Книга - Agent Null

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Agent Null
Jack Mars


Ein Agent Null Spionage-Thriller #1
Einer der besten Thriller, die ich dieses Jahr gelesen habe. Buch- und Filmbewertungen (über: Koste es, was es wolle) In diesem lang erwartetem Debüt einer epischen Spionage-Thriller-Serie des #1 meistverkauften Autors Jack Mars, werden die Leser in einem Action-Thriller nach Europa geführt, wo der mutmaßliche CIA Agent Kent Steele, der von Terroristen, der CIA und seiner eigenen Identität gejagt wird, eine Reihe von Mysterien entschlüsseln muss. Wer ist hinter ihm her, wer ist er, welches ist das anstehende Ziel der Terroristen – und was hat es mit der wunderschönen Frau auf sich, die er immer wieder vor seinem geistigen Auge sieht?Kent Steele, 38, ein brillanter Professor für Europäische Geschichte an der Columbia Universität, lebt mit seinen zwei Teenager Töchtern in einem New Yorker Vorort ein ruhiges Leben. All das verändert sich, als es eines Abends an seiner Tür klopft und er von drei Terroristen entführt wird – er wird quer über den Ozean geflogen, um in einem Pariser Keller verhört zu werden. Sie sind überzeugt davon, dass Kent der tödlichste Spion ist, den die CIA je kannte. Er ist sich sicher, dass sie den falschen Mann haben. Aber stimmt das?Inmitten einer Verschwörung, mit Gegenspielern, so schlau wie er selbst und einem Auftragskiller dicht auf seinen Fersen, beginnt ein wildes Katz und Maus Spiel, das Kent auf einen verhängnisvollen Weg führt – einen Weg, der ihn zurück nach Langley führen könnte – und zu einer schockierenden Entdeckung über seine eigene Identität. AGENT NULL ist ein Spionage Thriller, der dich bis spät in die Nacht an sich fesseln wird. Ein Thriller der Extraklasse. Midwest Book Review (über: Koste es, was es wolle) Außerdem erhältlich ist Jack Mars #1 meistverkaufte LUKE STONE THRILLER Serie (7 Bücher), die mit Koste es, was es wolle (Buch #1) beginnt, einem kostenlosen Download mit über 800 5-Sterne-Bewertungen!







A G E N T N U L L



(EIN AGENT NULL SPIONAGE THRILLER—BUCH 1)



J A C K M A R S


Jack Mars



Jack Mars ist der USA Today Bestseller Autor der LUKE STONE Thriller Serie, welche sieben Bücher umfasst (und weitere in Arbeit). Er ist außerdem der Autor der neuen WERDEGANG VON LUKE STONE Vorgeschichten Serie und der AGENT NULL Spionage-Thriller Serie.



Jack würde sich freuen, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie seine Webseite www.Jackmarsauthor.com (http://www.Jackmarsauthor.com) und registrieren Sie sich auf seiner Email-Liste, erhalten Sie ein kostenloses Buch und gratis Kundengeschenke. Sie können ihn ebenfalls auf Facebook und Twitter finden und in Verbindung bleiben!



Copyright © 2018 durch Jack Mars. Alle Rechte vorbehalten. Außer wie gemäß unter dem US Urheberrecht von 1976 ausdrücklich gestattet, darf kein Teil dieser Veröffentlichung auf irgendeine Weise oder in irgendeiner Form, reproduziert, verteilt oder übertragen, oder in einem Datenbank- oder Datenabfragesystem gespeichert werden, ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Autors eingeholt zu haben. Dieses E-Book ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt. Dieses E-Book darf kein zweites Mal verkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch an andere Personen weitergeben wollen, so erwerben Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen, ohne es käuflich erworben zu haben oder es nicht für Ihren alleinigen Gebrauch erworben wurde, so geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie Ihr eigenes Exemplar. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit des Autors respektieren. Es handelt sich um eine fiktive Handlung. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Zwischenfälle entspringen entweder der Fantasie des Autors oder werden fiktional benutzt. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen, ob tot oder lebendig, sind zufälliger Natur.


BÜCHER VON JACK MARS



LUKE STONE THRILLER SERIE

KOSTE ES, WAS ES WOLLE (Buch #1)

AMTSEID (Buch #2)

LAGEZENTRUM (Buch #3)



AGENT NULL SPIONAGE SERIE

AGENT NULL (Buch #1)

ZIELOBJEKT NULL (Buch #2)


INHALTSVERZEICHNIS



KAPITEL EINS (#u5d79a2b9-156b-5dcb-9e03-fcbb2fa060fc)

KAPITEL ZWEI (#udd286816-191b-5832-982e-21ff57a4e28e)

KAPITEL DREI (#uc02487b1-f639-5867-84fc-5c81db817385)

KAPITEL VIER (#u95851093-2fe3-5e29-83d3-64f1c0b87ded)

KAPITEL FÜNF (#u1e8f9ba3-6d9d-51d5-a545-dc4d38d698a4)

KAPITEL SECHS (#ub733b631-b666-5b4d-b278-145b342dab28)

KAPITEL SIEBEN (#uec232e5d-6f8f-5031-ac4e-1d2f91af90cf)

KAPITEL ACHT (#ua3dc0c25-0683-5b7d-b08c-ae6eaee5687a)

KAPITEL NEUN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ELF (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWÖLF (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL FÜNFZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHSUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

EPILOG (#litres_trial_promo)


„Das Leben der Toten ruht in der Erinnerung der Lebenden.“

—Marcus Tullius Cicero






KAPITEL EINS


Die erste Unterrichtsstunde des Tages war immer die Schlimmste. Die Studenten schoben sich in den Hörsaal der Columbia Universität wie lebensunfähige, halbtote Zombies, ihre Sinne getrübt von nächtelangem Lernen oder einem Kater oder einer Kombination von beidem. Sie trugen Jogginghosen und ihre T-Shirts von gestern und klammerten sich an Styroporbecher, die mit Soja Mokka Latte oder hausgemachtem, hellgerösteten Filterkaffee gefüllt waren oder was auch immer es war, was die Kinder heutzutage tranken.

Professor Reid Lawsons Job war es zu unterrichten, aber er erkannte auch die Notwendigkeit für einen morgendlichen Energieschub – eine mentale Stimulierung, die das Koffein unterstützte. Lawson gab ihnen einen Moment Zeit ihre Plätze zu finden und es sich bequem zu machen, während er seinen sportlichen Tweed Mantel auszog und über die Lehne seines Stuhls legte.

„Guten Morgen“, sagte er laut. Die Begrüßung ließ mehrere Studenten aufschrecken, die ganz plötzlich zu ihm aufsahen, als hätten sie nicht bemerkt, dass sie in ein Klassenzimmer gelaufen waren. „Heute werden wir über Piraten sprechen.“

Das erregte etwas Aufmerksamkeit. Müde Augen schauten ihn an und blinzelten durch den Schleier des Schlafentzugs und versuchten herauszufinden, ob er wirklich gerade „Piraten“ gesagt hatte oder nicht.

„In der Karibik?“, witzelte ein Zweitsemester in der ersten Reihe.

„Genau genommen, im Mittelmeer“, korrigierte ihn Lawson. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen ging er langsam auf und ab. „Wie viele von Ihnen haben Professor Truitts Kurs zu Antiken Imperien belegt?“ Ungefähr ein Drittel der Klasse hob die Hand. „Gut. Dann wissen Sie auch, dass das ottomanische Reich für, oh, fast sechshundert Jahre eine Weltmacht war. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass die ottomanischen Korsaren oder auch genannt, die Barbaresken-Piraten, für den Großteil dieser Zeit Raubzüge auf den Meeren geführt haben, von der Küste Portugals durch die Straße von Gibraltar und in weiten Bereichen des Mittelmeers. Was denken Sie, was sie wollten? Irgendjemand? Ich weiß, dass Sie am Leben sind.“

„Geld?“, fragte ein Mädchen in der dritten Reihe.

„Schätze“, sagte der Zweitsemester von vorn.

„Rum!“, rief ein männlicher Student von hinten aus dem Klassenzimmer und löste damit ein Kichern in der Klasse aus. Reid grinste auch. Es gab also doch etwas Leben in dieser Gruppe.

„Alles gute Ideen“, sagte er. „Aber die Antwort ist, ‚Alles oben genannte’. Sehen Sie, die Barbaresken-Piraten hatten es hauptsächlich auf europäische Handelsschiffe abgesehen und sie würden alles nehmen – und ich meine wirklich alles. Schuhe, Gürtel, Geld, Hüte, Waren, das Schiff selbst … und seine Crew. Man glaubt, dass in den zwei Jahrhunderten von 1580 bis 1780 mehr als zwei Millionen Menschen von den Barbaresken-Piraten gefangen genommen und versklavt wurden. Sie brachten alles zurück in ihr nordafrikanisches Königreich. Das ging für Jahrhunderte so weiter. Und was denken Sie, taten die europäischen Nationen dagegen?“

„Erklärten Krieg!“, rief der Student von hinten.

Ein unscheinbares Mädchen mit einer Hornbrille hob leicht seine Hand und fragte, „Haben sie einen Friedensvertrag ausgehandelt?“

„So ungefähr“, antwortete Reid. „Die Machthaber von Europa stimmten zu, den Barbaresken Nationen Tribut zu zahlen, in der Form von riesigen Summen von Geld und Waren. Ich meine damit Portugal, Spanien, Frankreich, Deutschland, England, Schweden, die Niederlande … Sie alle bezahlten die Piraten, damit sie sich von ihren Booten fernhielten. Die Reichen wurden reicher und die Piraten zogen sich zurück – überwiegend. Aber dann zwischen dem späten achtzehnten und dem frühen neunzehnten Jahrhundert passierte etwas. Es gab ein Ereignis, welches der Katalysator für das Ende der Barbaresken-Piraten werden würde. Möchte irgendjemand eine Vermutung äußern?“

Niemand sprach. Rechts von ihm, sah Lawson einen Studenten, der in seinem Telefon suchte.

„Mr. Lowell“, sagte er. Der Student sah auf. „Eine Vermutung?“

„Ähem … Amerika passierte?“

Lawson lächelte. „Fragen Sie mich oder ist das Ihre Antwort? Seien Sie selbstbewusst mit Ihren Antworten, dann wird der Rest von uns wenigstens denken, dass Sie wissen, wovon Sie reden.“

„Amerika passierte“, sagte er noch einmal, dieses Mal mit Nachdruck.

„Das stimmt! Amerika passierte. Aber, wie Sie wissen, waren wir zu diesem Zeitpunkt noch eine sehr junge Nation. Amerika war jünger, als die meisten von Ihnen es sind. Wir mussten Handelsrouten mit Europa erschaffen, um unsere Wirtschaft anzukurbeln, aber die Barbaresken-Piraten begannen unsere Schiffe zu stehlen. Als wir sagten, ‚Was zum Teufel, Jungs?’ verlangten sie Tribut. Wir hatten gerade mal so eine Staatskasse, aber es war nicht wirklich etwas darin. Unser Sparschwein war leer. Welche Wahl hatten wir also? Was konnten wir tun?“

„Krieg erklären!“, erklang die bereits bekannte Stimme von hinten aus dem Klassenzimmer.

„Genau! Wir hatten keine andere Wahl, als Krieg zu erklären. Nun, Schweden hatte zu diesem Zeitpunkt die Piraten bereits seit einem Jahr bekämpft und mit ihnen gemeinsam nahmen wir zwischen 1801 und 1805 den Hafen von Tripolis ein und dann die Stadt Darna gefangen, was schlussendlich den Konflikt beendete.“ Lawson lehnte sich gegen den Rand seines Schreibtischs und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Natürlich beschönigt dies viele der Details, aber das hier ist eine europäische Geschichtsstunde, keine amerikanische. Wenn Sie aber die Chance haben sollten, lesen Sie etwas über Leutnant Stephen Decatur und die USS Philadelphia. Aber ich schweife ab. Warum unterhalten wir uns über Piraten?“

„Weil Piraten cool sind?“, fragte Lowell, der inzwischen sein Telefon weggelegt hatte.

Lawson kicherte. „Das kann ich nicht abstreiten. Aber nein, das ist nicht der Grund. Wir unterhalten uns über Piraten, weil der Tripolitanische Krieg etwas repräsentiert, was es nur selten in den Annalen der Geschichte zu sehen gibt.“ Er stellte sich gerade hin und scannte mit den Augen den Raum, wobei er Blickkontakt mit verschiedenen Studenten suchte. Jetzt konnte Lawson zumindest ein Leuchten in ihren Augen sehen, einen Funken, der zeigte, dass die meisten Studenten an diesem Morgen am Leben waren, wenn nicht sogar aufmerksam. „Buchstäblich jahrhundertelang wollte keine der europäischen Mächte sich den Barbaresken-Nationen entgegenstellen. Es war leichter, sie einfach zu bezahlen. Es brauchte Amerika – welches damals für den Großteil der entwickelten Welt ein Witz war – um die Veränderung herbeizuführen. Es brauchte eine Verzweiflungstat von einer Nation, die aberwitzig und hoffnungslos waffentechnisch unterlegen war, um eine Veränderung der Kräftedynamik auf einer der wertvollsten Handelsrouten der Welt zu bewirken. Und darin liegt die Lektion.“

„Leg dich nicht mit Amerika an?“, schlug jemand vor.

Lawson lächelte. „Nun, ja.“ Er hob einen Finger in die Luft, um seinen Punkt zu verstärken. „Aber umso mehr, dass Verzweiflung und die totale Abwesenheit möglicher Optionen, historisch gesehen, zu den größten Triumphen, die die Welt je gesehen hat, führen kann und geführt hat. Die Geschichte lehrt uns wieder und wieder, dass es kein Regime gibt, das zu groß ist, um es zu stürzen, kein Land zu klein oder zu schwach ist, um eine wirkliche Veränderung herbeizuführen.“ Er zwinkerte. „Denken Sie das nächste Mal daran, wenn Sie sich für nichts mehr als einen kleinen Fleck in dieser Welt halten.“

Am Ende der Stunde gab es einen sichtbaren Unterschied zwischen den langsamen und müden Studenten, die das Klassenzimmer betreten hatten und der lachenden, schnatternden Gruppe, die jetzt den Hörsaal füllte. Ein Mädchen mit pinkfarbenen Haaren kam auf dem Weg nach draußen zu seinem Schreibtisch und kommentierte lächelnd: „Großartige Vorlesung, Professor. Wie war der Name des amerikanischen Leutnants, den Sie erwähnt hatten?“

„Oh, das war Stephen Decatur.“

„Danke.“ Sie schrieb es auf und eilte aus dem Klassenzimmer.

„Professor?“

Lawson blickte auf. Es war der Zweitsemester aus der ersten Reihe. „Ja, Mr. Garner? Was kann ich für Sie tun?“

„Ich habe mich gefragt, ob ich Sie um einen Gefallen bitten kann. Ich bewerbe mich für ein Praktikum beim Museum für Natürliche Geschichte und äh, könnte ein Empfehlungsschreiben gebrauchen.“

„Sicher, kein Problem. Aber ist Ihr Hauptfach nicht Anthropologie?“

„Ja. Aber, äh… ich dachte, ein Brief von Ihnen wäre etwas gewichtiger, wissen Sie? Und, äh …“ Der Junge schaute auf seine Schuhe. „Dies hier ist sozusagen mein Lieblingsfach.“

„Ihr Lieblingsfach bis jetzt.“ Lawson lächelte. „Ich mache es gern. Ich habe morgen etwas für Sie fertig – oh, genau genommen, habe ich heute Abend eine wichtige Verpflichtung, die ich nicht verpassen kann. Wie klingt Freitag?“

„Keine Eile. Freitag wäre fantastisch. Danke, Professor. Bis dann!“ Garner eilte aus dem Hörsaal und ließ Lawson hinter sich allein.

Er blickte sich im leeren Auditorium um. Dies war seine liebste Tageszeit, zwischen den Unterrichtsstunden – die gegenwärtige Zufriedenheit der vergangenen Stunde gemischt mit der Vorfreude auf die nächste.

Sein Handy piepte. Es war eine SMS von Maya. 17:30 Uhr zu Hause?

Ja, antwortete er. Ich würde es nicht verpassen. Die „wichtige Verpflichtung“ an diesem Abend war der Spieleabend bei den Lawsons zu Hause. Er wusste die Qualitätszeit mit seinen beiden Mädchen sehr zu schätzen.

Gut, schrieb seine Tochter zurück. Ich habe Neuigkeiten.

Was für Neuigkeiten?

Später, war ihre Antwort. Er runzelte wegen der ungenauen Nachricht seine Stirn. Plötzlich würde sich der Tag sehr lang anfühlen.



*



Als der Unterrichtstag zum Ende kam, packte Lawson seine Kuriertasche, zog seinen Daunenwintermantel an und eilte zum Parkplatz. Februar in New York war typischerweise bitterkalt und in der letzten Zeit war es sogar noch schlimmer als sonst. Das kleinste bisschen Wind war regelrecht eisig.

Er startete den Motor des Autos und ließ ihn für ein paar Minuten warm laufen, rieb sich die Hände und blies warmen Atem auf seine gefrorenen Finger. Dies war sein zweiter Winter in New York und es schien nicht so, als würde er sich in der Kälte akklimatisieren. In Virginia hatte er gedacht, fünf Grad im Februar waren eisig. Zumindest schneit es nicht, dachte er. Ein Hoffnungsschimmer.

Die Fahrt vom Columbia Campus nach Hause war nur elf Kilometer weit, aber der Verkehr zu dieser Tageszeit war dicht und andere Autofahrer waren generell irritierend. Reid überkam dies mit Hörbüchern, auf welche ihn seine ältere Tochter vor kurzem gebracht hatte. Momentan arbeitete er sich seinen Weg durch Umberto Ecos Der Name der Rose, obwohl er heute die Worte kaum wahrnahm. Er dachte an Mayas kryptische Nachricht.

Das Haus der Lawsons war ein braun verklinkerter, zweistöckiger Bungalow in Riverdale am nördlichen Ende der Bronx. Er mochte die rustikale vorstädtische Nachbarschaft – die Nähe zur Innenstadt und zur Universität und die gewundenen Straßen, die weiter südlich in breite Boulevards übergingen. Die Mädchen liebten es auch und wenn Maya an der Columbia Universität angenommen werden würde oder an ihrer Zweitwahl der NYU, musste sie nicht von zu Hause ausziehen.

Reid wusste sofort, dass etwas anders war, als er das Haus betrat. Er konnte es in der Luft riechen und er hörte die gedämpften Stimmen, die aus der Küche am Ende des Flurs erklangen. Er legte seine Kuriertasche ab und zog leise seinen Mantel aus, bevor er vorsichtig auf Zehenspitzen durchs Foyer ging.

„Was um alles in der Welt geht hier vor sich?“, fragte er zur Begrüßung.

