupt nicht sah, da sie Hüte trugen. Es war mit einem Wort die Creme des Bürgertums der Stadt.

Im Hintergrund des Saales hielten sich Scharen von meist jungen Leuten in brauner Uniform auf, die ohne jede Scheu plauderten und scherzten. Selbst einige Grauköpfe waren unter den braunen Soldaten, und in ihrer Mitte sah man die großen durchscheinenden Ohren des Schusters Habicht rot aufleuchten.

Es musste in Wahrheit auffallen, wie wenige der Anwesenden nicht der Partei angehörten. Vielleicht waren viele nicht eingeladen worden? Fabian hatte eine Liste von achthundert Personen aufgestellt, die letzte Sichtung aber hatte sich Taubenhaus vorbehalten. Zu den Parteilosen, die auf den ersten Blick auffielen, zählte Wolfgang Fabian, der mit fröhlicher Miene durch den Saal blickte, bald aber seine Unbefangenheit verlor, da er einer gewissen Zurückhaltung begegnete. In seiner Nachbarschaft saß Lehrer Gleichen, der mit düsteren Augen abseits Platz genommen hatte und mit niemand ein Wort wechselte. Seine Menschenscheu war bekannt, man erinnerte sich auch, dass er an die Dorfschule von Amselwies straf versetzt worden war, weil er, wie man sagte, die Hakenkreuzfahne nicht gegrüßt hätte.




II


Frau von Thünens kleines Hütchen mit den stahlblauen Federchen bewegte sich erregt hin und her. Die Baronin sprach und lachte fast ohne Pause. Durch den ganzen Saal hörte man ihre begeisterte Stimme und ihr helles Lachen. Sie hatte dieser Tage einen führenden Posten in der Frauenschaft übernommen und fühlte sich ganz in ihrem Element.

Oberst von Thünen tänzelte in seiner Oberstenuniform zwischen den Damen wie ein jugendlicher Kavallerist, seine Brust war mit Reihervon hohen Orden übersät und glitzerte förmlich. Er klappte mit den Absätzen, grüßte mit hochgestreckter Hand, lachte, scherzte. Kurz, er schien sich tatsächlich verjüngt zu haben mit seinem grauen Scheitel, der wie immer peinlich frisiert war. «Frau Fabian». rief er, als er Clotilde gewahrte, die sich ihren Weg durch die Menge suchte. Er eilte ihr entgegen, stand vor ihr in militärischer Haltung, als sei sie ein General, und verbeugte sich übermäßig tief. Clotilde errötete, beglückt über diese Auszeichnung vor allen Leuten.

«Kommen Sie zu uns, Clotild», schrie die Baronin.

Der junge Oberleutnant Wolf von Thünen hielt sich hochmütig lächelnd etwas abseits von den Damen, die seine Mutter umgaben, da ihn, wie er sagte, Frauen über vierzig nicht interessierten. Er bewahrte noch ganz die alten gesellschaftlichen Formen, verbeugte sich gemessen und küsste Clotilde aufmerksam die Hand.

Fabian ging als letzter möglichst unauffällig durch den Saal und durchforschte im Vorbeigehen die Sitzreihen.

Er hätte es gern gesehen, dass Christa und Frau Beate Lerche-Schellhammer erschienen wären. Er hatte ihre Namen auf die Liste gesetzt, obschon er wusste, dass sie in diesen Tagen einen kleinen Ausflug nach Baden-Baden planten. Trotzdem er unter den Damen eifrig Umschau hielt, konnte er sie nirgends entdecken.

Schade, Christa ist nicht da, dachte er und begab sich zu den letzten Stuhlreihen, wo die einfachen Soldaten der Partei in ihren braunen Uniformen saßen. Sie rückten bereitwillig zur Seite, und man gewann den Eindruck, als sei soeben ihr Kommandeur zu ihnen getreten. «Er sieht prächtig au», raunte die Baronin in Clotildes Ohr. «Herrlich, dass er sich endlich positiv erklärte».

«Wenn man etwas tut, so soll man es ganz tun». antwortete Clotilde. «Als begeisterter Soldat musste er sich natürlich einer militärischen Formation anschließen».

«Das erwartete man selbstverständlich von ih», fuhr die Baronin fort, «dass er es aber tat, ohne vorher die Bedingung eines militärischen Ranges zu stellen, das wird man ihm hoch anrechnen». Ja, nun konnte der Bürgermeister kommen. Aber er kam noch nicht. Etwas schien noch zu fehlen. Man deutete auf die drei Sitze, die unbesetzt waren. Für wen mochten diese drei Stühle reserviert sein? Wurden hohe Gäste erwartet? Da wurde nochmals die Haupttür geöffnet, und drei Herren in braunen und schwarzen Uniformen der Partei erschienen, um sich rasch zu den reservierten Stühlen zu begeben.

