Книга - Zielobjekt Null

a
A

Zielobjekt Null
Jack Mars


Ein Agent Null Spionage-Thriller #2
Einer der besten Thriller, die ich dieses Jahr gelesen habe. Books and Movie Reviews (über Koste es, was es wolle) In diesem Nachfolgebuch zu Buch #1 (AGENT NULL) in der Kent Steele Spionage Reihe, nimmt uns ZIELOBJEKT NULL (Buch #2) auf eine weitere wilde und erlebnisreiche Jagd durch Europa mit, als der Elite CIA-Agent Kent Steele damit beauftragt wird, eine biologische Waffe zu stoppen, bevor sie die Welt verwüstet – all das, während er sich mit seinem eigenen Gedächtnisverlust auseinandersetzen muss. Das Leben kehrt für Kent nur flüchtig zur Normalität zurück, bevor er von der CIA beauftragt wird, Terroristen zu jagen und eine weitere internationale Krise abzuwenden – die potenziell sogar nach verheerender ist als die Letzte. Aber mit einem Attentäter, der ihm nachjagt, einer Verschwörung in den eigenen Reihen, Maulwürfen, wohin man schaut und einer Geliebten, der er kaum trauen kann, ist Kent von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Und doch kehren seine Erinnerungen schnell zu ihm zurück und mit ihnen, Einblicke in die Geheimnisse, wer er war, was er herausgefunden hat – und warum sie hinter ihm her waren. Er erkennt, dass seine eigene Identität das gefährlichste Geheimnis von allen sein könnte. ZIELOBJEKT NULL ist ein Spionage-Thriller, der Sie bis tief in die Nacht hinein an sich fesseln wird. Thriller-Schreiben vom Feinsten. Midwest Book Review (über Koste es, was es wolle) Ebenfalls erhältlich ist Jack Mars’ #1 meistverkaufte LUKE STONE THRILLER SERIE (7 Bücher), die mit Koste es, was es wolle (Buch #1), einem kostenlosen Download mit über 800 Fünf-Sterne Bewertungen, beginnt!





Jack Mars

Zielobjekt null




Jack Mars

Jack Mars ist der USA Today Bestseller Autor der LUKE STONE Thriller Serie, welche sieben Bücher umfasst (und weitere in Arbeit). Er ist außerdem der Autor der neuen WERDEGANG VON LUKE STONE Vorgeschichten Serie und der KENT STEELE Spionage-Thriller Serie.

Jack würde sich freuen, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie seine Webseite www.Jackmarsauthor.com (http://www.jackmarsauthor.com/) und registrieren Sie sich auf seiner Email-Liste, erhalten Sie ein kostenloses Buch und gratis Kundengeschenke. Sie können ihn ebenfalls auf Facebook und Twitter finden und in Verbindung bleiben!



Copyright © 2018 durch Jack Mars. Alle Rechte vorbehalten. Außer wie gemäß unter dem US Urheberrecht von 1976 ausdrücklich gestattet, darf kein Teil dieser Veröffentlichung auf irgendeine Weise oder in irgendeiner Form, reproduziert, verteilt oder übertragen, oder in einem Datenbank- oder Datenabfragesystem gespeichert werden, ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Autors eingeholt zu haben. Dieses E-Book ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt. Dieses E-Book darf kein zweites Mal verkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch an andere Personen weitergeben wollen, so erwerben Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen, ohne es käuflich erworben zu haben oder es nicht für Ihren alleinigen Gebrauch erworben wurde, so geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie Ihr eigenes Exemplar. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit des Autors respektieren. Es handelt sich um eine fiktive Handlung. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Zwischenfälle entspringen entweder der Fantasie des Autors oder werden fiktional benutzt. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen, ob tot oder lebendig, sind zufälliger Natur.



BÜCHER VON JACK MARS




LUKE STONE THRILLER SERIE


KOSTE ES, WAS ES WOLLE (Buch #1)


AMTSEID (Buch #2)


LAGEZENTRUM (Buch #3)




AGENT NULL SPIONAGE SERIE


AGENT NULL (Buch #1)


ZIELOBJEKT NULL (Buch #2)


JAGD AUF NULL  (Buch #3)



Agent Null – Buch 1 Zusammenfassung (– beinhaltet in Buch 2)


Ein College Professor und Vater von zwei Mädchen entdeckt seine vergessene Vergangenheit als CIA-Feldagent wieder. Er kämpft sich durch Europa, um die Antwort darauf zu finden, weshalb sein Gedächtnis unterdrückt wurde, während er einen terroristischen Plan, dutzende Staatsoberhäupter zu töten, enttarnt

Agent Null: Professor Reid Lawson wurde entführt und ein experimenteller Gedächtnisunterdrücker wurde aus seinem Kopf entfernt, woraufhin seine vergessenen Erinnerungen als CIA-Agent Kent Steele, der Welt auch als Agent Null bekannt, zu ihm zurückkehren.



Maya und Sara Lawson: Reids zwei jugendliche Töchter, im Alter von 16 und 14 Jahren, die nichts von der Vergangenheit ihres Vaters als CIA-Agent wissen.



Kate Lawson: Reids Frau und die Mutter seiner beiden Kinder starb zwei Jahre zuvor plötzlich durch einen ischämischen Schlaganfall.



Agent Alan Reidigger: Kent Steeles bester Freund und Feldagentenkollege Reidigger half ihm, den Gedächtnisunterdrücker einsetzen zu lassen, nachdem Steele, um einen gefährlichen Attentäter aufzuspüren, eine tödliche Spur der Verwüstung hinter sich gelassen hatte.



Agentin Maria Johansson: eine Feldagentenkollegin und Kent Steeles ehemalige Geliebte nach dem Tod seiner Frau. Johansson erwies sich als unerwartete, aber willkommene Verbündete, als er sein Gedächtnis wiedererlangte und die terroristische Verschwörung aufdeckte.



Amun: Die Terrororganisation Amun ist ein Zusammenschluss mehrerer terroristischer Fraktionen aus der ganzen Welt. Ihr größter Coup – die Bombardierung des Weltwirtschaftsforums in Davos, während die Behörden durch die Olympischen Winterspiele abgelenkt waren – wurde von Agent Null zunichtegemacht.



Rais: Ein amerikanischer Auswanderer, der zum Attentäter von Amun wurde. Rais glaubt, dass es sein Schicksal ist, Agent Null zu töten. Während ihres Kampfes bei den Olympischen Winterspielen in Sion in der Schweiz wurde Rais tödlich verletzt und sterbend zurückgelassen.



Agent Vicente Baraf: Baraf, ein italienischer Interpol-Agent, spielte eine entscheidende Rolle, den Agenten Null und Johansson zu helfen, Amun in der Umsetzung ihres Plans zu stoppen, Davos zu bombardieren.



Agent John Watson: ein stoischer und professioneller CIA-Agent. Watson rettete Reids Mädchen aus den Händen von Terroristen auf einem Pier in New Jersey.




PROLOG


„Sagen Sie mir Renault“, sagte der ältere Mann. Seine Augen funkelten, als er den Kaffee unter dem Deckel des Kaffeebereiters zwischen ihnen durchlaufen sah. „Warum sind Sie hierhergekommen?“,

Dr. Cicero war ein freundlicher, heiterer Mann, jemand, der sich gerne als „achtundfünfzig Jahre jung“ bezeichnete. Als er Ende dreißig war, begann sein Bart grau zu werden, während seiner Vierziger wurde er weiß und obwohl er normalerweise ordentlich getrimmt war, war er nun, während seiner Zeit in der Tundra, voll und wild gewachsen. Er trug eine leuchtend orangefarbene Jacke, die das jugendliche Leuchten in seinen blauen Augen jedoch kaum dämpfte.

Der junge Franzose war etwas überrascht von der Frage, aber er wusste sofort, was er antworten musste, da er die Antwort schon oft in seinem Kopf wiederholt hatte. „Die WHO hat sich an die Universität gewandt, um Forschungsassistenten zu finden. Diese wiederum haben es dann mir angeboten“, erklärte er auf Englisch. Cicero war Grieche und Renault stammte von der Südküste Frankreichs, also sprachen sie in einer Sprache, die sie beide verstanden. „Um ehrlich zu sein, gab es zwei andere, denen die Möglichkeit vor mir gegeben wurde. Sie haben es aber beide abgelehnt. Wie dem auch sei, ich habe es als großartige Gelegenheit gesehen, um …“

„Bah!“, warf der ältere Mann mit einem Lächeln ein. „Ich frage nicht nach Ihrem akademischen Werdegang, Renault. Ich habe Ihren Lebenslauf sowie Ihre These über die prognostizierte Influenza B-Mutation gelesen. Sie waren übrigens ziemlich gut. Ich glaube nicht, dass ich es selbst besser hätte schreiben können.“

„Danke, Sir.“

Cicero lachte. „Sparen Sie sich Ihr „Sir“ für Konferenzen und Spendensammlungen. Hier draußen sind wir alle gleich, wir sollten nicht so förmlich sein. Nennen Sie mich Cicero. Wie alt sind Sie, Renault?“

„Sechsundzwanzig, Sir – uh, Cicero.“

„Sechsundzwanzig“, sagte der alte Mann nachdenklich. Er wärmte seine Hände über der Wärme des Campingkochers.

„Und fast fertig mit Ihrer Doktorarbeit? Das ist sehr beeindruckend. Aber, was ich wissen möchte ist, wieso sind Sie hier? Wie gesagt, ich habe mir Ihre Akte angeschaut. Sie sind jung, intelligent, zugegebenermaßen recht gutaussehend …“ Cicero kicherte. „Ich denke, Sie hätten überall auf der Welt ein Praktikum bekommen können. Aber in diesen vier Tagen, seit denen Sie bei uns sind, habe ich Sie nicht ein einziges Mal über sich selbst sprechen gehört. Wieso sind Sie ausgerechnet hierhergekommen?“

Cicero winkte eine Hand, so als wolle er seinen Standpunkt unterstreichen. Das war jedoch völlig unnötig. Die sibirische Tundra erstreckte sich in alle Richtungen, soweit das Auge reichte, grau und weiß und vollkommen leer, bis auf die tiefliegenden und schneebedeckten Berge, die sich langgezogen über den nordöstlichen Horizont erstreckten.

Renaults Wangen wurden leicht rosa. „Nun, ich werde ehrlich mit Ihnen sein, Doktor. Ich kam her, um an Ihrer Seite zu lernen“, gab er zu. „Ich bewundere Sie. Ihre Arbeit zur Verhinderung des Zika-Virus-Ausbruchs war wirklich inspirierend.“

„Nun!“, sagte Cicero herzlich. „Mit Komplimenten kommt man immer weiter – oder man bekommt zumindest einen dunkelgerösteten belgischen Kaffee.“ Er zog einen dicken Handschuh über seine rechte Hand, hob den Kaffeebereiter vom butangasbetriebenen Campingkocher und schenkte zwei Plastikbecher mit dampfendem, köstlichen Kaffee ein. Es war einer der wenigen Luxusartikel, die sie in der sibirischen Wildnis zur Verfügung hatten.

In den letzten siebenundzwanzig Tagen in Dr. Ciceros Leben war dieses kleine Lager, etwa hundertfünfzig Meter vom Ufer des Flusses Kolyma entfernt, sein zu Hause gewesen. Das Camp bestand aus vier gewölbten Neoprenzelten, einem auf einer Seite geschlossenen Segeltuch, welches vor dem Wind schütze und einem semi-permanenten kugelsicheren Reinraum. Die beiden Männer standen derzeit unter der Segeltuchüberdachung und kochten Kaffee auf einem zweiflammigen Campingkocher zwischen den Klapptischen, auf denen sich Mikroskope, Permafrost Proben, Archäologiegerätschaften, zwei robuste Allwettercomputer und eine Zentrifuge befanden.

„Trinken Sie aus“, sagte Cicero. „Es ist fast Zeit für unsere Schicht.“ Er trank seinen Kaffee mit geschlossenen Augen und ein genussvolles Stöhnen entwich seinen Lippen.

„Es erinnert mich an zu Hause“, sagte er sanft. „Haben Sie jemanden, der auf Sie wartet, Renault?“

„Das habe ich“, antwortete der junge Mann. „Meine Claudette.“

„Claudette“, wiederholte Cicero. „Ein schöner Name. Verheiratet?“

„Nein“, antwortete Renault einfach.

„Es ist in unserem Berufsfeld wichtig, etwas zu haben, nach dem man sich sehnt“, sagte Cicero wehmütig. „Es gibt einem in der oft notwendigen Abgrenzung noch einen anderen Blickwinkel. Seit dreiunddreißig Jahren darf ich Phoebe meine Frau nennen. Meine Arbeit hat mich an Orte überall auf der ganzen Welt geführt, aber sie ist immer für mich da, wenn ich zurückkomme. Während ich weg bin, sehne ich mich, aber das ist es wert; jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, fühle ich mich wie neu verliebt. Wie man so sagt, Abwesenheit lässt die Liebe wachsen.“

Renault lächelte. „Ich hätte einen Virologen nicht für einen Romantiker gehalten“, sann er nach.

„Die zwei Dinge schließen einander nicht aus, mein Junge.“ Der Arzt runzelte leicht die Stirn. „Und doch … ich glaube nicht, dass es Claudette ist, die in Ihren Gedanken herumschwirrt. Sie sind ein nachdenklicher junger Mann, Renault. Mehr als einmal habe ich gesehen, wie Sie zu den Berggipfeln schauen, so, als suchten Sie dort in der Ferne nach Antworten.“

„Ich glaube, Sie haben Ihre wahre Berufung verfehlt, Doktor“, sagte Renault. „Sie hätten Soziologe werden sollen.“ Das Lächeln verschwand von seinen Lippen, als er hinzufügte: „Sie haben jedoch recht. Ich habe diesen Auftrag nicht nur angenommen, um an Ihrer Seite arbeiten zu können, sondern auch, weil ich mich einer Sache gewidmet habe … einer Sache, die auf Glauben beruht. Ich habe jedoch Angst davor, wohin mich dieser Glaube führen könnte.“

Cicero nickte wissend. „Wie ich schon gesagt habe, Abgrenzung ist in unserem Arbeitsumfeld oft notwendig. Man muss lernen, leidenschaftslos zu sein.“ Er legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Lassen Sie es sich von jemandem sagen, der schon viele Jahre Erfahrung damit hat. Glaube ist eine starke Motivation, so viel ist sicher, aber manchmal neigen Emotionen dazu, unser Urteilsvermögen und unseren Verstand zu benebeln.“

„Ich werde vorsichtig sein. Vielen Dank, Sir.“ Renault lächelte verlegen. „Cicero. Danke.“

Plötzlich knisterte das Funkgerät auf dem Tisch neben ihnen und unterbrach die beschauliche Stille unter dem Verdeck.

„Dr. Cicero“, sagte eine Frauenstimme mit irischem Akzent. Es war die Stimme von Dr. Bradlee, die sie von der nahegelegenen Ausgrabungsstätte aus anfunkte. „Wir haben etwas ausgegraben. Es wird Sie interessieren. Bringen Sie den Behälter mit. Over.“

„Wir kommen sofort“, sprach Dr. Cicero in das Funkgerät. „Over.“ Er lächelte Renault väterlich an. „Es sieht so aus, als würden wir früher zum Einsatz kommen als gedacht. Wir sollten unsere Schutzanzüge anziehen.“

Die beiden Männer stellten die noch dampfenden Kaffeebecher ab und eilten in den kugelsicheren Reinraum. Sie betraten das erste Vorzimmer, um die leuchtend gelben Dekontaminationsanzüge anzuziehen, die die Weltgesundheitsorganisation bereitgestellt hatte. Handschuhe und Plastikstiefel, welche an den Handgelenken und Knöcheln abgedichtet waren, wurden zuerst angezogen, bevor der Ganzkörperkittel, die Kapuze und zum Schluss die Maske und das Atemschutzgerät folgten.

Sie zogen sich schnell, aber fast schon ehrfürchtig still an, und nutzten die kurze Zwischenzeit nicht nur für die körperliche Transformation, sondern auch als mentale Vorbereitung, um sich nach ihrem angenehmen und beiläufigen Gespräch nun auf die nüchterne Denkweise, die für ihre Arbeit erforderlich war, einzulassen.

Renault mochte die Dekontaminierungsanzüge nicht. Sie verlangsamten seine Bewegung und machten die Arbeit mühsam. Aber sie waren absolut notwendig, um ihre Forschung durchführen zu können: einen der gefährlichsten Organismen, den die Menschheit kannte, zu lokalisieren und sicherzustellen.

Er und Cicero traten aus dem Vorraum und machten sich auf den Weg zum Ufer des Kolyma, ein langsam fließender, eisiger Fluss, der südlich der Berge und etwas östlich in Richtung Meer führte.

„Der Behälter“, sagte Renault plötzlich. „Ich hole ihn.“ Er eilte zurück zur Überdachung, um den Probenbehälter zu holen, ein rostfreier Stahlwürfel, der mit vier Verschlussbügeln verschlossen und auf allen sechs Seiten mit einem Warnsymbol für Biogefährdung versehen war. Er eilte zurück zu Cicero und die beiden machten sich auf den Weg zur Ausgrabungsstätte.

„Sie wissen, was nicht weit von hier passiert ist, nicht wahr?“, fragte Cicero durch seine Atemschutzmaske, während sie liefen.

„Ja.“ Renault hatte den Bericht gelesen. Vor fünf Monaten war ein zwölfjähriger Junge aus einem nahegelegenen Dorf krank geworden, nachdem er Wasser aus dem Kolyma geholt hatte. Zuerst wurde vermutet, dass der Fluss verseucht sei, aber als weitere Symptome auftraten, wurde das Bild bald deutlicher. Nachdem sie von der Erkrankung gehört hatten, wurden sofort Forscher der WHO mobilisiert und eine Untersuchung eingeleitet.

Der Junge hatte die Pocken. Genauer gesagt, erkrankte er an einem unbekannten Pockenvirus, der noch nie zuvor in der modernen Welt aufgetreten war.

Die Ermittlungen führten letztlich zu den Überresten eines Karibu-Rentiers in der Nähe des Flussufers. Nach eingehenden Tests wurde die Vorahnung bestätigt: Das Rentier war vor mehr als zweihundert Jahren gestorben und sein Körper war im Permafrost eingeschlossen gewesen. Die Krankheitserreger, die das Tier getötet hatten, froren mit ihm ein und lagen inaktiv unter dem Eis verborgen – bis vor fünf Monaten.

„Es ist eine einfache Kettenreaktion“, sagte Cicero. „Wenn die Gletscher schmelzen, steigen der Wasserstand und die Temperatur des Flusses. Und das wiederum taut die Lagen des Permafrosts auf. Wer weiß, welche Krankheiten sonst noch in diesem Eis lauern. Uralte Erregerstämme, wie wir sie noch nie zuvor gesehen haben … es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass einige davon vor die Entstehung der Menschheit zurückdatiert werden können.“ Die Stimme des Arztes klang angespannt, was nicht nur auf seiner Besorgnis basierte. Es klang ebenfalls eine gewisse Begeisterung darin mit. Dies war schließlich seine Lebensaufgabe.

„Ich habe gelesen, dass in 2016 durch das Schmelzen einer Eiskappe, Anthrax in einer Wasserversorgung gefunden wurde “, kommentierte Renault.

„Das stimmt. Ich wurde mit diesem Fall beauftragt. So wie auch mit dem Fall der spanischen Grippe, der in Alaska aufgetreten ist.“

„Was ist aus dem Jungen geworden?“, fragte der junge Franzose. „Der Pockenfall von vor fünf Monaten.“ Er wusste, dass der Junge, so wie auch die fünfzehn anderen infizierten Menschen aus seinem Dorf, unter Quarantäne gestellt worden waren, aber an dieser Stelle hatte die Berichterstattung geendet.

„Er ist gestorben“, sagte Cicero. In seiner Stimme lag keinerlei Emotion; nicht vergleichbar, wie wenn er von seiner Frau Phoebe sprach. Nach Jahrzehnten in seinem Berufsfeld hatte Cicero die subtile Kunst der innerlichen Abgrenzung gelernt. „Gemeinsam mit vier anderen. Es konnte dadurch allerdings ein Impfstoff gegen den Pockenstamm entwickelt werden, sodass ihr Tod nicht völlig umsonst war.“

„Trotzdem“, sagte Renault leise, „was für eine Schande.“

Die Ausgrabungsstätte befand sich weniger als einen Steinwurf vom Flussufer entfernt. Es handelte sich um ein zwanzig Quadratmeter großes Stück Tundra, das mit Metallpfählen und leuchtend gelbem Klebeband abgesperrt worden war. Es war die vierte Ausgrabungsstätte, die das Forschungsteam im Rahmen ihrer Ermittlungen bisher enthoben hatte. Vier weitere Forscher in Dekontaminierungsanzügen befanden sich in der abgesperrten Zone und sie alle lehnten sich über einen kleinen Bereich in der Nähe des Zentrums. Einer von ihnen sah die zwei Männer ankommen und eilte zu ihnen hinüber.

Es handelte sich um Dr. Bradlee, eine ausgeliehene Archäologin der Universität von Dublin.

„Cicero“, sagte sie. „Wir haben etwas gefunden.“

„Was ist es?“, fragte er, als er sich unter dem Absperrband hindurchschlängelte. Renault folgte ihm.

„Einen Arm.“

„Wie bitte?“, stieß Renault hervor.

„Zeigen Sie ihn mir“, sagte Cicero.

Bradlee führte sie zu der Stelle ausgehobenem Permafrosts. In den Permafrost zu graben – und dabei so vorsichtig zu sein – war keine leichte Aufgabe, wusste Renault. Die obersten Schichten gefrorener Erde tauten gewöhnlich im Sommer auf, aber die tieferen Schichten wurden so genannt, weil sie in den Polargebieten dauerhaft gefroren waren. Das Loch, welches Bradlee und ihr Team gegraben hatten, war fast zwei Meter tief und breit genug, sodass ein ausgewachsener Mann darin liegen konnte.

Nicht viel anders als ein Grab, dachte Renault grimmig.

Und wie sie gesagt hatte, waren die eingefrorenen Überreste eines menschlichen Arms am Boden des Loches sichtbar, gewunden, fast skelettartig und durch die Zeit und die Erde geschwärzt.

„Mein Gott“, sagte Cicero fast flüsternd. „Wissen Sie, was das ist Renault?“

„Eine Leiche?“, vermutete er. Zumindest hoffte er, dass an dem Arm noch mehr dranhing.

Cicero sprach schnell und gestikulierte mit seinen Händen. „In den 1880er Jahren gab es nicht weit von hier direkt am Ufer des Kolyma eine kleine Siedlung. Die ursprünglichen Siedler waren Nomaden, aber aufgrund ihrer wachsenden Bevölkerungszahl beabsichtigten sie, hier ein Dorf zu errichten. Dann geschah das Undenkbare. Eine Pockenepidemie brach aus und tötete vierzig Prozent ihres Stammes innerhalb von wenigen Tagen. Sie glaubten, der Fluss sei verflucht, und die Überlebenden flüchteten schnell.