„Hallo, Daddy!“ Sara, seine vierzehn Jahre alte Tochter, wippte auf den Ballen ihrer Füße, während sie ihrer älteren Schwester Maya dabei zusah, wie sie ein verdächtiges Ritual über einer Auflaufform aus Glas vollführte. „Wir kochen Abendessen!“

„Ich koche das Abendessen“, murmelte Maya ohne aufzusehen. „Sie ist nur ein Zuschauer.“

Reid blinzelte überrascht. „Okay. Ich habe Fragen.“ Er schaute über Mayas Schulter, die eine leicht lilafarbene Glasur über einige ordentliche aufgereihte Schweinerippchen strich. „Beginnend mit … Hä?“

Maya sah noch immer nicht auf. „Schau mich nicht so an“, sagte sie, „wenn Hauswirtschaft zu einem Pflichtkurs gemacht wird, werde ich es eben nützlich anwenden.“ Endlich sah sie ihn an und lächelte leicht. „Und gewöhne dich nicht daran.“

Reid hob seine Hände abwehrend. „Auf keinen Fall.“

Maya war sechzehn und gefährlich klug. Sie hatte ganz klar ihren Intellekt von ihrer Mutter geerbt; sie würde im kommenden Schuljahr bereits eine Oberstufenschülerin sein, was daran lag, dass sie die achte Klasse übersprungen hatte. Sie hatte Reids dunkles Haar, sein nachdenkliches Lächeln und einen Hang zur Dramatik. Sara im Gegensatz dazu, hatte ihr gesamtes Aussehen von Kate. Während sie zu einem Teenager heranwuchs, schmerzte es Reid manchmal in ihr Gesicht zu sehen, obwohl er es nie zeigte. Sie hatte außerdem Kates feuriges Temperament geerbt. Meistens war Sara ein wirklicher Engel, aber ab und zu würde sie explodieren und die Auswirkungen waren verheerend.

Reid sah mit Staunen, wie die Mädchen den Tisch deckten und das Abendessen servierten. „Das sieht fantastisch aus Maya“, kommentierte er.

„Oh, warte. Noch eine Sache.“ Sie holte etwas aus dem Kühlschrank – eine braune Flasche. „Belgisches magst du am liebsten, richtig?“

Reid zog die Augen zusammen. „Wie hast du …?“

„Keine Sorge, Tante Linda hat es für mich gekauft.“ Sie öffnete die Flasche und goss das Bier in ein Glas. „Gut. Jetzt können wir essen.“

Reid war extrem dankbar, dass Kates Schwester Linda nur ein paar Minuten entfernt wohnte. Seine Professorenstelle zu halten, während er zwei Mädchen zu Teenagern aufzog, wäre ohne sie eine unmögliche Aufgabe gewesen. Es war eine der Hauptmotivationen für den Umzug nach New York gewesen, damit die Mädchen einen positiven weiblichen Einfluss in der Nähe hatten. (Obwohl er zugeben musste, dass er nicht wirklich begeistert war, dass Linda seiner Tochter Bier kaufte, egal für wen es war.)

„Maya, das ist großartig“, sagte er nach dem ersten Bissen.

„Dankeschön. Es ist Chipotle-Glasur.“

Er wischte sich seinen Mund ab, legte seine Serviette hin und fragte: „In Ordnung, es ist verdächtig. Was hast du angestellt?“

„Was? Nichts!“, bekräftigte sie.

„Was hast du kaputtgemacht?“

„Ich habe nichts …“

„Bist du suspendiert worden?“

„Dad, komm schon …“

Reid griff melodramatisch den Tisch mit beiden Händen. „Oh Gott, erzähl mir nicht, dass du schwanger bist. Ich besitze nicht einmal eine Waffe.“

Sara kicherte.

„Würdest du aufhören?“, schimpfte Maya. „Ich darf nett sein, weißt du.“ Sie aßen für eine Minute schweigend weiter, bevor sie beiläufig hinzufügte: „Aber da du es schon erwähnst …“

„Oh, Mann. Hier kommt es.“

Sie räusperte sich und sagte: „Ich habe eine Art Verabredung. Für den Valentinstag.“

Reid erstickte fast an seinem Rippchen.

Sara grinste. „Ich habe dir doch gesagt, dass er komisch darauf reagiert.“

Er fing sich und hielt seine Hand hoch. „Warte, warte. Ich bin nicht komisch. Ich dachte nur nicht … Ich wusste nicht, dass du … Gehst du mit jemandem aus?“

„Nein“, sagte Maya schnell. Dann zuckte sie mit den Schultern und sah hinunter auf ihren Teller. „Vielleicht. Ich weiß es noch nicht. Aber er ist ein netter Typ und er möchte mich in der Stadt zum Abendessen ausführen …“

„In der Stadt“, wiederholte Reid.

„Ja, Dad, in der Stadt. Und ich bräuchte ein Kleid. Es ist ein schicker Ort. Ich habe nicht wirklich etwas zum Anziehen.“

Es gab viele Zeiten, zu denen sich Reid verzweifelt wünschte, dass Kate da war, aber dieses Mal übertraf sie alle. Er war immer davon ausgegangen, dass seine Töchter irgendwann beginnen würden, Verabredung zu haben, aber er hatte gehofft, dass das nicht passierte, bis sie fünfundzwanzig waren. Es waren Zeiten wie diese, wenn er sich auf sein Lieblings-Elternakronym besann, WWKS – was würde Kate sagen? Als Künstlerin und selbstbestimmter Freigeist würde sie die Situation wahrscheinlich ganz anders handhaben, als er es würde und Reid versuchte, sich dies bewusst zu machen.

Er musste ganz besonders besorgt ausgesehen haben, weil Maya jetzt leicht lachte und ihre Hand auf seine legte. „Bist du in Ordnung, Dad? Es ist nur eine Verabredung. Nichts wird passieren. Es ist keine große Sache.“

„Jaaa“, sagte er langsam. „Du hast recht. Natürlich ist es keine große Sache. Vielleicht sehen wir, ob Tante Linda dich am Wochenende ins Einkaufszentrum mitnehmen kann und –“

„Ich möchte, dass du mit mir gehst.“

„Wirklich?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich meine, ich würde nichts kaufen wollen, was dir nicht gefällt.“

Ein Kleid, Abendessen in der Stadt und irgendein Junge ... Darüber hatte er tatsächlich noch nie zuvor nachgedacht.

„Also gut“, sagte er. „Wir gehen am Samstag. Aber ich habe eine Bedingung – ich darf mir das heutige Spiel aussuchen.“

„Hmm“, sagte Maya. „Du bist ein harter Brocken. Lass mich mit meiner Kollegin beraten.“ Maya wandte sich an ihre Schwester.

Sara nickte. „Gut. Solange es nicht Risiko ist.“

Reid spottete. „Du weißt nicht, wovon du redest. Risiko ist das Beste.“

Nach dem Abendessen räumte Sara den Tisch ab, während Maya heiße Schokolade machte. Reid baute eins ihrer Lieblingsspiele auf, Zug um Zug, ein klassisches Spiel, in welchem man Eisenbahnstrecken durch Amerika bauen musste. Als er die Karten und Plastikzüge verteilte, kam er nicht umhin sich zu fragen, wann all dies passiert war. Wann war Maya so schnell erwachsen geworden? Für die letzten zwei Jahre, seitdem Kate gestorben war, hatte er die Rolle beider Elternteile gespielt (mit der sehr geschätzten Hilfe von ihrer Tante Linda). Sie beide brauchten ihn noch immer, zumindest erschien es so, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie zum College gingen, ihre Karrieren begannen und dann …

„Dad?“, Sara kam ins Esszimmer und setzte sich ihm gegenüber. Als würde sie seine Gedanken lesen, sagte sie: „Vergiss nicht, ich habe nächsten Mittwochabend in der Schule eine Kunstvorführung. Du wirst da sein, oder?“

Er lächelte. „Natürlich, mein Schatz. Das lasse ich mir nicht entgehen.“ Er klatschte in die Hände. „Jetzt! Wer ist bereit, zunichtegemacht zu werden – ich meine, wer ist bereit, ein familienfreundliches Spiel zu spielen?“

„Versuch's doch mal, alter Mann“, rief Maya aus der Küche.

„Alter Mann?“, sagte Reid entrüstet. „Ich bin 38!“

„Ich bleibe dabei.“ Sie lachte, als sie ins Esszimmer kam. „Oh, das Spiel mit den Zügen.“ Ihr Grinsen wurde zu einem schmalen Lächeln. „Das war Moms Lieblingsspiel, nicht wahr?“

„Oh … ja.“ Reid zog eine Grimasse. „Das war es.“

„Ich bin blau!“, erklärte Sara und griff nach den Spielfiguren.

„Orange“, sagte Maya. „Dad, welche Farbe? Dad, hallo?“

„Oh.“ Reid wurde aus seinen Gedanken gerissen. „Entschuldige. Ähem, grün.“

Maya schob ein paar Spielfiguren in seine Richtung. Reid zwang sich zum Lächeln, obwohl seine Gedanken besorgt waren.



*



Nach zwei Spielrunden, die beide Maya gewonnen hatte, gingen die Mädchen ins Bett und Reid zog sich in sein Büro zurück, ein kleines Zimmer in der ersten Etage, welches vom Foyer abführte.

Riverdale war keine billige Gegend, aber es war Reid wichtig sicherzustellen, dass seine Mädchen in einer sicheren und glücklichen Umgebung aufwuchsen. Es gab nur zwei Schlafzimmer, also hatte er diesen kleinen Raum als Büro eingerichtet. Alle seine Bücher und Erinnerungsstücke waren in fast jeden möglichen Zentimeter des drei-mal-drei Meter Raumes gequetscht. Mit seinem Schreibtisch und dem Ledersessel darin konnte man nur noch ein ganz kleines Stück des abgetretenen Teppichs darunter sehen.

Er schlief oft in diesem Sessel ein, nach langen Abenden, an denen er Notizen machte, Vorlesungen vorbereitete und zum wiederholten Male Biografien las. Er begann deshalb Rückenprobleme zu bekommen. Wenn er mit sich selbst ehrlich war, fiel es ihm aber nicht leichter in seinem eigenen Bett zu schlafen. Der Ort mag sich verändert haben – er und die Mädchen sind, kurz nachdem Kate gestorben war, nach New York gezogen – aber er hatte noch immer die extra große Matratze mit Bettgestell, die ihre gewesen war, seine und Kates.

Er hätte gedacht, dass der Schmerz Kate zu verlieren, inzwischen etwas weniger geworden wäre, zumindest ein bisschen. Manchmal war es so, kurzzeitig, und dann kam er an ihrem Lieblingsrestaurant vorbei oder sah ein Stück eines ihrer Lieblingsfilme im Fernsehen und der Schmerz kam mit geballter Kraft zurück, so frisch, als wäre alles erst gestern passiert.

Sollten die Mädchen etwas Ähnliches fühlen, dann sprachen sie nicht darüber. In der Tat sprachen sie sehr oft offen über ihre Mutter, etwas was Reid selbst immer noch nicht konnte.

Es gab ein Bild von ihr auf einem seiner Bücherregale, welches bei der Hochzeit eines Freundes vor einem Jahrzehnt aufgenommen worden war. An den meisten Abenden war das Bild umgedreht, sonst würde er seine gesamte Zeit damit verbringen, es anzustarren.

Wie unglaublich unfair die Welt sein konnte. An einem Tag hatten sie alles – ein schönes Zuhause, wunderbare Kinder, großartige Karrieren. Sie lebten in McLean, Virginia; er arbeitete als außerordentlicher Professor an der nahegelegenen George Washington Universität. Wegen seiner Arbeit reiste er oft zu Seminaren und Gipfeltreffen und als Gastdozent für europäische Geschichte zu Schulen überall im Land verteilt. Kate arbeitete in der Restaurationsabteilung des Smithsonian American Art Museums. Ihre Mädchen gediehen prächtig. Das Leben war perfekt.

Aber wie Robert Frost berühmterweise gesagt hatte, kein Gold kann bleiben. An einem Winternachmittag fiel Kate auf Arbeit in Ohnmacht – oder zumindest ist es das, was ihre Kollegen dachten, als sie plötzlich schlaff wurde und von ihrem Stuhl rutschte. Sie riefen einen Krankenwagen, aber es war bereits zu spät. Sie wurde im Krankenhaus für tot erklärt. Eine Embolie, hatten sie gesagt. Ein Blutgerinnsel hatte sich in ihrem Gehirn gebildet und einen ischämischen Schlaganfall verursacht. Die Ärzte benutzten, so oft sie konnten, schwer verständliche medizinische Begriffe in ihrer Erklärung, so als würde es den Schock irgendwie abmildern.

Das Schlimmste von allem war, Reid war unterwegs gewesen, als es passierte. Er war bei einem Studentenseminar in Houston, Texas, gewesen, um Vorlesungen über das Mittelalter zu halten, als er den Anruf bekam.

Das war, wie er herausfand, dass seine Frau gestorben war. Ein Anruf vor der Tür eines Konferenzraums. Dann kam der Flug nach Hause, die Versuche seine Töchter inmitten seiner eigenen fürchterlichen Trauer zu trösten und irgendwann der Umzug nach New York.

Er drückte sich selbst aus dem Sessel hoch und drehte das Foto herum. Er mochte es nicht, über all das nachzudenken, das Ende und das Danach. Er wollte sie so in Erinnerung behalten wie in dem Foto, Kate, wie sie strahlte. Er wählte, sich nur daran zu erinnern.

Da war noch etwas anderes, etwas am Rande seines Bewusstseins – eine Art verschwommene Erinnerung, die versuchte an die Oberfläche zu kommen, als er das Bild anstarrte. Es fühlte sich fast wie ein Déjà-Vu an, nur nicht im jetzigen Moment. Es war, als würde sein Unterbewusstsein versuchen, irgendetwas an die Oberfläche zu bringen.

Ein plötzliches Klopfen an der Tür holte ihn in die Realität zurück. Reid zögerte und fragte sich, wer es sein könnte. Es war fast Mitternacht; die Mädchen waren bereits seit ein paar Stunden im Bett. Das kurze Klopfen erklang erneut. Aus Furcht es könnte die Kinder wecken, eilte er zu Tür. Schließlich lebte er in einer sicheren Nachbarschaft und hatte keinen Grund sich zu fürchten, die Tür zu öffnen, Mitternacht oder nicht.

Der raue Winterwind war nicht, was ihn auf der Stelle gefrieren ließ. Überrascht starrte er auf die drei Männer auf der anderen Seite. Sie waren eindeutig aus dem Nahen Osten, alle mit dunkler Haut, einem dunklen Bart und tiefliegenden Augen, gekleidet in dicken schwarzen Jacken und Stiefeln. Die zwei an jeder Seite des Ausgangs waren lang und großgewachsen; der dritte, hinter ihnen, war breitschultrig und massig, mit einem vermutlich andauernd finsterem Blick.

„Reid Lawson“, sagte der großgewachsene Mann auf der linken Seite. „Sind Sie das?“ Sein Akzent klang iranisch, war aber nicht sehr stark, was darauf schließen ließ, dass er bereits seit längerer Zeit in den Staaten lebte.

Reids Hals wurde trocken, als er über ihre Schultern hinweg bemerkte, dass dort am Straßenrand ein grauer Transporter mit laufendem Motor und ausgeschalteten Scheinwerfern stand. „Es tut mir leid“, sagte er zu ihm. „Sie müssen das falsche Haus haben.“

Der großgewachsene Mann auf der rechten Seite, der seine Augen nicht von Reid abwandte, hielt ein Telefon hoch, sodass seine zwei Kollegen es sehen konnten. Der Mann auf der linken Seite, der die Frage gestellt hatte, nickte einmal.

Ohne Vorwarnung sprang der massige Mann vorwärts, trügerisch schnell für seine Größe. Eine fleischige Hand griff nach Reids Hals. Reid wandte sich versehentlich ab, gerade außer Reichweite, indem er rückwärts stolperte und fast über seine eigenen Füße fiel. Er fing sich, als er mit den Fingerspitzen den gefliesten Fußboden berührte.

Als er rückwärts ging, um seine Balance wiederzufinden, kamen die drei Männer ins Haus. Er verfiel in Panik und dachte nur an die Mädchen, die in der oberen Etage in ihren Betten schliefen.

Er drehte sich herum und rannte durch das Foyer in die Küche und schlitterte um die Kücheninsel herum. Er blickte über seine Schulter – die Männer verfolgten ihn. Mobiltelefon, dachte er verzweifelt. Es lag auf seinem Schreibtisch im Büro und seine Angreifer versperrten ihm den Weg.

Er musste sie vom Haus wegführen, weg von den Mädchen. Zu seiner Rechten war die Tür zum Garten. Er öffnete sie schnell und rannte hinaus auf die Terrasse. Einer der Männer fluchte in einer fremden Sprache – arabisch, wie er vermutete – als sie hinter ihm her rannten. Reid sprang über das Geländer der Terrasse und landete in seinem kleinen Garten. Ein stechender Schmerz schoss bei der Landung durch sein Fußgelenk, aber er ignorierte ihn. Er rannte um die Ecke des Hauses und presste sich gegen die Klinkerfassade, während er verzweifelt versuchte, sein heftiges Atmen unter Kontrolle zu bringen.

Die Mauer fühlte sich eisig an und die leichte Winterbrise schmerzte auf seiner Haut wie Messerstiche. Seine Zehen waren bereits taub – er war nur in Socken aus dem Haus gerannt. Gänsehaut machte sich auf allen seinen Gliedmaßen breit. Er konnte hören, wie sich die Männer zuflüsterten, heiser und drängend. Er zählte die einzelnen Stimmen – eine, zwei und dann drei. Sie hatten das Haus verlassen. Gut; das bedeutete, sie waren nur hinter ihm her und nicht hinter den Mädchen.

Er musste zu einem Telefon gelangen. Er konnte nicht zurück ins Haus gehen, ohne die Mädchen in Gefahr zu bringen. Ebensowenig konnte er einfach an der Tür des Nachbarn klopfen. Moment – es gab ein gelbes Notfalltelefon, das in einem Kasten am Ende des Blocks installiert war. Wenn er dorthin gelangen könnte …

Er atmete tief durch und sprintete durch den dunklen Garten, wobei er es wagte, den leichten Schein der Straßenlaternen zu betreten. Sein Fußgelenk pochte protestierend und der Schock der Kälte sandte stechende Schmerzen durch seine Füße. Aber er zwang sich, so schnell wie er nur konnte zu rennen.

Reid blickte über seine Schulter. Einer der großgewachsenen Männer hatte ihn entdeckt. Er rief seinen Kollegen etwas zu, rannte ihm aber nicht hinterher. Seltsam, dachte Reid, hielt aber nicht an, um darüber nachzudenken.

Er erreichte das gelbe Notfalltelefon, öffnete den Kasten und presste mit seinem Daumen hart gegen den roten Knopf, was einen Alarm an den lokalen Rettungsdienst senden würde. Wieder sah er über seine Schulter. Er konnte keinen von ihnen sehen.