Der vorderste war ein gedrungener, breitschultriger Mann, der hurtig dahinschritt. Er hatte ein breites, gutmütiges Gesicht mit vollen Lippen und rostrotes, gescheiteltes Haar. Dazu trug er einen kurzgehaltenen, schmalen Backenbart. Auffallend war, dass er keinerlei Ordensauszeichnungen besaß, nur ein unansehnliches Band zeigte sich in seinem Knopfloch. Die zwei Herren seiner Begleitung schienen seine Adjutanten zu sein, die waren um vieles jünger und sahen in ihrer straffen, militärischen Haltung vorzüglich aus.

Im Saal entstand einige Aufregung und Unruhe, Neugierige erhoben sich, und die braunen Parteisoldaten warfen die Hand in die Höhe und schrien: «Heil».

Der gedrungene, breitschultrige Mann aber hob nur kurz die Hand und winkte ab. Sofort war der Saal völlig still. «Es ist Gauleiter Rump», flüsterte die Baronin voller Erregung Clotilde ins Ohr. «Sagte ich Ihnen nicht, dass er zum Vortrag hierherkommen wird». «Der Gauleiter». Clotilde war enttäuscht. Sie hatte sich unter einem Gauleiter stets eine Art Fürst in königlicher Haltung und mit prunkvollem Gefolge vorgestellt.

Die Baronin aber war so erregt, dass sie zitterte. «Haben Sie das Band in seinem Knopfloch beachtet». fragte sie Clotilde und grub ihr vor Erregung die Nägel in die Hand. «Es ist der Blutorden, die höchste Auszeichnung, die unser Führer verleihen kann! Der lange blonde Offizier ist Adjutant Vogelsberger, der dunkle mit dem verschlossenen Gesicht ist Adjutant Graf Dosse. Gott, was für ein unvergesslicher Tag, Clotilde».

In diesem Augenblick öffnete sich eine schmale Tür hinter dem mit Hakenkreuzflaggen ausgeschlagenen Podium, und Taubenhaus im schwarzen Gehrock erschien.




III


Langsamen und gemessenen Schrittes trat Taubenhaus an das Rednerpult. Er schien etwas befangen zu sein, erwies sich aber bald als ein gewandter Redner.

Sein langes, hageres Gesicht sah im halben Licht des Saales fahler als gewöhnlich aus, stumpf und gelblich, die schwarze Haarbürste darüber erschien glanzlos und matt, ebenso die dunklen Bürsten unter seinen Nasenlöchern. Er hatte heute seine Orden in Originalgröße angelegt, und die Kenner sahen sofort, dass nichts Besonderes unter ihnen war. Nicht einmal das Eiserne Erster besaß er. Niemand sah ihm das «Störchennes». in den Argonnen an. Dazu klapperten die Orden, als er sich verneigte.

Fabian lächelte, als Taubenhaus begann. Natürlich fing er mit den Gänsen und Ziegen an, die über den Marktplatz der pommerschen Stadt liefen, aus der er kam. Die Zuhörer hatten Gefallen an dieser Schlichtheit und waren aufs äußerste erstaunt, zu hören, dass über den Marktplatz ihrer Stadt ebenfalls Gänse und Ziegen liefen, aber Gänse und Ziegen ganz anderer Art, einer wenig erfreulichen, ja beschämenden Art. Sie lachten belustigt und klatschten Beifall.

Eine feine Röte stieg in das leblose und steife Gesicht, und von diesem Augenblick an schien Taubenhaus zum Leben zu erwachen. «Ich bin hierhergekomme», rief er mit lauter Stimme, und seine goldene Brille funkelte, «um die geistigen Motoren dieser Stadt anzuwerfen und die seelischen Kraftquellen zu erschließen».

Er brüllte es so laut, dass die Zuhörer erschraken.

Ja, diese Stadt, einstmals «die Stadt der goldenen Türm». genannt, sollte wieder in ihrem alten Glanz erstrahlen. Sie sollte in wenigen Jahren die schönste und gepriesenste aller Städte des Landes werden, beneidet und bewundert wegen ihrer Schönheit, ihres Reichtums und ihrer Gastfreundschaft. Beifall rauschte auf. Er wollte ein völlig neues Theater für Oper und Schauspiel errichten, das heutige sollte wie ein Gänsestall dagegen erscheinen, eine Kunsthalle, eine Musikakademie, die schönsten Sportplätze und Schwimmhallen der Welt. Die Augen der Bürger glänzten. Die ganze Stadt sollte mit spiegelglattem Asphalt überzogen werden, auf dem rasche Autobusse in schneller Folge dahinrollten.