„Aber bevor sie dies taten, begruben sie ihre Toten – genau hier, in einem Massengrab am Ufer des Kolyma-Flusses.“ Er zeigte in das Loch und auf den Arm. „Die Fluten zerstören die Ufer. Der schmelzende Permafrost würde diese Leichen bald aufdecken und danach würde es nicht mehr als die einheimische Fauna benötigen, um an ihnen zu nagen und um dadurch ein Träger der Krankheit zu werden, durch die wir einer völlig neuen Epidemie ausgesetzt werden würden.“

Renault vergaß für einen Moment zu atmen, während er einen der in Gelb gekleideten Forscher in dem Loch dabei beobachtete, wie er Proben von dem zerfallenden Arm kratze.

Die Entdeckung war ziemlich aufregend; bis vor fünf Monaten war der letzte bekannte Ausbruch dieser Pocken in 1977 in Somalia gewesen. Die Weltgesundheitsorganisation hatte die Krankheit 1980 für ausgerottet erklärt. Und doch standen sie nun am Rand eines Grabes, von dem bekannt war, dass es mit einem gefährlichen Virus infiziert war, der die Bevölkerung einer Großstadt innerhalb weniger Tage stark verringern könnte – und ihr Job war es, ihn auszugraben, zu überprüfen und Proben an die WHO zurückzuschicken.

„Genf wird es bestätigen müssen“, sagte Cicero leise. „Aber wenn meine Spekulationen korrekt sind, dann haben wir gerade einen achttausend Jahre alten Pockenstamm entdeckt.“

„Achttausend?“, fragte Renault. „Ich dachte, Sie sagten, die Besiedlung sei Ende des 19. Jahrhunderts gewesen.“

„Ja, das habe ich“, sagte Cicero. „Aber dann stellt sich die Frage, woher sie – ein isoliertes Nomadenvolk – den Virus bekommen haben. Auf ähnliche Weise, würde ich mir vorstellen. Sie gruben im Boden und stießen auf etwas, das seit langer Zeit gefroren war. Der Pockenstamm, der vor fünf Monaten in dem aufgetauten Karibu Kadaver gefunden wurde, konnte bis zum Beginn der Holozänepoche zurückverfolgt werden.“ Der ältere Virologe schien seinen Blick nicht von dem Arm abwenden zu können, welcher aus dem gefrorenen Schmutz herausragte. „Renault, holen Sie bitte den Behälter.“

Renault holte den Probenbehälter aus Stahl und stellte ihn auf die gefrorene Erde nahe der Lochkante. Er öffnete die vier Verschlüsse, die ihn verriegelten, und hob den Deckel. Dort, wo er sie vorhin versteckt hatte, befand sich eine MAB PA-15. Es war eine alte Pistole, die mit ihrem vollem fünfzehn Schuss-Magazin und einem in der Kammer mit einem knappen Kilogramm allerdings nicht allzu schwer war.

Die Waffe hatte seinem Onkel gehört, einem Veteranen der französischen Armee, der in Maghreb und Somalia gekämpft hatte.

Der junge Franzose mochte Waffen jedoch nicht; sie waren ihm zu direkt, zu diskriminierend und viel zu künstlich für seinen Geschmack. Nicht wie ein Virus – die perfekte Maschine der Natur, die in der Lage war, eine komplette Spezies auszulöschen, sowohl systematisch als auch kritiklos zugleich. Emotionslos, unnachgiebig und plötzlich; genau das, was er jetzt sein musste.

Er griff in die Stahlkiste und schlang seine Hand um die Waffe. Er schwankte leicht. Er wollte die Waffe nicht benutzen. Er hatte tatsächlich Gefallen an Ciceros ansteckendem Optimismus und dem Funkeln in den Augen des älteren Mannes gefunden.

Aber alle Dinge müssen ein Ende haben, dachte er, die nächste Erfahrung wartet bereits.

Renault stand dort mit der Pistole in der Hand. Er entfernte die Sicherung an der Pistole und schoss den beiden Forschern, die auf der anderen Seite des Loches standen, emotionslos direkt in die Brust.

Dr. Bradlee stieß wegen des plötzlichen Schusses der Pistole einen erschrockenen Schrei aus. Sie stolperte zwei Schritte rückwärts, bevor Renault ebenfalls zweimal auf sie schoss. Der englische Arzt, Scott, machte einen schwachen Versuch, aus dem Loch zu klettern, bevor der Franzose es mit einem einzigen Schuss in den Kopf zu seinem Grab machte.

Die Schüsse waren donnernd und ohrenbetäubend, aber es war für über hundertfünfzig Kilometer niemand um sie herum, der sie hätte hören können.

Cicero war wie versteinert und vor Schock und Angst gelähmt. Renault hatte nur sieben Sekunden gebraucht, um vier Leben zu nehmen – nur sieben Sekunden, um die Forschungsexpedition in einen Massenmord zu verwandeln.

Die Lippen des älteren Arztes zitterten hinter seiner Atemmaske, als er versuchte, zu sprechen. Nach einer Weile stotterte er ein einziges Wort: „Wi-wieso?“

Renaults eisiger Blick war stoisch, so distanziert, wie jeder Virologe sein musste. „Doktor“, sagte er sanft. „Sie hyperventilieren. Nehmen Sie Ihre Maske ab, bevor Sie ohnmächtig werden.“

Ciceros Atemzüge waren unregelmäßig und schnell – zu schnell für sein Beatmungsgerät. Sein Blick schweifte von der Waffe in Renaults Hand, die er locker an seiner Seite hielt, zu dem Loch hinüber, in dem der nun tote Dr. Scott lag. „Ich … das kann ich nicht“, stotterte Cicero. Seine Atemschutzmaske abzunehmen, würde ihn möglicherweise der Krankheit aussetzen. „Renault, bitte …“

„Mein Name ist nicht Renault“, sagte der junge Mann. „Ich heiße Cheval – Adrian Cheval. Es gab einen Universitätsstudenten namens Renault, der dieses Praktikum erhielt. Er ist jetzt tot. Es sind seine Aufzeichnungen und seine These, die Sie gelesen haben.“

Ciceros blutunterlaufene Augen öffneten sich noch weiter. Die Ränder seines Blicks verschwommen und wurden dunkel und er drohte, sein Bewusstsein zu verlieren. „Ich … ich verstehe nicht … warum?“

„Dr. Cicero, bitte. Nehmen Sie die Atemmaske ab. Wenn Sie schon sterben, würden Sie es nicht vorziehen, dies in Würde zu tun? Mit der Sonne im Gesicht, als hinter einer Maske? Wenn Sie Ihr Bewusstsein verlieren, dann versichere ich Ihnen, dass Sie nie wieder aufwachen werden.“

Mit zitternden Fingern griff Cicero langsam nach seiner gelben Kapuze und zog sie über seine weißen Haare. Dann packte er die Atemschutzmaske und das Beatmungsgerät und nahm es ab. Der Schweiß, der sich auf seiner Stirn geformt hatte, kühlte sofort und fror.

„Ich möchte, dass Sie wissen“, sagte der Franzose, „dass ich Sie und Ihre Arbeit respektiere, Cicero. Das hier macht mir keinen Spaß.“

„Renault – oder Cheval, wer auch immer Sie sein mögen – hören Sie auf Ihre Vernunft.“ Ohne das Atemgerät und die Maske hatte Cicero genug Kraft zurückerlangt, um eine Bitte zum Ausdruck zu bringen. Es konnte nur eine einzige Motivation geben, die den jungen Mann vor ihm zu einer solch grausamen Tat treiben würde. „Was auch immer Sie damit vorhaben, bitte, überdenken Sie es noch einmal. Es ist extrem gefährlich –“

Cheval seufzte. „Ich bin mir dessen bewusst, Doktor. Sehen Sie, ich war tatsächlich ein Student der Universität in Stockholm und ich verfolgte wirklich meinen Doktortitel. Letztes Jahr habe ich jedoch einen Fehler gemacht. Ich habe Fakultätsunterschriften auf einem Anforderungsformular gefälscht, um Proben eines seltenen Enterovirus zu bekommen. Sie haben es herausgefunden. Ich wurde exmatrikuliert.“

„Dann … dann lassen Sie mich Ihnen helfen“, bat Cicero. „I-ich kann eine solche Anfrage unterschreiben. Ich kann Sie bei Ihrer Forschungsarbeit unterstützen. Alles außer dem …“

„Forschung“, sagte Cheval leise. „Nein, Doktor. Ich bin nicht hinter der Forschung her. Meine Leute warten und sie sind keine geduldigen Männer.“

Ciceros Augen füllten sich mit Tränen. „Es wird nichts Gutes dabei herauskommen. Das wissen Sie.“

„Sie liegen falsch“, sagte der junge Mann. „Viele werden sterben, ja. Aber sie werden ehrenhaft sterben und den Weg für eine bessere Zukunft ebnen.“ Cheval wandte sich ab. Er wollte den freundlichen alten Doktor nicht erschießen. „Aber in einem Punkt hatten Sie recht. Meine Claudette, sie ist echt. Und Abwesenheit lässt die Liebe tatsächlich wachsen. Ich muss jetzt los, Cicero, und Sie auch. Aber ich respektiere Sie und bin bereit, Ihnen eine letzte Bitte zu gewähren. Gibt es irgendetwas, was Sie zu Ihrer Phoebe sagen möchten? Sie haben mein Wort, ich werde die Nachricht übermitteln.“

Cicero schüttelte langsam seinen Kopf. „Es gibt nichts, was ich ihr sagen möchte, das so wichtig sein könnte, ein Monster wie Sie in ihre Richtung zu schicken.“

„Also gut. Auf Wiedersehen Doktor.“ Cheval hob die PA-15 und feuerte einen einzelnen Schuss in Ciceros Stirn. Die Wunde schäumte, als der ältere Arzt taumelte und auf der Tundra zusammenbrach.

In der atemberaubenden Stille, die folgte, nahm sich Cheval einen Moment, kniete sich hin und murmelte ein kurzes Gebet. Dann machte er sich wieder an die Arbeit.

Er wischte die Fingerabdrücke und das Pulver von der Waffe und schleuderte sie in den fließenden, eisigen Kolyma. Dann rollte er die vier Leichen in das Loch zu Dr. Scott. Mit einer Schaufel und einer Hacke verbrachte er die nächsten neunzig Minuten damit, sie und den freiliegenden, zersetzenden Arm mit teilweise gefrorenem Dreck zu bedecken. Er nahm die Ausgrabungsstätte auseinander, zog die Pfähle heraus und riss das Absperrband ab. Er nahm sich Zeit, arbeitete akribisch – niemand würde für die nächsten acht bis zwölf Stunden überhaupt versuchen, das Forschungsteam zu kontaktieren und es würde mindestens vierundzwanzig Stunden dauern, bevor die WHO jemanden zur Ausgrabungsstätte schickte. Eine Untersuchung würde sicherlich die vergrabenen Leichen aufdecken, aber Cheval wollte es ihnen nicht leicht machen. Schließlich nahm er die Glasampullen, die die Proben des zersetzenden Arms enthielten, und schob sie vorsichtig nacheinander in die sicheren Schaumstoffröhren in der Edelstahlbox, wobei er sich bewusst war, dass jede Einzelne von ihnen das Potenzial hatte, extrem tödlich zu sein. Dann versiegelte er die vier Verschlüsse des Behälters und trug die Proben zurück zum Lager. Im provisorischen Reinraum trat Cheval in die mobile Dekontaminierungsdusche. Sechs Düsen sprühten ihn aus jedem Winkel mit heißem Wasser und einem eingebauten Emulgierungsmittel ab. Als er fertig war, zog er vorsichtig und methodisch den gelben Schutzanzug aus und ließ ihn auf dem Zeltboden liegen. Es war möglich, dass sein Haar oder sein Speichel, Faktoren um ihn zu identifizieren, am Anzug sein konnten – aber er hatte noch einen letzten Schritt vor sich.

Im Kofferraum von Ciceros Geländewagen befanden sich zwei rechteckige rote Benzinkanister. Er brauchte nur einen, um zurück zur Zivilisation zu gelangen. Den anderen schüttete er großzügig über den Reinraum, die vier Neoprenzelte und die Segeltuchüberdachung.

Dann zündete er das Feuer an. Die Flamme stieg schnell und augenblicklich auf und schickte schwarzen, öligen Rauch in den Himmel. Cheval stieg mit dem stählernen Probenbehälter in den Jeep und fuhr davon. Er fuhr nicht schnell und schaute auch nicht in den Rückspiegel, um das Lager brennen zu sehen. Er nahm sich Zeit.

Imam Khalil würde ihn erwarten. Aber der junge Franzose hatte noch viel zu tun, bevor der Virus bereit war.




KAPITEL EINS


Reid Lawson spähte zum zehnten Mal in weniger als zwei Minuten durch die Jalousien seines Heimbüros. Er wurde nervös; der Bus sollte inzwischen angekommen sein.

Sein Büro befand sich im zweiten Stock, im kleinsten der drei Schlafzimmer in ihrem neuen Zuhause in der Spruce Street in Alexandria, Virginia. Es war ein willkommener Kontrast zu dem engen, kastenförmigen Arbeitszimmer in der Bronx, welches eher der Größe eines Schranks geglichen hatte. Die Hälfte seiner Sachen war ausgepackt; der Rest befand sich immer noch in Kartons, welche im Raum verteilt standen. Seine Bücherregale waren aufgebaut, seine Bücher lagen jedoch in alphabetischer Ordnung aufeinandergestapelt auf dem Boden. Die einzigen Möbel, für die er sich Zeit genommen hatte, sie fertig aufzubauen, waren sein Schreibtisch und sein Computer.

Reid hatte sich selbst gesagt, dass heute der Tag sein würde, an dem er endlich alles sortierte und sein Büro aufräumen würde, fast einen ganzen Monat nach dem Einzug.

Er hatte es geschafft, eine Kiste auszupacken. Es war ein Anfang.

Der Bus ist nie spät, dachte er. Er ist immer zwischen dreiundzwanzig und fünfundzwanzig nach hier. Es ist drei Uhr einunddreißig.

Ich werde sie anrufen.

Er nahm sein Handy vom Schreibtisch und wählte Mayas Nummer. Er ging auf und ab und versuchte, nicht an all die schrecklichen Dinge zu denken, die seinen Mädchen auf dem Weg von der Schule zu ihrem Zuhause hätten passiert sein können.

Der Anruf wurde sofort zur Mailbox weitergeleitet.

Reid eilte die Treppe zum Eingangsbereich hinunter und zog eine leichte Jacke an; der März in Virginia war deutlich angenehmer als in New York, aber immer noch etwas kühl. Mit seinem Autoschlüssel in der Hand drückte er den vierstelligen Sicherheitscode in die Bedienungsfläche an der Wand, um das Alarmsystem in den „Außer Haus“ Modus zu schalten. Er kannte die genaue Route, die der Bus fuhr; er konnte sie bis zur Highschool zurückverfolgen, wenn es notwendig war und …

Sobald er die Haustür öffnete, kam der gelbe Bus am Ende seiner Einfahrt zum Stehen.

„Erwischt“, murmelte Reid. Er konnte sich schlecht wieder ins Haus schleichen. Er war zweifelslos gesehen worden. Seine zwei Teenagermädchen stiegen aus dem Bus und kamen den Gehweg entlang, bevor sie kurz vor der Haustür stehenblieben, die er nun, als der Bus davonfuhr, blockierte.

„Hi Mädels“, sagte er so heiter wie möglich. „Wie war die Schule?“

Seine Älteste, Maya, warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als sie ihre Arme vor ihrer Brust verschränkte. „Wo gehst du hin?“

„Ähm … die Post holen“, sagte er zu ihr.

„Mit deinem Autoschlüssel?“ Sie deutete auf seine Faust, die tatsächlich die Schlüssel des silbernen SUV umschloss. „Probier’s noch mal.“

Ja, dachte er. Erwischt. „Der Bus war spät dran. Und ihr wisst, was ich gesagt habe, wenn ihr spät dran seid, dann müsst ihr mich anrufen. Und wieso bist du nicht an dein Handy gegangen? Ich habe versucht, anzurufen –“

„Sechs Minuten, Dad.“ Maya schüttelte ihren Kopf. „Sechs Minuten sind nicht ‚spät’. Sechs Minuten liegen am Verkehr. Es gab einen Blechschaden auf der Vine Street.“

Er ging einen Schritt zur Seite, als sie das Haus betraten. Seine jüngere Tochter Sara gab ihm eine kurze Umarmung und murmelte: „Hi Daddy.“

„Hallo Schatz.“ Reid zog die Tür hinter ihnen zu, schloss ab und drückte dann die Tasten des Alarmsystems, bevor er sich an Maya wandte. „Verkehr hin oder her, ich möchte, dass ihr mir Bescheid sagt, wenn ihr spät dran seid.“

„Du bist neurotisch“, murmelte sie.

„Entschuldige bitte?“ Reid blinzelte überrascht. „Du scheinst Neurose mit Besorgnis zu verwechseln.“

„Oh, bitte“, gab Maya zurück. „Du hast uns seit Wochen nicht aus den Augen gelassen. Nicht, seit du zurück bist.“

Sie hatte wie immer recht. Reid war schon immer ein beschützender Vater gewesen und er war dies noch mehr, seit seine Frau Kate vor zwei Jahren gestorben war. Aber in den letzten vier Wochen war er zum waschechten Helikoptervater geworden, der über seinen Kindern schwebte und (wenn er ehrlich mit sich war) vielleicht ein wenig aufdringlich schien.

Aber er war nicht bereit, das zuzugeben.

„Mein liebes, süßes Kind“, tadelte er, „während du erwachsen wirst, wirst du eine sehr bittere Wahrheit lernen müssen – dass du manchmal falsch liegst. Und genau jetzt liegst du falsch.“ Er grinste, sie allerdings nicht. Es lag in seiner Natur, zu versuchen, die Spannung mit seinen Kindern zu entschärfen, aber Maya war nicht bereit dazu.

„Was auch immer.“ Sie marschierte durch den Flur und in die Küche. Sie war sechzehn und für ihr Alter erstaunlich intelligent – manchmal, so schien es, zu intelligent für ihr eigenes Wohl. Sie hatte Reids dunkles Haar und seinen Hang zu einer dramatischen Debatte geerbt, aber in letzter Zeit schien sie eine Neigung zu jugendlicher Existenzangst oder zumindest einer schlechten Laune entwickelt zu haben. Dies war vermutlich auf eine Kombination aus Reids ständigem Herumlungern und offensichtlicher Fehlinformation über die Ereignisse, die vor einem Monat passiert waren, zurückzuführen. Sara, die Jüngere der beiden, stapfte die Treppe hinauf. „Ich werde mit den Hausaufgaben anfangen“, sagte sie leise.

Sie hatten ihn im Flur alleine stehengelassen. Reid seufzte und lehnte sich gegen die weiße Wand. Sein Herz sorgte sich um seine Mädchen. Sara war vierzehn und generell lebhaft und süß, aber wann immer das Thema aufkam, was im Februar passiert war, verstummte sie, oder verließ schnell den Raum. Sie wollte einfach nicht darüber reden. Vor ein paar Tagen hatte Reid versucht, sie dazu zu bringen, einen Therapeuten aufzusuchen, eine neutrale dritte Person, mit der sie sprechen konnte. (Natürlich musste es ein Arzt sein, der mit der CIA verbunden war). Sara lehnte mit einem einfachen und kurzen „Nein, danke“ alles ab und eilte aus dem Zimmer, bevor Reid noch ein weiteres Wort aussprechen konnte.

Er hasste es, die Wahrheit vor seinen Kindern verbergen zu müssen, aber es war notwendig. Außerhalb der Agentur und Interpol konnte niemand die Wahrheit wissen – dass er vor knapp einem Monat einen Teil seines Gedächtnisses als CIA-Agent unter dem Namen Kent Steele – unter Kollegen und Feinden auch bekannt als Agent Null – wiedererlangt hatte. Ein experimenteller Gedächtnisunterdrücker in seinem Kopf hatte dazu geführt, dass er für fast zwei Jahre alles über Kent Steele und seine Arbeit als Agent vergessen hatte, bis das Gerät aus seinem Nacken geschnitten wurde.

Die meisten seiner Erinnerungen als Kent hatte er immer noch nicht zurückerlangt. Sie waren irgendwo da drin, eingeschlossen in den Nischen seines Gehirns, aber sie tropften wie ein undichter Wasserhahn langsam zurück, meist ausgelöst von einem visuellen oder verbalen Hinweis. Die grausame Entfernung des Gedächtnisunterdrückers hatte etwas mit seinem limbischen System angerichtet, sodass die Erinnerungen davon abgehalten wurden, alle auf einmal zurückzukommen – und Reid war meistens froh darüber. Darauf basierend, was er über sein Leben als Agent Null wusste, war er sich nicht sicher, ob er sie überhaupt alle zurückhaben wollte. Sein größter Zweifel war, dass er sich an etwas erinnern würde, an das er nicht erinnert werden wollte, an eine schmerzliche Trauer oder schreckliche Tat, mit der Reid Lawson niemals leben konnte.

Außerdem war er seit dem Vorfall im Februar sehr beschäftigt gewesen. Die CIA hatte ihm dabei geholfen, seine Familie umzusiedeln; nach seiner Rückkehr in die USA wurden er und seine Mädchen nach Alexandria in Virginia gebracht, was nur eine kurze Fahrt von Washington entfernt war. Die Behörde half ihm, eine Stelle als Zeitvertragsprofessor an der Georgetown-Universität zu bekommen. Seitdem war alles wie ein Wirbelwind an ihnen vorbeigezogen: die Mädchen in der neuen Schule einzuschreiben, sich an seinen neuen Job zu gewöhnen und in das neue Haus in Virginia zu ziehen. Aber Reid hatte viel dazu beigetragen, beschäftigt und abgelenkt zu sein, indem er sich selbst viele Aufgaben erteilte. Er strich die Zimmer. Er rüstete seine Haushaltsgeräte auf. Er kaufte neue Möbel und neue Schulkleidung für die Mädchen. Er konnte es sich leisten; die CIA hatte ihm eine beträchtliche Summe für die Beteiligung an der Hinderung der Terrororganisation Amun zugesprochen. Es war mehr, als er jährlich als Professor verdiente. Sie überwiesen es in monatlichen Raten, um eine Überprüfung zu vermeiden. Die Checks wurden von einem gefälschten Verlag, welcher behauptete, eine zukünftige Reihe Geschichtslehrbücher zu erstellen, als Beratungsgebühr auf sein Bankkonto überwiesen.

Zwischen dem Geld und reichlich freier Zeit – er gab im Moment nur ein paar Vorlesungen pro Woche – blieb Reid so beschäftigt, wie er nur konnte. Denn nur für einen Moment anzuhalten, bedeutete, dass er nachdenken würde, nicht nur über sein gebrochenes Gedächtnis, sondern auch über eine weitere unangenehme Sache. Die neun Gesichter, die er gründlich überprüft hatte. Die neun Leben, die aufgrund seines Versagens beendet worden waren.

„Nein“, murmelte er leise, alleine im Eingangsbereich ihres neuen Zuhauses. „Tu dir das nicht an.“ Er wollte sich jetzt nicht daran erinnern. Stattdessen machte er sich auf den Weg in die Küche, wo Maya durch den Kühlschrank wühlte, um etwas zu essen zu finden.

„Ich denke, ich werde Pizza bestellen“, verkündete er. Als sie nichts sagte, fügte er hinzu: „Was denkst du?“

Mit einem Seufzen schloss sie den Kühlschrank und lehnte sich dagegen. „Ist in Ordnung“, sagte sie nur. Dann sah sie sich um.