„Hallo?“, zischte er in die Gegensprechanlage. „Kann mich irgendjemand hören?“ Wo war das Licht? Ein Licht sollte aufleuchten, wenn der Knopf für den Anruf gedrückt wurde. Funktionierte das überhaupt? „Mein Name ist Reid Lawson, da sind drei Männer hinter mir her, ich wohne –“

Eine starke Hand griff eine Faustvoll von Reids kurzen braunen Haaren und zog ihn ruckartig zurück. Seine Worte erstickten in seinem Hals und entflohen als nichts anderes als ein heiseres Keuchen.

Ehe er sich versah, spürte er raues Material über seinem Gesicht, er konnte nichts sehen – ein Sack über seinem Kopf – und im selben Moment wurden seine Arme hinter seinen Rücken gezwungen und in Handschellen gelegt. Er versuchte sich zu wehren, aber die starken Hände hielten ihn fest und verdrehten seine Handgelenke so sehr, dass sie fast brachen.

„Warten Sie!“, schaffte er es zu schreien. „Bitte …“ Ein Schlag traf seine Magengegend so hart, dass die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. Er konnte nicht atmen, geschweige denn sprechen. Schwindelerregende Farben verschwammen vor seinen Augen, als er fast ohnmächtig wurde.

Dann wurde er gezogen, seine Socken kratzten über das Pflaster des Gehwegs. Sie stießen ihn in den Transporter und schlossen die Schiebetür hinter ihm. Die drei Männer tauschen kehlige ausländische Worte miteinander, die vorwurfsvoll klangen.

„Warum?“, schaffte es Reid endlich herauszubringen.

Er fühlte das scharfe Stechen einer Nadel in seinem Oberarm und die Welt um ihn herum verschwand.




KAPITEL ZWEI


Blind. Kalt. Brausend, ohrenbetäubend, drängend, schmerzend.

Das Erste, was Reid bemerkte, als er aufwachte, war, dass die Welt schwarz war – er konnte nichts sehen. Der beißende Geruch von Benzin füllte seine Nase. Er versuchte seine pochenden Glieder zu bewegen, aber seine Hände waren hinter seinem Rücken zusammengebunden. Ihm war kalt, aber es gab keine Brise; nur kalte Luft, so als würde er in einem Kühlschrank sitzen.

Langsam, wie durch einen Nebel, kehrten die Erinnerungen an das, was passiert war, zu ihm zurück. Die drei Männer aus dem Nahen Osten. Der Sack über seinem Kopf. Die Nadel in seinem Arm.

Er verfiel in Panik, zerrte an seinen Fesseln und schüttelte seine Beine. Schmerz schoss durch seine Handgelenke, von der Stelle, wo sich das Metall der Handschellen in seine Haut grub. Sein Fußgelenk pulsierte und sendete Schockwellen sein linkes Bein hinauf. Er hatte einen starken Druck in seinen Ohren und konnte nichts hören, nichts außer einem laufenden Motor.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er in seinem Bauch das Gefühl zu fallen – ein Resultat negativer Vertikalbeschleunigung. Er befand sich in einem Flugzeug. Und dem Klang nach zu urteilen, war dies kein gewöhnliches Passagierflugzeug. Das Dröhnen, der extrem laute Motor, der Geruch von Benzin … Er realisierte, dass er sich in einem Frachtflugzeug befinden musste.

Wie lange war er bewusstlos gewesen? Was hatten sie ihm gespritzt? Waren die Mädchen sicher? Die Mädchen. Tränen schossen ihm in die Augen, als er entgegen aller Hoffnung trotzdem hoffte, dass sie sicher waren, dass die Polizei genug von seiner Nachricht gehört hatte und die Behörden zu seinem Haus geschickt wurden …

Er rutschte auf seinem Metallsitz umher. Trotz der Schmerzen und der Heiserkeit in seinem Hals versuchte er zu sprechen.

„H-Hallo?“ Es kam als ein kaum hörbares Flüstern heraus. Er räusperte sich und versuchte es noch mal. „Hallo? Irgendjemand …?“ Er bemerkte dann, dass der Lärm des Motors ihn für jeden, der nicht direkt neben ihm saß, unhörbar machen würde. „Hallo!“, versuchte er zu rufen. „Bitte … kann mir jemand sagen, was –“

Eine schroffe männliche Stimme zischte ihn auf Arabisch an. Reid schreckte zurück; dieser Mann war nach nicht mal einen Meter von ihm entfernt.

„Bitte, sagen Sie mir einfach, was vor sich geht“, bettelte er. „Was passiert hier? Warum tun Sie das?“

Eine andere Stimme rief drohend etwas auf Arabisch, dieses Mal auf seiner rechten Seite. Reid zuckte wegen der scharfen Zurechtweisung zusammen. Er hoffte, dass das Rütteln des Flugzeugs den Fakt verbarg, dass seine Glieder zitterten.

„Sie haben die falsche Person“, sagte er. „Was wollen Sie? Geld? Ich habe nicht viel, aber ich kann – Moment!“ Eine starke Hand schloss sich mit festem Griff um seinen Oberarm und einen kurzen Moment später wurde er aus seinem Sitz gerissen. Er taumelte, versuchte zu stehen, aber das Schwanken des Flugzeugs und der Schmerz in seinem Fußgelenk besiegten ihn. Seine Knie gaben nach und er fiel auf die Seite.

Etwas Hartes und Schweres traf ihn in der Körpermitte. Schmerz zog sich wie ein Spinnennetz durch seinen Oberkörper. Er versuchte zu protestieren, aber seine Stimme kam nur als unverständliches Schluchzen heraus.

Ein anderer Stiefel trat ihn in den Rücken. Noch einer, dieses Mal ins Kinn.

Trotz der grauenvollen Situation kam Reid ein bizarrer Gedanke. Diese Männer, ihre Stimmen, die Schläge wiesen alle auf einen persönlichen Rachefeldzug hin. Er fühlte sich nicht nur angegriffen. Er fühlte sich verabscheut. Diese Männer waren wütend – und ihre Wut richtete sich gegen ihn wie der Lichtpunkt eines Lasers.

Langsam ließ der Schmerz nach und machte Platz für eine kalte Taubheit, die seinen Körper überkam, als er bewusstlos wurde.



*



Schmerz. Scharf, pochend, schmerzend, brennend.

Reid wachte wieder auf. Die Erinnerungen an die Vergangenheit … er wusste nicht einmal, wie lange es gewesen war und auch nicht, ob es Tag oder Nacht war und wo er sich befand, dass es Tag oder Nacht sein könnte. Aber die Erinnerungen kamen wieder, unzusammenhängend, wie einzelne Aufnahmen, die aus einem Film geschnitten und auf dem Boden liegengelassen worden waren.

Drei Männer.

Der Notrufkasten.

Der Transporter.

Das Flugzeug.

Und jetzt …

Reid traute sich die Augen zu öffnen. Es war schwer. Seine Lieder fühlten sich an, als wären sie zusammengeklebt. Hinter der dünnen Haut konnte er sehen, dass es ein helles, grelles Licht auf der anderen Seite gab. Er konnte dessen Hitze auf seinem Gesicht fühlen und das Netzwerk der winzigen Kapillaren durch seine Lider erkennen.

Er blinzelte. Alles was er sehen konnte, war dieses gnadenlose Licht, hell und weiß, welches sich in seinen Kopf brannte. Gott, sein Kopf tat weh. Er versuchte zu stöhnen und bemerkte durch einen plötzlichen Stoß erneuter Schmerzen, dass sein Kiefer ebenfalls wehtat. Seine Zunge fühlte sich fett und trocken an und er hatte einen metallenen Geschmack im Mund. Blut.

Seine Augen, wie er dann bemerkte – waren so schwer zu öffnen gewesen, weil sie in der Tat zusammengeklebt waren. Die Seite seines Gesichts fühlte sich heiß und klebrig an. Blut war seine Stirn hinunter und in seine Augen gelaufen, zweifellos von den unnachgiebigen Tritten, die zur Bewusstlosigkeit im Flugzeug geführt hatten.

Aber er konnte das Licht sehen. Der Sack war von seinem Kopf entfernt worden. Ob das gut oder schlecht war, blieb abzuwarten.

Als sich seine Augen langsam eingewöhnten, versuchte er wieder verzweifelt, seine Hände zu bewegen. Sie waren noch immer zusammengebunden, aber dieses Mal nicht mit Handschellen. Dicke, raue Seile hielten sie an Ort und Stelle. Seine Fußgelenke waren ebenfalls an die Beine eines hölzernen Stuhls gebunden.

Endlich hatten sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt und es formten sich vage Umrisse. Er befand sich in einem kleinen fensterlosen Raum mit unebenen Betonwänden. Es war heiß und stickig, genug dass sich Schweißperlen auf der Rückseite seines Nackens bildeten und doch fühlte sich sein Körper kalt und teilweise taub an.

Er konnte sein rechtes Auge nicht vollständig öffnen und es brannte, wenn er es versuchte. Entweder war er dort getreten worden oder seine Entführer hatten ihn weiter geschlagen, während er bewusstlos war.

Das grelle Licht kam von einer Verhörlampe auf einem hohen, dünnen Gestell auf Rädern, die so eingestellt war, dass sie auf sein Gesicht hinunter schien. Die Halogenleuchte war unerbittlich. Wenn es irgendetwas hinter dieser Lampe gab, konnte er es nicht sehen.

Er zuckte zusammen, als ein schweres Geräusch durch den kleinen Raum hallte – das Geräusch eines Riegels, der zur Seite geschoben wurde. Türangeln knarrten, aber Reid konnte keine Tür sehen. Sie schloss sich mit einem dissonanten Klang.

Eine Silhouette blockierte das Licht und warf einen Schatten auf ihn, als sie über ihm stand. Er zitterte und traute sich nicht aufzuschauen.

„Wer sind Sie?“ Die Stimme war männlich, etwas höher, als die seiner vorherigen Entführer, aber noch immer mit einem Akzent des Nahen Ostens.

Reid öffnete seinen Mund, um zu sprechen – um ihnen zu sagen, dass er nichts mehr war als ein Geschichtsprofessor, dass sie den falschen Mann hatten – aber er erinnerte sich schnell an das letzte Mal, als er dies versucht hatte und dafür bis zur Gefügigkeit getreten wurde. Stattdessen entfloh seinen Lippen ein kleines Wimmern.

Der Mann seufzte und entfernte sich vom Licht. Etwas kratzte über den Betonboden; die Beine eines Stuhls. Der Mann stellte die Lampe so ein, dass sie leicht von Reid weg leuchtete und setzte sich dann ihm gegenüber auf den Stuhl, so dass sich ihre Knie fast berührten.

Reid sah langsam auf. Der Mann war jung, höchstens dreißig, mit dunkler Haut und einem sauber getrimmten schwarzen Bart. Er trug eine runde silberne Brille und eine weiße Kufi, eine randlose, runde Kappe.

Hoffnung machte sich in Reid breit. Dieser junge Mann schien ein Intellektueller zu sein, nicht wie die Barbaren, die ihn angegriffen und ihn aus seinem Haus gerissen hatten. Vielleicht konnte er mit diesem Mann verhandeln. Vielleicht hatte er hier das Sagen …

„Wir werden einfach anfangen“, sagte der Mann. Seine Stimme war sanft und ruhig, die Art, wie ein Psychologe mit einem Patienten sprechen würde. „Wie lautet Ihr Name?“

„L … Lawson.“ Seine Stimme versagte beim ersten Versuch. Er hustete und war leicht besorgt, als er die Flecken von Blut auf dem Boden sah. Der Mann vor ihm zog angewidert seine Nase in Falten. „Mein Name ist … Reid Lawson.“ Warum fragten sie immer wieder nach seinem Namen? Den hatte er ihnen doch schon gesagt. Hatte er unwissentlich irgendjemandem etwas getan?

Der Mann schniefte langsam durch seine Nase ein und aus. Er stützte sich mit seinen Ellbogen auf seine Knie und lehnte sich vor, wobei er seine Stimme noch weiter senkte. „Es gibt eine Menge Leute, die in diesem Moment gerne in diesem Raum wären. Zum Glück für Sie, sind es nur Sie und ich. Wie dem auch sei, wenn Sie nicht ehrlich mit mir sind, habe ich keine andere Wahl, als die Anderen auch einzuladen. Und die haben nicht so viel Mitgefühl wie ich.“ Er setzte sich aufrecht. „Also ich frage Sie noch mal. Wie … lautet … Ihr … Name?“

Wie konnte er ihn davon überzeugen, dass er, er selbst war. Reids Herzschlag verdoppelte sich im Tempo, als ihm plötzlich etwas klar wurde. Es war sehr gut möglich, dass er in diesem Raum starb. „Ich sage Ihnen die Wahrheit!“, versicherte er. Und plötzlich flossen die Worte wie ein Schwall aus seinem Mund. „Mein Name ist Reid Lawson. Bitte sagen Sie mir einfach nur, warum ich hier bin. Ich weiß nicht, was hier passiert. Ich habe nichts getan –“

Der Mann schlug Reid mit der Rückseite seiner Hand über den Mund. Sein Kopf flog in die andere Richtung. Er keuchte, als er den Stich seiner frisch aufgeplatzten Lippe spürte.

„Ihr Name.“ Der Mann wischte Blut von seinem goldenen Ring an der Hand.

„Ich h-habe es Ihnen gesagt“, stammelte er. „M-Mein Name ist Lawson.“ Er verschluckte sich an einem Schluchzen. „Bitte.“

Er wagte es aufzusehen. Sein Vernehmer starrte ihn passiv und kalt an. „Ihr Name.“

„Reid Lawson!“ Reid fühlte Hitze in sein Gesicht aufsteigen, als sich der Schmerz langsam in Wut umwandelte. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte, was sie von ihm hören wollten. „Lawson! Es ist Lawson! Sie können meinen … meinen …“ Nein, sie konnten seinen Ausweis nicht prüfen. Er hatte seine Brieftasche nicht bei sich gehabt, als die drei muslimischen Männer ihn entführt hatten.

„Na, na, na!“, sagte sein Vernehmer missbilligend und schlug seine knochige Faust in Reids Solarplexus. Wieder wurde die Luft aus seinen Lungen heraus gezwungen. Für eine ganze Minute lang konnte Reid nicht einatmen; dann kam endlich das schmerzverzerrte Keuchen. Seine Brust brannte heiß. Schweiß tropfte von seinen Wangen und brannte auf seiner aufgeplatzten Lippe. Sein Kopf hing schlaff, sein Kinn zwischen den Schlüsselbeinen und er kämpfte gegen eine Welle der Übelkeit an.

„Ihr Name“, wiederholte der Vernehmer ruhig.

„Ich … Ich weiß nicht, was Sie von mir hören wollen“, flüsterte Reid. „Ich weiß nicht, wonach Sie suchen. Aber ich bin es nicht.“ Verlor er den Verstand? Er war sich sicher, er hatte nichts getan, was eine derartige Behandlung verdiente.

Der Mann mit der Kufi lehnte sich wieder nach vorn, dieses Mal hob er Reids Kinn langsam mit zwei Fingern hoch. Er hob seinen Kopf und zwang Reid, ihm in die Augen zu sehen. Seine dünnen Lippen formten ein halbes Lächeln.

„Mein Freund“, sagte er, „das hier wird erst sehr viel schlimmer werden, bevor es besser wird.“

Reid schluckte und hatte wieder den metallenen Geschmack in seinem Hals. Er wusste, dass Blut ein Brechmittel war; fünfhundert Milliliter davon und er würde sich übergeben müssen, ihm war bereits jetzt übel und schwindlig. „Hören Sie mir zu“, flehte er. Seine Stimme klang furchtsam und ängstlich. „Die drei Männer, die mich entführt haben, sie kamen zu meinem Haus in der Ivy Lane 22. Mein Name ist Reid Lawson. Ich bin ein Professor für europäische Geschichte an der Columbia Universität. Ich bin ein Witwer mit zwei Teen …“ Er stoppte sich. Bislang hatten seine Entführer noch kein Zeichen verlauten lassen, dass sie über seine Mädchen Bescheid wussten. „Wenn das nicht ist, wonach Sie suchen, kann ich Ihnen nicht helfen. Bitte. Das ist die Wahrheit.“

Der Vernehmer starrte ihn für einen langen Moment, ohne zu blinzeln an. Dann bellte er etwas Kurzes auf Arabisch. Reid zuckte wegen des plötzlichen Ausbruchs zusammen.

Der Riegel an der Tür bewegte sich wieder. Hinter der Schulter des Mannes konnte Reid den Umriss der dicken Tür erkennen, als sie sich öffnete. Sie schien aus irgendeiner Art Metall gemacht zu sein, Eisen oder Stahl.

Dieser Raum, wie er dann bemerkte, war als Gefängniszelle gebaut.

Eine Silhouette erschien im Türrahmen. Der Vernehmer rief noch etwas in seiner Muttersprache und die Silhouette verschwand. Er grinste Reid an. „Das werden wir sehen“, sagte er schlicht.

Es gab ein verräterisches Quietschen von Rädern und die Silhouette tauchte wieder auf. Dieses Mal schob sie einen Stahlwagen in den kleinen Betonraum. Reid erkannte den Transporteur als den stillen, massigen Brutalo, der zu seinem Haus gekommen war. Er hatte noch immer den gleichen finsteren Blick.

Auf dem Wagen befand sich eine altertümliche Maschine, ein brauner Kasten mit dutzenden Knöpfen und Reglern und dicken schwarzen Kabeln, die in die Seite gesteckt waren. Auf der anderen Seite sah man eine Rolle mit weißem Papier mit vier Nadeln, die dagegen pressten.

Es war ein Polygraf – wahrscheinlich fast so alt wie Reid selbst, aber trotzdem ein Lügendetektor. Er atmete ein halb erleichtertes Seufzen. Zumindest würden sie wissen, dass er die Wahrheit sagte.

Was sie hinterher mit ihm tun würden … darüber wollte er lieber nicht nachdenken.

Der Vernehmer schickte sich an, die Sensoren mit Klettband an zwei von Reids Fingern zu befestigen, eine Manschette um seinen linken Oberarm zu wickeln und zwei Kabel um seine Brust zu legen. Er setzte sich wieder, zog einen Bleistift aus seiner Tasche und steckte sich das Ende mit dem Radiergummi in den Mund.

„Sie wissen, was das ist“, sagte er schlicht. „Sie wissen, wie es funktioniert. Wenn Sie irgendetwas anderes sagen, als die Antworten auf meine Fragen, werden wir Ihnen wehtun. Haben Sie das verstanden?“

Reid nickte einmal. „Ja.“

Der Vernehmer legte einen Schalter um und drehte an den Reglern der Maschine. Der finster aussehende Brutalo stand hinter ihm, blockierte das Licht von der Verhörlampe und starrte Reid an.