Was nützten denn diese elektrischen Bahnen, auf die man volle fünfzehn Minuten warten musste? Mit der Uhr in der Hand hatte er die Minuten gezählt!

«Die Stadt schläft, ja, bei Gott, sie schläft noch ihren mittelalterlichen Schlaf! Wie ein Donner will ich sie wecken». Hier brüllte er lauter noch als das erstemal. Neue Brücken wollte er schaffen, und er verweilte längere Zeit bei der «Heldenbrück», auf der Friedrich der Große auf stolzem Rosse dahinritt, inmitten von Bannerträgern und Trommlern, von Landsknechten mit Hellebarden und Morgensternen, gefolgt von Germanen mit Streitäxten und knorrigen Keulen. Neues Siedlungsland für Tausende und aber Tausende wollte er erschließen, denn die Stadt würde in zehn Jahren doppelt soviel Einwohner zählen wie heute. Neue Plätze wollte er anlegen, neue Strassen und Durchbrüche schaffen, was alt war und im Wege stand, das musste weichen. Weg damit! Schwere Lastautos müßten mit ihrer Last ungehindert durch die Stadt rollen können. Fort mit dem alten Gerumpel! Er wollte auch dafür sorgen, dass die Stadt einen modernen Bahnhof bekam und einen würdigen Flugplatz. Wie jämmerlich sah heute der Bahnhofsplatz aus! Es war eine glatte Schande! Ein Rausch von Blüten sollte den Reisenden in Zukunft empfangen, dazu das heitere Geplätscher von zwei gigantischen Springbrunnen!

Zwei? Fabian horchte auf. Taubenhaus hatte seinen Entwurf fast wörtlich verwendet. Er hatte darüber hinaus fast alle jene Vorschläge, deren Verwirklichung Fabian für spätere Jahre empfahl, in sein Programm von heute aufgenommen und teilweise ins Phantastische gesteigert. Fabian sprach von einem Umbau des Theaters, bei Taubenhaus wurde es ein völliger Neubau, eine Modernisierung des Bahnhofs wurde bei Taubenhaus ein ganz neues Bahnhofsgebäude. Es war der neue Geist, der stets bis an die Grenzen des Möglichen strebte, ja bis dahin, wo sie ans Unmögliche streiften. «Wer ein Schloss bauen will, darf nicht mit einer Hundehütte beginne», zitierte Taubenhaus wörtlich aus Fabians Entwurf.

Die Leute lauschten und staunten über die verlockende Phantasie des Redners.

Nun schüttete Taubenhaus ein wahres Füllhorn von Reichtümern über die Stadt aus. Neue Industrien, neue Gewerbe wollte er einbürgern, das Handwerk sollte neu erstehen und vervollkommnet werden. Die Bürger saßen mit trunkenen Augen. Ja, das war ein anderer Kopf als dieser ängstliche und vorsichtige Krüger, der war bei Gott ein schöpferischer Kopf! Von den Reichtümern, die über die Stadt dahinströmten, musste auch ein Teil in ihre Taschen fließen, nicht wahr? Ob man Häuser besaß oder nicht, ob man Fabrikant war oder nicht, wenn das Baugewerbe blühte, blühte alles, der Grundbesitz stieg, Bauunternehmer, Tischler, Glaser, Maler, Schlosser, jeder musste reich werden. Die Zuhörer wurden lautlos still und regten sich nicht mehr. Verdienen, verdienen! Reich werden! Die Begierde, Reichtümer zu erraffen, las man in allen Augen. Reich werden, heute, morgen, dann hatte das Leben wieder einen Sinn.

Halt! Etwas hatte Taubenhaus noch vergessen, nein, nicht vergessen, er vergaß nie etwas, ein Mann wie er, er hatte es bis zum Schluss aufgehoben: das Gemeinschaftshaus!

Das Gemeinschaftshaus? Auch das war ein Gedanke Fabians, aber er hatte das Gemeindehaus für die Zukunft als eine Art größeres Klubhaus vorgeschlagen. Taubenhaus aber wollte ein Haus von gigantischen Ausmaßen errichten! Es sollte der Gemeinschaft gehören, den Klubs, den Parteien, dem Sport. Parteien? Gab es denn etwas anderes als die Partei? Einen großen Konzertsaal würde es enthalten, Versammlungssäle, Beratungs- und Kongresssäle, zwölf Stockwerke hoch sollte es emporragen, höher als der Dom, Wahrzeichen der Stadt, der Provinz, Wahrzeichen unserer herrlichen, großen Zeit!