„Die Küche ist schöner. Ich mag das Dachfenster. Der Garten ist auch größer.“

Reid lächelte. „Ich sprach von der Pizza.“

„Ich weiß“, antwortete sie mit einem Schulterzucken. „Du scheinst es in letzter Zeit vorzuziehen, das offensichtliche Thema zu meiden, also dachte ich mir, ich würde es auch tun.“

Er schreckte vor ihrer Direktheit zurück. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte sie ihn nach Informationen ausgefragt, die sein Verschwinden betrafen, aber das Gespräch endete immer damit, dass er darauf bestand, seine Vertuschungsgeschichte sei die Wahrheit, und dass sie wütend wurde, weil sie wusste, dass er log. Dann würde sie es für eine Woche oder so ruhen lassen, bevor der Teufelskreis erneut begann.

„Es gibt keinen Grund für solch ein Verhalten Maya“, sagte er.

„Ich werde nach Sara schauen.“ Maya drehte sich um und verließ die Küche. Einen Augenblick später hörte er sie die Treppe hinaufstampfen. Er kniff sich frustriert in den Nasenrücken. Es war in Zeiten wie diesen, dass er Kate am meisten vermisste. Sie wusste immer genau, was gesagt werden musste. Sie hätte gewusst, wie man mit zwei Teenagern umgeht, die etwas wie das, was seine Mädchen erlebt hatten, durchgemacht hatten.

Seine Willenskraft, mit der Lüge fortzufahren, wurde schwach. Er konnte sich nicht dazu bringen, die Vertuschungsgeschichte zu wiederholen, welche die CIA ihm zur Verfügung gestellt hatte, um Familie und Kollegen darüber zu erzählen, wohin er für die Woche verschwunden war. Die Geschichte war, dass Beamte des Bundesstaates zu seiner Tür gekommen waren, um seine Unterstützung in einem wichtigen Fall zu fordern. Als Professor einer Eliteuniversität war er in der einzigartigen Position, sie bei der Nachforschung zu unterstützen. Den Mädchen war gesagt worden, dass er die meiste Zeit seiner Woche in einem Konferenzraum verbracht, über Büchern gebrütet und Computerbildschirme angestarrt hatte. Das war alles, was er sagen durfte, und er konnte keine Details mit ihnen teilen.

Er konnte ihnen sicherlich nicht von seiner heimlichen Vergangenheit als Agent Null erzählen, oder davon, dass er dabei geholfen hatte, Amun davon abzuhalten, das Weltwirtschaftszentrum in Davos in der Schweiz zu bombardieren. Er konnte ihnen nicht sagen, dass er eigenhändig mehr als ein Dutzend Menschen innerhalb nur eines Tages getötet hatte, von denen jeder Einzelne zweifellos ein Terrorist war.

Er musste an seiner vagen Vertuschungsgeschichte festhalten, nicht nur für die CIA, sondern auch, um die Sicherheit seiner Mädchen zu bewahren. Während er waghalsig durch ganz Europa gejagt war, mussten seine Töchter aus New York fliehen und waren mehrere Tage auf sich selbst gestellt gewesen, bevor sie von der CIA abgeholt und in ein sicheres Haus gebracht worden waren. Sie wären beinahe von zwei Amun-Radikalen entführt worden – ein Gedanke, der Reids Nackenhaare zu Berge stehen ließ, weil es bedeutete, dass die Terroristengruppe Mitglieder in den Vereinigten Staaten hatte. Es hatte in letzter Zeit sicher zu seinem extrem überfürsorglichen Charakter beigetragen. Den Mädchen war gesagt worden, dass die beiden Männer, die versuchten, sie anzusprechen, Mitglieder einer örtlichen Bande gewesen seien, die versuchten, Kinder in der Umgebung zu entführen. Sara schien der Geschichte zwar skeptisch gegenüber zu stehen, akzeptierte sie jedoch auf der Grundlage, dass ihr Vater sie nicht anlügen würde (weswegen Reid sich natürlich noch viel schlimmer fühlte). Das, gepaart mit ihrer völligen Abneigung darüber zu sprechen, machte es leicht, das Thema zu umgehen und einfach mit ihrem Leben fortzufahren. Maya auf der anderen Seite zweifelte an allem. Sie war nicht nur klug genug, um es besser zu wissen, sondern sie hatte während der Tortur Kontakt mit Reid über Skype gehalten, und hatte daher scheinbar ausreichend Informationen gesammelt, um Vermutungen anzustellen. Sie war selbst Augenzeugin geworden, als Agent Watson die beiden Radikalen getötet hatte, und seitdem einfach nicht dieselbe gewesen.

Reid hatte keine Ahnung, was er tun sollte, außer zu versuchen, sein Leben so normal wie möglich fortzuführen. Reid zog sein Handy aus seiner Tasche, rief die Pizzeria an der Ecke an und bestellte zwei mittelgroße Pizzen – eine mit extra Käse (Saras Favorit) und die andere mit Schinken und grüner Paprika (Mayas Lieblingspizza).

Als er auflegte, hörte er Schritte auf der Treppe. Maya kehrte in die Küche zurück. „Sara hat sich hingelegt.“

„Schon wieder?“ Es schien so, als schliefe Sara in letzter Zeit viel tagsüber. „Schläft sie nachts denn nicht?“

Maya zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Vielleicht solltest du sie fragen.“

„Ich hab’s versucht. Sie sagt mir nichts.“

„Vielleicht liegt es daran, dass sie nicht versteht, was passiert ist“, schlug Maya vor.

„Ich habe euch beiden erzählt, was passiert ist.“ Lass es mich nicht noch einmal wiederholen, dachte er. Bitte zwinge mich nicht, dir wieder ins Gesicht lügen zu müssen.

„Vielleicht hat sie Angst“, fuhr Maya fort. „Vielleicht liegt es daran, dass sie weiß, dass ihr Vater, dem sie vertrauen soll, sie anlügt –“

„Maya Joanne“, warnte Reid sie. „Du wirst deine nächsten Worte sorgfältig auswählen wollen …“

„Vielleicht ist sie nicht die Einzige!“ Maya schien nicht nachzugeben. Nicht dieses Mal. „Vielleicht habe ich auch Angst.“

„Wir sind hier sicher“, sagte Reid nachdrücklich und versuchte dabei überzeugend zu wirken, selbst wenn er dies selbst nicht ganz glaubte. Er bekam Kopfschmerzen im vorderen Teil seines Schädels. Er nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit kaltem Wasser aus dem Wasserhahn.

„Ja, und wir dachten, wir wären in New York in Sicherheit“, schoss Maya zurück. „Vielleicht würde es uns die ganze Sache leichter machen, wenn wir wüssten, was los ist und was du wirklich machst. Aber nein.“ Ob es seine Unfähigkeit war, sie für zwanzig Minuten allein zu lassen oder ihr Verdacht darüber, was passiert war, spielte keine Rolle. Sie wollte Antworten. „Du weißt verdammt noch mal genau, was wir durchgemacht haben. Aber wir haben keine Ahnung, was mit dir passiert ist!“ Sie schrie jetzt fast. „Wo du hingingst, was du gemacht hast, wie du verletzt wurdest –“

„Maya, ich schwöre …“ Reid stellte das Glas auf die Theke und hob einen warnenden Finger in ihre Richtung.

„Was schwörst du?“, schnappte sie. „Die Wahrheit zu sagen? Dann sag sie mir einfach!“

„Ich kann dir die Wahrheit nicht sagen!“, brüllte er. Dabei warf er seine Arme zu beiden Seiten in die Luft. Eine Hand fegte das Glas von der Arbeitsplatte.

Reid hatte keine Zeit, nachzudenken oder abzuwägen. Sein Instinkt nahm überhand und in einer schnellen, flüssigen Bewegung, beugte er seine Knie und griff das Glas aus der Luft, bevor es auf den Boden fallen konnte.

Er nahm sofort einen bedauernden Atemzug, als das Wasser zwar leicht überschwappte, jedoch kaum ein Tropfen vergossen wurde.

Maya starrte ihn mit großen Augen an, aber er wusste nicht, ob ihre Überraschung an seinen Worten oder seiner Handlung lag. Es war das erste Mal, dass sie ihn so gesehen hatte – und das erste Mal, dass er lautstark eingestanden hatte, dass das, was er ihnen erzählte, vielleicht nicht das war, was tatsächlich geschehen war. Es war egal, ob sie es gewusst oder nur vermutet hatte. Er hatte es hinausposaunt und nun konnte er es nicht zurücknehmen.

„Glücksfall“, sagte er schnell.

Maya verschränkte langsam ihre Arme, hob eine Augenbraue und spitzte ihre Lippen. Er kannte diesen Ausdruck; es war ein anklagender Blick, den sie ganz klar von ihrer Mutter geerbt hatte. „Du kannst vielleicht Sara oder Tante Linda täuschen, aber ich kaufe es dir nicht ab, nicht mal für eine Sekunde.“

Reid schloss seine Augen und seufzte. Sie würde ihn nicht davonkommen lassen, also senkte er seine Stimme und sprach vorsichtig.

„Maya, hör zu. Du bist sehr intelligent – sicher schlau genug, um gewisse Vermutungen darüber anzustellen, was geschehen ist“, sagte er. „Das Wichtigste ist jedoch, zu verstehen, dass es gefährlich sein könnte, gewisse Dinge zu wissen. Die potenzielle Gefahr, der ihr in der Woche meiner Abwesenheit ausgesetzt wart, könnte andauernd sein, wenn ihr alles wüsstet. Ich kann dir nicht sagen, ob du richtig oder falsch liegst. Ich werde nichts bestätigen oder bestreiten. Also lass uns einfach sagen, dass … die Annahmen, die du bis jetzt getroffen hast, stimmen, solange du darauf achtest, sie für dich zu behalten.“

Maya nickte langsam. Sie schaute den Gang entlang, um sicherzustellen, dass Sara nicht anwesend war, bevor sie sagte: „Du bist nicht nur ein Professor. Du arbeitest für jemanden auf Regierungsebene – das FBI vielleicht, oder die CIA –“

„Um Gottes Willen Maya, ich habe gesagt, du sollst es für dich behalten!“, stöhnte Reid.

„Die Sache mit den Olympischen Winterspielen und dem Forum in Davos“, fuhr sie fort, „damit hattest du etwas zu tun.“

„Ich habe dir gesagt, ich werde nichts bestätigen oder bestreiten –“

„Und die terroristische Gruppe, über die sie in den Nachrichten sprechen, Amun. Du hast dabei geholfen, sie aufzuhalten?“

Reid wandte sich ab und warf einen Blick aus dem kleinen Fenster und in den Garten hinaus. Und damit war es zu spät. Er musste nichts bestätigen oder abstreiten. Sie konnte es in seinem Gesicht lesen.

„Das hier ist kein Spiel, Maya. Das hier ist ernst und wenn die falschen Leute wüssten –“

„Wusste Mom davon?“

Von allen Fragen, die sie hätte stellen können, warf ihn diese aus der Bahn. Für einen langen Moment war er stumm. Wieder einmal hatte sich seine Älteste als zu intelligent herausgestellt, vielleicht sogar für ihr eigenes Wohl.

„Ich glaube nicht“, sagte er leise.

„Und all die Reisen, die du früher angetreten bist“, sagte Maya, „das waren keine Konferenzen oder Gastvorträge, nicht wahr?“

„Nein. Das waren sie nicht.“

„Dann hast du für eine Weile aufgehört. Hast du … nach Moms … gekündigt?“

„Ja. Aber dann brauchten sie mich wieder.“

Das war ein ausreichender Teil der Wahrheit, sodass er sich nicht fühlte, als würde er lügen – und hoffentlich genug, um Mayas Neugier zu stillen.

Er drehte sich wieder zu ihr um. Sie starrte mit einem finsteren Blick auf den gefliesten Boden. Offensichtlich gab es noch mehr Fragen, die sie stellen wollte. Er hoffte, dass sie es nicht tun würde.

„Noch eine Frage.“ Ihre Stimme war fast ein Flüstern. „Hatte dieses Zeug irgendetwas mit … mit Moms Tod zu tun?“

„Oh Gott. Nein. Maya. Natürlich nicht.“

Er durchquerte schnell den Raum und schloss seine Arme fest um sie. „Denk das bloß nicht. Was mit Mom passiert ist, war medizinisch. Es hätte jedem passieren können. Es war nicht … es hatte nichts damit zu tun.“

„Ich glaube, das wusste ich“, sagte sie leise. „Ich musste nur fragen …“

„Das ist in Ordnung.“ Das war das Letzte, was er wollte. Dass sie dachte, Kates Tod hätte irgendeine Verbindung zu dem geheimen Leben, in welches er verwickelt war.

Etwas schoss ihm durch den Kopf – eine Vision. Eine Erinnerung an die Vergangenheit. Eine vertraute Küche. Ihr Zuhause in Virginia, bevor sie nach New York zogen. Bevor sie starb. Kate steht vor dir, genau so wunderschön, wie du sie in Erinnerung hast – aber ihre Stirn liegt in Falten, ihr Blick ist hart. Sie ist wütend. Sie schreit. Sie zeigt mit ihren Händen auf etwas, das auf dem Tisch liegt …

Reid trat einen Schritt zurück und löste sich aus Mayas Umarmung, als die vage Erinnerung Kopfschmerzen in seiner Stirn verursachte. Manchmal versuchte sein Gehirn, sich an bestimmte Dinge aus der Vergangenheit zu erinnern, die noch immer verborgen lagen. Wenn er versuchte, die Erinnerungen zu erzwingen, verursachten sie einen migräneartigen Schmerz im vorderen Teil seines Schädels. Aber dieses Mal war anders, merkwürdiger; er erinnerte sich eindeutig an Kate, an eine Art Streit, den sie hatten und der ihm nicht mehr bewusst gewesen war.

„Dad, ist alles in Ordnung?“, fragte Maya.

Plötzlich klingelte es an der Tür und sie zuckten beide vor Schreck zusammen.

„Ähm, ja“, murmelte er. „Es geht mir gut. Das muss die Pizza sein.“ Er sah auf die Uhr und runzelte die Stirn. „Das ging wirklich schnell. Ich bin sofort zurück.“ Er ging durch den Flur und spähte durch den Spion. Vor der Tür stand ein junger Mann mit einem dunklen Bart und leeren Blick. Er trug ein rotes Poloshirt mit dem Logo der Pizzeria.

Trotzdem blickte Reid über seine Schulter zurück, um sicherzustellen, dass Maya ihn nicht sah, und schob seine Hand in die Innenseite seiner dunkelbraunen Bomberjacke, die an einem Haken neben der Tür hing. In der Innentasche befand sich eine geladene Glock 22. Er löste die Sicherung und steckte die Waffe in die Rückseite seiner Hose, bevor er die Tür öffnete.

„Lieferung für Lawson“, sagte der Pizzalieferant mit monotoner Stimme.

„Ja, das bin ich. Wie viel?“

Der Mann hielt die zwei Pizzakartons mit einem Arm, während er in seine hintere Hosentasche griff. Reid tat instinktiv das Gleiche.

Aus seinem Augenwinkel sah er eine Bewegung und sein Blick flog nach links. Ein Mann mit einem militärischen Kurzhaarschnitt überquerte eilig den Rasen – was jedoch noch wichtiger war, war die Tatsache, dass er an seiner Hüfte eine Pistole in einem Holster trug … mit seiner rechten Hand über dem Abzug.




KAPITEL ZWEI


Reid hob seinen Arm in die Luft, wie ein Lotse, der den Verkehr anhielt.

„Alles in Ordnung, Mr. Thompson“, rief er. „Es ist nur Pizza.“

Der ältere Mann mit gräulichem Kurzhaarschnitt und rundem Bauch, der sich in seinem Vorgarten befand, blieb plötzlich stehen. Der Pizzalieferant schaute über seine Schulter und zeigte zum ersten Mal eine Emotion – seine Augen weiteten sich vor Schock, als er die Waffe und die Hand, die darauf ruhte, sah.

„Sind Sie sich sicher, Reid?“ Mr. Thompson musterte den Pizzalieferanten misstrauisch.

„Ich bin mir sicher.“

Der Lieferant zog langsam eine Quittung aus seiner Hosentasche. „Ähm, das macht achtzehn Dollar“, sagte er verwirrt.

Reid gab ihm einen Zwanziger und noch einen Zehner und nahm ihm die Pizzakartons ab. „Behalten Sie das Wechselgeld.“

Das musste er dem Pizzamann nicht zweimal sagen. Er rannte zurück zu seinem wartenden Auto, sprang hinein und düste davon. Mr. Thompson sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach.

„Danke, Mr. Thompson“, sagte Reid. „Aber es ist bloß Pizza.“

„Ich mochte den Kerl nicht“, knurrte sein Nachbar. Reid konnte den älteren Mann gut leiden – obwohl er der Meinung war, dass Thompson seine Rolle, ein wachsames Auge auf die Lawson-Familie zu haben, etwas zu ernst nahm. Trotzdem hatte Reid lieber jemanden in der Nähe, der etwas übereifrig war, als jemanden, der seine Pflichten vernachlässigte.

„Man kann nie vorsichtig genug sein“, fügte Thompson hinzu. „Wie geht es den Mädchen?“

„Es geht ihnen gut.“ Reid lächelte freundlich. „Aber, ähm … müssen Sie die immer so offensichtlich mit sich herumtragen?“ Er deutete auf die Smith & Wesson an Thompsons Hüfte.

Der ältere Mann sah ihn verwirrt an. „Nun, ja … ja. Meine KWK ist abgelaufen und Virginia ist ein legaler Open-Carry-Staat.“

„… richtig.“ Reid zwang sich zu einem weiteren Lächeln. „Sicher. Nochmals vielen Dank Mr. Thompson. Ich werde Sie wissen lassen, wenn wir etwas brauchen.“

Thompson nickte und trottete dann zurück über den Rasen zu seinem eigenen Haus. Deputy Director Cartwright hatte Reid versichert, dass der ältere Mann durchaus kompetent sei; Thompson war ein pensionierter CIA-Agent, und obwohl er seit mehr als zwei Jahrzehnte nicht mehr im Dienst war, war er offensichtlich froh – wenn nicht sogar begierig darauf – wieder nützlich sein zu können.

Reid seufzte und zog die Tür hinter sich zu. Er schloss sie ab und schaltete den Alarm wieder an (was zu einem Ritual geworden war, jedes Mal, wenn er die Tür öffnete und wieder schloss) und wandte sich dann an Maya, die hinter ihm im Flur stand.

„Worum ging es denn da gerade?“, fragte sie.

„Oh nichts. Mr. Thompson wollte nur ‚Hallo’ sagen.“

Maya verschränkte ihre Arme. „Und ich dachte, wir hätten so gute Fortschritte gemacht.“

„Sei nicht albern“, spottete Reid. „Mr. Thompson ist bloß ein harmloser alter Mann –“

„Harmlos? Er trägt stets eine Waffe mit sich herum“, protestierte Maya. „Und glaube ja nicht, dass ich nicht sehe, wie er uns von seinem Fenster aus beobachtet. Es ist so, als würde er uns ausspionieren –“ Ihr Mund öffnete sich ein wenig. „Oh mein Gott, weiß er über uns Bescheid? Ist Mr. Thompson auch ein Spion?“

„Meine Güte Maya, ich bin kein Spion …“

Eigentlich, dachte er zu sich, ist das genau, was du bist …

„Ich glaube es nicht!“, rief sie. „Ist das der Grund dafür, warum er auf uns aufpasst, wenn du unterwegs bist?“

„Ja“, gab er leise zu. Er musste ihr nichts von den Wahrheiten erzählen, nach denen sie nicht fragte, aber es machte auch keinen Sinn, Dinge vor ihr zu verbergen, die sie schon richtig vermutete.

Er erwartete, dass sie wütend wurde und wieder mit Anschuldigungen um sich schlagen würde, doch stattdessen schüttelte sie den Kopf und murmelte: „Unglaublich. Mein Dad ist ein Spion und unser verrückter Nachbar ist ein Bodyguard.“ Dann fiel sie ihm, zu seiner Überraschung, um den Hals und schlug ihm dabei fast die Pizzakartons aus dem Arm. „Ich weiß, du kannst mir nicht alles sagen. Alles, was ich wollte, war ein kleines Stück Wahrheit.“

„Ja, ja“, murmelte er. „Ich riskiere schließlich nur die internationale Sicherheit, um ein guter Vater zu sein. Jetzt geh und wecke deine Schwester auf, bevor die Pizza kalt wird. Und Maya? Kein Wort davon zu Sara.“

Er ging in die Küche, holte ein paar Teller und Servietten, und schenkte drei Gläser Limonade ein. Ein paar Augenblicke später schlurfte Sara in die Küche und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

„Hi, Daddy“, murmelte sie.

„Hallo Liebling. Setz dich. Schläfst du okay?“

„Hmm“, murmelte sie vage. Sara nahm ein Stück Pizza, biss die Spitze ab und kaute langsam und träge.

Er machte sich Sorgen um sie, aber er versuchte, es nicht zu zeigen. Stattdessen schnappte er sich ein Stück Schinken-Paprika-Pizza. Es war auf halbem Weg zu seinem Mund, als Maya dazwischen ging und es ihm aus der Hand nahm.

„Was glaubst du, was du da machst?“, fragte sie.

„… essen? Oder zumindest versuche ich das.“

„Ähm nein. Du hast ein Date, erinnerst du dich?

„Was? Nein, das ist morgen …“ Er verstummte verunsichert. „Oh Gott, das ist heute, nicht wahr?“ Er schlug sich beinahe gegen die Stirn.

„Stimmt genau“, sagte Maya mit einem vollen Mund Pizza.

„Es ist außerdem kein Date, sondern ein Abendessen mit einer Freundin.“

Maya zuckte mit den Schultern. „Gut. Aber wenn du dich nicht beeilst, wirst du zu deinem ‚Abendessen mit einer Freundin’ zu spät kommen.“

Er schaute auf seine Uhr. Sie hatte recht; er sollte Maria um fünf treffen.

„Mach schnell. Geh und zieh dich um.“ Sie scheuchte ihn aus der Küche und er eilte die Treppe hinauf.

Bei allem, was vor sich ging, und seinen ständigen Versuchen, seinen eigenen Gedanken zu entfliehen, hatte er fast das Versprechen vergessen, sich mit Maria zu treffen. In den letzten paar Wochen hatte es mehrere halbherzige Versuche gegeben, sich zu treffen, die aber immer daran scheiterten, dass einem von ihnen etwas dazwischengekommen war. Wenn er ehrlich mit sich war, war er es immer gewesen, der einen Vorwand hatte. Maria schien es endlich sattzuhaben und plante nicht nur das Treffen, sondern suchte auch einen Ort aus, der auf halbem Weg zwischen Alexandria und Baltimore lag, wo sie wohnte. Er musste ihr allerdings versprechen, dass er sich tatsächlich die Zeit nehmen würde, sie zu sehen.

Er vermisste sie. Er vermisste es, in ihrer Nähe zu sein. Sie waren nicht nur Arbeitskollegen gewesen; es gab eine Vorgeschichte zwischen ihnen, aber Reid konnte sich an den Großteil davon nicht erinnern. Tatsächlich erinnerte er sich an kaum etwas. Alles, was er wusste, war, dass er ein besonders Gefühl bekam, wenn er in ihrer Nähe war. So, als wäre er ihr wichtig – als wäre er mit einer Freundin zusammen, der er vertrauen konnte und vielleicht sogar mehr als das.