Die dünnen Nadeln tanzten leicht auf der Rolle des weißen Papiers und hinterließen vier schwarze Spuren. Der Vernehmer markierte das Blatt mit einem Gekritzel und richtete dann seinen kalten Blick zurück auf Reid. „Welche Farbe hat mein Hut?“

„Weiß“, antwortete Reid ruhig.

„Welcher Spezies gehören Sie an?“

„Mensch.“ Der Vernehmer erstellte eine Basislinie für die nachfolgenden Fragen – für gewöhnlich vier bis fünf bekannte Wahrheiten, damit er danach potenzielle Lügen aufdecken konnte.

„In welcher Stadt wohnen Sie?“

„New York.“

„Wo befinden Sie sich jetzt?“

Reid spottete fast: „Auf einem … auf einem Stuhl. Ich weiß es nicht.“

Sein Vernehmer markierte das Papier wieder. „Wie lautet Ihr Name?“

Reid versuchte sein bestes, seine Stimme ruhig zu halten. „Reid. Lawson.“

Alle drei blickten auf die Maschine. Die Nadeln liefen ungestört weiter; es gab keine signifikanten Höhen oder Tiefen in den gekritzelten Linien.

„Was ist Ihr Beruf?“, fragte der Vernehmer.

„Ich bin ein Professor für europäische Geschichte an der Columbia Universität.“

„Wie lange sind Sie schon ein Universitätsprofessor?“

„Dreizehn Jahre“, antwortete Reid wahrheitsgemäß. „Ich war für fünf Jahre ein Assistenzprofessor und für weitere sechs Jahre ein außerordentlicher Professor in Virginia. Seit zwei Jahren bin ich Dozent in New York.“

„Waren Sie jemals in Teheran?“

„Nein.“

„Waren Sie jemals in Zagreb?“

„Nein!“

„Waren Sie jemals in Madrid?“

„N – ja. Einmal, ungefähr vor vier Jahren. Ich war dort zu einem Gipfeltreffen im Auftrag der Universität.“

Die Nadeln blieben ruhig.

„Sehen Sie es nicht?“ So sehr Reid auch brüllen wollte, er zwang sich ruhig zu bleiben. „Sie haben die falsche Person. Nach wem auch immer Sie suchen, ich bin es nicht.“

Die Nasenflügel des Vernehmers weiteten sich, aber sonst gab es keine Reaktion. Der Brutalo faltete seine Hände, seine Venen waren deutlich unter seiner Haut zu sehen.

„Haben Sie jemals einen Mann namens Scheich Mustafar getroffen?“, fragte der Vernehmer.

Reid schüttelte seinen Kopf. „Nein.“

„Er lügt!“ Ein großer dünner Mann kam in den Raum – einer der beiden anderen Männer, die ihn in seinem Haus angegriffen hatten, der gleiche, der ihn zuerst nach seinem Namen gefragt hatte. Er kam mit langen Schritten herein, sein feindlicher Blick war auf Reid gerichtet. „Diese Maschine kann überlistet werden. Wir wissen das.“

„Es würde irgendein Zeichen geben“, antwortete der Vernehmer ruhig. „Körpersprache, Schwitzen, Vitalwerte … alles hier deutet darauf hin, dass er die Wahrheit sagt.“ Reid kam nicht umhin zu denken, dass sie zu seinen Gunsten Englisch sprachen.

Der große Mann drehte sich weg und lief im Betonraum auf und ab, während er wütend etwas auf Arabisch murmelte. „Frage ihn nach Teheran.“

„Das habe ich“, antwortete der Vernehmer.

Der großgewachsene Mann drehte sich wütend zu Reid um. Reid hielt die Luft an und wartete darauf, wieder geschlagen zu werden.

Stattdessen ging der Mann weiter auf und ab. Er sagte kurz etwas auf Arabisch. Der Vernehmer antwortete. Der Brutalo starrte Reid an.

„Bitte!“, sagte er laut, um ihre Unterhaltung zu übertönen. „Ich bin nicht der, für den Sie mich halten. Ich habe keine Erinnerung an irgendetwas, was Sie mich fragen …“

Der großgewachsene Mann verstummte und riss plötzlich seine Augen weit auf. Er schlug sich fast selbst gegen die Stirn und sprach dann aufgeregt mit dem Vernehmer. Der passive Mann mit der Kufi strich sich übers Kinn.

„Möglich“, sagte er in Englisch. Er stand auf und nahm Reids Kopf zwischen seine beiden Hände.

„Was soll das? Was machen Sie da?“, fragte Reid. Die Fingerspitzen des Mannes suchten langsam seine Kopfhaut ab.

„Ruhe“, sagte der Mann schlicht. Er testete Reids Haaransatz, seinen Nacken, seine Ohren – „Ah!“, sagte er endlich. Er plapperte wieder auf Arabisch mit seinen Kollegen, die hinüberkamen und Reids Kopf gewalttätig auf eine Seite drückten.

Der Vernehmer ließ seinen Fingern über Reids linken Warzenfortsatz gleiten, der kleine Abschnitt des Schläfenbeins, direkt hinter dem Ohr. Dort gab es eine längliche Beule unter der Haut, kaum größer als ein Reiskorn.

Der Vernehmer bellte den großgewachsenen Mann an und der verschwand schnell aus dem Raum. Reids Hals schmerzte von dem seltsamen Winkel, in dem sie seinen Kopf festhielten.

„Was? Was ist los?“, fragte er.

„Diese Beule hier“, sagte der Vernehmer und ließ seinen Finger wieder darüber gleiten. „Was ist das?“

„Es ist … es ist ein Knochensplitter“, sagte Reid. „Ich habe ihn seit einem Autounfall in meinen Zwanzigern.“

Der großgewachsene Mann kam schnell wieder. Dieses Mal mit einem Plastiktablett. Er stellte es auf den Wagen neben den Lügendetektor. Trotz des gedämmten Lichts und dem merkwürdigen Winkel seines Kopfs konnte Reid klar sehen, was sich auf dem Tablett befand. Angst schnürte ihm die Kehle zu.

Auf dem Tablett lag eine Reihe scharfer, silberner Werkzeuge.

„Wofür sind die?“ Seine Stimme war panisch. Er wand sich in seinen Fesseln. „Was machen Sie da?“

Der Vernehmer gab eine kurze Anweisung an den Brutalo. Der trat vorwärts und das plötzlich grelle Licht der Verhörlampe ließ Reid fast erblinden.

„Warten Sie … Warten Sie!“, schrie er. „Sagen Sie mir einfach, was Sie wissen wollen.“

Der Brutalo griff Reids Kopf mit seinen großen Händen und hielt ihn fest, zwang ihn stillzuhalten. Der Vernehmer wählte ein Werkzeug – ein Skalpell mit dünnem Messer.

„Bitte nicht … Bitte nicht …“, Reids Atmung war kurz und keuchend. Er hyperventilierte fast.

„Schhh“, sagte der Vernehmer ruhig. „Sie werden stillhalten wollen. Ich möchte nicht gerne Ihr Ohr abschneiden. Zumindest nicht aus Versehen.“

Reid schrie, als das Messer die Haut hinter seinem Ohr aufschlitzte, aber der Brutalo hielt ihn ruhig. Jeder Muskel in seinen Gliedmaßen war angespannt.

Ein seltsamer Klang erreichte seine Ohren – eine sanfte Melodie. Der Vernehmer sang ein arabisches Lied, während er Reids Kopf aufschnitt.

Er ließ das blutige Skalpell auf das Tablett fallen, während Reid kurzatmig durch seine zusammengebissenen Zähne Luft holte. Dann griff der Vernehmer nach einer Nadelzange.

„Ich befürchte, das war nur der Anfang“, flüsterte er in Reids Ohr. „Der nächste Teil wird wirklich wehtun.“

Die Zange griff etwas in Reids Kopf – war es sein Knochen? – und der Vernehmer zog. Reid schrie mit Höllenqualen, als der unermessliche Schmerz durch sein Gehirn schoss und in den Nervenenden pulsierte. Seine Arme zitterten. Seine Füße traten gegen den Boden.

Der Schmerz wurde stärker und stärker, bis Reid dachte, er konnte auf keinen Fall mehr ertragen. Blut rauschte in seinen Ohren und seine eigenen Schreie klangen, als wären sie weit weg. Dann dimmte sich das Licht der Verhörlampe und alles um ihn wurde dunkel, als er langsam in die Bewusstlosigkeit sank.




KAPITEL DREI


Als Reid dreiundzwanzig Jahre alt gewesen war, war er in einen Autounfall verwickelt gewesen. Die Ampel war auf grün gesprungen und er war auf eine Kreuzung gefahren. Ein Lieferwagen fuhr über die rote Ampel und krachte in seine vordere Beifahrerseite. Sein Kopf wurde gegen das Fenster geschleudert. Er war für mehrere Minuten bewusstlos gewesen.

Seine einzige Verletzung war ein gebrochenes Schläfenbein in seinem Schädel. Es heilte gut; der einzige Beweis für den Unfall war eine kleine Beule hinter seinem Ohr. Der Arzt sagte ihm, es wäre ein Knochensplitter.

Die seltsame Sache bezüglich des Unfalls war, dass er, obwohl er sich an den Vorfall erinnern konnte, sich an keinerlei Schmerzen erinnerte – nicht, als es passierte und auch nicht hinterher.

Aber er konnte sie jetzt fühlen. Als er wieder zu Bewusstsein kam, war der kleine Knochen hinter seinem Ohr quälend schmerzhaft. Die Verhörlampe schien wieder in seine Augen. Er blinzelte und stöhnte leicht. Seinen Kopf auch nur ein wenig zu bewegen, verursachte erneute Schmerzen in seinem Hals.

Plötzlich hatte er so etwas wie einen Geistesblitz. Das helle Licht in seinen Augen war überhaupt nicht die Lampe.

Die Nachmittagssonne scheint heiß aus einem blauen wolkenlosen Himmel. Eine A-10 Warthog flog über seinen Kopf, steuerte nach rechts und verlor an Flughöhe über den flachen, grauen Dächern von Kandahār.

Die Erinnerung war nicht durchgängig. Sie kam in Stücken, wie mehrere Fotos in einer Sequenz nacheinander; so, als würde man jemanden beim Tanzen unter einer Blitzlampe beobachten.

Du stehst auf dem beigefarbenen Dach des teilweise zerstörten Hauses, ein Drittel davon ist in die Luft gegangen. Du bringst den Hinterschaft auf deine Schulter, siehst durch das Zielfernrohr und peilst auf einen Mann unten auf der Straße …

Reid zuckte mit seinem Kopf und stöhnte. Er war in dem Betonraum unter dem kritischen Blick der Verhörlampe. Seine Finger zitterten und seine Gliedmaßen fühlten sich kalt an. Schweiß tropfte seine Augenbrauen hinunter. Es war gut möglich, dass er in Schock verfiel. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass die linke Schulter seines Hemdes mit Blut vollgesaugt war.

„Knochensplitter“, sagte die gelassene Stimme des Vernehmers. Dann kicherte er höhnisch. Eine schlanke Hand erschien in Reids Sichtweite und griff nach der Nadelzange. In der Zange steckte etwas Winziges, etwas Silbernes, aber Reid konnte keine Details ausmachen. Sein Blick war verschwommen und der Raum leicht geneigt. „Wissen Sie, was das ist?“

Reid schüttelte langsam seinen Kopf.

„Ich muss zugeben, ich habe so etwas bisher auch nur einmal gesehen“, sagte der Vernehmer. „Ein Chip zur Erinnerungsunterdrückung. So etwas ist sehr nützlich für Menschen in Ihrer speziellen Situation.“ Er ließ die blutige Zange und das kleine silberne Korn auf das Plastiktablett fallen.

„Nein“, grunzte Reid. „Unmöglich.“ Das letzte Wort kam ein bisschen lauter, als nur ein Murmeln hervor. Erinnerungsunterdrückung? So etwas war Science-Fiction. Damit so etwas funktionierte, musste es das gesamte limbische System des Gehirns beeinflussen.

Die fünfte Etage des Ritz in Madrid. Du richtest deine schwarze Krawatte, bevor du die Tür mit einem kräftigen Tritt direkt über der Türklinke eintrittst. Der Mann im Raum wird überrascht; er springt auf seine Füße und greift nach einer Pistole auf seinem Schreibtisch. Aber bevor der Mann sie auf dich richten kann, greifst du nach der Waffenhand und drehst sie nach unten und weg. Die Kraft bricht das Handgelenk problemlos …

Reid schüttelte die verworrene Szene aus seinem Gehirn, als der Vernehmer erneut ihm gegenüber Platz nahm.

„Sie haben mir irgendetwas getan“, murmelte er.

„Ja“, stimmte der Vernehmer zu. „Wir haben Sie aus Ihrem mentalen Gefängnis befreit.“ Er lehnte sich mit einem knappen Schmunzeln vor und suchte in Reids Augen nach irgendetwas. „Sie erinnern sich. Es ist faszinierend, dabei zuzusehen. Sie sind verwirrt. Ihre Pupillen sind ungewöhnlich geweitet, trotz des Lichts. Was ist real ‚Professor Lawson‘?“

Der Scheich. Koste es, was es wolle.

„Wenn unsere Erinnerungen versagen …“

Letzter bekannter Ort: der Unterschlupf in Teheran.

„Wer sind wir?“

Eine Kugel klingt in jeder Sprache gleich … Wer hat das gesagt?

„Zu wem werden wir?“

Du hast das gesagt.

Reid fühlte, wie er wieder in die Leere fiel. Der Vernehmer ohrfeigte ihn zweimal und rüttelte ihn zurück in den Betonraum. „Jetzt können wir ernsthaft weitermachen. Ich frage Sie also noch mal. Wie … lautet … Ihr … Name?“

Du betrittst den Verhörraum allein. Der Verdächtige ist an einen schlaufenförmigen Bolzen am Tisch gekettet. Du greifst in deine Innentasche und ziehst eine in Leder eingebundene Ausweismarke heraus und öffnest sie …

„Reid. Lawson.“ Seine Stimme war unsicher. „Ich bin ein Professor … für europäische Geschichte …“

Der Vernehmer seufzte enttäuscht. Er signalisierte dem brutalen, finster aussehenden Mann mit einem Finger. Eine schwere Faust traf sein Gesicht. Ein Backenzahn flog mit einem Schwall frischen Bluts über den Fußboden.

Für einen Moment gab es keinen Schmerz; sein Gesicht war taub und pulsierte vom Einschlag. Dann kamen erneute nebulöse Höllenqualen über ihn.

„Nnggh...“ Er versuchte Worte zu formen, aber seine Lippen wollten sich nicht bewegen.

„Ich frage Sie noch einmal“, sagte der Vernehmer, „Teheran?“

Der Scheich versteckte sich in einem Unterschlupf, der als verlassene Textilfabrik getarnt war.

„Zagreb?“

Zwei iranische Männer wurden auf einem privaten Flugplatz festgenommen, als sie ein gechartertes Flugzeug nach Paris besteigen wollten.

„Madrid?“

Das Ritz, fünfte Etage: eine aktivierte Schläferzelle mit einer Kofferbombe. Mutmaßlicher Angriffsort: der Plaza de Cibeles.

„Scheich Mustafar?“

Er verhandelte im Tausch für sein Leben. Gab uns alles, was er wusste! Namen, Orte, Pläne. Aber er wusste nur so viel …

„Ich weiß, dass Sie sich erinnern“, sagte der Vernehmer. „Ihre Augen betrügen Sie … Null.“

Null. Ein Bild erschien in seinem Kopf: Ein Mann mit Fliegersonnenbrille und einer dunklen Motorradjacke. Er steht an einer Straßenecke in irgendeiner europäischen Stadt. Bewegt sich mit den Massen. Niemand bemerkt etwas. Niemand weiß, dass er hier ist.

Reid versuchte wieder, die Bilder aus seinem Kopf zu verjagen. Was passierte mit ihm? Die Bilder tanzten in seinem Kopf wie Stop-motion Sequenzen, aber er weigerte sich, sie als Erinnerungen anzuerkennen. Sie waren falsch. Implantiert, irgendwie. Er war ein Universitätsprofessor mit zwei Töchtern im Teenageralter und einem bescheidenen Haus in der Bronx …

„Erzählen Sie uns, was Sie über unsere Pläne wissen“, forderte der Vernehmer kategorisch.

Wir reden nicht. Niemals.

Die Worte hallten durch die Höhle seiner Gedanken, wieder und wieder. Wir reden nicht. Niemals.

„Das dauert zu lange!“, rief der großgewachsene iranische Mann. „Zwinge ihn.“

Der Vernehmer seufzte. Er griff nach dem Metallwagen – aber nicht, um den Lügendetektor einzuschalten. Stattdessen stoppten seine Finger über dem Plastiktablett. „Ich bin für gewöhnlich ein geduldiger Mann“, sagte er zu Reid. „Aber ich muss zugeben, die Frustration meines Kollegen ist irgendwie ansteckend.“ Er nahm das blutige Skalpell, das gleiche Werkzeug, das er benutzt hatte, um das kleine silberne Korn aus seinem Kopf zu schneiden und presste die Spitze des Messers leicht gegen Reids Jeans, ungefähr zehn Zentimeter über dem Knie. „Alles, was wir wissen wollen, ist, was Sie wissen. Namen. Daten. Mit wem Sie über das, was Sie wissen, gesprochen haben. Die Identität der anderen Agenten, mit denen Sie arbeiten.“

Morris. Reidigger. Johansson. Namen schossen durch seine Gedanken und mit jedem von ihnen ein Gesicht, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Ein jüngerer Mann mit dunklen Haaren und einem frechen Grinsen. Ein nett aussehender Typ mit rundem Gesicht in einem gestärkten weißen Hemd. Eine Frau mit wallendem blonden Haar und stählernen grauen Augen.

„Und was wurde aus dem Scheich.“

Irgendwie wusste Reid auf einmal, dass der gefragte Scheich festgenommen und in ein Geheimgefängnis in Marokko gebracht worden war. Es war keine Vision. Er wusste es einfach.

Wir reden nicht. Niemals.

Es lief Reid kalt den Rücken hinunter, während er Schwierigkeiten hatte, den Anschein geistiger Zurechnungsfähigkeit zu bewahren.

„Reden Sie“, drängte ihn der Vernehmer.

„Ich weiß es nicht.“ Die Worte fühlten sich seltsam an, als sie von seiner geschwollenen Zunge rollten. Alarmiert schaute er auf und sah, wie der andere Mann ihn angrinste.

Er hatte die Aufforderung in der fremden Sprache verstanden … und in tadellosem Arabisch geantwortet.

Der Vernehmer drückte die Spitze des Messers in Reids Bein. Er schrie auf, als das Messer den Muskel seines Oberschenkels penetrierte. Instinktiv versuchte er, sein Bein wegzuziehen, aber seine Fußgelenke waren an die Stuhlbeine gebunden.

Er biss fest seine Zähne zusammen, sein Kiefer schmerzte protestierend. Die Wunde in seinem Bein brannte heiß.