Wo aber sollte das Gemeindehaus stehen? Er hatte sich wochenlang mit seinen Freunden beraten, und endlich hatten sie den geeigneten Platz gefunden. Im Hofgarten, auf der Höhe, wo sich heute der Friedenstempel erhob! Es war eine Anhöhe, die Stadt und Land beherrschte, der zierliche Friedenstempel, den die Stadt nach den Freiheitskriegen errichtete, hatte seine Aufgabe erfüllt und mochte eine andere Stelle des Hofgartens zieren.

Dies war also sein Programm.

Halt! Noch eines! Taubenhaus brauchte Geld, Geld, Geld! Opfer, Opfer, Opfer! Der bekannte Gemeinsinn der Bürgerschaft müsste sich in neuem Glanze bewähren. In seinem Vorzimmer liege eine Liste aus, niemand sollte sich schämen zu zeichnen, ganz wie er sich nicht schämen würde, nachzusehen, was jeder gezeichnet hatte! «Nein, ich werde mich nicht schämen, auf das genaueste nachzusehen». schrie er. Damit verbeugte er sich. Er war zu Ende, und minutenlanger, tosender Beifall, vermischt mit stürmischen Heilrufen, belohnte seine Rede.

Der Gauleiter erhob sich, schritt rasch zum Rednerpult und schüttelte Taubenhaus minutenlang die Hand.




IV


«Taubenhaus wirft die geistigen Motoren der Stadt an». schrieben die Zeitungen. «Taubenhaus erschließt die seelischen Kraftquellen der Stadt».

Die Rede erschien in vollem Wortlaut und bildete tagelang das Gespräch der Stadt. Die Wirtschaften und Weinstuben waren bis lange nach Mitternacht geöffnet, über jeden einzelnen Punkt der Ansprache wurde erregt debattiert. Müdigkeit, Unlust und Mutlosigkeit schienen wie auf einen Schlag überwunden. Pläne wurden entworfen, Gründungen vollzogen, man kaufte, verkaufte, der Unternehmungsgeist erwachte wieder, in vielen Strassen wurden Gerüste aufgebaut. Es ging aufwärts. Maurer und Zimmerleute hatten alle Hände voll zu tun. Wenn Taubenhaus auch nur Versprechungen gemacht hatte und dazu noch Opfer forderte, so lag doch schon der Geruch von Geld in der Luft, eine Ahnung künftiger Reichtümer.

«Ein perikleisches Zeitalter[65 - perikleisches Zeitalter – эпоха Перикла, афинского государственного деятеля V в. до н. а; время его правления называют «Золотым веко». демократии] steigt herauf». prophezeite Justizrat Schwabach am Stammtisch in der «Kuge». begeistert. Er wiederholte das Wort «perikleisc». jeden Abend, wenn er seinen Schoppen Wein trank.

«Wenn Taubenhaus auch nur ein Zehntel seines Programms ausführt, so muss man ihm ein Denkmal setzen». «Taubenhaus ist ein Genie».

Die Tür zum Vorzimmer des Bürgermeisters stand offen, und die Leute kamen, um ihre Zeichnungen einzutragen, die täglich mit voller Namensnennung in den Zeitungen veröffentlicht wurden. «Ich bin mit den Zeichnungen zufriede», sagte Taubenhaus zu einem Pressemann, «die erste Million ist erreicht. Ich kenne aber noch viele, die bis heute nicht einen Heller gezeichnet haben, ich warte auf sie. Ich bin unersättlich».

Ein Kaufmann stiftete einen herrlichen Barockschrank für das Städtische Museum. Der Schrank war eine ganze Woche lang im Juweliergeschäft von Nicolai ausgestellt mit einer zierlichen Tafel davor: Stiftung von Kaufmann Modersohn, Flußhafen 18. Der Verschönerungsverein hielt eine Vorstandssitzung in der «Kuge». ab, die bis zum frühen Morgen dauerte. Der Historische Verein veranstaltete einen Tagesausflug nach Amselwies, wo der weißhaarige Professor Hall auf einem mit Unkraut bewachsenen Schutthaufen einen Vortrag über germanische Gräber hielt.

Die Stadt bewegte sich. Schien es nicht, als ob Taubenhaus’ mächtiger Atem wie ein Sturmwind in verlöschende Glut geblasen hätte?