Er ging zum Kleiderschrank und entschied sich für ein Outfit, das er für angemessen hielt. Er mochte den klassischen Style, obwohl er sich bewusst war, dass seine Garderobe ihn wahrscheinlich mindestens ein Jahrzehnt älter aussehen ließ als er es war. Er zog eine Bundfaltenhose, ein kariertes Hemd und eine Tweed-Jacke mit Lederflicken auf den Ellbogen an.

„Das willst du anziehen?“, fragte Maya und erschreckte ihn. Sie lehnte im Türrahmen seiner Schlafzimmertür und kaute nebenbei auf einer Pizzakruste.

„Was stimmt damit nicht?“

„Was damit nicht stimmt, ist, dass du aussiehst, als seist du gerade einem Klassenzimmer entsprungen. Komm schon.“ Sie griff nach seinem Arm, zog ihn zurück zum Schrank und begann, in seiner Kleidung zu wühlen. „Meine Güte, Dad. Du ziehst dich an, als seist du achtzig …“

„Was war das?“

„Nichts!“, rief sie. „Aha. Hier.“ Sie zog ein schwarzes Sakko heraus – das Einzige, was er besaß. „Zieh das an, mit etwas Grauem darunter. Oder etwas Weißem. Ein T-Shirt oder ein Poloshirt. Und zieh die Dad-Hose aus und lieber eine Jeans an. Eine dunkle. Enganliegende.“

Er hörte auf seine Tochter und zog sich um, während sie im Flur wartete. Vermutlich musste er sich an diesen bizarren Rollentausch gewöhnen, dachte er. In einem Moment war er der überfürsorgliche Vater gewesen; und im Nächsten gab er den Anweisungen seiner herausfordernden und klugen Tochter nach.

„Viel besser“, sagte Maya, als er wiederauftauchte. „Du siehst fast so aus, als wärst du bereit für ein Date.“

„Danke“, sagte er. „Und es ist kein Date.“

„Das hast du bereits mehrfach gesagt. Aber du gehst mit einer mysteriösen Frau zum Abendessen und auf ein paar Drinks aus, von der du behauptest, dass sie eine alte Freundin sei, obwohl du sie noch nie zuvor erwähnt hast und wir sie noch nie getroffen haben …“

„Sie ist eine alte Bekannte –“

„Und ich möchte hinzufügen“, sagte Maya über ihn hinweg, „dass sie ziemlich attraktiv ist. Wir haben sie gesehen, als sie aus dem Flugzeug in Dulles stieg. Wenn also einer von euch beiden nach etwas mehr sucht, als nur nach ‚alten Freunden’, dann ist dies ein Date.“

„Großer Gott, du und ich werden nicht über so etwas reden.“ Reid zuckte zusammen. In seinem Kopf verfiel er jedoch in leichte Panik. Sie hat recht. Es ist ein Date. Er hatte in letzter Zeit so viele mentale Verrenkungen gemacht, dass er nicht lange genug darüber nachgedacht hatte, was ein Abendessen und Drinks wirklich für ein Paar alleinstehender Erwachsene bedeutete. „Gut“, gab er zu, „lass uns davon ausgehen, es wäre ein Date. Ähm … was muss ich machen?“

„Das fragst du mich? Ich bin nicht gerade eine Expertin.“ Maya grinste. „Unterhaltet euch. Lerne sie besser kennen. Und bitte, gib dein Bestes, interessant zu wirken.“

Reid lachte und schüttelte spöttisch seinen Kopf. „Entschuldige bitte, aber ich bin superinteressant. Wie viele Leute kennst du, die eine vollständige, mündliche Präsentation der Bulavin-Rebellion geben können?“

„Nur einen.“ Maya verdrehte die Augen. „Und gib dieser Frau bitte keine vollständige, mündliche Präsentation der Bulavin-Rebellion.“

Reid lachte und umarmte seine Tochter.

„Alles wird gut “, versicherte sie ihm.

„Bei euch auch“, sagte er. „Ich werde Mr. Thompson anrufen und ihn bitten, für eine Weile vorbeizukommen …“

„Dad, nein!“ Maya löste sich aus seiner Umarmung. „Komm schon. Ich bin sechzehn. Ich kann Sara ein paar Stunden lang allein beaufsichtigen.“

„Maya, du weißt, wie wichtig es mir ist, dass ihr zwei nicht alleine seid –“

„Dad, er riecht nach Motorenöl und alles, worüber er reden möchte, sind ‚die guten alten Zeiten’ bei der Marine“, sagte sie verärgert. „Es wird nichts passieren. Wir werden Pizza essen und einen Film gucken. Sara wird im Bett sein, bevor du zurückkommst. Wir kommen schon klar.“

„Ich denke trotzdem, dass Mr. Thompson kommen sollte, um –“

„Er kann uns wie gewohnt durch sein Fenster beobachten. Wir werden klarkommen. Das verspreche ich dir. Wir haben eine zuverlässige Alarmanlage und Sicherheitsriegel an allen Türen und ich weiß, dass du eine Waffe neben der Eingangstür hast und –“

„Maya!“, stieß Reid hervor. Woher wusste sie das? „Fass die bloß nicht an, hörst du?“

„Ich werde sie nicht anfassen“, sagte sie. „Ich sage ja nur. Ich weiß, dass sie da ist. Bitte. Lass mich beweisen, dass ich das kann.“

Reid mochte die Vorstellung ganz und gar nicht, dass die Mädchen alleine im Haus blieben, aber sie bettelte ihn förmlich an. „Erkläre mir den Fluchtplan“, sagte er.

„Das ganze Ding?!“, protestierte sie.

„Das ganze Ding.“

„Also gut.“ Sie warf ihr Haar über eine Schulter, wie sie es oft tat, wenn sie genervt war. Sie rollte ihren Blick zur Decke, während sie monoton den Plan wiederholte, den Reid kurz nach ihrer Ankunft im neuen Haus in Kraft gesetzt hatte. „Wenn jemand zur Haustür kommt, muss ich zuerst sicherstellen, dass der Alarm eingeschaltet ist, und dass die Verriegelungen und die Kette an der Tür verschlossen sind. Dann prüfe ich durch den Spion, ob es jemand ist, den ich kenne. Wenn nicht, rufe ich Mr. Thompson an und lasse ihn zuerst nachforschen.“

„Und wenn doch?“, forderte er.

„Wenn es jemand ist, den ich kenne“, sprach Maya weiter, „dann sehe ich am Seitenfenster nach, ob jemand anderes dabei ist. Und wenn es so ist, rufe ich Mr. Thompson an, um nachzuschauen.“

„Und wenn jemand versucht, gewaltsam einzudringen?“

„Dann gehen wir hinunter in den Keller und den Trainingsraum“, sagte sie. Eine der ersten Renovierungsarbeiten, die Reid nach ihrem Einzug vorgenommen hatte, bestand darin, die Tür zu dem kleinen Raum im Untergeschoss durch eine Tür mit Stahlkern zu ersetzen. Sie hatte drei schwere Riegel und Scharniere aus Aluminiumlegierungen. Sie war kugelsicher und feuerfest und der CIA-Techniker, der sie eingebaut hatte, behauptete, man bräuchte ein dutzend Sondereinsatz-Rammböcke, um dort durchzukommen. Der kleine Fitnessraum wurde dadurch zu einem behelfsmäßigen Panikraum.

„Und dann?“, fragte er.

„Dann rufen wir zuerst Mr. Thompson an“, sagte sie. „Und dann Eins-Eins-Null. Wenn wir unsere Handys vergessen haben oder nicht an sie rankommen, dann gibt es im Keller ein Festnetztelefon, in dem seine Nummer eingespeichert ist.“

„Und wenn jemand einbricht und ihr nicht in den Keller kommt?“

„Dann gehen wir zum nächsten verfügbaren Ausgang“, leierte Maya weiter. „Sobald wir draußen sind, machen wir so viel Lärm wie möglich.“

Thompson war eine Menge Dinge, aber schwerhörig war er nicht. Eines Abends hatten Reid und die Mädchen den Fernseher zu laut gestellt, als sie einen Actionfilm sahen und Thompson war hinübergerannt, als er ein Geräusch gehört hatte, das er für unterdrückte Schüsse hielt.

„Aber wir sollten immer unsere Handys bei uns haben, nur für den Fall, dass wir einen Anruf tätigen müssen, sobald wir uns an einen sicheren Ort begeben haben.“

Reid nickte zustimmend. Sie hatte den gesamten Plan wiederholt – bis auf einen kleinen und doch entscheidenden Teil. „Du hast etwas vergessen.“

„Nein, das habe ich nicht.“ Sie runzelte die Stirn.

„Sobald ihr an einem sicheren Ort seid und nachdem ihr Thompson und die Behörden angerufen habt, …?“

„Oh, richtig. Dann rufen wir dich sofort an und erzählen dir, was passiert ist.“

„Okay.“

„Okay?“ Maya hob eine Augenbraue. „Meinst du mit okay, dass du uns ausnahmsweise einmal alleinlassen wirst?“

Er mochte den Gedanken immer noch nicht. Aber es war nur für ein paar Stunden und Thompson war gleich nebenan. „Ja“, sagte er endlich.

Maya atmete erleichtert auf. “Danke. Alles wird gut, ich schwöre es.“ Sie umarmte ihn noch einmal kurz. Als sie sich umdrehte, um wieder nach unten zu gehen, fiel ihr noch etwas anderes ein. „Kann ich dir nur noch eine Frage stellen?“

„Sicher. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich sie beantworten werde.“

„Wirst du wieder anfangen … zu reisen?“

„Oh.“ Schon wieder war er von ihrer Frage überrascht. Die CIA hatte ihm seinen alten Job wieder angeboten – tatsächlich hatte der Direktor der National Intelligence selbst gefordert, dass Kent Steele seinen Dienst fortführen sollte – aber Reid hatte sich bis jetzt noch nicht dazu geäußert und die Behörden hatten noch keine Antwort von ihm gefordert. Meistens versuchte er zu vermeiden, überhaupt darüber nachzudenken.

„Ich … würde wirklich gern Nein sagen. Aber die Wahrheit ist, dass ich es noch nicht weiß. Ich habe mich noch nicht entschieden.“ Er hielt für einen Moment inne, bevor er fragte: „Was würdest du dazu sagen?“

„Du fragst nach meiner Meinung?“, fragte sie überrascht.

„Ja, das tue ich. Du bist ehrlich gesagt einer der klügsten Menschen, die ich kenne, und deine Meinung bedeutet mir sehr viel.“

„Ich meine … einerseits ist es ziemlich cool, jetzt da ich weiß, was ich weiß –“

„Da du denkst, was du weißt …“, korrigierte Reid.

„Aber es ist auch ziemlich beängstigend. Ich weiß, dass eine sehr reale Chance besteht, dass du verletzt werden könntest, oder … oder sogar schlimmer.“ Maya verstummte für eine Weile. „Gefällt es dir? Für sie zu arbeiten?“

Reid antwortete ihr nicht sofort. Sie hatte recht; die Tortur, die er durchgemacht hatte, war furchterregend gewesen und hatte sein Leben mehr als einmal gefährdet, genau wie die Leben seiner Mädchen. Er könnte es nicht ertragen, wenn ihnen etwas zustoßen würde. Aber die brutale Wahrheit – und einer der größeren Gründe, weshalb er sich in letzter Zeit versuchte, so sehr abzulenken – war, dass es ihm Spaß machte und er es vermisste. Kent Steele sehnte sich nach der Verfolgungsjagd. Es gab eine Zeit, als all dies begann, zu der er diesen Teil von sich wie eine andere Person betrachtete, aber das stimmte nicht. Kent Steele war ein Pseudonym. Er sehnte sich danach. Er vermisste es. Es war ein Teil von ihm, so, wie auch das Unterrichten und die Erziehung seiner beiden Mädchen ein Teil von ihm waren. Obwohl seine Erinnerungen verschwommen waren, war es ein Teil seines großen Ganzen, seiner Identität, und es nicht zu haben war, so als sei er ein Sportler, der sich eine karrierebeendende Verletzung zugezogen hatte: es warf die Frage auf, Wer bin ich überhaupt, wenn ich das nicht sein kann?

Er musste ihre Frage nicht beantworten. Maya konnte es in seinem geistesabwesenden Blick erkennen.

„Wie heißt sie noch mal?“, fragte sie plötzlich, um das Thema zu wechseln.

Reid lächelte verlegen. „Maria.“

„Maria“, sagte sie nachdenklich. „Also gut. Viel Spaß bei deinem Date.“ Maya ging die Treppe hinunter.

Bevor er ihr folgte, hatte Reid eine kleine Idee. Er öffnete die oberste Schublade der Kommode und kramte im hinteren Teil herum, bis er fand, wonach er gesucht hatte – eine alte Flasche teuren Rasierwassers, das er seit über zwei Jahren nicht mehr benutzt hatte. Es war Kates Lieblingsduft gewesen. Er roch daran und spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Es war ein vertrauter, moschusartiger Duft, welcher eine Flut guter Erinnerungen mit sich brachte. Er sprühte ein wenig auf seine Handgelenke und betupfte beide Seiten seines Halses. Der Geruch war stärker, als er es in Erinnerung hatte, aber dennoch angenehm.

Dann – schoss eine weitere Erinnerung durch sein Gedächtnis.

Die Küche in Virginia. Kate ist wütend und zeigt auf etwas auf dem Tisch. Nicht nur wütend – sie hat Angst. „Was ist das, Reid?“, fragt sie ihn anklagend. „Was wäre, wenn eines der Mädchen das Ding gefunden hätte? Antworte mir!“

Er schüttelte die Vision ab, bevor die unvermeidliche Migräne einsetzte, aber dies ließ das Erlebnis nicht weniger beunruhigend wirken. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann oder wieso dieser Streit stattgefunden hatte; er und Kate hatten sich selten gestritten und in seiner Erinnerung hatte sie verängstigt ausgesehen – entweder davor, worüber sie sich stritten, oder vielleicht sogar aus Angst vor ihm. Er hatte ihr nie einen Grund dazu gegeben. Zumindest nicht, dass er sich daran erinnern konnte …

Seine Hände zitterten, als ihn eine neue Erkenntnis traf. Er konnte sich nicht an die Situation erinnern, was bedeutete, dass es eine der Erinnerungen war, die von dem Implantat unterdrückt worden waren. Aber wieso wären Erinnerungen an Kate mit denen an Agent Null gelöscht worden?

„Dad!“, rief Maya von unten. „Du kommst zu spät!“

„Ja“, murmelte er, „ich komme ja schon.“ Er würde sich der Realität stellen und eine Lösung für sein Problem finden müssen, oder er würde dauerhaft weiter mit den gelegentlich wiederkehrenden Erinnerungen zu kämpfen haben, die ihn verwirrten und erschütterten. Aber er würde dies später tun. Jetzt musste er erst einmal ein Versprechen einhalten. Er ging hinunter, küsste seine Töchter auf den Kopf und ging zum Auto. Bevor er den Weg zur Einfahrt hinunterging, stellte er sicher, dass Maya den Alarm hinter ihm eingeschaltet hatte. Dann stieg er in den silbernen Geländewagen, den er vor ein paar Wochen gekauft hatte.

Obwohl er sehr nervös und aufgeregt war, Maria wiederzusehen, konnte er das Angstgefühl in seinem Bauch nicht abschütteln. Er hatte das Gefühl, dass es eine schlechte Idee war, die Mädchen alleine zu lassen, selbst wenn es nur für eine kurze Zeit war. Wenn ihn die Ereignisse des letzten Monats irgendetwas gelehrt hatten, dann war es in erster Linie, dass es keinen Mangel an Bedrohungen gab, die ihn leiden sehen wollten.




KAPITEL DREI


„Wie geht es Ihnen heute Abend, Sir?“, fragte die Nachtschwester höflich, als sie sein Krankenzimmer betrat. Er wusste, ihr Name war Elena, und sie war Schweizerin, obwohl sie mit ihm auf Englisch sprach. Sie war zierlich und jung, viele würden sie sogar als hübsch und fröhlich bezeichnen.

Rais antwortete nicht. Das tat er nie. Er beobachtete lediglich, wie sie einen Styroporbecher auf seinen Nachttisch stellte, und sich der Inspektion seiner Wunden widmete. Er wusste, dass sie ihre Fröhlichkeit dazu nutzte, ihre Angst zu überspielen.

Er wusste, dass sie es, trotz der zwei bewaffneten Wachen, die jede seiner Bewegungen beobachteten, nicht mochte, mit ihm in einem Raum allein zu sein. Sie mochte es nicht, ihn zu behandeln oder auch nur mit ihm zu sprechen. Niemand mochte es.

Die Krankenschwester, Elena, inspizierte vorsichtig seine Wunden. Er konnte spüren, dass es sie nervös machte, so nah bei ihm zu sein.  Sie wusste, was er getan hatte; dass er im Namen Amuns getötet hatte.

Sie hätte sogar noch mehr Angst, wenn sie wüsste, wie viele es waren, dachte er trocken.

„Ihre Wunden heilen gut“, sagte sie. „Schneller als erwartet“.  Das sagte sie jeden Abend zu ihm, was er als „hoffentlich verlassen Sie uns bald“ verstand.

Das waren für Rais keine guten Nachrichten, denn wenn er endlich gesund genug wäre, um das Krankenhaus zu verlassen, würde er wahrscheinlich in ein CIA-Gefängnis in der Wüste gebracht werden. In ein feuchtes, schreckliches Loch im Boden, wo ihm noch viel mehr Wunden zugefügt werden würden, während sie ihn folterten, um Informationen aus ihm herauszuquetschen.

Als Amun bestehen wir. Das war für mehr als ein Jahrzehnt sein Mantra gewesen, aber dem war nun nicht mehr so. Soweit Rais wusste, gab es Amun nicht mehr; ihr Plan in Davos war gescheitert, die Anführer waren entweder festgenommen oder getötet worden und jede Strafverfolgungsbehörde auf der Welt wusste über die Markierung, die Hieroglyphe von Amun, welche den Mitgliedern in die Haut gebrannt wurde, Bescheid. Rais durfte nicht fernsehen, aber er erhielt seine Informationen von seinen bewaffneten Polizeiwachen, die sich oft unterhielten (und das meist für lange Zeit, sehr zu Rais’ Ärgernis).

Er hatte die Markierung aus seiner Haut geschnitten, bevor er ins Krankenhaus von Sion gebracht wurde, aber es stellte sich als umsonst heraus; sie wussten bereits, wer er war, und zumindest ein paar der Dinge, die er getan hatte. Die gezackte, fleckige, rosafarbene Narbe, wo sich einst die Markierung an seinem Arm befunden hatte, war eine tägliche Erinnerung daran, dass es Amun nicht mehr gab, und deshalb schien es passend zu sein, dass er sein Mantra änderte.

Ich bestehe.

Elena nahm den Styroporbecher, der Eiswasser und einen Strohhalm enthielt. „Möchten Sie etwas trinken?“

Rais sagte nichts, er beugte sich jedoch leicht nach vorn und öffnete seine Lippen. Sie führte den Strohhalm mit vollkommen ausgestrecktem Arm und Ellbogen vorsichtig zu seinem Mund, während sie ihren Körper zurücklehnte. Sie hatte Angst; vor vier Tagen hatte Rais versucht, Dr. Gerber zu beißen. Seine Zähne hatten den Nacken des Arztes gestreift, sie waren allerdings noch nicht einmal durch die Haut gedrungen. Dennoch hatte er sich dadurch einen Schlag gegen den Kiefer von einem seiner Wächters eingehandelt.

Rais versuchte diesmal nichts. Er nahm lange Schlucke durch den Strohhalm und genoss die Angst des Mädchens und die strenge Angespanntheit der zwei Polizeiwachen, die hinter ihr zusahen. Als er genug hatte, lehnte er sich zurück. Sie stieß ein hörbar erleichtertes Seufzen aus.

Ich bestehe.

Er hatte in den letzten vier Wochen eine ganze Menge ertragen. Er hatte eine Nephrektomie durchgemacht, um seine durchstochene Niere zu entfernen. Er hatte sich einer zweiten Operation unterzogen, bei der ein Teil seiner gerissenen Leber entnommen wurde. Er hatte eine dritte Prozedur ertragen, um sicherzustellen, dass keine seiner anderen lebenswichtigen Organe beschädigt worden waren.

Er hatte mehrere Tage auf der Intensivstation verbracht, bevor er in eine chirurgische Abteilung verlegt wurde, aber er verließ niemals das Bett, an welches er mit beiden Handgelenken gefesselt war. Die Krankenschwestern drehten ihn, wechselten seine Bettpfanne und machten es ihm so bequem, wie es ihnen möglich war, aber es wurde ihm nie erlaubt, sich aufzurichten, zu stehen, oder sich aus freien Stücken zu bewegen.

Die sieben Stichverletzungen an seinem Rücken, und die eine in seiner Brust, waren genäht worden und heilten gut, wie die Nachtschwester Elena regelmäßig wiederholte.

Trotzdem gab es wenig, was die Ärzte gegen die Nervenschäden tun konnten. Manchmal wurde sein gesamter Rücken taub, bis hinauf zu seinen Schultern und teilweise sogar hinunter bis zu seinem Bizeps. Er fühlte nichts, so als würden diese Teile seines Körpers zu jemand anderem gehören.

Manchmal wachte er mit einem Schrei in der Kehle aus einem tiefen Schlaf auf, wenn ein stechender Schmerz wie ein Blitz durch seinen Körper schoss. Es hielt nie lange an, aber wenn es passierte, war es stark, intensiv und tauchte unregelmäßig auf. Die Ärzte nannten dies „Stechen“, eine Nebenwirkung, die manchmal bei Menschen auftrat, die so schwerwiegende Nervenschäden erlitten hatten wie er.

Sie versicherten ihm, dass dieses Stechen mit der Zeit oft verblasse und sogar ganz aufhören könnte, aber sie konnten ihm nicht sagen, wann dies geschehen würde. Stattdessen sagten sie ihm, dass er Glück gehabt habe, dass seine Wirbelsäule nicht beschädigt wurde. Sie sagten ihm, dass er Glück habe, überhaupt am Leben zu sein.

Ja, Glück, dachte er bitter. Glück, dass er nur gesund werden würde, um in die wartenden Arme des CIA-Gefängnisses geworfen zu werden. Glück, dass alles, wofür er gearbeitet hatte, ihm im Laufe eines einzigen Tages genommen wurde. Glück, nicht nur einmal, sondern zweimal von Kent Steele besiegt worden zu sein – einem Mann, den er mit jeder Faser seines Daseins hasste und verabscheute.

Ich bestehe.

Bevor sie seinen Raum verließ, bedankte sich Elena bei den zwei Wachen auf Deutsch, und versprach, ihnen Kaffee zu bringen, wenn sie wiederkam. Als sie gegangen war, nahmen sie ihre Posten vor seiner Tür wieder ein, die immer offenstand, und führten ihre Unterhaltung fort. Sie sprachen über ein kürzlich stattgefundenes Fußballspiel. Rais’ Deutsch war recht gut, aber die Einzelheiten im schweizerdeutschen Dialekt und die Geschwindigkeit, mit der sie sprachen, ließen ihn manchmal nur wenig verstehen. Die Wachen der Tagesschicht sprachen oft Englisch, wodurch er die meisten Neuigkeiten über das Geschehen außerhalb seines Krankenzimmers erhielt.