Der Vernehmer grinste und neigte seinen Kopf leicht zur Seite. „Ich muss zugeben, Sie sind ein härterer Brocken, als die meisten, Null“, sagte er auf Englisch. „Schade für Sie, aber ich bin ein Profi.“ Er griff nach unten und zog langsam eine von Reids dreckigen Socken aus. „Ich muss diese Taktik nicht sehr oft anwenden.“ Er setzte sich auf und starrte Reid direkt in die Augen. „Hier ist, was als Nächstes passieren wird: ich werde kleine Teile von Ihnen abschneiden und Ihnen jedes Stück zeigen. Wir fangen mit ihren Zehen an. Dann die Finger. Danach … werden wir sehen, wie es aussieht.“ Der Vernehmer kniete sich hin und presste das Messer gegen den kleinen Zeh seines rechten Fußes.

„Warten Sie“, bettelte Reid. „Bitte warten Sie einfach.“

Die anderen beiden Männer im Raum kamen näher und sahen ihn interessiert an.

Verzweifelt fingerte Reid an den Seilen, die seine Handgelenke fesselten. Es war ein eingebetteter Knoten mit zwei gegenüberliegenden Schlaufen, die mit halben Anschlägen verbunden waren …

Ein intensiver Schauer breitete sich vom Ende seiner Wirbelsäule hinauf in seine Schultern aus. Irgendwie wusste er es einfach. Er hatte das intensive Gefühl eines Déjà-vus, als wäre er schon einmal in dieser Situation gewesen – oder besser gesagt, diese wahnsinnigen Visionen, die irgendwie in seinem Kopf eingepflanzt waren, ließen ihn wissen, dass es so war.

Aber am wichtigsten war, dass er wusste, was er tun musste.

„Ich werde es Ihnen sagen!“, keuchte Reid. „Ich sage Ihnen, was auch immer Sie wissen wollen.“

Der Vernehmer sah auf. „Ja? Gut. Aber zuerst werde ich trotzdem diesen Zeh abschneiden. Ich möchte ja nicht, dass Sie glauben, ich hätte geblufft.“

Hinter seinem Rücken griff Reid seinen linken Daumen mit der anderen Hand. Er hielt den Atem an und zog ruckartig daran. Er fühlte, wie der Daumen aus dem Gelenk sprang. Er wartete auf den scharfen, intensiven Schmerz, aber es war kaum mehr als ein dumpfes Pochen.

Eine neue Erkenntnis überkam ihn – dies war nicht das erste Mal, dass ihm so etwas passiert war.

Der Vernehmer schnitt in die Haut seines Zehs und er schrie laut auf. Mit seinem Daumen entgegengesetzt des normalen Winkels konnte er seine Hand aus den Fesseln befreien. Als die eine Schlaufe offen war, gab auch die andere nach.

Seine Hände waren frei. Aber er hatte keine Ahnung, was er mit ihnen machen sollte.

Der Vernehmer sah auf und runzelte verwirrt die Stirn. „Was …?“

Noch bevor er ein weiteres Wort sprechen konnte, schoss Reids rechte Hand vor und griff nach dem nahegelegensten Werkzeug – einem Präzisionsmesser mit schwarzem Griff. Als der Vernehmer versuchte aufzustehen, zog Reid seine Hand zurück. Die Klinge fuhr über die Halsschlagader des Mannes.

Beide Hände flogen an seine Kehle. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, als der Vernehmer mit weit aufgerissenen Augen zu Boden sank.

Der massige Brutalo brüllte vor Wut und sprang nach vorne. Er griff mit seinen fleischigen Händen nach Reids Hals und drückte zu. Reid versuchte nachzudenken, aber die Angst packte ihn.

Im nächsten Moment hob er das Präzisionsmesser wieder hoch und stach dem Brutalo in die Innenseite seines Handgelenks. Während er es hineindrückte, drehte er seine Schulter und schnitt den Unterarm des Mannes der Länge nach auf. Der Brutalo schrie und fiel zu Boden, während er seine schwere Verletzung umklammerte.

Der große, dünne Mann starrte ungläubig. Wie bereits zuvor auf der Straße, vor Reids Haus, schien er zu zögern, sich ihm anzunähern. Stattdessen tastete er nach dem Plastiktablett und einer Waffe. Er griff nach einer gebogenen Klinge und versuchte in Reids Brust zu stechen.

Reid warf sein gesamtes Körpergewicht nach hinten, kippte dabei mit dem Stuhl um und entging nur knapp dem Messer. Im selben Moment zwang er seine Beine, soweit er konnte, nach außen. Als der Stuhl auf dem Betonboden aufschlug, lösten sich die Stuhlbeine vom Rahmen. Reid stand auf und wäre fast gestolpert, weil seine Beine so schwach waren.

Der großgewachsene Mann schrie auf Arabisch um Hilfe und fuchtelte wahllos mit dem Messer in der Luft herum, um Reid in Schach zu halten. Reid hielt Abstand und beobachtete, wie die silberne Klinge hypnotisch hin- und herschwang. Der Mann schwankte nach rechts und Reid stürzte sich auf ihn, wobei er den Arm – und das Messer – zwischen ihren Körpern einklemmte. Sein Schwung schob sie vorwärts und als der Iraner stürzte, drehte sich Reid und schlitzte dabei gekonnt die Oberschenkelarterie auf der Rückseite seines Beines auf. Er kam auf die Beine und schleuderte das Messer in die entgegengesetzte Richtung, wobei er die Halsschlagader des Mannes durchbohrte.

Er wusste nicht genau, wieso er das wusste, aber ihm war klar, dass der Mann noch siebenundvierzig Sekunden zu leben hatte.

Fußtritte waren auf einer Treppe in der Nähe zu hören. Mit zitternden Fingern stürzte Reid zur offenen Tür und drückte sich daneben flach an die Wand. Das Erste, was durch die Türöffnung kam, war eine Waffe – er erkannte sie sofort als eine Beretta 92 FS – dann folgte ein Arm und schließlich ein Torso. Reid wirbelte herum, packte die Waffe mit seiner Armbeuge und schob das Präzisionsmesser seitlich zwischen zwei Rippen. Die Klinge durchbohrte das Herz des Mannes. Ein Schrei entwich seinen Lippen, als er zu Boden glitt.

Dann gab es nur noch Stille.

Reid taumelte rückwärts. Seine Atmung war flach.

„Oh Gott“, stieß er hervor. „Oh Gott.“

Er hatte gerade innerhalb von wenigen Sekunden vier Männer getötet – nein ermordet. Was noch schlimmer war, war, dass es reflexartig passiert war, so wie Fahrradfahren. Oder plötzlich Arabisch zu sprechen. Oder das Schicksal des Scheichs zu kennen.

Er war ein Professor. Er hatte Erinnerungen. Er hatte Kinder. Eine Karriere. Aber sein Körper wusste ganz offensichtlich, wie man kämpfte, auch wenn er selbst es nicht wusste. Er wusste, wie er sich aus Fesseln befreien konnte. Er wusste, wo ein tödlicher Schlag landen musste.

„Was passiert mit mir?“, keuchte er.

Er bedeckte kurz seine Augen, als ihn eine Welle der Übelkeit überkam. Blut klebte an seinen Händen – buchstäblich. Blut war auf seinem Hemd. Als das Adrenalin nachließ, wurden seine Gliedmaßen von Schmerzen durchdrungen, weil er sich so lange nicht bewegt hatte. Sein Knöchel pochte noch immer von dem Sprung von der Terrasse zu Hause. Er war in sein Bein gestochen worden. Er hatte eine offene Wunde hinter seinem Ohr.

Er wollte nicht einmal darüber nachdenken, wie sein Gesicht aussehen würde.

Verschwinde, schrie sein Gehirn ihn an. Es könnten noch mehr kommen.

„In Ordnung“, sagte Reid laut, als würde er jemandem im Raum zustimmen. Er beruhigte seinen Atem so gut er konnte und scannte seine Umgebung ab. Sein verschwommener Blick fiel auf bestimmte Details – die Beretta. Auf eine rechteckige Beule in der Tasche des Vernehmers. Auf eine seltsame Markierung am Hals des Brutalos.

Er kniete sich neben den massigen Mann und starrte auf die Narbe. Sie war in der Nähe der Kieferlinie, teilweise von seinem Bart verdeckt und nicht größer als ein Zehn-Cent-Stück. Es schien eine Art Markierung zu sein, die in die Haut eingebrannt war und einem Symbol ähnelte, fast wie ein Buchstabe in einem anderen Alphabet. Aber er erkannte es nicht. Reid betrachtete es einige Sekunden lang, um es in seiner Erinnerung abzuspeichern.

Schnell durchwühlte er die Hosentasche des toten Vernehmers und fand ein uraltes, riesengroßes Handy. Wahrscheinlich ein Wegwerfhandy, sagte ihm sein Gehirn. In der Gesäßtasche des großgewachsenen Mannes fand er ein Stück zerrissenes, weißes Papier, eine Ecke davon war mit Blut bespritzt. In einer gekritzelten, fast unleserlichen Handschrift stand eine lange Reihe von Ziffern darauf, die mit 963 begann – der Ländercode für einen internationalen Anruf nach Syrien.

Keiner der Männer trug einen Ausweis bei sich, aber der Beinahe-Schütze hatte ein dickes Portmonee mit Euronoten, wie es aussah ein paar Tausend. Reid steckte es ein und griff sich zum Schluss noch die Beretta. Das Gewicht der Pistole fühlte sich merkwürdig normal in seinen Händen an. Neun-Millimeter Kaliber. Fünfzehn-Schuss-Magazin. Ein-hundert-fünf-und-zwanzig Millimeter Lauflänge.

Seine Hände öffneten geschickt den Magazinauslöseknopf, so als ob jemand anders sie kontrollieren würde. Dreizehn Schuss. Er schob das Magazin zurück und sicherte es.

Dann machte er sich endlich aus dem Staub.

Auf der anderen Seite der dicken Stahltür lag eine schäbige Halle, an deren Ende sich eine Treppe befand. Oben konnte man Tageslicht sehen. Reid ging vorsichtig die Treppe hinauf, die Pistole nach oben gerichtet, aber er hörte nichts. Die Luft wurde kühler, als er hinaufkam.

Er fand sich in einer kleinen schmutzigen Küche wieder, in der die Farbe von den Wänden abblätterte und schmutziges Geschirr im Spülbecken türmte. Die Fenster waren lichtdurchlässig; sie waren mit Fett beschmiert worden. Der Heizkörper in der Ecke war kalt.

Reid suchte den Rest des kleinen Hauses ab; niemand außer den vier toten Männern im Keller war dort. Das einzige Badezimmer war in noch schlechterer Verfassung als die Küche, aber Reid konnte ein scheinbar altes Erste-Hilfe-Set finden. Er wagte es nicht, sich selbst im Spiegel anzuschauen, als er so viel Blut wie möglich von seinem Gesicht und Hals abwusch. Alles von Kopf bis Fuß schmerzte, stach oder brannte. Die winzige Tube mit antiseptischer Salbe war bereits vor drei Jahren abgelaufen, aber er benutzte sie trotzdem. Er zuckte zusammen, als er den Verband auf seine offenen Schnitte drückte.

Dann setzte er sich auf den Toilettendeckel und vergrub seinen Kopf in seinen Händen. Er brauchte einen kurzen Moment, um sich wieder zu fassen. Du könntest abhauen, sagte er zu sich selbst. Du hast Geld. Zum Flughafen gehen. Nein, du hast ja keinen Reisepass. Geh zu deiner Botschaft. Oder finde ein Konsulat. Aber …

Aber er hatte gerade vier Männer getötet und sein eigenes Blut war überall im Keller verteilt. Und es gab noch ein anderes, klareres Problem.

„Ich weiß nicht, wer ich bin“, murmelte er laut.

Diese Gedankenblitze, diese Visionen, die sich in seinem Kopf zeigten, schienen seine eigene Perspektive zu sein. Seine Sichtweise. Aber er hatte niemals, würde niemals so etwas tun. Erinnerungsunterdrückung, hatte der Vernehmer gesagt. War das überhaupt möglich? Erneut dachte er an seine Mädchen. Waren sie in Sicherheit? Hatten sie Angst? Waren sie … seine?

Diese Vorstellung erschreckte ihn bis aufs Mark. Was, wenn das, was er für real hielt, in Wirklichkeit irgendwie überhaupt nicht real war?

Nein, sagte er unerbittlich zu sich selbst. Es waren seine Töchter. Er war bei ihrer Geburt dabei gewesen. Er hatte sie aufgezogen. Keine dieser bizarren, aufdringlichen Visionen widersprach dem. Und er musste einen Weg finden, Kontakt mit ihnen herzustellen, um herauszufinden, ob alles in Ordnung war. Dies war seine oberste Priorität. Er konnte auf gar keinen Fall das Wegwerfhandy benutzen, um mit seiner Familie Kontakt aufzunehmen; er wusste nicht, ob die Anrufe zurückverfolgt wurden und wer eventuell zuhörte.

Plötzlich erinnerte er sich an den Zettel mit der Telefonnummer darauf. Er stand auf und zog ihn aus seiner Tasche. Das blutbespritzte Papier starrte ihn an. Er wusste nicht, worum es hier ging oder warum die Männer gedacht hatten, er sei jemand anderes als der, der er sagte, aber er fühlte einen Hauch von Dringlichkeit unter der Oberfläche seines Unterbewusstseins, etwas, das ihm sagte, dass er jetzt ungewollt in etwas involviert war, dass viel, viel größer war als er selbst.

Mit zitternden Händen wählte er die Nummer auf dem Wegwerfhandy.

Eine raue Männerstimme antwortete nach dem zweiten Klingelton. „Ist es erledigt?“, fragte er auf Arabisch.

„Ja“, antwortete Reid. Er versuchte, seine Stimme so gut wie möglich zu verstellen und seinen Akzent zu verstecken.

„Haben Sie die Informationen?“

„Hmm.“

Für einen langen Moment war die Stimme still. Reids Herz klopfte laut in seiner Brust. Hatten sie bemerkt, dass er nicht der Vernehmer war?

„Rue de Stalingrad 187“, sagte der Mann schließlich. „Acht Uhr.“ Dann legte er auf.

Reid beendete den Anruf und atmete tief durch. Rue de Stalingrad?, dachte er. In Frankreich?

Er war sich nicht sicher, was er jetzt tun würde. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte er eine Mauer durchbrochen und eine ganz andere Welt auf der anderen Seite entdeckt. Er konnte nicht nach Hause zurückkehren, ohne zu wissen, was mit ihm geschah. Selbst wenn er es versuchte, wie lange würde es dauern, bis sie ihn und die Mädchen wiederfänden? Er hatte nur eine Spur. Er musste ihr folgen.

Er verließ das kleine Haus und fand sich in einer engen Gasse wieder, die auf eine Rue Marceau führte. Sofort wusste er, wo er war – in einem Vorort von Paris, nur wenige Blöcke von der Seine entfernt. Fast musste er lachen. Er hatte gedacht, er würde auf die vom Krieg zerstörten Straßen einer nahöstlichen Stadt hinaustreten. Stattdessen befand er sich auf einem Boulevard, gesäumt von Geschäften und Reihenhäusern und unwissenden Passanten, die trotz der kalten Februarbrise ihren gemütlichen Nachmittag genossen.

Er steckte die Pistole in den Hosenbund seiner Jeans und trat hinaus auf die Straße, mischte sich unter die Menschenmenge und versuchte, wegen seines blutbefleckten Hemdes, der Bandagen und der offensichtlichen Prellungen nicht aufzufallen. Er schlang seine Arme eng um sich – er würde neue Kleidung brauchen, eine Jacke, etwas Wärmeres als nur sein Hemd. Er musste außerdem sicherstellen, dass seine Mädchen in Sicherheit waren.

Danach würde er sich ein paar Antworten holen.




KAPITEL VIER


Durch die Straßen von Paris zu laufen, fühlte sich wie ein Traum an – nur nicht so, wie man es erwarten oder sich wünschen würde. Reid erreichte die Kreuzung der Rue de Berri und der Avenue des Champs-Élysées, die trotz des kühlen Wetters wie immer mit Touristen wimmelte. Der Arc de Triomphe war ein paar Häuserblocks entfernt im Nordwesten zu sehen. Er war das Herzstück des Charles de Gaulle Platzes, aber Reid nahm seine Großartigkeit nicht wahr. Eine neue Vision blitzte in seinen Gedanken auf.

Ich war hier schon einmal. Ich habe an genau dieser Stelle gestanden und auf das Straßenschild geschaut. In Jeans und einer schwarzen Motorradjacke, die Farben der Welt von einer polarisierten Sonnenbrille abgeschwächt …

Er ging nach rechts. Er war sich nicht sicher, was er in dieser Richtung finden würde, aber er hatte den unheimlichen Verdacht, dass er es erkennen würde, wenn er es sah. Es war eine unglaublich bizarre Empfindung, nicht zu wissen, wohin er ging, bis er dort ankam.

Es fühlte sich so an, als ob jeder neue Anblick den Hauch einer vagen Erinnerung hervorrief, jede unabhängig von der nächsten, aber doch immer irgendwie übereinstimmend. Er wusste, dass das Café an der Ecke die besten Pasteten servierte, die er je probiert hatte. Bei dem süßen Duft der Konditorei auf der anderen Straßenseite lief ihm das Wasser im Mund zusammen, weil er an herzhafte Schweineohren dachte. Er hatte noch nie zuvor Schweineohren gegessen. Oder doch?

Selbst Geräusche erschütterten ihn. Passanten unterhielten sich miteinander, während sie den Boulevard entlangschlenderten. Gelegentlich richteten sich einige Blicke auf sein verbundenes, verletztes Gesicht.

„Ich würde wirklich nicht den anderen Typen sehen wollen“, murmelte ein junger Franzose zu seiner Freundin. Beide kicherten.

In Ordnung, keine Panik, dachte Reid.

Anscheinend kannst du Arabisch und Französisch. Die einzige andere Sprache die Professor Lawson sprach, war Deutsch und ein paar Sätze auf Spanisch.

Es gab noch etwas anderes, etwas das schwerer zu definieren war. Hinter seinen rasselnden Nerven und dem Instinkt zu rennen, nach Hause zu gehen, sich irgendwo zu verstecken, hinter all dem gab es einen kalten, stählernen Rückhalt. Es war, als hätte er die schwere Hand eines älteren Bruders auf seiner Schulter, eine Stimme in seinem Hinterkopf, die zu ihm sagte: Entspanne dich. Du weißt das alles.

Während die Stimme in seinem Hinterkopf ihn leise führte, standen seine Mädchen und ihre Sicherheit im Vordergrund. Wo waren sie? Woran haben sie gerade gedacht? Was würde es für sie bedeuten, würden sie beide Eltern verlieren?