In allen Kreisen der Stadt, besonders in den Damengesellschaften, wurde häufig der Name Fabians in Verbindung mit der aufsehenerregenden Rede genannt. Nun ja, man wusste ja so manches! «Dieser Hübsche, Sie wissen doch, der eine Pracht heiratete und ein Anwaltsbüro unterhält. Wenn Sie etwas brauchen, gehen Sie zu ihm. Der hellste Kopf der Stadt». An einem der ersten Tage erschien auch Frau von Thünen bei Fabian, um ihn zu dem großen Erfolg zu beglückwünschen. «Ja, bei Gott, welch ein überraschender, aber durch und durch gerechtfertigter Erfolg! Wir sind stolz auf Sie, mein Freund, besonders aber Clotilde! Sie wird nicht müde, Ihr Lied zu singen». Fabian wies den Glückwunsch in aller Bescheidenheit zurück.

«Man weiß ja Bescheid, Verehrteste», versicherte die Baronin lachend und zwinkerte mit ihren kleinen listigen Augen. «Es war natürlich Ihre Pflicht und Schuldigkeit, Taubenhaus etwas zu inspirieren, ich weiß es. Er kann ja die Stadt noch gar nicht ordentlich kennen, nicht wahr? Dieses Gemeinschaftshaus, um nur eines zu nennen, welch eine geniale Idee».

Fabian lächelte. Er erklärte, von dem zwölfstöckigen Gemeinschaftshaus in dieser Form erst bei der Rede gehört zu haben.

Die Baronin lachte ihn aus. «Sie sind allzu bescheiden, mein Lieber». rief sie aus. «Ach, wenn nur alle Menschen solche Idealisten wären, wie wunderbar wäre das, welch ein Segen für unser Vaterland! Der Gedanke, einer gemeinschaftlichen großen Sache zu dienen, ist Ihnen schon Lohn genug. Möge Ihnen der große Erfolg Ansporn zu neuem Schaffen für unser geliebtes Vaterland sein! Leben Sie wohl, ich muss eilen. Meine Stellung bei der Frauenschaft macht mir viele Scherereien und Mühe, aber ich bin glücklich».

Tag für Tag erwartete Fabian, etwas von Taubenhaus zu hören. Aber Taubenhaus schwieg, er hatte vorläufig noch keine Zeit. Der Gauleiter war noch in der Stadt, und man sah ihn täglich im Auto durch die Strassen fahren. Vor dem «Ster». standen noch immer die Kübel mit den Lorbeerbäumchen und das Hotel war die ganze Nacht bis zum frühen Morgen hell erleuchtet. Der Gauleiter liebte Diners, Festessen, Bankette, und es war bekannt, dass er fast ohne jeden Schlaf auskam.

Schließlich wurde Fabian unruhig. Er erschien häufiger in seinem Büro und fragte, ob es etwas von Bedeutung gäbe. Aber es gab nichts von Bedeutung.

Mit besonderem Eifer betrieb er seine laufenden Geschäfte. Er hatte wiederholt Konferenzen mit den Brüdern Schellhammer und war in langen Besprechungen bemüht, die hohe Rente durchzusetzen, die Frau Beate forderte. Er hatte häufig auch Rücksprachen mit Frau Beate selbst, denn solch heikle Dinge ließen sich ja telefonisch schlecht erledigen. In Wahrheit aber kam er nur so oft, um Christa wiederzusehen. Sie war unverändert freundlich zu ihm, plauderte frisch und kameradschaftlich und begrüßte ihn mit ihrem innigen Lächeln, das ihn stets stundenlang verfolgte. Sie errötete jetzt häufig, wenn er kam.

Von ihrer kürzlichen Plauderstunde im «Residenzcaf». wurde mit keiner Silbe mehr gesprochen, weder von Christas Schilderung der Christmesse in Palma de Mallorca, die Fabian bis heute nicht vergessen hatte, noch von seinem Blumengruß. Oft überkam ihn das Verlangen, wieder einmal einige Stunden mit ihr zu plaudern, aber er fühlte sich in diesen Tagen zu rastlos dazu.

Einmal schüttelte Christa den Kopf, während sie ihn prüfend betrachtete, und sagte: «Sie scheinen mir reichlich nervös zu sein in letzter Zeit, mein Freund».

Fabian lachte. «Ich weiß e», entgegnete er. «Die letzten Tage waren etwas anstrengend für mich. Aber ich bekomme jetzt bald eine tüchtige Arbeitskraft für mein Büro, die mich entlasten wird. Dann wird es wieder besser werden».

«Hoffentlich kommt die Hilfskraft bald». sagte Christa lächelnd.