Beide Männer waren Mitglieder der schweizerischen Bundespolizei, die entschieden hatte, dass er zu jedem Zeitpunkt, vierundzwanzig Stunden am Tag, zwei Wachen vor seinem Zimmer stehen hatte.  Sie wechselten alle acht Stunden die Schicht, mit einem anderen Wachenpaar am Freitag und am Wochenende.

Es waren immer zwei, jederzeit; wenn eine der Wachen zur Toilette musste oder sich etwas zu essen holte, mussten sie zuerst unten anrufen, um eine der Krankenhauswachen zu ihnen hinaufzuschicken, auf dessen Ankunft sie dann erst warten mussten.

Die meisten Patienten, die sich in seinem Zustand befanden und deren Genesung so weit fortgeschritten war, wären wohl auf eine normale Station verlegt worden, aber Rais war in der Unfallklinik geblieben. Es war, mit den verschlossenen Bereichen und bewaffneten Wachen, eine sicherere Einrichtung.

Es waren immer zwei, jederzeit. Und Rais hatte entschieden, dass er dies zu seinem Vorteil nutzen würde.

Er hatte viel Zeit gehabt, um seine Flucht zu planen, besonders in den letzten paar Tagen, als seine Medikamente verringert wurden und er klarer denken konnte.

Er ging in seinem Kopf immer wieder verschiedene Szenarien durch. Er merkte sich Zeitpläne und belauschte Gespräche. Es würde nicht mehr lange dauern, bevor sie ihn entließen – bestenfalls ein paar Tage.

Er musste handeln und entschied sich dafür, es heute Nacht zu tun.

Seine Wachen waren in den Wochen, in denen sie vor seiner Tür gestanden hatten, selbstgefällig geworden. Sie nannten ihn „Terrorist“ und wussten, dass er ein Mörder war. Abgesehen von dem kleinen Vorfall mit Dr. Gerber vor ein paar Tagen hatte Rais jedoch nichts anderes getan, als still dazuliegen, meistens ohne sich zu bewegen, und den Krankenhausmitarbeitern zu erlauben, ihre Pflichten zu erfüllen. Wenn sich niemand bei ihm im Raum befand, schenkten ihm die Wachen nicht mehr Aufmerksamkeit, als gelegentlich einen Blick auf ihn zu werfen.

Er hatte nicht versucht, den Arzt aus Gehässigkeit oder Wut zu beißen, sondern aus Notwendigkeit. Gerber hatte sich über ihn gelehnt und die Wunde an seinem Arm inspiziert, an der er die Markierung Amuns herausgeschnitten hatte – die Seitentasche des weißen Arztkittels hatte die Finger von Rais’ gefesselter Hand gestreift. Er machte einen Satz und schnappte mit dem Kiefer und der Arzt sprang erschrocken zurück, als die Zähne seinen Nacken streiften.

Und Rais’ Hand umklammerte dabei fest seinen Füllfederhalter. Eine der diensthabenden Wachen hatte ihm einen ordentlichen Schlag ins Gesicht verpasst und in dem Moment, in dem ihn der Schlag traf, hatte Rais den Stift unter sein Bettlaken geschoben und ihn unter seinem linken Oberschenkel versteckt. Dort war er für drei Tage verblieben, versteckt unter der Decke, bis zur letzten Nacht. Er hatte ihn hervorgeholt, während die Wachen auf dem Flur plauderten. Mit einer Hand, ohne zu sehen, was er tat, hatte er die zwei Hälften des Stiftes auseinandergenommen und die Patrone entfernt. Dabei arbeitete er langsam und vorsichtig, sodass die Tinte nicht verspritzt wurde. Der Stift war klassisch, mit goldener Schreibspitze, welche ein gefährliches, spitzes Ende hatte. Diese Hälfte schob er wieder unter die Bettdecke. Die hintere Hälfte hatte eine goldene Taschenklammer, welche er vorsichtig mit dem Daumen zurückdrückte, bis sie abbrach.

Die Manschette an seinem linken Handgelenk erlaubte ihm etwas weniger als dreißig Zentimeter Bewegungsfreiraum für seinen Arm, aber wenn er seine Hand bis zum Anschlag ausstreckte, dann konnte er die ersten paar Zentimeter des Nachttisches erreichen. Die Tischplatte bestand aus einer einfachen, ebenen Holzspanplatte, aber die Unterseite war rau wie Sandpapier. In vier äußerst strapaziösen und schmerzhaften Stunden in der Nacht zuvor hatte Rais die Klammer des Füllfederhalters vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, vor und zurück an der Unterseite des Tisches entlanggerieben. Mit jeder Bewegung hatte er befürchtet, die Klammer könnte ihm aus der Hand rutschen, oder die Wächter könnten eine Bewegung bemerken, aber sein Zimmer war dunkel und die beiden waren in eine Unterhaltung vertieft. Er arbeitete unnachgiebig, bis er das Ende der Klammer zu einer nadelähnlichen Spitze geschärft hatte. Dann schob er die Klammer ebenfalls unter die Bettdecke, direkt neben die Spitze des Füllfederhalters.

Er wusste aus Unterhaltungsausschnitten, die er belauscht hatte, dass heute Nacht drei Nachtschwestern auf der chirurgischen Station tätig sein würden. Darunter war auch Elena, mit zwei anderen Schwestern, die auf Bereitschaft waren, sollten sie benötigt werden. Das bedeutete, dass es mit ihnen und den beiden Polizeiwachen mindestens fünf Personen gab, mit denen er fertig werden musste, maximal aber sieben.

Keiner der Krankenhausmitarbeiter mochte es, sich um ihn kümmern zu müssen, da sie wussten, wer er war, und sie schauten daher nur sehr unregelmäßig nach ihm. Jetzt, da Elena gerade bei ihm gewesen und wieder gegangen war, wusste er, dass er zwischen sechzig und neunzig Minuten Zeit hatte, bevor sie zurückkommen würde.

Sein linker Arm wurde von einer einfachen Krankenhausschlinge in Position gehalten, welche Fachleute häufig als „Vierpunkter“ bezeichneten. Es war eine weiche, blaue Manschette um sein Handgelenk mit einem engen, weißen, zugeschnallten Nylonriemen, der mit dem anderen Ende stramm am Stahlgeländer seines Bettes befestigt war. Aufgrund des Ausmaßes seiner Verbrechen war seine rechte Hand mit Handschellen gefesselt worden. Die Wachen außerhalb seines Zimmers unterhielten sich auf Deutsch. Rais hörte aufmerksam zu; der Linke, Luca, schien sich zu beklagen, dass seine Frau zu dick wurde. Rais spottete; Luca war selbst alles andere als durchtrainiert. Der Andere, ein Mann namens Elias, war jünger und sportlich, trank Kaffee allerdings in Mengen, die für die meisten Menschen tödlich wären. Jede Nacht, zwischen neunzig Minuten und zwei Stunden nach Schichtbeginn, rief Elias den Nachtwächter an, damit er zur Toilette gehen konnte. Während er fort war, ging Elias für eine Zigarette nach draußen, was also mit der Toilettenpause bedeutete, dass er gewöhnlich für acht bis elf Minuten abwesend war. Rais hatte die letzten Nächte damit verbracht, leise die Sekunden zu zählen, die Elias abwesend war. Es war ein sehr enges Zeitfenster, aber eines, auf das er nun vorbereitet war.

Er griff unter seiner Bettdecke nach der geschärften Klammer und hielt sie zwischen den Fingerspitzen seiner linken Hand. Dann warf er sie vorsichtig in einem Bogen über seinen Körper. Sie landete geschickt in der Handfläche seiner rechten Hand. Als Nächstes käme der schwierigste Teil seines Plans. Er zog an seinem Handgelenk, sodass die Handschellenkette gespannt war und während er sie so hielt, drehte er seine Hand und drückte die geschärfte Spitze der Klammer in das Schlüsselloch der Handschelle, die am Stahlgeländer befestigt war. Es war schwierig und umständlich, aber er war schon einmal aus Handschellen entkommen; er wusste, dass der Verriegelungsmechanismus im Inneren so konstruiert war, dass ein Universalschlüssel fast jedes Paar öffnen konnte, und wenn man die inneren Funktionen eines Schlosses kannte, dann bedeutete es einfach nur, dass man die richtigen Bewegungen machen musste, um die Metallstifte im Inneren zu lösen.

Er musste die Kette jedoch straff halten, damit die Manschette nicht gegen das Geländer klapperte und seine Wächter alarmierte.

Er brauchte fast zwanzig Minuten. Drehen, wenden, er machte eine kurze Pause, um seine schmerzenden Finger zu entlasten und versuchte es erneut, aber schließlich klickte das Schloss und die Handschelle öffnete sich. Rais löste sie vorsichtig vom Bettgestell.

Eine Hand war frei.

Er streckte die Hand aus und löste schnell die Manschette an seinem linken Arm.

Beide Hände waren frei.

Er versteckte die Klammer unter seiner Bettdecke und nahm die obere Hälfte des Stiftes heraus, die er so in seiner Hand hielt, dass nur die scharfe Spitze herausragte. Außerhalb seines Zimmers stand der jüngere Wächter plötzlich auf. Rais hielt den Atem an und tat so, als schliefe er, als Elias hineinsah.

„Rufst du bitte Francis an“, sagte Elias auf Deutsch. „Ich muss pissen.“

„Sicher“, sagte Luca gähnend. Er kontaktierte den Nachtwächter, der normalerweise hinter der Rezeption im ersten Stock stationiert war, über sein Funkgerät. Rais hatte Francis schon öfter gesehen; er war ein älterer Mann, Ende fünfzig, vielleicht Anfang sechzig, und relativ schmal gebaut. Er trug eine Waffe, aber seine Bewegungen waren langsam.

Es war genau das, worauf Rais gehofft hatte. Er wollte in seinem Genesungszustand nicht gegen den jüngeren Polizeibeamten kämpfen müssen.

Drei Minuten später tauchte Francis in seiner weißen Uniform mit schwarzer Krawatte auf und Elias eilte zur Toilette. Die beiden Männer vor der Tür begrüßten sich, als Francis sich mit einem schweren Seufzen auf Elias’ Plastikstuhl niederließ.

Es war an der Zeit zu handeln.

Rais rutschte vorsichtig zum Ende des Bettes hinunter und stellte seine nackten Füße auf die kalten Fliesen. Es war einige Zeit vergangen, seit er seine Beine benutzt hatte, aber er war zuversichtlich, dass seine Muskeln nicht zu verkümmert waren, um zu tun, wofür er sie brauchte.

Er stand vorsichtig auf, leise – und seine Knie knickten ein. Er griff zur Unterstützung nach der Bettkante und warf einen Blick zur Tür hinüber. Niemand kam; die Unterhaltungen wurden fortgesetzt. Die beiden Männer hatten nichts gehört.

Rais stand außer Atem und zitternd da und machte ein paar leise Schritte. Seine Beine waren schwach, aber er war immer stark gewesen, wenn es nötig war und jetzt gerade musste er stark sein. Sein Krankenhausgewand mit offenem Rücken wehte um ihn herum. Das obszöne Outfit würde ihn nur behindern, also zog er es aus und stand nun splitternackt im Krankenhauszimmer.

Mit der Stiftspitze in seiner Faust stellte er sich hinter die geöffnete Tür und stieß ein leises Pfeifen aus.

Beide Männer hatten es offensichtlich gehört, da man das Quietschen ihrer Plastikstuhlbeine auf dem Fußboden hören konnte, als sie von ihren Stühlen aufstanden. Lucas Körper füllte den Türrahmen, als er in den dunklen Raum hineinschaute.

„Mein Gott“, flüsterte er, als er eilig ins Zimmer trat und das leere Bett bemerkte.

Francis kam ihm mit seiner Hand am Holster seiner Pistole hinterher.

Sobald der ältere Wächter über die Türschwelle getreten war, sprang Rais nach vorn. Er rammte die Spitze des Stiftes in Lucas Hals und drehte sie, wobei er einen Teil seiner Halsschlagader aufschlitzte. Reichlich Blut spritze aus der offenen Wunde, es traf sogar die Wand auf der gegenüberliegenden Seite.

Er ließ den Stift los und stürzte sich auf Francis, der Schwierigkeiten hatte, seine Waffe aus der Halterung zu befreien. Öffnen, aus der Halterung ziehen, entsichern, zielen – die Reaktion des älteren Mannes war langsam und es kostete ihn kostbare Sekunden, die er nicht hatte.

Rais verpasste ihm zwei Schläge, den Ersten direkt unter den Bauchnabel nach oben, unmittelbar gefolgt von einem Schlag auf den Solarplexus. Der eine drückte Luft in die Lunge, während der andere die Luft hinausdrückte und der plötzliche Effekt dessen auf den verwirrten Körper, war verschwommene Sicht und manchmal Bewusstlosigkeit.

Francis taumelte, er konnte nicht atmen und sank auf seine Knie. Rais wirbelte hinter ihm herum und brach dem Wächter mit einer sauberen Bewegung den Hals.

Luca hielt sich mit beiden Händen den Hals, während er verblutete; ein Gurgeln und leichtes Keuchen stiegen in seiner Kehle auf. Rais sah zu und zählte die elf Sekunden, bevor der Mann das Bewusstsein verlor. Wenn der Blutfluss nicht gestoppt würde, dann wäre er in weniger als einer Minute tot.

Er entledigte beide Wachen schnell ihrer Waffen und legte sie auf das Bett. Die nächste Phase seines Plans würde nicht leicht werden; er musste sich unbemerkt zur Abstellkammer den Gang hinunterschleichen, in dem es frische Kittel gab. Er konnte das Krankenhaus schlecht in Francis’ erkennbarer oder in Lucas nun blutgetränkter Uniform verlassen.

Er hörte eine männliche Stimme den Flur entlangkommen und erstarrte.

Es war der andere Wächter, Elias. So schnell? Angst breitete sich in Rais’ Brust aus. Dann hörte er eine zweite Stimme – die von Nachtschwester Elena. Anscheinend hatte Elias seine Zigarettenpause ausfallen lassen, um mit der hübschen jungen Krankenschwester zu plaudern, und nun kamen sie beide den Flur entlang in die Richtung seines Zimmers gelaufen. Sie würden das Zimmer in wenigen Augenblicken erreichen. Er hätte es vorgezogen, Elena nicht zu töten. Aber wenn er die Wahl zwischen ihm oder ihr hatte, dann würde sie sterben müssen.

Rais nahm eine der Waffen vom Bett. Es war eine Sig P220, ganz in schwarz, .45 Kaliber. Er nahm sie in seine linke Hand. Ihr Gewicht fühlte sich willkommen und vertraut an, so wie eine ehemalige Geliebte. Mit seiner Rechten griff er nach der offenen Seite der Handschellen. Und dann wartete er.

Die Stimmen im Flur verstummten.

„Luca?“, rief Elias. „Francis?“ Der junge Polizist löste den Verschluss seines Holsters und positionierte seine Hand über der Pistole, als er den dunklen Raum betrat. Elena schlich hinter ihm hinein. Elias’ Augen weiteten sich entsetzt beim Anblick der beiden toten Männer.

Rais schlug den Haken der geöffneten Handschellen in die Seite des Halses des jungen Mannes und riss dann seinen Arm nach hinten. Das Metallstück bohrte sich in sein Handgelenk und die Wunde an seinem Rücken brannte, aber er ignorierte den Schmerz, als er die Kehle des jungen Mannes von seinem Hals riss. Eine beträchtliche Menge Blut spritze auf den Arm des Killers.

Mit seiner linken Hand drückte er die Sig gegen Elenas Stirn.

„Schrei nicht“, sagte er schnell und leise. „Rufe niemanden. Bleib still und du wirst leben. Mache auch nur ein einziges Geräusch und du wirst sterben. Verstanden?“

Ein leises Quieken entwich Elenas Lippen, als sie das Schluchzen unterdrückte, das in ihr aufstieg. Sie nickte, als Tränen in ihre Augen stiegen. Sie nickte noch immer, als Elias mit seinem Gesicht flach auf den gefliesten Boden fiel.

Er sah sie von oben bis unten an. Sie war zierlich, aber ihre Kleidung war etwas ausgeleiert und der Bund war elastisch. „Zieh dich aus“, sagte er zu ihr.

Elenas Mund fiel vor Entsetzen auf.

Rais lächelte. Er konnte die Verwirrung jedoch verstehen; er war schließlich immer noch nackt. „Ich bin keins dieser Monster“, versicherte er ihr. „Ich brauche Kleidung. Ich werde nicht noch einmal fragen.“

Die junge Frau zitterte, zog ihr Oberteil und dann ihre Hose über ihre weißen Schuhe aus, während sie neben Elias’ Blutlache stand. Rais nahm die Kleidungsstücke entgegen und zog sie etwas unbeholfen einhändig an, während er die Sig auf das Mädchen gerichtet hielt. Die Kleidung war eng, die Hose etwas zu kurz, aber es würde reichen. Er steckte die Pistole in den hinteren Hosenbund und nahm die andere Waffe vom Bett.

Elena stand in ihrer Unterwäsche da und umklammerte ihre Körpermitte. Rais bemerkte es; er hob sein Patientengewand auf und reichte es ihr. „Bedecke dich. Dann lege dich ins Bett.“ Als sie tat, wie er ihr befohlen hatte, fand er einen Schlüsselbund an Lucas Gürtel und öffnete seine andere Handschelle. Dann schlang er die Kette um das Stahlgeländer des Bettes und fesselte Elenas Hände damit.

Er legte die Schlüssel auf die äußerste Kante des Nachttisches, außerhalb ihrer Reichweite. „Jemand wird kommen und dich befreien, nachdem ich gegangen bin“, sagte er zu ihr. „Aber zunächst habe ich ein paar Fragen. Du musst ehrlich zu mir sein, denn wenn du es nicht bist, dann komme ich zurück und bringe dich um. Verstehst du?“

Sie nickte verzweifelt und Tränen rollten über ihre Wangen.

„Wie viele andere Krankenschwestern sind heute Nacht auf dieser Station?“

„B-bitte verletzen Sie sie nicht“, stammelte sie.

„Elena. Wie viele Krankenschwestern sind heute Nacht auf dieser Station?“, wiederholte er.

„Z-zwei …“, schniefte sie. „Thomas und Mia. Aber Tom macht gerade Pause. Er wird vermutlich unten sein.“

„Okay.“ Das Namensschild, welches an seiner Brust befestigt war, hatte die ungefähre Größe einer Kreditkarte. Es hatte ein kleines Foto von Elena und einen schwarzen Magnetstreifen, der über die Länge der Rückseite verlief. „Ist dies nachts eine abgeschlossene Station? Und deine Karte, ist sie der Schlüssel?“

Sie nickte und schniefte wieder.

„Gut.“ Er steckte die zweite Pistole in seinen Hosenbund und kniete sich neben Elias Leiche. Dann zog er ihm beide Schuhe aus und rutschte mit seinen Füßen hinein. Sie waren etwas eng, aber gut genug, um zu fliehen. „Eine letzte Frage. Weißt du, was Francis fährt? Der Nachtwächter?“ Er deutete auf den toten Mann in weißer Uniform.

„I-ich bin mir nicht sicher. Einen … einen Geländewagen, glaube ich.“

Rais griff in Francis’ Taschen und zog einen Schlüsselbund hervor. Daran war ein elektronischer Anhänger; das würde helfen, das Fahrzeug zu finden. „Danke für deine Ehrlichkeit“, sagte er zu ihr. Dann riss er einen Streifen von der Ecke des Bettlakens ab und stopfte ihn in ihren Mund.

Der Flur war leer und hell beleuchtet. Rais hielt die Sig hinter seinem Rücken versteckt in der Hand, als er den Gang entlangschlich. Er führte zu einem breiteren Bereich mit einer u-förmigen Krankenschwesternkabine und dahinter zum Ausgang der Station. Eine Frau mit runden Brillengläsern und einem braunen Bobschnitt saß mit dem Rücken zu ihm am Computer.

„Drehen Sie sich bitte um“, sagte er zu ihr.

Die erschrockene Frau wirbelte herum und sah ihren Patienten/Gefangenen in einem Krankenhauskittel, mit einem blutbeschmierten Arm und einer Waffe, die auf sie gerichtet war. Sie bekam keine Luft und ihre Augen weiteten sich.

„Sie müssen Mia sein“, sagte Rais. Die Frau war wahrscheinlich um die vierzig, korpulent und hatte dunkle Ringe unter ihren großen Augen. „Hände hoch.“

Sie hob die Hände.

„Was ist mit Francis passiert?“, fragte sie leise.

„Francis ist tot“, antwortete Rais leidenschaftslos. „Wenn Sie ihm folgen wollen, tun Sie ruhig etwas Unüberlegtes. Wenn Sie leben wollen, hören Sie aufmerksam zu. Ich werde durch diese Tür gehen. Sobald sie sich hinter mir schließt, werden Sie langsam bis dreißig zählen. Dann gehen Sie in mein Zimmer. Elena lebt, aber sie braucht Ihre Hilfe. Danach können Sie das tun, wozu Sie in einer solchen Situation ausgebildet wurden. Verstehen Sie?“

Die Krankenschwester nickte einmal kräftig.

„Habe ich Ihr Wort dafür, dass Sie diese Anweisungen befolgen werden? Ich bevorzuge es, Frauen nicht zu töten, wenn ich es vermeiden kann.“

Sie nickte wieder, diesmal langsamer.

„Gut.“ Er ging um die Schwesternkabine herum, zog die Karte von seinem Kittel und schob sie durch den Kartenschlitz an der rechten Seite der Tür. Ein kleines Licht wechselte von rot auf grün und das Schloss klickte. Rais drückte die Tür auf, warf Mia, die sich nicht bewegt hatte, einen weiteren Blick zu und sah dann zu, wie sich die Tür hinter ihm schloss.

Und dann rannte er los.

Er eilte den Flur entlang und steckte dabei die Sig zurück in seine Hose. Er rannte die Treppe hinunter in den ersten Stock, nahm zwei Stufen auf einmal, und stürmte dann aus einer Seitentür in die Schweizer Nacht hinaus. Kühle Luft wusch wie eine reinigende Dusche über ihn und er nahm sich einen Augenblick Zeit, um frei zu atmen. Seine Beine schwankten und drohten, nachzugeben. Das Adrenalin seiner Flucht ließ rasch nach und seine Muskeln waren immer noch ziemlich schwach. Er zog Francis’ Schlüsselanhänger aus der Kitteltasche und drückte den roten Alarmknopf. Der Alarm eines SUVs ertönte und die Scheinwerfer blinkten. Er stellte ihn schnell ab und rannte hinüber. Sie würden nach diesem Auto suchen, das wusste er, aber er würde sich nicht für sehr lange darin aufhalten. Er würde es bald loswerden müssen, neue Kleidung finden und am Morgen zur Hauptpostfiliale gehen, wo er alles hatte, was er brauchte, um unter einer falschen Identität aus der Schweiz zu fliehen. Und sobald er konnte, würde er Kent Steele finden und töten.