Er hatte nicht einen Moment aufgehört, an sie zu denken. Selbst als er in dem dreckigen Kellergefängnis geschlagen wurde, während diese Visionen in seine Gedanken eindrangen, hatte er immer an die Mädchen gedacht – und ganz besonders an die letzte Frage. Was würde mit ihnen geschehen, wäre er dort in diesem Keller gestorben? Oder sollte er sterben, während er diese tollkühne Sache tat, die er nun vorhatte?

Er musste sich versichern. Irgendwie musste er Kontakt aufnehmen. Aber zuerst brauchte er eine Jacke und das nicht nur, um sein blutbeflecktes Hemd zu verstecken. Das Februarwetter brachte es zu fast zehn Grad Celsius, war aber definitiv noch zu kalt, um nur in einem Hemd herumzulaufen. Der Boulevard bildete einen Windkanal und die Brise war steif. Er ging ins nächste Kleidergeschäft und wählte den ersten Mantel, der ihm ins Auge fiel – eine dunkelbraune Bomberjacke, Leder mit Fleece gefüttert. Seltsam, dachte er. Nie zuvor hätte er sich eine solche Jacke ausgesucht, er stand mehr auf Tweed und karierte Mode, aber er fühlte sich dazu hingezogen.

Die Bomberjacke kostete zweihundertvierzig Euro. Egal; er hatte eine Tasche voller Geld. Er suchte sich auch noch ein neues Shirt aus, ein schiefergraues T-Shirt und dann eine neue Jeans, neue Socken und robuste braune Stiefel. Er brachte alle Artikel zur Kasse und bezahlte in bar.

Auf einem der Geldscheine befand sich ein Fingerabdruck aus Blut. Der dünnlippige Verkäufer tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Ein blitzartiger Gedanke –

Ein Typ betritt blutüberströmt eine Tankstelle. Er bezahlt sein Benzin und will gerade gehen. Der verwirrte Verkäufer ruft: „Hey, Mann, geht es dir gut?“ Der Typ lächelt. „Oh ja, mir geht es gut. Es ist nicht mein Blut.“

Ich habe diesen Witz noch nie zuvor gehört.

„Darf ich bitte Ihre Umkleidekabine benutzen?“, fragte Reid auf Französisch.

Der Verkäufer deutete auf die Kabinen im hinteren Teil des Geschäfts. Während der gesamten Transaktion hatte er kein einziges Wort gesagt.

Bevor er sich umzog, betrachtete sich Reid zum ersten Mal in einem sauberen Spiegel. Gott, er sah wirklich schrecklich aus. Sein rechtes Auge war stark angeschwollen und es zeigten sich Blutflecken auf den Verbänden. Er musste eine Apotheke finden, um ein paar gute Erste-Hilfe-Sachen zu kaufen. Er ließ seine schmutzige und leicht blutverschmierte Jeans über seinen verletzten Oberschenkel hinuntergleiten und zuckte dabei zusammen. Etwas fiel auf den Boden und erschreckte ihn. Die Beretta. Er hatte fast vergessen, dass er sie hatte.

Die Pistole war schwerer, als er gedacht hätte. Neunhundertfünfundvierzig Gramm, ungeladen, er wusste das. Sie zu halten war, wie eine verflossene Geliebte zu umarmen, vertraut und fremd gleichzeitig. Er legte die Waffe hin und zog sich weiter um, stopfte seine alten Sachen in die Einkaufstüte und steckte dann die Pistole in den Hosenbund seiner neuen Jeans, an seinem Rücken.

Auf dem Boulevard hielt Reid den Kopf gesenkt und lief zügig den Bürgersteig entlang. Er brauchte nicht noch mehr Visionen, die ihn jetzt ablenkten. Er warf die Tüte mit der alten Kleidung in einen Mülleimer an der Ecke, ohne dafür auch nur anzuhalten.

„Oh! Excusez-moi“, entschuldigte er sich, als er mit seiner Schulter eine vorbeilaufende Frau in einem Businessanzug anrempelte. Sie funkelte ihn an. „Es tut mir leid.“ Sie schnaubte und ging weiter. Er steckte seine Hände in die Jackentaschen – gemeinsam mit dem Handy, welches er gerade aus ihrer Handtasche geklaut hatte.

Es war einfach gewesen. Zu einfach.

Zwei Häuserblocks entfernt stellte er sich unter die Markise eines Kaufhauses und zog das Telefon heraus. Er atmete erleichtert auf – er hatte die Geschäftsfrau aus einem bestimmten Grund ausgesucht und sein Instinkt hatte sich bestätigt. Sie hatte Skype auf ihrem Handy installiert, mit einem Konto, das zu einer amerikanischen Nummer gehörte. Er öffnete den Internetbrowser des Handys, suchte die Nummer von Pap’s Feinkostladen in der Bronx und wählte sie.

Eine junge männliche Stimme antwortete sofort. „Pap’s, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ronnie?“ Einer seiner Schüler aus dem Vorjahr arbeitete Teilzeit in Reids Lieblings-Feinkostladen. „Hier ist Professor Lawson.“

„Hallo, Professor!“, sagte der junge Mann fröhlich. „Wie geht es Ihnen? Möchten Sie eine Bestellung zum Abholen aufgeben?“

„Nein. Ja … so ungefähr. Hören Sie zu, ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten, Ronnie.“ Pap’s Feinkostladen war nur sechs Häuserblocks von seinem Haus entfernt. An schönen Tagen ging er oft zu Fuß dorthin, um belegte Brötchen zu kaufen. „Haben Sie Skype auf Ihrem Handy?“

„Ja?“, sagte Ronnie mit einem verwirrten Klang in seiner Stimme.

„Sehr gut. Hier ist, worum ich Sie bitten möchte. Schreiben Sie diese Nummer auf …“ Er wies den Schüler an, schnell zu seinem Haus zu laufen, um zu sehen wer, wenn überhaupt irgendwer, dort war und ihn dann auf dieser amerikanischen Nummer zurückzurufen.

„Professor, stecken Sie in irgendwelchen Schwierigkeiten?“

„Nein, Ronnie, mir geht es gut“, log er. „Ich habe mein Handy verloren und eine nette Frau lässt mich ihres benutzen, damit ich meine Kinder wissen lassen kann, dass es mir gut geht. Aber ich habe nur ein paar Minuten Zeit. Wenn Sie also bitte …“

„Sagen Sie nichts mehr, Professor. Ich bin froh, wenn ich helfen kann. Ich rufe Sie in ein paar Minuten zurück.“ Ronnie legte auf.

Während er wartete, ging Reid nervös unter der kurzen Länge der Markise auf und ab und sah alle paar Sekunden auf das Telefon, für den Fall, dass er den Anruf verpasste. Es fühlte sich so an, als würde eine ganze Stunde verstreichen, bevor es klingelte, obwohl es nur sechs Minuten gewesen waren.

„Hallo?“, er beantwortete den Skype Anruf beim ersten Klingeln. „Ronnie?“

„Reid, bist du das?“, fragte eine verzweifelte, weibliche Stimme.

„Linda!“, sagte Reid atemlos. „Ich bin so froh, dass du da bist. Höre zu, ich muss wissen –“

„Reid, was ist passiert? Wo bist du?“, wollte sie wissen.

„Die Mädchen, sind sie bei –“

„Was ist passiert?“, unterbrach ihn Linda erneut. „Die Mädchen sind heute Morgen aufgewacht und sind fast durchgedreht, weil du weg warst, also haben sie mich angerufen und ich bin gleich vorbeigekommen ...“

„Linda, bitte“, versuchte er erneut zu fragen, „wo sind sie?“

Sie sprach über ihn hinweg, deutlich verstört. Linda war eine Menge Dinge, aber gut in einer Krisensituation zu reagieren, war keins davon. „Maya sagte, dass du manchmal morgens spazieren gehst, aber sowohl die Vorder- als auch die Hintertür standen offen und sie wollte die Polizei rufen, weil sie sagte, dass du nie dein Telefon zu Hause lässt und jetzt kommt dieser Junge aus dem Feinkostladen und reicht mir ein Telefon –?“

„Linda!“, zischte Reid scharf. Zwei ältere Männer, die an ihm vorbeigingen, sahen zu ihm auf. „Wo sind die Mädchen?“

„Sie sind hier“, keuchte sie. „Sie sind beide hier, im Haus mit mir.“

„Sie sind in Sicherheit?“

„Ja, selbstverständlich. Reid, was ist los?“

„Habt ihr die Polizei gerufen?“

„Noch nicht, nein … im Fernsehen wird immer gesagt, man soll vierundzwanzig Stunden warten, bevor man jemanden als vermisst meldet … steckst du in irgendeiner Art von Schwierigkeiten? Von wo aus rufst du mich an? Wessen Skype Konto ist das?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Hör mir einfach zu. Bitte die Mädchen eine Tasche zu packen und bringe sie in ein Hotel. Nichts irgendwo in der Nähe; außerhalb der Stadt. Vielleicht nach Jersey ...“

„Reid, was?“

„Meine Brieftasche liegt auf meinem Schreibtisch im Büro. Benutze die Kreditkarten nicht direkt. Hole dir einen Vorschuss mit den Karten darin und nimm das Geld, um für den Aufenthalt zu bezahlen. Vorläufig unbefristet.“

„Reid! Ich werde überhaupt nichts tun, bis du mir endlich sagst, was los ist … Moment!“ Lindas Stimme klang gedämpft und weiter entfernt. „Ja, er ist es. Es geht ihm gut. Denke ich. Warte, Maya!“

„Dad? Dad, bist du das?“, erklang eine neue Stimme in der Leitung. „Was ist passiert? Wo bist du?“

„Maya! Ich, äh, musste in letzter Minute etwas erledigen. Ich wollte dich nicht wecken …“

„Willst du mich verarschen?“, ihre Stimme klang schrill, aufgeregt und besorgt zugleich. „Ich bin nicht dumm, Dad. Sag mir die Wahrheit.“

Er seufzte. „Du hast recht. Es tut mir leid. Ich kann dir nicht sagen, wo ich bin, Maya. Und ich sollte nicht zu lange am Telefon sein. Tu einfach, was deine Tante dir sagt, in Ordnung? Ihr werdet das Haus für eine Weile verlassen. Geht nicht zur Schule. Lauft nicht irgendwo rum. Sprich nicht über mich am Telefon oder am Computer. Verstanden?“

„Nein, das habe ich nicht verstanden! Steckst du in Schwierigkeiten? Sollen wir die Polizei rufen?“

„Nein, bitte tu das nicht“, sagte er. „Noch nicht. Gib mir einfach etwas Zeit, um etwas zu klären.“

Sie war für einen langen Moment still.

Dann sagte sie: „Versprich mir, dass es dir gut geht.“

Er zuckte zusammen.

„Dad?“

„Ja“, sagte er ein bisschen zu forsch. „Mir geht es gut. Bitte tu einfach, was ich sage und geh mit deiner Tante Linda mit. Ich liebe euch beide. Richte Sara aus, was ich gesagt habe und gib ihr eine Umarmung von mir. Ich melde mich, sobald ich kann –“

„Warte, warte!“, sagte Maya. „Wie willst du mit uns Kontakt aufnehmen, wenn du nicht weißt, wo wir sind?“

Er dachte einen Moment lang nach. Er konnte Ronnie nicht bitten, noch tiefer verwickelt zu werden. Er konnte die Mädchen nicht direkt anrufen. Und er konnte nicht riskieren zu wissen, wo sie sich befanden, denn das könnte man gegen ihn verwenden ...

„Ich werde ein falsches Skype Konto einrichten“, sagte Maya, „unter einem anderen Namen. Du wirst wissen, welchen. Ich werde es nur von Hotelcomputern aus prüfen. Wenn du uns kontaktieren musst, schicke uns eine Nachricht.“

Reid verstand sofort. Er fühlte eine Welle des Stolzes über sich kommen; sie war so schlau und in einer Drucksituation so viel cooler, als er jemals gehofft hatte.

„Dad?“

„Ja“, sagte er. „Das ist gut. Pass auf deine Schwester auf. Ich muss los …“

„Ich hab dich auch lieb“, sagte Maya.

Er beendete den Anruf. Dann schniefte er. Wieder kam der dringende Instinkt in ihm hoch, zu ihnen nach Hause zu rennen, sie in Sicherheit zu bringen, alles zu packen, was sie konnten und irgendwohin wegzugehen.

Aber er konnte es nicht tun. Was auch immer es war, wer auch immer hinter ihm her war, hatte ihn bereits einmal gefunden. Er hatte sehr viel Glück gehabt, dass sie nicht hinter seinen Mädchen her waren. Vielleicht wussten sie nichts von den Kindern. Das nächste Mal, wenn es ein nächstes Mal gäbe, hätte er vielleicht nicht soviel Glück.

Reid öffnete das Handy, zog die SIM-Karte heraus und zerbrach sie in zwei Teile. Er ließ die Stücke in einen Gully fallen. Als er weiter die Straße entlanglief, warf er die Batterie in einen Mülleimer und die beiden Telefonhälften in einen anderen.

Er wusste, dass er in die ungefähre Richtung der Rue de Stalingrad lief, obwohl er keine Ahnung hatte, was er tun würde, wenn er dort ankam. Sein Gehirn schrie ihn an, die Richtung zu wechseln, irgendwo anders hinzugehen. Aber eine Selbstsicherheit in seinem Unterbewusstsein zwang ihn weiterzugehen.

Seine Entführer hatten ihn gefragt, was er von ihren „Plänen“ wusste. Die Orte, nach denen sie ihn gefragt hatten, Zagreb, Madrid, und Teheran, mussten miteinander verbunden sein und sie hatten ganz klar etwas mit den Männern zu tun, die ihn entführt hatten. Was auch immer diese Visionen waren – er weigerte sich noch immer, sie als etwas anderes anzuerkennen –, sie enthielten Wissen über etwas, das entweder geschehen war oder noch geschehen würde. Wissen, das er nicht kannte. Und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr spürte er das quälende Gefühl von Dringlichkeit.

Nein, es war mehr als das. Es fühlte sich wie eine Verpflichtung an.

Seine Entführer schienen gewillt gewesen zu sein, ihn für sein Wissen langsam zu töten. Und er hatte das Gefühl, dass, wenn er nicht herausfand, was das war und was er angeblich wissen sollte, noch mehr Menschen sterben würden.

„Monsieur.“ Reid wurde von einer matronenhaften Frau mit einem Schal aus seinen Gedanken gerissen, die sanft seinen Arm berührte. „Sie bluten“, sagte sie auf Englisch und zeigte auf ihre eigene Augenbraue.

„Oh. Merci.“ Er berührte mit zwei Fingern seine rechte Augenbraue. Ein kleiner Schnitt hatte den Verband durchnässt und ein Tropfen Blut lief über sein Gesicht. „Ich muss eine Apotheke finden“, murmelte er laut.

Dann atmete er tief durch, als ihm ein Gedanke kam: es gab eine Apotheke zwei Häuserblocks entfernt. Er war nie drin gewesen – jedenfalls nicht zu seinem eigenen vertrauensunwürdigen Wissen –, aber er wusste es einfach, genauso wie er den Weg zu Pap’s Feinkostladen kannte.

Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Die anderen Visionen waren alle instinktiv gewesen und wurden durch äußere Reize hervorgerufen; Anblicke, Geräusche oder sogar Düfte. Dieses Mal gab es keine dazugehörige Vision. Es war ein schlichtes Wissen, genauso wie er wusste, wo er an jeder Straßenkreuzung langlaufen musste. So, wie er gewusst hatte, wie man die Beretta lädt.

Er traf eine Entscheidung, bevor die Ampel grün wurde. Er würde zu diesem Treffen gehen und so viele Informationen sammeln, wie er konnte. Dann würde er sich entscheiden, was er damit tun würde – vielleicht musste er es den Behörden melden und sie würden ihn bezüglich der vier Männer im Keller freisprechen. Die Polizei die Festnahmen machen lassen, während er nach Hause zu seinen Kindern zurückkehrte.

In der Drogerie kaufte er eine kleine Tube Sekundenkleber, eine Schachtel Pflasterzugverbände, Wattestäbchen und Make-up, das fast seinem Hautton entsprach. Er ging mit seinen Einkäufen zur Toilette und schloss die Tür hinter sich ab.

Er löste die Verbände, die er schnellstmöglich in der Wohnung in seinem Gesicht befestigt hatte und wusch das verkrustete Blut von seinen Wunden. Er benutzte die Pflasterzugverbände für die kleineren Schnitte. Für die tieferen Wunden, die normalerweise genäht werden müssten, presste er die Ränder der Haut zusammen und drückte etwas Sekundenkleber darauf, während er die Zähne fest zusammenbiss. Dann hielt er für ungefähr dreißig Sekunden den Atem an. Der Kleber brannte sehr, aber er trocknete schnell. Zum Schluss verteilte er Make-up auf den Konturen seines Gesichts, besonders auf den Verletzungen, die seine ehemaligen sadistischen Entführer verursacht hatten. Es gab keine Möglichkeit sein geschwollenes Auge und den angeschlagenen Kiefer völlig zu verstecken, aber wenigstens würden ihn so weniger Menschen auf der Straße anstarren.

Der gesamte Prozess dauerte etwa eine halbe Stunde und in dieser Zeit klopften zweimal andere Leuten an die Toilettentür (das zweite Mal schrie eine Frau auf Französisch, dass sich ihr Kind fast in die Hose machte). Beide Male rief Reid nur zurück: „Occupé!“

Als er endlich fertig war, betrachtete er sich selbst im Spiegel. Es war alles andere als perfekt, aber zumindest sah er nicht mehr so aus, als wäre er in einer unterirdischen Folterkammer geschlagen worden. Er fragte sich, ob er dunkleres Make-up hätte kaufen sollen, einen Ton, der ihn ausländischer aussehen ließ. Wusste der Anrufer, wen er treffen sollte? Würde er erkennen, wer er war – oder, ob er der war, für den sie ihn hielten? Die drei Männer, die zu seinem Haus gekommen waren, schienen sich nicht so sicher gewesen zu sein; sie hatten ihn mit einem Foto abgleichen müssen.

„Was mache ich denn?“, fragte er sich selbst. Du bereitest dich auf ein Treffen mit einem gefährlichen Verbrecher vor, der höchstwahrscheinlich ein bekannter Terrorist ist, sagte die Stimme in seinem Kopf – nicht die neue aufdringliche Stimme, sondern seine eigene, Reid Lawsons Stimme. Es war sein eigener gesunder Menschenverstand, der ihn verspottete.

Dann meldete sich die souveräne, selbstbewusste Persönlichkeit, die unter der Oberfläche verborgen lag, zu Wort. Alles wird gut, sagte sie zu ihm. Nichts, was du nicht schon einmal getan hättest. Seine Hand griff instinktiv nach dem Griff der Beretta, die an seiner Rückseite unter seiner neuen Jacke verborgen war. Du weißt all das.