Der warme Ton ihrer Stimme erfreute sein Herz.

Er fand sogar die Muße, nach Amselwies hinauszufahren, um mit Sanitätsrat Fahle eine Stunde lang zu plaudern. «Es bahnen sich neue Verbindungen a», sagte er, bemüht, den alten Mann zu trösten, aber er errötete und brach ab, da er in Fahle keine irrigen Hoffnungen erwecken wollte. «Ich bin neuerdings mit Taubenhaus in engere Beziehungen getrete», fuhr er fort, «und hoffe, auf diesem Wege Ihre Sache fördern zu können. Geduld und Mut, das ist alles, worum ich Sie bitte».

Auch Wolfgang ließ nichts mehr von sich hören. Wenn man ihn anrief, war er am Telefon kurz angebunden und fast schroff. «Ich plage mich mit diesem verfluchten „Kettensprenger“». schrie er in den Apparat und hängte ab. Endlich gelang es Fabian, ihn zu einem Karpfenessen in die «Kuge». einzuladen. Aber er war am ganzen Abend wortkarg und schlechter Laune, obwohl der Karpfen vorzüglich war.

«Du trinkst ja heute gar nicht, Wolfgang». beklagte sich Fabian. Wolfgang warf ihm von unten einen raschen, grimmigen Blick zu, einen förmlichen Hieb von Blick. «Beruhige dich nu», knurrte er. «Ich werde mich heute betrinken! Schon aus Wut darüber, dass mein Bruder diese Komödie mitmacht».

Es war heraus. Fabian schoss das Blut in den Kopf.

«Ich muss dir offen gestehen, Wolfgan», begann er, «dass ich dich nur deshalb so hartnäckig anrief, weil ich diese Aussprache herbeisehnte, die mir notwendig schien».

«Und ich». rief Wolfgang, und seine Augen funkelten. «Ich bin überhaupt nur aus dem Grunde hierhergekommen, um eine Erklärung deines Gesinnungswechsels zu erhalten».

«Gesinnungswechsels». Fabian lächelte. «Ich habe meine Gesinnung nicht im geringsten geändert, ich bin noch ganz der alte. Es handelt sich lediglich um eine Formsache».

«Formsache». Wolfgangs Augen waren glühend auf Fabian gerichtet.

«Ja, um nichts anderes». Wolfgang dürfe nicht vergessen, dass er eine Frau und zwei Jungen zu ernähren habe. Bei der Stadt habe man ihn kaltgestellt, als Anwalt habe man ihn boykottiert. Er musste der Partei beitreten, oder sein wirtschaftlicher Untergang war besiegelt. Da er Offizier war, forderte man von ihm, sich einer militärischen Organisation anzuschließen. «Vergiss all das nicht, bevor du urteilst, Wolfgan», schloss Fabian. «Es war die höchste Zeit für mich, zu einem Entschluss zu kommen. In drei Wochen hätte man mir das Büro geschlossen».

Der Bildhauer knüllte seine Serviette zusammen und warf sie auf den Tisch. Er war dunkelrot vor Zorn geworden, und die Purpruröte blieb lange Zeit in seinem Gesicht stehen. «Gewiss, es sind Erpresse», knirschte er, «aber trotz alledem». Auch in der Kunstschule habe man einen neuen Direktor eingesetzt, einen gewissen Sanftleben, einen talentlosen Bilderschmierer, fuhr er fort, und seine Stimme war in der Erregung kaum zu verstehen, und der Neue habe ihm schon häufig deutliche Anspielungen gemacht. Aber er überhörte sie ganz einfach! Sollten sie ihn entlassen, schön. Ihm war es höchst gleichgültig. Dann gehe er für dreihundert Mark in eine Porzellanfabrik, und die Welt ginge trotzdem nicht unter.

Fabian atmete auf, das Schlimmste war vorüber.

«In deinem Beruf gibt es glücklicherweise Porzellanfabriken, und dazu hast du weder für Frau noch für Kinder zu sorge», entgegnete er. «Deine Lage scheint also günstiger».

Der Bildhauer zündete sich eine Virginia an. «Fran», sagte er versöhnlich, während er hastig paffte, da die Zigarre schlecht brannte. «Frank, ich möchte unter keinen Umständen wegen politischer Meinungsverschiedenheiten meinen einzigen Bruder verlieren, verstehe mich recht! Dazu kenne ich dich zur genüge und weiß, dass du nie etwas Unrechtes tun oder billigen wirst. Einmal wolltest du Priester werden und warst durch nichts in der Welt davon abzubringen. Aber als du zur Einsicht kamst, kehrtest du von selbst um. Heute sage ich mir wieder, lass ihn nur, einmal wird er zur Einsicht kommen und umkehren, gerade wie damals».