KAPITEL VIER


Reid hatte gerade die Einfahrt verlassen, um sich mit Maria zu treffen, als er auch schon Thompson anrief, um ihn zu bitten, das Haus der Lawsons zu überwachen. „Ich habe entschieden, den Mädchen heute Abend ein wenig Unabhängigkeit zu geben“, erklärte er. „Ich werde nicht allzu lange weg sein. Aber trotzdem, halten Sie bitte Ihre Augen und Ohren offen.“

„Selbstverständlich“, stimmte der alte Mann zu.

„Und, ähm, wenn es irgendeinen Grund zur Beunruhigung gibt, gehen Sie bitte sofort zu ihnen hinüber.“

„Das werde ich, Reid.“

„Sie wissen schon, wenn Sie sie nicht sehen können oder so, können Sie an die Tür klopfen oder das Festnetztelefon anrufen …“

Thompson kicherte. „Keine Sorge, ich habe alles unter Kontrolle. Und sie auch. Sie sind Teenager. Sie brauchen ab und zu etwas Freiheit. Genießen Sie Ihr Date.“

Mit Thompsons wachsamem Auge und Mayas Entschlossenheit, sich selbst als verantwortungsbewusst zu beweisen, dachte Reid, dass er beruhigt sein und wissen konnte, dass die Mädchen in Sicherheit waren. Natürlich wusste er, dass dies nur ein weiterer seiner mentalen Ausflüge war. Er würde den gesamten Abend daran denken müssen.

Er musste die GPS-Karte auf seinem Handy aufrufen, um den Ort zu finden. Er kannte sich in Alexandria und der Umgebung noch nicht aus, nicht so gut wie Maria, mit der Nähe zu Langley und dem CIA-Hauptquartier. Und trotzdem hatte sie einen Ort ausgewählt, an dem sie noch nie zuvor gewesen war, wahrscheinlich, um sozusagen Ausgleich zu schaffen.

Auf der Fahrt dorthin verpasste er zwei Ausfahrten, obwohl die GPS-Stimme ihm mitteilte, welche Strecke er wann nehmen musste. Er dachte an die merkwürdigen Erinnerungen, die er nun zwei Mal gehabt hatte – zum ersten Mal, als Maya ihn fragte, ob Kate über ihn Bescheid wusste, und dann noch einmal, als er das Parfum roch, welches seine verstorbene Frau geliebt hatte. Es nagte an ihm und lenkte ihn so sehr ab, dass er, selbst als er versuchte, auf die Anweisungen zu hören, schnell wieder abgelenkt wurde.

Der Grund dafür, dass es ihm so seltsam vorkam, war, dass jede andere Erinnerung an Kate so lebhaft in seinem Kopf war. Im Gegensatz zu Kent Steele hatte sie ihn nie verlassen; er erinnerte sich daran, als er sie traf. Er erinnerte sich daran, als er mit ihr ausging. Er erinnerte sich an Ferien und den Kauf ihres ersten Hauses. Er erinnerte sich an ihre Hochzeit und die Geburten seiner Kinder. Er erinnerte sich sogar an ihre Streitereien – zumindest dachte er, dass er das tat.

Die reine Vorstellung, irgendeinen Teil von Kate zu verlieren, erschütterte ihn. Der Gedächtnisunterdrücker hatte bereits einige Nebenwirkungen gezeigt, wie beispielsweise die gelegentlichen Kopfschmerzen, die durch eine hartnäckige Erinnerung ausgelöst wurden – es war ein experimentelles Verfahren und die Methode der Entfernung war alles andere als operativ verlaufen.

Was, wenn mehr als nur meine Vergangenheit als Agent Null von mir genommen wurde? Der Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht. Es war ein beunruhigender Gedanke; es dauerte nicht lange, bis er überlegte, ob er möglicherweise auch Erinnerungen an die Zeit mit seinen Mädchen vergessen haben könnte. Und noch schlimmer war es, dass es keinen Weg für ihn gab, die Antwort darauf zu finden, ohne sein volles Gedächtnis wiederherstellen zu können.

Es war alles zu viel und er spürte, wie sich erneut Kopfschmerzen bemerkbar machten. Er schaltete das Radio ein und drehte es laut auf, um sich abzulenken.

Die Sonne ging unter, als er auf den Parkplatz des Restaurants fuhr – ein „Gastropub“ mit dem Namen „Der Weinkeller“. Er war ein paar Minuten zu spät dran. Er stieg schnell aus dem Auto und ging zur Vorderseite des Gebäudes.

Dann blieb er stehen.

Maria Johansson stammte aus der dritten Generation schwedisch-amerikanischer Einwanderer und ihre CIA-Tarnung war, dass sie eine zertifizierte Wirtschaftsprüferin aus Baltimore war – obwohl Reid der Meinung war, dass sie ein Model für Titelblätter oder Poster hätte sein sollen. Sie war nur wenige Zentimeter kleiner als er. Ein Meter achtzig, lange, glatte, blonde Haare, die schwerelos auf ihre Schultern fielen. Ihre Augen waren schiefergrau und ihr Blick irgendwie intensiv. Sie stand bei etwa zwölf Grad Celsius vor der Tür. Sie trug ein einfaches, dunkelblaues Kleid mit tiefem V-Ausschnitt und ein weißes Tuch über den Schultern.

Sie entdeckte ihn, als er sich näherte, und ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Hallo. Lange nicht gesehen.“

„Ich … wow“, platzte es aus ihm heraus. „Ich meine, ähm … du siehst toll aus.“ Es kam ihm in den Sinn, dass er Maria noch nie zuvor geschminkt gesehen hatte. Der blaue Lidschatten passte zu ihrem Kleid und ließ ihre Augen fast leuchtend erscheinen.

„Du siehst auch nicht schlecht aus.“ Sie nickte zustimmend über seine Kleiderwahl. „Sollen wir reingehen?“

Danke Maya, dachte er. „Ja. Natürlich.“ Er griff nach der Tür und öffnete sie. „Aber bevor wir das tun, habe ich eine Frage. Was zur Hölle ist ein „Gastropub“?“

Maria lachte. „Ich glaube, es ist, was wir früher eine Kneipe genannt haben, nur mit vornehmerem Essen.“

„Verstehe.“

Das Restaurant war gemütlich, wenn auch ein wenig klein, mit gemauerten Innenwänden und freiliegenden Holzbalken an der Decke. Die Beleuchtung bestand aus hängenden Edison-Glühbirnen, die für ein warmes und gedämpftes Ambiente sorgten.

Wieso bin ich nervös?, dachte er, als sie sich setzten. Er kannte diese Frau. Sie hatten zusammen eine internationale Terrororganisation davon abgehalten, Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Menschen zu ermorden. Aber das hier war anders; es war kein Auftrag oder Diensteinsatz. Das hier war zum Vergnügen und irgendwie machte das einen Unterschied.

Lerne sie kennen, hatte Maya zu ihm gesagt. Sei interessant.

„Also, wie läuft es auf der Arbeit?“, fragte er schließlich. Er stöhnte innerlich über seinen halbherzigen Versuch.

Maria lächelte. „Du solltest wissen, dass ich darüber nicht wirklich reden kann.“

„Stimmt“, sagte er. „Natürlich.“ Maria war eine aktive CIA-Feldagentin. Selbst wenn er selber auch aktiv wäre, wäre sie nicht in der Lage, Details eines Einsatzes mit ihm zu besprechen, an dem er nicht ebenfalls beteiligt war.

„Und bei dir?“, fragte sie. „Wie ist der neue Job?“

„Nicht schlecht“, gab er zu. „Ich bin in einer Nebenstelle, es ist also vorläufig nur Teilzeit, ein paar Vorlesungen die Woche. Ein paar Benotungen und so weiter. Aber nichts besonders Spannendes.“

„Und die Mädchen? Wie geht es ihnen?“

„Ähm … sie kommen zurecht“, sagte Reid. „Sara redet nicht darüber, was passiert ist. Und Maya hat eigentlich gerade …“ Er stoppte sich selbst, bevor er zu viel sagte. Er vertraute Maria, aber gleichzeitig wollte er nicht zugeben, dass Maya sehr genau erraten hatte, was es war, worin Reid involviert war. Seine Wangen wurden rosig, als er sagte: „Sie neckt mich. Darüber, dass dies hier ein Date ist.“

„Ist es das nicht?“, fragte Maria ausdruckslos.

Reid spürte, wie sein Gesicht wieder rot wurde. „Ja, ich denke, das ist es.“

Sie lächelte wieder. Es schien so, als würde sie seine Unbeholfenheit genießen. Bei der Arbeit, als Kent Steele, hatte er bewiesen, dass er selbstbewusst, fähig und gesammelt sein konnte. Aber hier, in der realen Welt, war er nach zwei Jahren Enthaltsamkeit genauso unbeholfen, wie jeder andere.

„Und wie geht es dir?“, fragte sie. „Wie schlägst du dich?“

„Mir geht es gut“, sagte er. „Prima.“ Sobald er es gesagt hatte, bereute er es. Hatte er nicht gerade von seiner Tochter gelernt, dass Ehrlichkeit die beste Strategie war? „Das ist eine Lüge“, fügte er sofort hinzu. „Ich schätze, es läuft nicht so gut. Ich beschäftige mich selbst mit allen möglichen unnützen Aufgaben und erfinde Entschuldigungen, denn, wenn ich lange genug aufhöre, um mit meinen Gedanken alleine zu sein, erinnere ich mich an ihre Namen. Ich sehe ihre Gesichter, Maria. Und ich kann nicht anders, als zu denken, dass ich nicht genug getan habe, um es zu verhindern.“

Sie wusste genau, wovon er sprach – von den neun Personen, die in der einen erfolgreichen Explosion, welche Amun in Davos auslösen konnte, ums Leben gekommen waren. Maria griff über den Tisch und nahm seine Hand. Ihre Berührung schickte ein elektrisches Kribbeln seinen Arm hinauf und schien seine Nerven etwas zu beruhigen. Ihre Finger waren warm und weich in seiner Hand.

„Das ist die Realität, der wir ausgesetzt sind“, sagte sie. „Wir können nicht jeden retten. Ich weiß, dass du nicht all deine Erinnerungen als Null zurückhast, sonst wüsstest du das.“

„Vielleicht will ich es gar nicht wissen“, sagte er leise.

„Ich verstehe dich. Wir versuchen es trotzdem. Aber zu denken, dass du die Welt vor jedem Unheil bewahren könntest, wird dich verrückt machen. Neun Leben wurden genommen, Kent. Es ist passiert und es gibt keinen Weg zurück. Aber es hätten Hunderte sein können. Es hätten Tausende sein können. So musst du das sehen.“

„Was ist, wenn ich das nicht kann?“

„Dann … suche dir vielleicht ein gutes Hobby? Ich stricke.“

Er konnte nicht anders, als zu lachen. „Du strickst?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Maria strickte. Dass sie Stricknadeln als Waffe nutzte, um einen Feind lahmzulegen? Mit Sicherheit. Aber tatsächliches Stricken?

Sie hielt ihr Kinn hoch. „Ja, ich stricke. Lach nicht. Ich habe gerade eine Decke fertiggestrickt, die weicher ist, als alles, was du je in deinem Leben gefühlt hast. Mein Punkt ist: suche dir ein Hobby. Du brauchst etwas, um deine Hände und deinen Geist zu beschäftigen. Wie steht es um dein Gedächtnis? Gibt es da irgendwelche Verbesserungen?“

Er seufzte. „Nicht wirklich. Ich schätze, es gab nicht viel, womit ich es hätte auffrischen können. Es ist immer noch irgendwie durcheinander.“ Er legte die Speisekarte zur Seite und legte seine Hände auf den Tisch. „Aber wenn du es gerade erwähnst … mir ist heute etwas Merkwürdiges passiert. Ein Bruchstück von etwas kam zu mir zurück. Es ging um Kate.“

„Oh?“ Maria biss auf ihre Unterlippe.

„Ja.“ Er war für einen langen Moment still. „Die Dinge zwischen mir und Kate …  bevor sie starb. Wir waren okay, oder nicht?“

Maria starrte ihn direkt an, ihre schiefergrauen Augen bohrten sich in seine. „Ja. Soweit ich weiß, war zwischen euch immer alles gut. Sie hat dich wirklich geliebt und du sie auch.“

Es fiel ihm schwer, ihrem Blick standzuhalten. „Ja. Natürlich.“ Er verspottete sich selbst. „Gott, hör mir nur zu. Ich rede tatsächlich bei einem Date über meine verstorbene Frau. Bitte erzähl meiner Tochter nichts davon.“

„Hey.“ Ihre Finger fanden wieder seine. „Es ist schon in Ordnung, Kent. Ich verstehe es. Das hier ist neu für dich und es fühlt sich komisch an. Ich bin hier auch keine Expertin …  wir werden es gemeinsam erkunden.“

Ihre Finger ruhten auf seinen. Es fühlte sich gut an. Nein, es war mehr als das – es fühlte sich richtig an. Er kicherte nervös, aber sein Grinsen verschwand und wurde zu einem verwirrten Stirnrunzeln, als ihm ein bizarrer Gedanke aufkam; Maria nannte ihn immer noch Kent.

„Was ist los?“, fragte sie.

„Nichts. Ich dachte nur gerade … Ich weiß nicht einmal, ob Maria Johansson dein richtiger Name ist.“

Maria zuckte schüchtern mit den Schultern. „Vielleicht ist er das.“

„Das ist nicht fair“, protestierte er. „Du kennst meinen.“

„Ich sage nicht, dass es nicht mein richtiger Name ist.“ Sie genoss es, mit ihm zu spielen. „Du kannst mich immer Agentin Ringelblume nennen, wenn dir das lieber ist.“

Er lachte. Ringelblume war ihr Codename, so wie seiner Null war. Es erschien ihm fast lächerlich, sich bei ihren Codenamen zu nennen, wo sie sich doch persönlich kannten – aber andererseits schien der Name Null bei vielen, die er getroffen hatte, Angst auszulösen.

„Was war Reidiggers Codename?“, fragte Reid leise. Es tat ihm fast weh, zu fragen. Alan Reidigger war Kent Steeles bester Freund gewesen – nein, dachte Reid, er war mein bester Freund – ein Mann mit scheinbar unnachgiebiger Loyalität. Das einzige Problem war, dass Reid sich kaum an ihn erinnerte. Alle Erinnerungen an Reidigger waren mit dem Erinnerungsimplantat verschwunden, welches Alan ihm zu organisieren geholfen hatte.

„Du erinnerst dich nicht?“ Maria lächelte freundlich bei dem Gedanken. „Alan gab dir den Namen Null, wusstest du das? Und du gabst ihm seinen. Gott, ich habe schon seit Jahren nicht an diese Nacht gedacht. Wir waren in Abu Dhabi, glaube ich. Wir kamen gerade von einem Auftrag zurück und tranken in einer versnobten Hotelbar einen Absacker. Er nannte dich Null, wie „Ground Zero“ – so wie das Explosionszentrum, weil du dazu neigst, ein Chaos zu hinterlassen. Das wurde dann zu Null und es blieb hängen. Und du nanntest ihn –“

Ein Telefon klingelte und unterbrach ihre Geschichte. Instinktiv schaute Reid auf sein eigenes Handy, welches auf dem Tisch lag, und erwartete, Mayas Nummer auf dem Bildschirm zu sehen.

„Entspann dich“, sagte sie. „Es ist meins. Ich werde es einfach ignorieren …“ Sie blickte auf ihr Handy und runzelte verblüfft ihre Stirn. „Es ist Arbeit. Eine Sekunde.“ Sie ging ran. „Ja? Mm-mmmh.“ Ihr düsterer Blick hob sich und landete auf Reid. Ihr Blick blieb dort, während sich besorgte Falten auf ihrer Stirn formten. Was auch immer an der anderen Seite gesagt wurde, es waren keine guten Neuigkeiten. „Ich verstehe. In Ordnung. Vielen Dank.“ Sie legte auf.

„Du siehst besorgt aus“, merkte er an. „Ich weiß, ich weiß, du kannst nicht über berufliche Dinge sprechen –“

„Er ist geflohen“, murmelte sie. „Der Attentäter aus Sion, der im Krankenhaus? Kent, er ist vor weniger als einer Stunde abgehauen.“

„Rais?“, sagte Reid erstaunt. Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus. „Wie?“

„Ich habe keine Details“, sagte sie hastig, als sie ihr Handy zurück in ihre Handtasche steckte. „Es tut mir leid Kent, aber ich muss gehen.“

„Ja“, flüsterte er. „Ich verstehe.“

Um ehrlich zu sein, fühlte er sich meilenweit von ihrem gemütlichen Tisch in diesem kleinen Restaurant entfernt. Der Attentäter, den Reid zum Sterben zurückgelassen hatte – nicht nur einmal, sondern zweimal – war immer noch am Leben und jetzt auf freiem Fuß. Maria stand auf, lehnte sich zu ihm hinunter und drückte ihre Lippen auf seine, bevor sie ging. „Wir wiederholen das hier bald wieder, versprochen. Aber jetzt ruft die Pflicht.“

„Natürlich“, sagte er. „Geh und finde ihn. Und Maria? Sei vorsichtig. Er ist gefährlich.“

„Das bin ich auch.“ Sie zwinkerte ihm zu und eilte aus dem Restaurant.

Reid saß für einen langen Moment alleine dort. Als die Kellnerin vorbeikam, konnte er noch nicht einmal ihre Worte hören; er winkte nur unbestimmt seine Hand, um ihr anzuzeigen, dass er in Ordnung war. Aber er war weit davon entfernt, in Ordnung zu sein. Er hatte noch nicht einmal das nostalgische, elektrische Prickeln gespürt, als Maria ihn küsste. Alles was er spürte, war ein Knoten der Angst, der sich in seiner Magengegend formte.

Der Mann, der glaubte, dass es sein Schicksal war, Kent Steele zu töten, war entkommen.




KAPITEL FÜNF


Adrian Cheval war trotz der späten Stunde immer noch wach. Er saß auf einem Hocker in der Küche, starrte mit verschwommenen und blinzelnden Augen auf den Computerbildschirm vor sich und seine Finger tippten in rasender Geschwindigkeit.

Er hielt lang genug an, um Claudette sanft barfuß die teppichbedeckten Treppenstufen aus dem Obergeschoss hinunterschleichen zu hören. Ihre Wohnung in Marseille war klein, aber gemütlich. Die hinterste Wohnung in einer ruhigen Straße, nur fünf Minuten zu Fuß vom Meer entfernt.

Einen Augenblick später erschien ihr schmaler Körper und ihr feuriges Haar in seinem Blickwinkel. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern, ließ sie seine Brust hinauf und hinuntergleiten und lehnte dann ihren Kopf gegen seine Schulter. „Mon Chéri“, säuselte sie. „Mein Schatz. Ich kann nicht schlafen.“

„Ich auch nicht“, antwortete er sanft auf Französisch. „Es gibt einfach zu viel zu tun.“

Sie biss ihn sanft in sein Ohrläppchen. „Erzähl mir mehr.“

Adrian zeigte auf seinen Bildschirm, auf dem sich die zyklische doppelsträngige RNA-Struktur des Variola Major befand – dem Virus, der den meisten Menschen als die Pocken bekannt ist. „Dieser Bakterienstamm aus Sibirien ist … er ist unglaublich. Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen. Meinen Berechnungen zufolge wäre die Virulenz dessen beeindruckend. Ich bin überzeugt, dass das Einzige, was ihn vor Tausenden von Jahren daran hindern konnte, die Menschheit auszurotten, die Eiszeit war.“

„Eine neue Sintflut“, stöhnte Claudette leise in sein Ohr. „Wie lange brauchst du noch, bis du so weit bist?“

„Ich muss den Bakterienstamm und gleichzeitig die Stabilität und Potenz beibehalten“, erklärte er. „Keine leichte Aufgabe, aber eine Notwendigkeit. Die WHO hat vor fünf Monaten Proben dieses Virus’ erhalten; es besteht kein Zweifel daran, dass gerade ein Impfstoff entwickelt wird, wenn es nicht sogar schon einen gibt. Unser Erreger muss so einzigartig werden, dass ihre Impfstoffe unwirksam sind.“ Der Vorgang wurde als letale Mutagenese bezeichnet, wobei die RNA der Proben, die er aus Sibirien erhalten hatte, manipuliert wurden, um die Infektionsstärke zu erhöhen und die Inkubationszeit zu verringern. Wie aus seinen Berechnungen folgte, vermutete Adrian eine Sterblichkeitsrate durch den mutierten Variola Major Virus, die bei hohen achtundsiebzig Prozent lag – fast dreimal so hoch wie die der letzten gewöhnlichen Pockeninfektion, die 1980 von der Weltgesundheitsorganisation ausgerottet worden war.

Nach seiner Rückkehr aus Sibirien hatte Adrian zunächst den Ausweis des verstorbenen Renaults genutzt, um Zugang zu den Einrichtungen in Stockholm zu erlangen, wo er sicherstellte, dass die Proben inaktiv waren, während er seiner Arbeit nachging. Aber er konnte nicht lange unter der Identität eines anderen dort verweilen, deshalb stahl er die notwendige Ausrüstung und kehrte nach Marseille zurück. Er richtete sein Labor im ungenutzten Keller eines Schneidereigeschäfts, drei Blocks von ihrer Wohnung entfernt, ein. Der freundliche alte Schneider glaubte, dass Adrian nichts weiter als ein Genetiker war, der die menschliche DNA erforschte, und Adrian stellte sicher, dass die Tür mit einem Vorhängeschloss verriegelt war, wenn er sich nicht dort aufhielt.

„Imam Khalil wird erfreut sein“, hauchte Claudette in sein Ohr.

„Ja“, stimmte Adrian leise zu. „Er wird erfreut sein.“

Die meisten Frauen wären vermutlich nicht sonderlich glücklich darüber, ihren Partner mit einem so potenten Erregerstamm der Pocken beschäftigt zu sehen – aber Claudette war nicht wie die meisten Frauen. Sie war zierlich, nur ein Meter sechzig neben Adrians ein Meter achtzig. Ihr Haar war feurig rot und ihre Augen so dunkelgrün wie der dichteste Dschungel, was auf einen gewissen Jähzorn deutete. Sie hatten sich erst im Jahr zuvor kennengelernt, während Adrian sich an seinem Tiefpunkt befand. Er war gerade von der Universität in Stockholm exmatrikuliert worden, weil er versucht hatte, Proben eines seltenen Enterovirus zu beschaffen, demselben Virus, der seine Mutter nur ein paar Wochen zuvor das Leben gekostet hatte. Zu diesem Zeitpunkt war Adrian entschlossen – fast schon besessen davon gewesen – ein Gegenmittel zu finden, damit niemand anderes so leiden musste wie sie. Er war allerdings vom Lehrkörper der Universität entdeckt und fristlos entlassen worden.

Claudette fand ihn in einer Seitenstraße, wo er halb bewusstlos und betrunken in einer Pfütze seiner eigenen Trostlosigkeit und seines Erbrochenen lag. Sie nahm ihn mit nach Hause, wusch ihn und gab ihm Wasser zu trinken. Am nächsten Morgen war Adrian zum Anblick einer schönen Frau aufgewacht, die an seinem Bett saß und ihn anlächelte, als sie sagte: „Ich weiß genau, was du brauchst.“

Er drehte sich in seinem Küchenhocker herum und strich mit beiden Händen ihren Rücken hoch und runter. Selbst wenn er saß, war er fast so groß wie sie. „Es ist interessant, dass du die Sintflut erwähnst“, stellte er fest.