Bevor er die Drogerie verließ, kaufte er noch ein paar andere Sachen: eine billige Uhr, eine Flasche Wasser und zwei Schokoriegel. Draußen auf dem Bürgersteig verschlang er beide Schokoriegel. Er war sich nicht sicher, wie viel Blut er verloren hatte und er wollte seinen Blutzuckerspiegel stabil halten. Er lehrte die ganze Wasserflasche und fragte dann einen Passanten nach der Uhrzeit. Er stellte die Uhr und legte sie an sein Handgelenk.

Es war halb sieben. Er hatte ausreichend Zeit, frühzeitig zum Treffpunkt zu gehen und sich vorzubereiten.



*



Es war schon fast dunkel, als er die Adresse erreichte, die ihm am Telefon gegeben worden war. Der Sonnenuntergang in Paris warf lange Schatten über den Boulevard. Rue de Stalingrad 187 war eine Bar im zehnten Pariser Stadtbezirk, die sich Féline nannte. Die Bar war heruntergekommen, mit übermalten Fenstern und eingerissener Fassade. Sie befand sich in einer Straße, in der es sonst nur Kunstateliers, indische Restaurants und unkonventionelle Cafés gab.

Reid hielt kurz inne, eine Hand bereits an der Tür. Wenn er eintrat, gäbe es kein Zurück mehr. Er konnte immer noch gehen. Nein, entschied er sich, das konnte er nicht. Wohin würde er gehen? Nach Hause, damit sie ihn wiederfinden würden? Und mit diesen seltsamen Visionen in seinem Kopf leben?

Er ging hinein.

Die Wände der Bar waren schwarz und rot gestrichen und mit Plakaten aus den fünfziger Jahren übersät, die grimmige Frauen, Zigarettenhalter und Silhouetten zeigten. Es war zu früh oder vielleicht zu spät, als dass dieser Ort voll war. Die wenigen Gäste, die sich hier herumtrieben, Sprachen mit gedämpften Stimmen und beugten sich schützend über ihre Getränke. Melancholischer Blues erklang leise aus einer Stereoanlage hinter der Bar.

Reid scannte die Bar von links nach rechts und wieder zurück. Niemand schaute in seine Richtung und niemand sah wie die Typen aus, die ihn gefangen genommen hatten. Er setzte sich an einen kleinen Tisch im hinteren Teil der Bar mit Blick auf die Tür. Er bestellte einen Kaffee, obwohl der im Grunde nur dampfend vor ihm stand.

Ein buckeliger alter Mann rutschte von seinem Hocker und humpelte in Richtung Toiletten. Reid bemerkte, wie sein Blick auf die Bewegungen des Mannes fiel und den Mann analysierte. Ende sechzig. Hüftdysplasie. Gelbliche Finger, mühsames Atmen – ein Zigarrenraucher. Ohne seinen Kopf zu bewegen, schwenkten seine Augen auf die andere Seite der Bar, wo zwei rau aussehende Männer in Overalls eine gedämpfte, aber leidenschaftliche Unterhaltung über Sport führten. Fabrikarbeiter. Der auf der linken Seite schlief nicht genug, wahrscheinlich der Vater junger Kinder. Der Mann auf der rechten Seite war vor kurzem in eine Schlägerei verwickelt gewesen oder hatte zumindest irgendetwas geboxt; seine Fingerknöchel waren verletzt. Ohne darüber nachzudenken, analysierte er die Manschetten ihrer Hosen, ihrer Ärmel und die Art, wie sie ihre Ellbogen auf den Tisch stützten. Jemand, der eine Waffe hätte, würde sie beschützen, versuchen sie zu verbergen, sogar unbewusst.

Reid schüttelte seinen Kopf. Er wurde langsam paranoid und diese hartnäckigen fremdartigen Gedanken halfen ihm nicht gerade. Aber dann erinnerte er sich an das seltsame Vorkommnis mit der Apotheke, an seine Erinnerung, wo sie sich befand, nur weil er gedacht hatte, er müsse eine finden. Der Akademiker in ihm meldete sich zu Wort. Vielleicht gab es hier etwas für ihn zu lernen. Vielleicht solltest du, anstatt zu versuchen es zu bekämpfen, dich diesen Gedanken öffnen.

Die Kellnerin war eine junge, müde aussehende Frau mit einer verknoteten brünetten Mähne. „Stylo?“, fragte er, als sie an ihm vorbeiging. „Ou crayon?“ Kugelschreiber oder Bleistift? Sie griff in das Gewirr ihrer Haare und zog einen Kugelschreiber heraus. „Merci.“

Er strich eine Cocktailservierte glatt und setzte den Kugelschreiber auf. Dies war keine neue Fähigkeit, die er nie gelernt hatte, sondern eine Professor-Lawson-Taktik, die er in der Vergangenheit viele Male benutzt hatte, um sich an Dinge zu erinnern und sein Gedächtnis zu stärken.

Er dachte an die Unterhaltungen, wenn man sie so nennen konnte, mit den drei arabischen Entführern zurück. Er versuchte, nicht an ihre toten Augen zu denken oder an das Blut auf dem Fußboden oder an das Tablett mit den scharfen Werkzeugen, die dazu gedacht gewesen waren, jegliche Wahrheit, die er in sich hatte, aus ihm herauszuschneiden. Stattdessen konzentrierte er sich auf die gesprochenen Details und schrieb den ersten Namen auf, der ihm in den Sinn kam.

Dann murmelte er ihn laut. „Scheich Mustafar.“

Ein marokkanisches Geheimgefängnis. Ein Mann, der sein ganzes Leben mit Reichtum und Macht gelebt hatte, der die weniger Begünstigten mit Füßen getreten hatte, sie unter seinen Schuhen zerquetscht hatte – hatte jetzt eine Scheißangst, weil er wusste, dass du ihn bis zum Hals im Sand eingegraben könntest und niemand je seine Knochen finden würde.

„Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß!“, beharrt er.

Tut-tut. „Ich habe andere Informationen. Die besagen, Sie wissen verdammt viel mehr, aber Sie haben wahrscheinlich Angst vor den falschen Leuten. Ich sage Ihnen was, Scheich … mein Freund im Nebenzimmer? Er wird ungeduldig. Sehen Sie, er hat diesen Hammer – es ist nur so ein kleines Ding, ein Steinhammer, wie ihn die Geologen benutzen? Aber er funktioniert wunderbar für kleine Knochen, Knöchel ...“

„Ich schwöre es!“ Der Scheich ringt nervös mit den Händen. Du erkennst es als verräterisches Zeichen. „Es gab andere Unterhaltungen über die Pläne, aber sie waren auf Deutsch, Russisch ... Ich habe sie nicht verstanden!“

„Wissen Sie, Scheich … eine Kugel klingt in jeder Sprache gleich.“

Reid wurde zurück in die Realität der Bar gerissen. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Die Erinnerung war so intensiv gewesen, so lebendig und klar wie jede andere, die er tatsächlich erlebt hatte. Und es war seine eigene Stimme in seinem Kopf gewesen, die beiläufig drohte und Dinge sagte, die er im Traum nicht zu einem anderen Menschen sagen würde.

Pläne. Der Scheich hatte definitiv etwas über Pläne gesagt. Was auch immer die schreckliche Sache war, die an seinem Unterbewusstsein nagte, er hatte das eindeutige Gefühl, dass sie noch nicht passiert war.

Er nahm einen Schluck seines jetzt lauwarmen Kaffees, um seine Nerven zu beruhigen. „In Ordnung“, sagte er zu sich selbst. „In Ordnung.“ Während seiner Befragung im Keller hatten sie nach anderen Agenten im Feld gefragt und drei Namen waren ihm durch den Kopf gegangen. Er schrieb einen auf und las ihn dann laut vor. „Morris.“

Sofort erschien ein Gesicht vor seinem geistigen Auge, ein Mann Anfang dreißig, gutaussehend und er wusste es. Ein großspuriges Halbgrinsen mit nur einer Hälfte seines Mundes. Dunkle Haare, die so gestylt waren, dass er jung aussah.

Ein privater Flugplatz in Zagreb. Morris sprintet neben dir. Ihr beide habt eure Waffen gezogen, Lauf nach unten gerichtet. Ihr könnt nicht zulassen, dass die beiden Iraner das Flugzeug erreichen. Morris zielt zwischen zwei Schritten und gibt zwei Schüsse ab. Einer trifft einen Unterschenkel und der erste Mann fällt. Du zielst auf den anderen und bringst ihn brutal zu Boden …

Noch ein Name. „Reidigger.“

Ein jungenhaftes Lächeln, ordentlich gekämmtes Haar. Ein kleiner Bauch. Das Gewicht würde ihm besser stehen, wäre er ein paar Zentimeter größer. Der Grund vieler Witze, aber er nahm es gutmütig.

Das Ritz in Madrid. Reidigger bewacht den Flur, während du die Tür eintrittst und den Attentäter außer Gefecht setzt. Der Mann greift nach der Waffe auf seinem Schreibtisch, aber du bist schneller. Du brichst sein Handgelenk … Später erzählt Reidigger, dass er das Geräusch draußen auf dem Flur hören konnte. Ihm wurde schlecht davon. Alle lachen.

Der Kaffee war nun kalt, aber Reid merkte es kaum. Seine Finger zitterten. Es gab keinen Zweifel; was auch immer mit ihm geschah, dies waren Erinnerungen – seine Erinnerungen. Oder die von jemand anderem. Die Entführer hatten ihm etwas aus dem Hals geschnitten und es als einen Erinnerungsunterdrücker bezeichnet. Das konnte nicht wahr sein; er war das nicht. Das war jemand anderes. Er hatte die Erinnerungen einer anderen Person, die sich mit seinen eigenen mischten.

Reid setzte den Stift wieder auf die Serviette und schrieb den letzten Namen. Er sagte ihn laut: „Johansson.“ Eine Gestalt kam ihm in den Kopf. Lange blonde Haare mit gepflegtem Glanz. Hohe, formschöne Wangenknochen. Volle Lippen. Graue Augen, die Farbe von Schiefer. Eine Vision blitzte auf …

Mailand. Nacht. Ein Hotel. Wein. Maria sitzt mit ihren Beinen im Schneidersitz auf dem Bett. Die obersten drei Knöpfe ihrer Bluse sind offen. Ihre Haare sind zerzaust. Du hast nie zuvor bemerkt, wie lang ihre Wimpern waren. Zwei Stunden zuvor hast du ihr dabei zugeschaut, wie sie zwei Männer in einer Schießerei getötet hat und jetzt gibt es Sangiovese und Pecorino Toscano. Eure Knie berühren sich fast. Ihr Blick trifft deinen. Keiner von euch sagt etwas. Du kannst es in ihren Augen sehen, aber sie weiß, dass du nicht kannst. Sie fragt nach Kate …

Reid zuckte zusammen, als er plötzlich Kopfschmerzen bekam, die sich wie eine Sturmwolke in seinem Schädel ausbreiteten. Im selben Augenblick verschwand die Vision und verblasste. Er kniff die Augen zusammen und massierte für eine Minute seine Schläfen, bis die Kopfschmerzen nachließen.

Was zur Hölle war das gewesen?

Aus irgendeinem Grund schien die Erinnerung an diese Frau, Johansson, die kurze Migräne verursacht zu haben. Noch beunruhigender war jedoch das bizarre Gefühl, dass er während der Kopfschmerzen gespürt hatte. Es fühlte sich wie … Verlangen an. Nein, es war mehr als das – es fühlte sich wie Leidenschaft an, die von Aufregung und ein bisschen Gefahr noch verstärkt wurde.

Er kam nicht umhin, sich zu fragen, wer diese Frau war, aber versuchte den Gedanken beiseite zu schieben. Er wollte nicht noch mehr Kopfschmerzen verursachen. Stattdessen setzte er den Stift wieder auf die Serviette auf, um den letzten Namen zu schreiben – Null. So hatte ihn der iranische Vernehmer genannt. Aber noch bevor er ihn aufschreiben oder wiederholen konnte, hatte er eine seltsame Empfindung. Die Haare seines Nackens standen ihm zu Berge.

Der wurde beobachtet.

Als er wieder aufblickte, sah er einen Mann im dunklen Eingang des Félines stehen. Er hatte Reid im Visier wie ein Falke, der eine Maus beobachtete. Reids Blut wurde kalt. Er wurde tatsächlich beobachtet.

Dies war der Mann, den er hier treffen sollte, dessen war er sich sicher. Hatte er ihn erkannt? Die arabischen Männer hatten nicht so geschienen. Hatte dieser Mann jemand anderen erwartet?

Er legte den Stift ab. Langsam und heimlich zerknüllte er die Serviette und ließ sie in seinen halbleeren kalten Kaffee fallen.

Der Mann nickte einmal. Reid nickte zurück.

Dann griff der Fremde nach hinten, nach etwas, das in seiner Hose steckte.




KAPITEL FÜNF


Reid stand so ruckartig auf, dass sein Stuhl beinahe umkippte. Seine Hand legte sich sofort um den Griff der Beretta, die von seinem Rücken warm geworden war. Seine Gedanken schrien ihn verzweifelt an. Dies ist ein öffentlicher Ort. Es sind Leute hier. Ich habe noch nie eine Waffe gefeuert.

Bevor Reid seine Pistole herausziehen konnte, zog der Fremde eine Brieftasche aus seiner Gesäßtasche. Er grinste Reid an, ganz offensichtlich amüsiert darüber, wie nervös er wirkte. Niemand anderes in der Bar schien es bemerkt zu haben, nur die Kellnerin mit dem verwüsteten Haar, die einfach nur eine Augenbraue hob. Der Fremde ging an die Bar, schob einen Geldschein über den Tresen und murmelte dem Barkeeper etwas zu. Dann begab er sich zu Reids Tisch. Für einen langen Moment stand er hinter dem leeren Stuhl mit einem dünnen Grinsen auf seinen Lippen.

Er war jung, höchstens 30 Jahre alt, mit kurzgeschnittenen Haaren und winzigen Bartstoppeln. Er war ziemlich schlaksig und sein Gesicht schien ausgemergelt, was seine markanten Wangenknochen und das hervorstehende Kinn fast wie eine Karikatur wirken ließ. Am auffälligsten war jedoch die schwarze Hornbrille, die er trug, mit der er für die ganze Welt so aussah, als wäre er Buddy Holly, der in den achtziger Jahren aufgewachsen war und Kokain entdeckt hatte.

Er war Rechtshänder, wie Reid sofort erkannte; sein linker Ellbogen lag dicht an seinem Körper an, was wahrscheinlich bedeutete, dass er eine Pistole in einem Schulterhalfter unter der Achsel hatte, die er notfalls mit der rechten Hand ziehen konnte. Mit seinem linken Arm hielt er seine schwarze Wildlederjacke nah am Körper, um die Waffe zu verbergen.

„Mogu siediti?“, fragte der Mann endlich.

Mogu...? Reid verstand es nicht sofort, so wie er Arabisch und Französisch verstanden hatte. Es war kein Russisch, aber ähnlich genug, um die Bedeutung aus dem Zusammenhang heraus abzuleiten. Der Mann fragte, ob er sich setzen könne.

Reid deutete auf den leeren Stuhl ihm gegenüber und der Mann setzte sich, während er seinen linken Ellbogen die ganze Zeit gebeugt hielt.

Sobald er Platz genommen hatte, brachte die Kellnerin ein Glas dunkles Bier und stellte es vor ihm hin. „Merci“, sagte er. Er grinste Reid an. „Ist Ihr serbisch nicht so gut?“

Reid schüttelte den Kopf. „Nein.“ Serbisch? Er hatte angenommen, dass der Mann, den er treffen würde, arabisch wäre, genau wie seine Entführer und der Vernehmer.

„Dann also Englisch? Ou francais?“

„Das können Sie sich aussuchen.“ Reid war überrascht, wie ruhig und eintönig seine Stimme klang. Sein Herz platzte in seiner Brust fast vor Angst und … wenn er ehrlich war, mit einer Spur ängstlicher Aufregung.

Das Grinsen des serbischen Mannes wurde breiter. „Ich liebe diesen Ort. Er ist dunkel. Er ist ruhig. Es ist die einzige Bar in diesem Bezirk, die Franziskaner verkauft. Es ist mein Lieblingsbier.“ Er nahm einen großen Schluck aus seinem Glas, schloss seine Augen und ein kleines Grunzen des Vergnügens entsprang seiner Kehle. „Que delicioso.“ Er öffnete seine Augen wieder und fügte hinzu: „Sie sind nicht, was ich erwartet habe.“

Eine Panikwelle überkam Reid. Er weiß es, schrie die Stimme in seinem Kopf. Er weiß, dass du nicht der bist, dem er begegnen sollte und er hat eine Waffe.

Entspann dich, sagte die andere Stimme, die neue Stimme. Du kriegst das hin.

Reid schluckte, aber irgendwie gelang es ihm, sein eisiges Auftreten zu bewahren. „Sie auch nicht“, sagte er.

Der Serbe kicherte. „Das ist fair. Aber wir sind viele, nicht wahr? Und Sie – sind Sie Amerikaner?“

„Expat.“, antwortete Reid.

„Sind wir das nicht alle?“ Ein erneutes Kichern. „Vor Ihnen habe ich bisher nur einen anderen Amerikaner in unserem ... wie nennt man es ... Konglomerat getroffen? Ja. Also ist es für mich nicht so seltsam.“ Der Mann zwinkerte.

Reid war angespannt. Er konnte nicht sagen, ob es ein Witz war oder nicht. Was, wenn er wusste, dass Reid ein Betrüger war und wenn er ihm etwas vormachte, um Zeit zu gewinnen? Er verbarg seine Hände auf seinem Schoß, um seine zitternden Finger zu verstecken.

„Sie können mich Yuri nennen. Wie kann ich Sie nennen?“

„Ben.“ Es war der erste Name, der ihm in den Sinn kam; der Name eines Mentors aus seiner Zeit als Professoren-Assistent.

„Ben. Wie ist es gekommen, dass Sie für die Iraner arbeiten?“

„Mit“, korrigierte Reid ihn. Er kniff die Augen zusammen, um den Effekt zu verstärken. „Ich arbeite mit ihnen.“

Der Mann, dieser Yuri, nahm noch einen Schluck von seinem Bier. „Sicher. Mit. Wie ist es dazugekommen? Trotz unserer gemeinsamen Interessen neigen sie dazu, eine … eher geschlossene Gruppe zu sein.“

„Ich bin vertrauenswürdig“, sagte Reid ohne zu blinzeln. Er hatte keine Ahnung, woher diese Worte kamen oder die Überzeugung, mit der er sie sprach. Er sagte sie einfach so, als hätte er es vorher eingeübt.

„Und wo ist Amad?“, fragte Yuri beiläufig.