Fabian streckte dem Bruder die Hand hin. «Darauf kannst du dich verlassen». rief er aus. «Aber wir wollen in diesem Fall ein paar Jahre warten, Wolfgang. Vielleicht, wer weiß es, wirst du einmal die Dinge anders sehen? Vielleicht wirst du es diesmal sein, der sich bekehrt».

Wolfgang lachte. «Ich gebe zu, dass schon manch einer verrückt geworden is», erwiderte er. «Wir werden uns in einigen Jahren wieder sprechen, schön. Heute aber wollen wir von etwas anderem reden. Lassen wir diesen politischen Unsinn, der langsam das ganze Reich in ein Irrenhaus verwandelt. Reden wir lieber von der famosen „Heldenbrücke“ dieses Herrn Taubenhaus. Ich muss noch heute laut lachen, wenn ich an seine grandiose Brücke denke. Friedrich der Große und Germanen mit Bärenfell und Keulen, hahaha».

Er lachte so laut und herzlich, dass die Gäste des Lokals sich umwandten. «Wie lang soll eigentlich diese „Heldenbrücke“ werden». lachte er. «Eine Meile, drei Meilen? Überhaupt hat dieser Taubenhaus der Stadt blauen Dunst vorgemacht[66 - j-m blauen Dunst vormachen – пускать пыль в глаза, морочить голову] und ihr potemkinsche Dörfer[67 - potemkinsche Dörfer – потемкинские деревни (надувательство, обман)] vorgegaukelt».

«Galubst du nicht, dass es in erster Linie sein bestreben war, den gesunkenen Mut der Bürger zu neuem Leben zu erwecken». Wolfgang lachte wiederum, und Fabian bestellte eine neue Flasche.

In später Stunde verließen beide die «Kuge».. Sie trennten sich als Freunde und Brüder.

Am Morgen nach diesem Versöhnungsessen kam Fabian spät in sein Büro. Er war eben dabei, den Mantel auszuziehen, als man ihn ans Telefon rief. Es war Taubenhaus selbst, der ihn zu sprechen wünschte, und Fabian erschrak freudig, als er seine Stimme erkannte. Taubenhaus bat, ihn sofort zu besuchen.

Fabian wurde mit großer Freundlichkeit empfangen. Das Gesicht des Stadtoberhaupts hatte etwas Farbe bekommen, die Augen schienen gerötet und etwas geschwollen. «Ich fand leider früher nicht die Zei», begann Taubenhaus, «aber ich wollte Ihnen nur kurz sagen, dass ich äußerst zufrieden mit Ihnen bin. Der Herr Gauleiter hat sich sehr anerkennend geäußert über die Rede und meine Pläne. Der Herr Gauleiter hat auch den Wunsch ausgedrückt, Sie bei der nächsten Gelegenheit persönlich kennenzulernen».

Fabian verneigte sich.





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notes


Примечания





1


Bürgermeister Krüger musste gehen – Бургомистру Крюгеру пришлось уйти со своего поста.




2


von heute auf morgen – внезапно, вдруг




3


es ließ sich prächtig mit ihm zusammen arbeiten – с ним можно было отлично работать; с ним хорошо работалось




4


Pommern – Померания, историческая область




5


Kapuzinerkloster n – монастырь ордена капуцинов




6


Sammelbüchse f – банка или коробка для сбора пожертвований




7


keiner Fliege etwas zuleide tun – мухи не обидеть




8


alle Hände voll zu tun haben – быть очень занятым




9


etwas zur Geltung bringen – выставить что-л. на показ




10


Die Baronin war an die Fünfzig – Баронессе было около пятидесяти




11


Standartenführer m – штандартенфюрер, полковник войск СС в фашистской Германии




12


Ney – Ней, маршал Франции, участник наполеоновских войн




13


Murat – Мюрат, маршал Франции, участник всех наполеоновских войн




14


ein Offizier vom alten preußischen Schlag sein – офицер старого прусского закала




15


Er machte keinen Hehl aus seiner kaiserlichen Gesinnung – он не скрывал своих монархических убеждений




16


Deutschnationale Partei (Deutschnationale Volkspartei) – немецкая национальная партия, основана в 1918 г.




17


Befreiungskriege – освободительные антинаполеоновские войны 1813-1815 гг.




18


Man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. – Нельзя зарывать свой талант в землю.