„Weißt du, es gibt Gelehrte, die sagen, dass, wenn die große Flut wirklich stattgefunden hat, dies ungefähr vor sieben bis achttausend Jahren passiert sein musste … fast zur gleichen Zeit wie dieser Bakterienstamm. Vielleicht war die Flut eine Metapher und es war genau dieser Virus, der die Erde von allem Bösen gereinigt hat.“

Claudette lachte ihn an. „Deine ständigen Bemühungen, Wissenschaft mit Spiritualität zu verbinden, entgehen mir nicht.“ Sie nahm sein Gesicht sanft zwischen ihre Hände und küsste seine Stirn. „Aber manchmal verstehst du einfach noch nicht, dass der Glaube das Einzige ist, was du brauchst.“

Glaube ist alles, was du brauchst. Das war es, was sie ihm im Jahr zuvor erklärt hatte, als er von seiner betrunkenen Benommenheit aufgewacht war. Sie hatte ihn aufgenommen und ihm erlaubt, in ihrer Wohnung zu bleiben, die gleiche Wohnung, in der sie noch immer lebten. Adrian hatte vor Claudette nicht an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, aber sie hatte generell viel Einfluss auf seine Denkweise. Über ein paar Monate hinweg hatte sie ihn mit den Lehren von Imam Khalil bekanntgemacht, einem islamischen Heiligen aus Syrien. Khalil betrachtete sich weder als sunnitisch noch als schiitisch, sondern lediglich als Anhänger Gottes – sogar soweit, dass er den Anhängern seiner relativ kleinen Sekte erlaubte, Gott so zu nennen, wie sie es wählten, da Khalil glaubte, dass die Beziehung jedes Einzelnen mit seinem Schöpfer streng persönlich sei. Für Khalil war der Name dieses Gottes Allah.

„Ich möchte, dass du ins Bett kommst“, sagte Claudette zu ihm und streichelte seine Wange mit ihrem Handrücken. „Du brauchst Ruhe. Aber zunächst … hast du die Probe vorbereitet?“

„Die Probe.“ Adrian nickte. „Ja. Das habe ich.“

Zwischen zwei Schaumwürfeln eines biologischen Gefahrenbehälters aus Edelstahl eingebettet lag ein einziges, winziges, luftdicht verschlossenes Glasröhrchen, kaum größer als der Nagel eines Daumens, das den aktiven Virus enthielt. Die Box selbst stand ziemlich auffällig auf der Arbeitsplatte ihrer Küche.

„Gut“, säuselte Claudette. „Denn wir erwarten Besuch.“

„Heute Abend?“ Adrians Hände glitten von ihrem Rücken. Er hatte nicht erwartet, dass es so bald passieren würde. „Um diese Uhrzeit?“ Es war fast zwei Uhr morgens.

„Jeden Moment“, sagte sie. „Wir haben ein Versprechen gegeben, Schatz, und wir müssen es halten.“

„Ja“, murmelte Adrian. Sie hatte recht, wie immer. Versprechen dürfen nicht gebrochen werden. „Selbstverständlich.“

Ein schroffes, hartes Klopfen an der Tür ihrer Wohnung erschreckte sie beide. Claudette ging schnell zur Tür, ließ das Kettenschloss verriegelt und öffnete die Tür nur einen Spalt. Adrian folgte ihr und spähte über ihre Schulter, um die beiden Männer auf der anderen Seite zu sehen. Keiner der beiden sah freundlich aus. Er kannte ihre Namen nicht und hatte an sie nur als „die Araber“ gedacht – obwohl sie, soweit er wusste, auch Kurden oder Türken sein könnten. Einer sprach schnell mit Claudette auf Arabisch. Adrian verstand es nicht; sein Arabisch war bestenfalls auf Anfängerniveau und auf eine Handvoll Sätze begrenzt, die Claudette ihm beigebracht hatte, aber sie nickte einmal, schob das Kettenschloss beiseite und gewährte ihnen Einlass.

Beide waren ziemlich jung, etwa Mitte dreißig, und sie trugen kurze, schwarze Bärte auf ihren olivfarbenen Wangen. Sie trugen europäische Kleidung, Jeans und T-Shirts und leichte Jacken gegen die kühle Nachtluft; Imam Khalil verlangte keine religiösen Gewänder oder Bedeckung von seinen Anhängern. Seit seiner Zwangsumsiedlung aus Syrien bevorzugte er es, dass seine Leute nicht auffielen – aus Gründen, die Adrian als offensichtlich empfand, wenn man bedachte, weshalb die zwei Männer hier waren.

„Cheval.“ Einer der syrischen Männer nickte Adrian fast ehrfürchtig zu. „Nach vorne? Erzähl uns.“ Er sprach in extrem gebrochenem Französisch.

„Nach vorne?“, wiederholte Adrian verwirrt.

„Er fragt nach deinem Fortschritt“, sagte Claudette sanft.

Adrian grinste. „Sein Französisch ist schrecklich.“

„So wie dein Arabisch“, erwiderte Claudette.

Guter Punkt, dachte Adrian. „Sag ihm, dass der Vorgang Zeit braucht. Er ist akribisch und fordert Geduld. Aber die Arbeit läuft gut.“

Claudette gab die Nachricht auf Arabisch weiter und die beiden Araber nickten zustimmend.

„Kleines Stück?“, fragte der zweite Mann. Es schien so, als wollten sie ihr Französisch an ihm üben.

„Sie sind wegen der Probe hier“, erklärte Claudette Adrian, obwohl er so viel auch schon aus dem Kontext verstanden hatte. „Gehst du sie holen?“ Es war ihm klar, dass Claudette kein Interesse daran hatte, den Behälter für biologische Gefahrenstoffe selbst zu berühren, egal ob er versiegelt war oder nicht.

Adrian nickte, bewegte sich aber nicht.

„Frag sie, wieso Khalil nicht selbst gekommen ist.“

Claudette biss sich auf die Lippe und berührte ihn sanft am Arm. „Liebling“, sagte sie leise, „ich bin mir sicher, dass er woanders beschäftigt ist –“

„Was könnte wichtiger sein, als das hier?“, beharrte Adrian. Er hatte voll und ganz erwartet, dass der Imam vorbeikommen würde.

Claudette stellte die Frage auf Arabisch. Die beiden Syrer runzelten die Stirn und sahen sich an, bevor sie antworteten.

„Sie sagen, dass er heute Abend die Kranken besucht“, sagte Claudette zu Adrian auf Französisch. „Er betet für ihre Befreiung aus der physischen Welt.“

Adrians Gedanken wanderten zu seiner Mutter, die wenige Tage vor ihrem Tod, mit offenen Augen auf dem Bett lag, ohne dass sie jedoch noch irgendetwas merkte. Sie war durch die Medikamente kaum mehr bei Bewusstsein gewesen; ohne sie hätte sie unter ständigem Schmerz gelitten, aber mit ihnen war sie praktisch komatös. In den Wochen vor ihrem Ableben hatte sie kein Konzept mehr von der Welt um sich herum. Er hatte oft für ihre Genesung gebetet und dort an ihrem Bett gesessen, doch als sie sich dem Ende näherte, veränderten sich seine Gebete und er wünschte ihr nur noch einen schnellen und schmerzfreien Tod.

„Was wird er damit tun?“, fragte Adrian. „Mit der Probe.“

„Er wird sicherstellen, dass deine Mutation funktioniert“, sagte Claudette einfach. „Das weißt du doch.“

„Ja, aber …“, Adrian hielt inne. Er wusste, dass es nicht seine Aufgabe war, die Absicht des Imams in Frage zu stellen, aber plötzlich hatte er einen starken Drang, es zu wissen. „Wird er es privat testen? Irgendwo außerhalb? Es ist wichtig, unsere Karten nicht zu früh zu spielen. Der Rest der Proben ist noch nicht fertig …“

Claudette sagte schnell etwas zu den syrischen Männern, dann nahm sie Adrian an der Hand und führte ihn in die Küche. „Mein Schatz“, sagte sie leise, „hast du etwa Zweifel? Sag es mir.“

Adrian seufzte. „Ja“, gab er zu. „Dies ist nur eine sehr winzige Probe, nicht ganz so beständig, wie es die anderen sein werden. Was, wenn es nicht funktioniert?“

„Das wird es.“ Claudette schlang ihre Arme um ihn. „Ich habe vollstes Vertrauen in dich und Imam Khalil auch. Dir wurde diese Gelegenheit aus gutem Grund geschenkt. Du bist gesegnet, Adrian.“

Du bist gesegnet. Das waren die gleichen Worte, die Imam Khalil benutzt hatte, als sie sich trafen. Vor drei Monaten hatte Claudette Adrian auf eine Reise mit nach Griechenland genommen. Khalil, wie so viele andere Syrer, war ein Flüchtling – allerdings weder ein politischer, noch ein Nebenprodukt der vom Krieg zerrissenen Nation. Er war ein religiöser Flüchtling, der von den Sunniten und Schiiten wegen seiner idealistischen Vorstellungen vertrieben worden war. Khalils Spiritualität war ein Zusammenschluss islamischer Grundsätze und der esoterisch-philosophischen Einflüsse von Druze, wie beispielsweise Wahrhaftigkeit und Seelenwanderung.

Adrian hatte den Heiligen in einem Hotel in Athen getroffen. Imam Khalil war ein freundlicher Mann mit einem angenehmen Lächeln. Er trug einen braunen Anzug, hatte dunkles, gekämmtes und ordentliches Haar und einen Bart. Der junge Franzose war überrascht gewesen, als ihn der Imam bei ihrem ersten Treffen bat, mit ihm zu beten. Zusammen saßen sie auf einem Teppich nach Mekka ausgerichtet und beteten stillschweigend. In der Luft um den Imam herum hing eine Stille, wie eine Aura, eine Behaglichkeit, die Adrian nicht mehr gespürt hatte, seit er als kleiner Junge in den Armen seiner damals noch gesunden Mutter gelegen hatte.

Nach dem Gebet rauchten die beiden Männer eine Shisha und tranken Tee, während Khalil von seiner Weltanschauung sprach. Sie unterhielten sich darüber, wie wichtig es war, sich selbst treu zu bleiben; Khalil glaubte, dass der einzige Weg für die Menschheit, sich ihrer Sünden freizusprechen, die absolute Wahrhaftigkeit sei, die es der Seele erlaubte, als reines Wesen wiedergeboren zu werden. Er stellte Adrian viele Fragen über die Wissenschaft und über Spiritualität. Er fragte nach Adrians Mutter und versprach ihm, dass sie irgendwo auf diesem Planeten wiedergeboren worden sei, rein, wunderschön und gesund. Der junge Franzose fand großen Trost darin.

Khalil sprach dann von Imam Mahdi, dem Erlöser und dem letzten Imam, einem Heiligen. Mahdi würde derjenige sein, der den Tag des letzten Gerichts herbeiführen und die Welt von allem Bösen befreien würde. Khalil glaubte, dass dies sehr bald geschehen würde und nach der Erlösung Mahdis würde Utopie folgen; jedes Wesen im Universum wäre dann fehlerfrei, aufrichtig und makellos.

Die beiden Männer hatten für mehrere Stunden bis weit in die Nacht hinein beisammengesessen und als Adrians Kopf so nebelig war, wie die dicke, rauchige Luft, die sie umgab, stellte er schließlich die Frage, die ihn beschäftigte.

„Bist du es, Khalil?“, fragte er den Heiligen. „Bist du Mahdi?“

Imam Khalil hatte deshalb breit gelächelt. Er nahm Adrians Hand und sagte sanft: „Nein, mein Junge. Du bist es. Du bist gesegnet. Ich kann es so klar und deutlich wie dein Gesicht vor mir sehen.“

Ich bin gesegnet. In der Küche ihrer Wohnung in Marseille drückte Adrian seine Lippen auf Claudettes Stirn. Sie hatte recht; sie hatten Khalil ein Versprechen gegeben und mussten es halten. Er nahm die stählerne Box für biologische Gefahrenstoffe von der Arbeitsplatte und trug sie zu den wartenden Arabern. Er öffnete den Deckel und hob die obere Hälfte des Schaumstoffwürfels, um ihnen das winzig kleine, luftdicht verschlossene Glasröhrchen zu zeigen.

Das Röhrchen schien leer zu sein – was eine der Eigenschaften der Substanz darstellte, die eine der giftigsten auf der Welt war.

„Liebling“, sagte Adrian, als er den Schaumstoff wieder zurücklegte und den Deckel fest verschloss. „Ich möchte, dass du ihnen sagst, dass sie dieses Glasröhrchen unter keinen Umständen anfassen sollten. Es muss mit äußerster Vorsicht behandelt werden.“

Claudette gab die Nachricht auf Arabisch wieder. Auf einmal schien der syrische Mann, der die Box in den Händen hielt, sich deutlich unwohler zu fühlen als noch einen Moment zuvor. Der andere Mann nickte Adrian dankend zu und murmelte dann einen Satz auf Arabisch, den Adrian verstand – „Allah ist mit dir, Friede sei mit dir“ – und ohne ein weiteres Wort, verließen die zwei Männer die Wohnung.

Sobald sie gegangen waren, verriegelte Claudette die Tür, zog die Kette zurück ins Schloss und drehte sich dann mit einem verträumten und befriedigten Ausdruck zu ihrem Liebhaber um.

Adrian stand jedoch mit einem mürrischen Gesichtsausdruck wie angewurzelt da.

„Liebling?“, sagte sie vorsichtig.

„Was habe ich gerade getan?“, murmelte er. Er kannte die Antwort bereits; er hatte einen tödlichen Virus anstatt an Imam Khalil in die Hände zweier Fremder gegeben. „Was, wenn sie ihn nicht abliefern? Was, wenn sie ihn fallenlassen, oder öffnen, oder – “

„Mein Liebster“, Claudette legte einen Arm um seine Taille und legte ihren Kopf auf seine Brust. „Sie sind Anhänger des Imams. Sie werden vorsichtig damit sein und ihn dahinbringen, wo er hinmuss. Hab Vertrauen. Du hast den ersten Schritt getan, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Du bist der Mahdi. Vergiss das nicht.“

„Ja“, sagte er sanft. „Natürlich. Du hast recht, wie immer. Und ich muss es zu Ende bringen.“ Wenn seine Mutation nicht so funktionieren würde, wie sie es sollte, oder wenn er nicht die komplette Menge produzierte, dann hatte er keinen Zweifel daran, dass er nicht nur von Khalil als Versager gesehen würde, sondern auch von Claudette. Ohne sie würde er zerbrechen. Er brauchte sie, wie die Luft zum Atmen, wie Nahrung und Sonnenlicht.

Und trotzdem konnte er nicht anders, als sich zu wundern, was sie wohl mit der Probe vorhatten – ob Imam Khalil sie privat an einem abgelegenen Ort oder doch öffentlich testen würde.

Aber er würde es noch früh genug herausfinden.




KAPITEL SECHS


„Dad, du musst mich nicht jedes Mal zur Tür bringen“, sagte Maya, als sie den Dahlgren Platz in Richtung Healy Halle auf dem Georgetown Campus überquerten.

„Ich weiß, dass ich es nicht muss“, sagte Reid. „Aber ich möchte es. Wieso, schämst du dich etwa, mit deinem Vater gesehen zu werden?“

„Das ist es nicht“, murmelte Maya. Die Fahrt hierher war ruhig gewesen, Maya hatte nachdenklich aus dem Fenster gestarrt, während Reid versuchte, etwas zu finden, worüber sie reden könnten, was ihm allerdings nicht gelang.

Maya stand kurz vor dem Ende ihres letzten Jahres an der Highschool, aber sie hatte bereits einige ihrer Kurse absolviert und belegte nun schon ein paar wöchentliche Kurse auf dem Georgetown Campus. Es war eine gute Art, um Leistungspunkte für das College zu sammeln, und machte sich besonders auf einem Bewerbungsschreiben gut – vor allem, da Georgetown momentan ihre erste Wahl war. Reid hatte nicht nur darauf bestanden, Maya zum College zu fahren, sondern sie auch zu ihrem Klassenzimmer zu begleiten. In der Nacht zuvor, als Maria gezwungen gewesen war, ihr Date unerwartet zu beenden, war Reid zu seinen Mädchen nach Hause geeilt. Er war äußerst beunruhigt über die Nachricht gewesen, dass Rais geflohen war – seine Finger hatten am Lenkrad seines Autos gezittert – aber er hatte sich gezwungen, ruhigzubleiben und logisch zu denken. Die CIA war bereits auf Verfolgungsjagd und Interpol vermutlich auch. Er kannte die Vorgehensweise; jeder Flughafen würde überwacht und es würden Straßensperren auf allen Hauptverkehrsstraßen von Sion errichtet werden. Und Rais hatte keine Verbündeten mehr, an die er sich wenden konnte.

Außerdem war der Attentäter in der Schweiz, mehr als sechstausend Kilometer entfernt, geflohen. Zwischen ihm und Kent Steele befanden sich ein halber Kontinent und ein riesiger Ozean.

Und trotzdem wusste er, dass er sich deutlich besser fühlen würde, wenn er erfuhr, dass Rais wieder festgenommen worden war. Er vertraute auf Marias Fähigkeiten, aber er wünschte, er hätte die Weitsicht gehabt, sie zu bitten, ihn so gut sie konnte, auf dem Laufenden zu halten.

Er und Maya erreichten den Eingang zur Healy Halle und Reid verharrte. „Okay, ich schätze, ich werde dich nach dem Unterricht sehen?“

Sie sah ihn misstrauisch an. „Du wirst mich nicht hineinbringen?“

„Heute nicht.“ Er hatte das Gefühl, zu wissen, weshalb Maya heute Morgen so ruhig gewesen war. Er hatte ihr in der Nacht zuvor ein wenig Unabhängigkeit gegeben, aber heute war alles wieder wie gewohnt. Er musste sich daran erinnern, dass sie kein kleines Mädchen mehr war. „Hör zu, ich weiß, dass ich dich in letzter Zeit ein wenig eingeengt habe …“

„Ein wenig“, spottete Maya.

„… und es tut mir leid. Du bist eine fähige, einfallsreiche und intelligente junge Frau. Und du möchtest nur etwas Unabhängigkeit. Ich bin mir dessen bewusst. Mein überfürsorglicher Charakter ist mein Problem, nicht deins. Es hat mit nichts zu tun, was du getan hast.“

Maya versuchte, das Grinsen auf ihrem Gesicht zu verbergen. „Hast du gerade die ‚es liegt nicht an dir, es liegt an mir’ Phrase benutzt?“

Er nickte. „Das habe ich, weil es die Wahrheit ist. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn dir etwas zustoßen würde und ich nicht da wäre.“

„Aber du wirst nicht immer da sein“, sagte sie. „Egal wie sehr du es versuchst. Und ich muss in der Lage sein, Probleme selbst zu lösen.“

„Du hast recht. Ich werde mein Bestes tun, um mich ein bisschen zurückzuhalten.“

Sie hob eine Augenbraue. „Versprichst du es?“

„Ich verspreche es.“

„Okay.“ Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Wir sehen uns nach dem Unterricht.“ Sie machte sich auf den Weg zur Tür, hatte dann allerdings einen weiteren Gedanken. „Weißt du, vielleicht sollte ich lernen, wie man schießt, nur für den Fall …“

Er deutete mit einem erhobenen Finger in ihre Richtung. „Treib es nicht zu weit.“

Sie grinste und verschwand im Gang. Reid blieb für ein paar Minuten draußen stehen. Gott, seine Kinder wurden zu schnell erwachsen. In zwei kurzen Jahren würde Maya eine volljährige, erwachsene Frau sein. Bald würde es um Autos gehen und Studiengebühren und … und früher oder später wären da auch Jungs im Spiel. Zum Glück war das bisher noch nicht passiert.

Er lenkte sich selbst damit ab, die Architektur auf dem Gelände zu bewundern, während er auf die Copley Halle zuging. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es ihn jemals langweilen würde, durch die Universität zu spazieren und sich an den Gebäudestrukturen des 18. und 19. Jahrhunderts zu erfreuen. Viele von ihnen waren im romanischen Stil gebaut worden, welcher im Mittelalter in Europa aufblühte. Es half sicherlich auch, dass Mitte März die Wende der Jahreszeiten in Virginia stattfand, zu der das Wetter wärmer wurde – bis zu zehn Grad Celsius und an den wärmeren Tagen sogar bis fünfzehn Grad.

In seiner Rolle als Aushilfslehrer übernahm er üblicherweise kleinere Klassen mit fünfundzwanzig bis dreißig Schülern und in erster Linie Geschichtsleistungskurse. Er spezialisierte sich auf Unterrichtsstunden zum Thema Kriegsführung und half oft für Professor Hildebrandt aus, der fest angestellt war, allerdings regelmäßig für ein Buch auf Reisen ging, das er gerade schrieb.

Oder vielleicht ist er insgeheim in der CIA, scherzte Reid.

„Guten Morgen“, sagte er laut, als er das Klassenzimmer betrat. Die meisten Studenten waren schon dort, als er ankam, also eilte er nach vorne, stellte seine Umhängetasche auf den Schreibtisch und zog seinen Mantel aus. „Ich bin ein paar Minuten zu spät, also lassen Sie uns gleich anfangen.“ Es fühlte sich gut an, wieder im Klassenzimmer zu stehen. Dies war sein Element – zumindest eines von ihnen. „Ich bin mir sicher, dass mir einer von Ihnen sagen kann, was, den Todesopfern zufolge, das verheerendste Ereignis in der europäischen Geschichte war?“

„Der Zweite Weltkrieg“, rief jemand sofort.

„Sicherlich eines der Schlimmsten weltweit“, antwortete Reid, „aber Russland ging es den Zahlen nach zu urteilen deutlich schlechter als Europa. Was haben Sie noch?“

„Die mongolische Eroberung“, sagte ein brünettes Mädchen mit einem Pferdeschwanz.

„Eine weitere gute Vermutung, aber Sie denken nur an bewaffnete Konflikte. Woran ich denke, ist weniger anthropogen; mehr biologisch.“

„Die schwarze Pest“, murmelte ein blonder Junge in der ersten Reihe.

„Ja, das ist richtig Mr. …?“

„Wright“, antwortete der Junge.

Reid grinste. „Mr. Wright? Ich wette, Sie nutzen das als Anmachspruch.“

Der Junge lächelte verlegen und schüttelte den Kopf.

„Ja, Mr. Wright hat recht – die schwarze Pest. Die Pandemie der Beulenpest begann in Zentralasien, breitete sich dann die Seidenstraße hinunter aus und wurde von Ratten auf Handelsschiffen nach Europa gebracht, wo sie im vierzehnten Jahrhundert schätzungsweise fünfundsiebzig bis zweihundert Millionen Menschen umbrachte.“ Er ging für einen Moment auf und ab, um seine Aussage hervorzuheben.