19


j-m einen Stuhl vor die Tür setzen – уволить, выгнать




20


Lavallierbinde f – шейный платок, повязанный особым образом




21


in den sauren Apfel beißen – проглотить горькую пилюлю




22


kein gutes Haar an j-m lassen – разобрать кого-л. по косточкам, зло сплетничать




23


Freimaurer – масоны, вольные каменщики, религиозноэтическое движение




24


j-m einen Maulkorb anlegen – (перен.) заставить кого-л. замолчать




25


Pfennigsucher m – скряга, скупердяй




26


Eiserner Erster – das Eiserne Kreuz – прусский военный орден первой степени




27


Virginia – сорт сигар




28


Sungschale f – чаша или блюдо династии Сун, правившей в Китае в IХ-ХIII вв.




29


außer Rand und Band sein – разойтись, разбушеваться, как с цепи сорваться




30


ein Glas Mosel – стакан мозельского вина




31


Meißner Porzellan – мейсенский фарфор, изделие из мей- сенского фарфора




32


etw. auf die leichte Schulter nehmen – относиться кчему-л. несерьезно, легкомысленно




33


Bernhardiner m – бернская пастушья собака, названа в честь святого Бернара, сенбернар




34


Köhler – Кёлер – известный композитор XIX в.




35


in die Brüche gehen – разрушиться, рухнуть




36


die Oberhand gewinnen – ваять верх, превзойти




37


j-m auf die Schliche kommen – раскусить кого-л., напасть на след




38


es ist ihm zu gönnen – не стоит ему завидовать




39


nicht wissen, wo einem der Kopf steht – запутаться, растеряться




40


the secret of the x-rays – (англ.) тайна рентгеновых лучей




41


j-m den Hof machen – ухаживать за кем-л.




42


Tituskopf m – прическа с короткими кудряшками, названная в честь римского императора Тита




43


verfemt sein – быть объявленным вне закона, подвергаться преследованиям




44


etw. in die Wege leiten – налаживать, устраивать




45


zum Guten ausschlagen – благополучно кончаться, оборачиваться добром




46


Ostende – бельгийский порт и климатический курорт




47


j-m zur Verfügung stehen – быть, находиться в чьем-л. распоряжении




48


etw. ins reine bringen – выяснить, урегулировать что-л.




49


unser Scherflein niederlegen – внести свою лепту




50


das Storchennest im Argonner Wald – укрепленная позиция немецких войск в Аргонском лесу во время Первой мировой войны




51


auf j-s Urteil viel geben – придавать большое значение чужим словам; ценить чье-л. мнение




52


Gut Ding will Weile haben ~ поспешишь – людей насмешишь




53


Friedrich der Große – Фридрих Великий (1712-1786), прусский король




54


Rolandfigur f – статуи Роланда, служила символом свобод и независимости города




55


El Greco – Эль Греко (1541-1614), испанский художник греческого происхождения




56


er hätte recht wohl einen Priester abgeben – из него получился бы хороший священник




57


Palma de Mallorca – Пальма-де-Мальорка, испанский курорт




58


Franziskaner m – францисканец, член католического монашеского ордена




59


Marschal-Niel-Rosen – розы, названные в честь французского маршала Адольфа Нила




60


sich in Gala werfen – принарядиться, надеть парадный костюм




61


Streng vertraulich – совершенно секретно




62


den Mund halten – помалкивать, держать язык за зубами




63


man konnte aus seinem Lachen nicht klug werden – по его смеху ничего нельзя было понять




64


die Schlacht von Verdun – битва под Верденом, самое кровопролитное сражение Первой мировой войны (1916 г.)




65


perikleisches Zeitalter – эпоха Перикла, афинского государственного деятеля V в. до н. а; время его правления называют «Золотым веко». демократии




66


j-m blauen Dunst vormachen – пускать пыль в глаза, морочить голову




67


potemkinsche Dörfer – потемкинские деревни (надувательство, обман)



Действие романа «Пляска смерт». происходит в большом провинциальном немецком городе, где еще до прихода к власти Гитлера начинается процесс фашизации. Адвокат Фабиан, примыкающий к либеральной партии, долго противится давлению, которое на него оказывали нацисты, но, когда они приходят к власти, он вступает в их ряды, движимый желанием сделать карьеру. Отныне Фабиан наперекор личным желаниям и убеждениям становится проводником фашистской политики.

Среда немецкой антифашистской интеллигенции и ее трагедия изображены Келлерманом сильно и правдиво. Печать лично пережитого, заметная в романе, придает ему особую достоверность и большую разоблачительную силу.

В настоящем издании приводится неадаптированный текст романа на языке оригинала, снабженный комментариями и словарем. Печатается с сокращениями.

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