„Das ist ein großer Verlust, nicht wahr? Wie kann es sein, dass diese Zahlen so weit auseinanderliegen?“

Das brünette Mädchen in der dritten Reihe meldete sich. „Weil sie vor siebenhundert Jahren kein Volkszählungsbüro hatten?“

Reid und ein paar weitere Studenten kicherten. „Nun, sicher, das stimmt. Aber es liegt auch daran, dass sich die Plage so schnell ausbreitete. Ich meine, wir sprechen hier über ein Drittel der europäischen Bevölkerung, die über den Zeitraum von zwei Jahren vernichtet wurde. Um das in die richtige Perspektive zu bringen, wäre es also so, als würden die komplette Ostküste und Kalifornien ausgelöscht.“ Er lehnte sich gegen den Schreibtisch und verschränkte seine Arme. „Jetzt weiß ich, was Sie denken. ‚Professor Lawson, sind Sie nicht der Typ, der hier reinkommt und über Krieg redet?’ Ja, und darauf komme ich jetzt hinaus. Jemand hat die mongolische Eroberung erwähnt. Dschingis Khan hatte für kurze Zeit das größte zusammenhängende Imperium der Geschichte und seine Truppen marschierten, während der Jahre, in welchen die Pest in Asien um sich griff, in Osteuropa ein. Khan ist einer der Ersten, der nutzte, was wir heute als biologische Kriegsführung bezeichnen; wenn sich eine Stadt ihm nicht ergeben wollte, dann katapultierte seine Armee seuchenbefallene Leichen über ihre Mauern und dann … mussten sie nur noch eine Weile abwarten.“

Mr. Wright, der blonde Junge in der ersten Reihe, runzelte angeekelt seine Nase. „Das kann nicht wahr sein.“

„Es ist wahr, das versichere ich Ihnen. Die Belagerung von Kafa, dem heutigen Krim, 1346. Schauen Sie, wir würden gerne glauben, dass biologische Kriegsführung ein neues Konzept ist, aber dem ist nicht so. Bevor wir Panzer oder Drohnen oder Raketen oder sogar moderne Waffen hatten, haben wir … ähm … sie … ähm …“

„Warum hast du sie, Reid?“, fragte sie anklagend. Ihre Augen sind eher von Angst erfüllt als von Wut.

Als er das Wort „Waffen“ sagte, blitzte plötzlich eine Erinnerung in seinem Gedächtnis auf – dieselbe Erinnerung, wie zuvor, nun aber deutlich klarer. In der Küche ihres ehemaligen Hauses in Virginia. Kate hatte etwas gefunden, während sie Staub von einer der Klimaanlagen gewischt hatte.

Eine Waffe auf dem Tisch – eine kleine, silberne Neun-Millimeter-LC9. Kate deutete auf sie wie auf einen verfluchten Gegenstand. „Warum hast du die, Reid?“

„Sie ist … nur zum Schutz“, lügst du sie an.

„Zum Schutz? Weißt du überhaupt, wie man so etwas benutzt? Was, wenn eines der Mädchen das Ding gefunden hätte?“

„Das würden sie nicht –“

„Du weißt doch, wie neugierig Maya sein kann. Jesus, ich möchte gar nicht wissen, wie du sie bekommen hast. Ich möchte dieses Ding nicht in unserem Haus haben. Bitte, werde sie los.“

„Natürlich. Es tut mir leid Katie.“ Katie – der Name, den du benutzt, wenn sie wütend ist.

Du nimmst vorsichtig die Waffe vom Tisch, so als wüsstest du nicht, wie du damit umgehen sollst.

Sobald sie zur Arbeit fährt, musst du die anderen elf herausholen, die sich überall im Haus versteckt befinden. Bessere Orte für sie finden.

„Professor?“ Der blonde Junge, Wright, sah Reid besorgt an. „Sind Sie in Ordnung?“

„Ähm … ja.“ Reid richtete sich auf und räusperte sich. Seine Finger schmerzten; er hatte fest die Schreibtischkante ergriffen, als die Erinnerung in sein Gedächtnis kam. „Ja, entschuldigen Sie.“

Nun gab es keinen Zweifel mehr. Er war sich sicher, dass er zumindest eine Erinnerung an Kate verloren hatte.

„Ähm … entschuldigen Sie mich, aber ich fühle mich auf einmal nicht so gut“, sagte er zu der Klasse. „Es hat mich irgendwie getroffen. Lassen Sie uns …  ähm heute hier aufhören. Ich werde Ihnen etwas zum Lesen geben und wir holen diese Stunde am Montag nach.“

Seine Hände zitterten, als er die Nummern der Seiten aufzählte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, als die Schüler das Zimmer verließen. Das braunhaarige Mädchen aus der dritten Reihe blieb an seinem Schreibtisch stehen. „Sie sehen nicht sonderlich gut aus, Professor Lawson. Möchten Sie, dass wir jemanden anrufen?“

Eine Migräne breitete sich im vorderen Bereich seines Kopfes aus, aber er zwang sich zu einem Lächeln, von dem er hoffte, dass es angenehm aussah. „Nein, danke. Es wird schon gehen. Ich brauche nur etwas Ruhe.“

„Okay. Gute Besserung Professor.“ Sie verließ das Klassenzimmer.

Sobald er alleine war, kramte er in der Schreibtischschublade herum, fand eine Aspirin und schluckte sie mit etwas Wasser aus der Flasche in seiner Tasche. Die Erinnerung hatte nicht nur eine mentale oder emotionale Auswirkung auf ihn – sie hatte auch einen körperlichen Effekt. Der Gedanke daran, auch nur eine einzige Erinnerung an Kate zu verlieren, wo sie bereits von ihm genommen worden war, war grauenhaft.

Nach ein paar Minuten ließ das Übelkeitsgefühl in seinem Magen nach, die Gedanken, die in seinem Kopf herumwirbelten jedoch nicht. Er konnte nun keine Ausreden mehr finden; er musste eine Entscheidung treffen. Er würde entscheiden müssen, was er tun wollte. Zu Hause, in einer Kiste in seinem Büro, hatte er den Brief, in dem ihm geschildert wurde, wo er Hilfe bekommen könne – bei einem Schweizer Arzt namens Guyer, demselben Neurochirurgen, der ihm den Gedankenunterdrücker eingesetzt hatte. Wenn irgendjemand ihm dabei helfen konnte, sein Gedächtnis wiederherzustellen, dann wäre er es. Reid hatte die letzten Monate damit verbracht, hin und her zu überlegen, ob er zumindest versuchen sollte, sein volles Gedächtnis wiederzuerlangen.

Aber Erinnerungen an seine Frau waren gelöscht worden und er hatte keine Möglichkeit, zu wissen, was sonst noch mit dem Unterdrücker verlorengegangen war.

Nun war er bereit.




KAPITEL SIEBEN


„Schau mich an“, sagte Imam Khalil auf Arabisch. „Bitte.“ Er hielt den Jungen bei den Schultern, eine väterliche Geste, und ging ein wenig in die Knie, sodass er auf Augenhöhe mit ihm war.

„Schau mich an“, wiederholte er. Es war keine Forderung, sondern eine sanfte Bitte. Omar hatte Schwierigkeiten, Khalil in die Augen zu sehen. Stattdessen schaute er auf sein Kinn, auf den gestutzten schwarzen Bart, der sorgfältig am Hals entlang rasiert war. Er betrachtete die Umschläge seines dunkelbraunen Anzugs, welcher keineswegs teuer war und doch edler, als alle Kleidungsstücke, die Omar jemals getragen hatte. Der ältere Mann roch angenehm und er sprach mit dem Jungen, so als seien sie gleichwertig, mit einem Respekt, den er noch nie zuvor von jemand anderem entgegengebracht bekommen hatte. Aus all diesen Gründen konnte Omar sich nicht dazu bringen, Khalil in die Augen zu schauen.

„Omar, weißt du, was ein Märtyrer ist?“, fragte er. Seine Stimme war deutlich, aber nicht laut. Der Junge hatte den Imam noch nie schreien gehört.

Omar schüttelte seinen Kopf. „Nein, Imam Khalil.“

„Ein Märtyrer ist eine Art Held. Aber er ist mehr als das; er ist ein Held, der sich voll und ganz dem Zweck hingibt. An einen Märtyrer erinnert man sich. Ein Märtyrer wird gefeiert. Du, Omar, wirst gefeiert werden. Man wird sich an dich erinnern. Du wirst für immer geliebt werden. Und weißt du, weshalb?“

Omar nickte leicht, aber er sprach nicht. Er glaubte an die Lehren des Imams, hatte sich an ihnen festgeklammert wie an einem Rettungsring und das umso mehr nach dem Bombenanschlag, durch den seine Familie getötet worden war. Selbst nachdem er von Regimekritikern aus seiner Heimat Syrien vertrieben worden war. Er hatte jedoch Schwierigkeiten, zu glauben, was ihm Imam Khalil vor wenigen Tagen gesagt hatte.

„Du bist gesegnet“, sagte Khalil. „Schau mich an, Omar.“ Mit viel Mühe hob Omar seinen Blick, um in Khalils braune, sanfte, freundliche und doch mächtige Augen zu sehen. „Du bist der Mahdi, der letzte Imam. Der Erlöser, der die Welt von ihren Sündern befreien wird. Du bist der Retter, Omar. Verstehst du das?“

„Ja Imam.“

„Und glaubst du daran, Omar?“

Der Junge war sich nicht sicher, ob er das tat. Er fühlte sich nicht besonders oder wichtig oder von Allah gesegnet, und trotzdem antwortete er: „Ja Imam. Ich glaube es.“

„Allah hat zu mir gesprochen“, sagte Khalil sanft, „und er hat mir gesagt, was wir tun müssen. Erinnerst du dich daran, was du tun sollst?“

Omar nickte. Seine Mission war ziemlich leicht, doch der Khalil stellte sicher, dass der Junge keine Bedenken darüber hatte, was es für ihn bedeutete.

„Gut. Gut.“ Khalil lächelte breit. Seine Zähne waren absolut weiß und glänzten im hellen Sonnenlicht. „Bevor wir auseinander gehen, Omar, würdest du mir die Ehre erweisen, für einen Moment mit mir zu beten?“

Khalil streckte seine Hand aus und Omar griff nach ihr. Sie war warm und weich. Der Imam schloss seine Augen und seine Lippen bewegten sich, als er stumme Worte aussprach.

„Imam?“, sagte Omar fast flüsternd, „Sollten wir nicht nach Mekka ausgerichtet sein?“

Wieder lächelte Khalil breit. „Heute nicht Omar. Der einzig wahre Gott gewährt mir eine Bitte; heute bete ich zu dir.“

Die beiden Männer standen für eine lange Zeit dort und beteten stumm einander zugewandt. Omar spürte den warmen Sonnenschein auf seinem Gesicht und während der stummen Minute, die folgte, glaubte er, so etwas wie die unsichtbaren Finger Gottes dabei zu spüren, die seine Wange streichelten. Khalil kniete nieder, während sie im Schatten eines kleinen weißen Flugzeuges standen. Es passten nur vier Personen in das Flugzeug und es hatte Propeller über den Flügeln. Dies war näher, als Omar jemals an einem gewesen war – außer dem Flug von Griechenland nach Spanien, der das erste Mal gewesen war, dass Omar überhaupt in einem Flugzeug gesessen hatte.

„Vielen Dank dafür.“ Khalil ließ die Hand des Jungen los. „Ich muss jetzt gehen und du ebenfalls. Allah ist bei dir, Omar, Friede sei mit ihm und Friede sei mit dir.“ Der ältere Mann lächelte ihn noch einmal an, drehte sich um und kletterte die kurze Rampe zum Flugzeug hinauf.

Die Motoren starteten. Das Heulen wurde schnell zu einem Dröhnen. Omar trat mehrere Schritte zurück, als das Flugzeug auf der kleinen Landebahn vorwärts rollte. Er beobachtete, wie es an Geschwindigkeit zulegte, schneller und schneller wurde, bis es in die Höhe stieg und schließlich am Horizont verschwand.

Jetzt allein, schaute Omar nach oben und genoss den Sonnenschein auf seinem Gesicht. Es war ein warmer Tag, wärmer als die anderen zu dieser Jahreszeit. Dann begann er die sechs Kilometer lange Wanderung, die ihn nach Barcelona bringen würde. Während er ging, griff er in seine Hosentasche und seine Finger wickelten sich vorsichtig und schützend um das winzige kleine Glasröhrchen darin.

Omar konnte nicht anders, als sich zu wundern, weshalb Allah nicht direkt zu ihm gekommen war. Stattdessen hatte Er seine Botschaft durch den Imam weitergeleitet. Hätte ich es geglaubt?, dachte Omar. Oder hätte ich es nur für einen Traum gehalten? Imam Khalil war heilig und weise und er erkannte die Zeichen, wenn sie sich ihm zeigten. Omar war ein jugendlicher, naiver, sechzehn-jähriger Junge, der nicht viel über die Welt wusste, besonders nicht über den Westen. Vielleicht war er es nicht wert, die Stimme Gottes zu hören. Khalil hatte ihm eine Handvoll Euro mit nach Barcelona gegeben. „Nimm dir Zeit“, hatte der ältere Mann gesagt. „Genieße eine gute Mahlzeit. Du verdienst es.“

Omar sprach kein Spanisch und nur ein paar einfache englische Sätze. Außerdem war er nicht hungrig, also setzte er sich, als er in Barcelona ankam, auf eine Bank und schaute auf die Stadt, anstatt zu essen. Während er dort saß, fragte er sich, wieso es ausgerechnet hier sein müsse.

Hab Vertrauen, würde Imam Khalil sagen. Omar entschied, dass er genau das tun würde.

Zu seiner Linken befand sich das Hotel Barceló Raval, ein merkwürdiges rundes Gebäude, das mit violetten und roten Lichtern geschmückt war, und aus dem gut gekleidete, junge Leute ein- und ausgingen.

Er kannte den Namen nicht; er wusste nur, dass es wie ein Leuchtfeuer aussah, welches übergewichtige Sünder wie Motten zur Flamme anzog. Es gab ihm Kraft, davorzusitzen und bestärkte seinen Glauben, damit er tun konnte, was als Nächstes zu tun war.

Omar zog den Glasbehälter vorsichtig aus seiner Tasche. Es sah nicht so aus, als sei irgendetwas darin oder vielleicht war das, was darin war, unsichtbar, wie Luft oder Gas. Es machte keinen Unterschied. Er wusste genau, was er damit tun sollte. Der erste Schritt war vollbracht: die Stadt betreten. Den zweiten Schritt vollzog er auf der Bank im Schatten des Ravals.

Er drückte die kegelförmige Glasspitze des Behältnisses zwischen seinen Fingern und zog sie mit einer kurzen, schnellen Bewegung ab.

Ein winziger Glassplitter steckte in seinem Finger. Er beobachtete, wie sich ein kleiner Tropfen Blut bildete, widerstand allerdings dem Drang, den Finger in seinen Mund zu stecken. Stattdessen tat er, was ihm befohlen worden war – er hielt das Röhrchen an sein Nasenloch und atmete tief ein.

Sobald er es getan hatte, überkam ihn ein Anflug von Panik. Khalil hatte ihm nicht gesagt, was genau er danach zu erwarten hatte. Ihm war nur gesagt worden, danach eine kurze Zeit zu warten, also wartete er und tat sein Bestes, ruhig zu bleiben. Er beobachtete, wie immer mehr Leute das Hotel betraten und verließen und sie alle trugen prunkvolle und pompöse Kleidung. Er war sich seines bescheidenen Gewandes sehr bewusst; seines abgenutzten Pullovers, seiner fleckigen Wangen und seines Haars, das zu lang und ungebändigt war. Er erinnerte sich selbst daran, dass Eitelkeit eine Sünde war.

Omar saß dort, während er darauf wartete, dass etwas passierte. Er wartete darauf, zu spüren, wie sich in ihm ausbreitete, was auch immer „es“ war. Er spürte nichts. Es gab keinen Unterschied.

Eine ganze Stunde auf der Bank ging vorüber und dann erhob er sich und ging gemütlich nach Nordwesten, weg von dem violetten zylindrischen Hotel und weiter in die Stadt hinein. Er nahm die Treppe zur ersten U-Bahn-Station, die er finden konnte. Er konnte zwar kein Spanisch sprechen, aber er musste auch nicht wissen, wohin er ging.

Er kaufte ein Ticket mit den Euros, die Khalil ihm gegeben hatte, und stand untätig auf dem Bahnsteig herum, bis ein Zug einfuhr. Er fühlte sich immer noch nicht anders. Vielleicht hatte er die Begebenheit der Lieferung missverstanden. Trotzdem gab es noch eine letzte Sache, die er tun musste.

Die Türen öffneten sich und er trat hinein, beinahe Ellenbogen an Ellenbogen gedrängt mit den anderen Passagieren. Die U-Bahn war ziemlich voll; alle Sitzplätze waren belegt, also stand Omar und hielt sich an einer der Metallstangen fest, die parallel zur Länge des Zuges über seinem Kopf verliefen.

Seine letzte Anweisung war die leichteste von allen, sowohl als auch die, die ihn am meisten verwirrte. Khalil hatte ihm gesagt, dass er in einen Zug steigen und „damit fahren sollte, bis er nicht mehr konnte“. Das war alles.

Damals war Omar unsicher gewesen, was es bedeutete. Aber als sein Kopf vor Schweiß zu prickeln begann, seine Körpertemperatur anstieg und sich die Übelkeit in seinem Magen ausbreitete, hatte er eine Vorahnung.

Die Minuten vergingen, der Zug schaukelte und schwankte über die Schienen und seine Symptome wurden schlimmer. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Der Zug hielt am nächsten Bahnhof an und als weitere Leute ein- und ausstiegen, würgte Omar heftig. Die anderen Passagiere entfernten sich angewidert von ihm.

Sein Magen fühlte sich an, als habe er sich in einen schmerzhaften Knoten gewickelt. Auf halbem Weg zur nächsten Station hustete er in seine Hand. Als er sie senkte, waren seine zittrigen Finger mit dunklem, klebrigem Blut beschmiert. Eine Frau neben ihm bemerkte es. Sie sagte etwas auf Spanisch, sprach schnell und ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Sie deutete auf die Türen und plapperte weiter. Ihre Stimme wurde leiser, als sich in Omars Ohren ein hoher Piep Ton ausbreitete, er wusste jedoch, dass sie ihn aufforderte, den Zug zu verlassen.

Als sich die Türen wieder einmal öffneten, stolperte Omar hinaus und fiel beinahe auf den Bahnsteig.

Luft. Er brauchte frische Luft.

Allah, hilf mir, dachte er verzweifelt, als er in Richtung Treppe taumelte, die hinauf zur Straße führen würden. Seine Sicht verschwamm hinter seinen Tränen, mit denen sich seine Augen unbeabsichtigt füllten.

Sein Inneres schrie vor Schmerz, seine Hände waren blutverklebt und Omar verstand endlich seine Rolle als Mahdi. Er sollte die Pest auf diese Welt bringen – angefangen mit der Beseitigung seiner eigenen Sünden.


*

“¡Perdón!”

Marta Medellín spottete, als der junge Mann grob gegen sie stieß. Er schien wenig bis gar keine Rücksicht auf andere auf der Straße zu nehmen. Als er mit totem Blick und schlürfend näherkam, sank seine linke Schulter, kollidierte mit ihrer und sie zischte ein ernstes „Entschuldigung!“ auf Spanisch. Trotzdem schenkte er ihr keine Aufmerksamkeit und ging weiter.





Конец ознакомительного фрагмента. Получить полную версию книги.


Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию (https://www.litres.ru/pages/biblio_book/?art=43694015) на ЛитРес.

Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.



Einer der besten Thriller, die ich dieses Jahr gelesen habe. Books and Movie Reviews (über Koste es, was es wolle) In diesem Nachfolgebuch zu Buch #1 (AGENT NULL) in der Kent Steele Spionage Reihe, nimmt uns ZIELOBJEKT NULL (Buch #2) auf eine weitere wilde und erlebnisreiche Jagd durch Europa mit, als der Elite CIA-Agent Kent Steele damit beauftragt wird, eine biologische Waffe zu stoppen, bevor sie die Welt verwüstet – all das, während er sich mit seinem eigenen Gedächtnisverlust auseinandersetzen muss. Das Leben kehrt für Kent nur flüchtig zur Normalität zurück, bevor er von der CIA beauftragt wird, Terroristen zu jagen und eine weitere internationale Krise abzuwenden – die potenziell sogar nach verheerender ist als die Letzte. Aber mit einem Attentäter, der ihm nachjagt, einer Verschwörung in den eigenen Reihen, Maulwürfen, wohin man schaut und einer Geliebten, der er kaum trauen kann, ist Kent von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Und doch kehren seine Erinnerungen schnell zu ihm zurück und mit ihnen, Einblicke in die Geheimnisse, wer er war, was er herausgefunden hat – und warum sie hinter ihm her waren. Er erkennt, dass seine eigene Identität das gefährlichste Geheimnis von allen sein könnte. ZIELOBJEKT NULL ist ein Spionage-Thriller, der Sie bis tief in die Nacht hinein an sich fesseln wird. Thriller-Schreiben vom Feinsten. Midwest Book Review (über Koste es, was es wolle) Ebenfalls erhältlich ist Jack Mars’ #1 meistverkaufte LUKE STONE THRILLER SERIE (7 Bücher), die mit Koste es, was es wolle (Buch #1), einem kostenlosen Download mit über 800 Fünf-Sterne Bewertungen, beginnt!

Как скачать книгу - "Zielobjekt Null" в fb2, ePub, txt и других форматах?

  1. Нажмите на кнопку "полная версия" справа от обложки книги на версии сайта для ПК или под обложкой на мобюильной версии сайта
    Полная версия книги
  2. Купите книгу на литресе по кнопке со скриншота
    Пример кнопки для покупки книги
    Если книга "Zielobjekt Null" доступна в бесплатно то будет вот такая кнопка
    Пример кнопки, если книга бесплатная
  3. Выполните вход в личный кабинет на сайте ЛитРес с вашим логином и паролем.
  4. В правом верхнем углу сайта нажмите «Мои книги» и перейдите в подраздел «Мои».
  5. Нажмите на обложку книги -"Zielobjekt Null", чтобы скачать книгу для телефона или на ПК.
    Аудиокнига - «Zielobjekt Null»
  6. В разделе «Скачать в виде файла» нажмите на нужный вам формат файла:

    Для чтения на телефоне подойдут следующие форматы (при клике на формат вы можете сразу скачать бесплатно фрагмент книги "Zielobjekt Null" для ознакомления):

    • FB2 - Для телефонов, планшетов на Android, электронных книг (кроме Kindle) и других программ
    • EPUB - подходит для устройств на ios (iPhone, iPad, Mac) и большинства приложений для чтения

    Для чтения на компьютере подходят форматы:

    • TXT - можно открыть на любом компьютере в текстовом редакторе
    • RTF - также можно открыть на любом ПК
    • A4 PDF - открывается в программе Adobe Reader

    Другие форматы:

    • MOBI - подходит для электронных книг Kindle и Android-приложений
    • IOS.EPUB - идеально подойдет для iPhone и iPad
    • A6 PDF - оптимизирован и подойдет для смартфонов
    • FB3 - более развитый формат FB2

  7. Сохраните файл на свой компьютер или телефоне.

Книги серии

Книги автора

Аудиокниги автора

Рекомендуем

Последние отзывы
Оставьте отзыв к любой книге и его увидят десятки тысяч людей!
  • константин александрович обрезанов:
    3★
    21.08.2023
  • константин александрович обрезанов:
    3.1★
    11.08.2023
  • Добавить комментарий

    Ваш e-mail не будет опубликован. Обязательные поля помечены *