„Er hat es nicht geschafft“, antwortete Reid eintönig. „Sendet seine Grüße.“

„Alles klar, Ben. Sie sagen, die Tat ist vollbracht.“

„Ja.“

Yuri lehnte sich mit zusammengekniffenen Augen vor. Reid konnte das Malz des Biers in seinem Atem riechen. „Ich muss es von Ihnen hören, Ben. Sagen Sie mir, ist der CIA-Mann tot?“

Reid erstarrte für einen Augenblick. CIA? So wie die CIA? Plötzlich machte all das Gerede von Agenten im Feld und die Visionen, davon Terroristen auf Flugplätzen und in Hotels festzunehmen, mehr Sinn, auch wenn die gesamte Angelegenheit es nicht tat. Dann erinnerte er sich an die Ernsthaftigkeit seiner Situation und hoffte, dass er seine Maskerade nicht verraten hatte.

Er lehnte sich ebenfalls nach vorn und sagte langsam: „Ja, Yuri. Der CIA Mann ist tot.“

Yuri lehnte sich entspannt zurück und grinste wieder. „Gut.“ Er griff nach seinem Glas. „Und die Informationen? Sie haben sie?“

„Er hat uns alles gegeben, was er wusste“, sagte Reid zu ihm. Er kam nicht umhin zu bemerken, dass seine Finger nicht länger unter dem Tisch zitterten. Es war, als ob jetzt jemand anderes die Kontrolle übernommen hätte, als ob Reid Lawson in seinem eigenen Gehirn in den Hintergrund getreten war. Er beschloss, nicht dagegen anzukämpfen.

„Den Aufenthaltsort von Mustafar?“, fragte Yuri. „Und alles, was er ihnen gesagt hat?“

Reid nickte.

Erwartungsvoll blinzelte Yuri ein paarmal. „Ich warte.“

Eine plötzliche Erkenntnis traf Reid wie ein schwerer Hammer, als er in seinem Kopf das wenige Wissen, das er hatte, zusammenfügte. Die CIA steckte mit drin. Es gab irgendeinen Plan, der viele Menschen töten würde. Der Scheich kannte ihn und hatte ihnen – ihm – alles erzählt. Diese Männer mussten wissen, was der Scheich wusste. Das war es, wonach Yuri ihn fragte. Was auch immer es war, es fühlte sich groß an und Reid war irgendwie mitten hineingeraten ... Obwohl er mit ziemlicher Sicherheit fühlen konnte, dass dies nicht das erste Mal war.

Er antwortete lange nicht, lang genug, dass das Lächeln von Yuris Lippen verschwand und sich in einen erwartungsvollen, dünnlippigen Blick wandelte. „Ich kenne Sie nicht“, sagte Reid. „Ich weiß nicht, wen Sie repräsentieren. Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen alles sage, was ich weiß und dann hier weggehe und einfach darauf vertraue, dass es an den richtigen Ort gelangt?“

„Ja“, sagte Yuri, „das ist genau, was ich erwarte und der präzise Grund für dieses Treffen.“

Reid schüttelte seinen Kopf. „Nein. Sehen Sie, Yuri, ich finde, dass diese Informationen zu wichtig sind, um damit Stille Post zu spielen und zu hoffen, dass sie in der richtigen Reihenfolge an die richtigen Ohren geraten. Darüber hinaus gibt es nur einen einzigen Ort, an dem sie existieren – genau hier.“ Er tippte sich auf seine linke Schläfe. Es stimmte; die Informationen, nach denen sie suchten, befanden sich vermutlich irgendwo in den Tiefen seines Gehirns und warteten darauf, entdeckt zu werden. „Ich würde auch denken“, fuhr er fort, „das jetzt, wo sie diese Informationen haben, sich unsere Pläne ändern müssen. Ich habe genug davon, nur der Bote zu sein. Ich will daran teilhaben. Ich will eine richtige Rolle.“

Yuri starrte ihn nur an. Dann stieß er ein lautes, brüllendes Lachen aus und schlug gleichzeitig so heftig auf den Tisch, dass sich mehrere Gäste in der Nähe zu ihnen umdrehten. „Sie!“, rief er und zeigte mit einem Finger auf ihn. „Sie mögen vielleicht ein Expat sein, aber Sie haben noch immer diesen amerikanischen Ehrgeiz!“ Er lachte wieder und klang dabei fast wie ein Esel. „Was wollen Sie wissen, Ben?“

„Beginnen wir mal damit, wen Sie repräsentieren.“

„Woher wissen Sie denn, dass ich jemanden repräsentiere? Ihrem Wissen nach könnte ich hier der Boss sein. Der Kopf hinter dem Masterplan!“ Er streckte beide Hände in einer großen Geste nach oben und lachte wieder.

Reid grinste. „Das glaube ich nicht. Ich glaube, Sie sind in der gleichen Position wie ich, überbringen Informationen, tauschen Geheimnisse, haben Treffen in beschissenen Bars.“

Eine Verhörmethode – Begeben Sie sich auf das gleiche Level. Yuri war ganz eindeutig ein Polyglott und schien nicht die gleiche Hartnäckigkeit zu haben, die seine Entführer zeigten. Aber selbst wenn er sich auf niedrigerem Niveau befand, wusste er trotzdem immer noch mehr als Reid selbst. „Wie wäre es mit einem Deal? Sie erzählen mir, was Sie wissen und ich werde Ihnen erzählen, was ich weiß.“ Dann senkte er seine Stimme zu einem Flüstern. „Und vertrauen Sie mir. Sie wollen wissen, was ich weiß.“

Yuri strich sich nachdenklich über die Bartstoppeln. „Ich mag Sie, Ben. Was irgendwie, wie sagt man es … widersprüchlich ist, denn Amerikaner machen mich normalerweise krank.“ Er grinste. „Schade für Sie, aber ich kann Ihnen nicht erzählen, was ich weiß.“

„Dann zeigen Sie mir, wer es kann.“ Die Worte flossen nur so aus ihm heraus, als hätten sie sein Gehirn umgangen und wären direkt auf seiner Zunge gelandet. Der logische Teil in ihm (oder besser gesagt, der Lawson-Teil in ihm) protestierte laut. Was machst du denn?! Finde soviel heraus, wie du kannst und verschwinde von hier!

„Würden Sie mich gern auf einer kleinen Fahrt begleiten?“ Yuris Augen blitzen auf. „Ich werde Sie zu meinem Boss bringen. Dort können Sie ihm erzählen, was Sie wissen.“

Reid zögerte. Er wusste, er sollte es nicht tun. Er wusste, dass er es nicht tun wollte. Aber er hatte dieses seltsame Gefühl der Verpflichtung und diese eiskalte Gelassenheit in seinem Hinterkopf, die ihm wieder sagte: Entspann dich. Er hatte eine Waffe. Er hatte eine Reihe von Fähigkeiten. Er war so weit gekommen und soweit er es jetzt beurteilen konnte, ging diese Sache definitiv weit über ein paar iranische Männer in einem Pariser Keller hinaus. Es gab einen Plan und die CIA war involviert. Außerdem wusste er irgendwie, dass es darum ging, viele Menschen zu verletzen oder noch schlimmer.

Er nickte einmal mit fest zusammengebissenen Zähnen.

„Großartig.“ Yuri lehrte sein Glas und stand auf, wobei er seinen linken Ellbogen noch immer angewinkelt hielt. „Au revoir.“ Er winkte dem Barkeeper zu. Dann führte ihn der Serbe in den hinteren Teil der Bar Féline, durch eine kleine schmuddelige Küche und hinaus durch eine Stahltür in eine gepflasterte Gasse.

Reid folgte ihm hinaus in die Nacht, überrascht zu sehen, dass es so schnell dunkel geworden war, während er sich in der Bar aufgehalten hatte. Am Ende der Gasse wartete ein schwarzer Geländewagen mit Motor im Leerlauf und seine Fenster waren fast so dunkel wie die Lackierung selbst. Die hintere Tür öffnete sich, noch bevor Yuri sie erreichte und zwei Schlägertypen stiegen aus. Reid wusste nicht, wie er sie sonst beschreiben sollte; sie waren breitschultrig, eindrucksvoll und versuchten gar nicht erst die TEC-9 Automatikpistolen zu verstecken, die in Halterungen unter ihren Armen hingen.

„Entspannt euch, meine Freunde“, sagte Yuri. „Das ist Ben. Wir bringen ihn zu Otets.“

Otets. Phonetisches russisch für „Vater“. Oder auf einem mehr technischen Level „Erschaffer“.

„Kommen Sie“, sagte Yuri freundlich. Er legte eine Hand auf Reids Schulter. „Es ist eine schöne Fahrt. Wir trinken unterwegs Champagner. Kommen Sie.“

Reids Beine wollten nicht funktionieren. Es war riskant – zu riskant. Wenn er mit diesen Männern ins Auto stieg und sie herausfanden, wer er war oder vielleicht nur, dass er nicht der war, der er behauptete zu sein, würde er als toter Mann enden. Seine Mädchen würden Waisenkinder werden und sie würden wahrscheinlich nie erfahren, was aus ihm geworden war.

Aber welche Wahl hatte er? Er konnte ja auch nicht so tun, als hätte er plötzlich seine Meinung geändert; das wäre noch viel verdächtiger. Es sah so aus, als hätte er den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, bereits dadurch überschritten, indem er Yuri nach hier draußen gefolgt war. Und wenn er seine Maskerade lange genug aufrechterhalten konnte, konnte er vielleicht die Quelle finden – und herausfinden, was in seinem eigenen Kopf vor sich ging.

Er trat einen Schritt auf den Geländewagen zu.

„Ah! Un momento, por favor.“ Yuri gab seinen muskulösen Begleitern ein Zeichen mit einem Finger. Einer von ihnen drückte Reids Arme nach oben, während der andere ihn abtastete. Zuerst fand er die Beretta, die hinten in seiner Jeans steckte. Dann wühlte er mit zwei Fingern in Reids Taschen und zog das Bündel Euros und das Wegwerfhandy heraus. Er reichte alles an Yuri weiter.

„Das hier können Sie behalten.“ Der Serbe gab ihm das Geld zurück. „Diese anderen Sachen werden wir in Gewahrsam nehmen. Zur Sicherheit. Das verstehen Sie?“ Yuri steckte sich das Telefon und die Waffe in die Innentasche seiner Wildlederjacke und für einen kurzen Augenblick sah Reid den braunen Griff einer Pistole.

„Ich verstehe“, sagte Reid. Er war jetzt unbewaffnet und hatte außerdem keine Möglichkeit Hilfe zu rufen, wenn er sie brauchte. Ich sollte wegrennen, dachte er. Sprinte einfach los und schaue nicht zurück ...

Einer der Schlägertypen drückte seinen Kopf hinunter und schob ihn auf die Rückbank des Geländewagens. Sie beide stiegen nach ihm ein und schließlich folgte auch Yuri, der die Tür hinter sich schloss. Er setzte sich neben Reid, während die gekrümmten Schlägertypen fast Schulter an Schulter auf einem nach hinten gerichteten Sitz ihnen gegenüber saßen, direkt hinter dem Fahrer. Eine dunkel getönte Trennwand trennte sie von den Vordersitzen des Autos.

Einer der beiden klopfte mit zwei Fingern an die Trennwand zum Fahrer. „Otets“, sagte er mürrisch.

Ein schweres, verräterisches Klick-Geräusch verschloss die hinteren Türen und mit ihm begriff Reid plötzlich, was er getan hatte. Er war mit drei bewaffneten Männern in ein Auto gestiegen, ohne zu wissen, wohin sie fuhren und mit nur sehr geringem Verständnis davon, wer er sein sollte. Yuri zu täuschen, war nicht sonderlich schwierig gewesen, aber jetzt wurde er zu einem Boss gebracht … würden Sie wissen, dass er nicht der war, der er behauptete? Er kämpfte gegen den Drang an aufzuspringen, die Tür aufzureißen und sich aus dem Auto zu stürzen. Es gab kein Entkommen, zumindest nicht im Moment; er würde warten müssen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten und darauf hoffen, dass er heil aus der ganzen Sache herauskam.

Der Geländewagen fuhr los durch die Straßen von Paris.




KAPITEL SECHS


Yuri, der in der französischen Bar so gesprächig und lebhaft gewesen war, war während der Autofahrt ungewöhnlich still. Er öffnete eine Klappe neben seinem Sitz und zog ein abgegriffenes Buch mit einem eingerissenen Einband hervor – Machiavellis Der Prinz. Der Professor in Reid wollte laut spotten.

Die beiden Schlägertypen saßen ihm schweigend gegenüber, mit nach vorne gerichtetem Blick, als würden sie versuchen, Löcher durch Reid hindurch zu starren. Er merkte sich schnell ihre Gesichtszüge: der Mann auf der linken Seite war glatzköpfig, weiß, hatte einen dunklen Schnurrbart und Knopfaugen. Er trug eine TEC-9 unter seiner Schulter und eine Glock 27 in einem Knöchelholster. Eine unsaubere, verblasste Narbe über seiner linken Augenbraue deutete auf eine schlechte Flickarbeit hin (nicht sehr viel anders als das, was Reid wahrscheinlich zu erwarten hatte, sobald seine Sekundenkleber-Intervention geheilt war). Er konnte die Nationalität des Mannes nicht ausmachen.

Der zweite Schlägertyp hatte etwas dunklere Haut mit einem vollen, ungepflegtem Bart und einem beträchtlichen Bauch. Seine linke Schulter schien leicht herunterzuhängen, so, als würde er seine rechte Hüfte bevorzugt belasten. Auch er hatte eine automatische Pistole unter dem Arm, aber sonst keine anderen Waffen, soweit Reid es erkennen konnte.

Er konnte jedoch die Markierung an seinem Hals sehen. Die Haut war zerfurcht, rosa und leicht erhaben, dort wo sie verbrannt worden war. Es war die gleiche Markierung, die er bei dem arabischen Brutalo in dem Pariser Keller gesehen hatte. Eine Art Symbol, da war er sich sicher, aber keines, das er erkannte. Der schnauzbärtige Mann schien keine Markierung zu haben, jedoch war ein großer Teil seines Halses unter seinem Hemd verdeckt.

Yuri hatte sie auch nicht – zumindest keine, die Reid sehen konnte. Der Kragen der serbischen Wildlederjacke war hoch. Vielleicht handelte es sich um ein Statussymbol, dachte er. Etwas, das verdient werden musste.

Der Fahrer lenkte das Fahrzeug nordöstlich auf die A4 in Richtung Reims und ließ Paris hinter sich zurück. Durch die getönten Fenster sah die Nacht noch dunkler aus; sobald sie die Stadt der Lichter verlassen hatten, war es für Reid schwierig, Orientierungspunkte zu erkennen. Er musste sich auf die Streckenmarkierungen und Verkehrsschilder verlassen, um zu wissen, wohin sie fuhren. Die Landschaft veränderte sich langsam vom Städtischen zu freier, rustikaler Topografie, die von rollenden Hügeln und Bauernhöfen auf beiden Seiten geprägt war.

Nach einer Stunde völliger Stille räusperte sich Reid: „Ist es noch viel weiter?“, fragte er.

Yuri legte einen Finger auf seine Lippen und grinste dann. „Oui.“

Reids Nasenlöcher weiteten sich, aber er sagte nichts mehr. Er hätte fragen sollen, wie weit die Fahrt sein würde; soweit er es beurteilen konnte, waren sie auf dem direkten Weg nach Belgien.

Die Autobahn A4 wurde zur A34, welche wiederum zur A304 wurde, als sie immer weiter nördlich fuhren. Die Bäume, die in der pastoralen Landschaft verteilt standen, vermehrten sich und kamen näher. Breite schirmartige Nadelbäume, die die offenen Ackerflächen einrahmten und schließlich zu ununterscheidbaren Wäldern wurden. Die Steigung der Straße nahm zu, als die rollenden Hügel zu kleinen Bergen wurden. Er kannte diesen Ort. Oder besser, er kannte diese Region und das nicht nur wegen einer aufblitzenden Vision oder implantierten Erinnerungen. Er war noch nie hier gewesen, aber er wusste aus seinem Studium, dass sie die Ardennen erreicht hatten, einen gebirgigen Waldstreifen, der sich zwischen dem Nordosten Frankreichs, Süd Belgien und dem Norden Luxemburgs erstreckte. In 1944 hatte die deutsche Armee versucht, ihre Panzerdivisionen durch die dichtbewachsene Region zu leiten, um die Stadt Antwerpen einzunehmen. Dies wurde von amerikanischen und britischen Truppen in der Nähe des Flusses Maas vereitelt. Der nachfolgende Kampf wurde die Ardennenoffensive genannt und war die letzte große Offensive der Deutschen im Zweiten Weltkrieg gewesen.

Irgendwie fand er, trotz der fürchterlichen Situation, in der er sich befand oder bald befinden würde, ein wenig Trost beim Nachdenken über die Geschichte, sein früheres Leben und seine Studenten. Aber dann wanderten seine Gedanken wieder zu seinen Mädchen, die verängstigt und allein waren und nicht wussten, wo er war oder in was er hineingeraten war.

Tatsächlich sah Reid schon bald ein Straßenschild, welches die Annäherung an die Grenze anzeigte. Auf dem Schild stand Belgique und darunter Belgien, België, Belgium. Keine drei Kilometer später hielt der Geländewagen an einem einzelnen Grenzposten mit einer Betonmarkise an. Ein Mann mit dickem Mantel und gestrickter Wollmütze sah hinaus auf das Fahrzeug. Grenzsicherheit zwischen Frankreich und Belgien war nicht vergleichbar mit dem, was die meisten Amerikaner gewohnt waren. Der Fahrer öffnete das Fenster und sprach mit dem Mann, aber man konnte die Worte durch die geschlossene Trennwand und Fenster nicht hören. Reid blinzelte durch die getönte Scheibe und sah, wie der Arm des Fahrers dem Grenzoffizier etwas reichte – einen Geldschein. Eine Bestechung.

Der Mann mit der Wollmütze winkte sie durch.

Nach ein paar mehr Kilometern auf der N5 verließ der Geländewagen die Autobahn und fuhr auf eine schmale Straße, die parallel zur Hauptverkehrsstraße lag. Es gab kein Ausfahrtschild und die Straße selbst war kaum asphaltiert; es handelte sich um eine Zufahrtsstraße, höchstwahrscheinlich für Holzabfuhrfahrzeuge gemacht. Der Wagen wurde wegen der tiefen Furchen der Strecke ordentlich durchgerüttelt. Gegenüber von Reid stießen die beiden Schlägertypen aneinander, aber sie starrten ihn weiterhin die ganze Zeit an.

Er sah auf seine billige Uhr, die er in der Apotheke gekauft hatte. Sie waren seit 2 Stunden und 46 Minuten unterwegs. Gestern Abend war er noch in den USA gewesen, war dann in Paris aufgewacht und nun befand er sich in Belgien. Entspann dich, sagte sein Unterbewusstsein wieder. Kein Ort, an dem du nicht schon gewesen wärst. Pass einfach auf und halte deinen Mund.

Auf beiden Seiten der Straße konnte man nichts anderes als dichten Baumbewuchs sehen. Der Geländewagen fuhr weiter die gewundene Straße eines Berges hinauf und dann wieder hinunter. Reid schaute die ganze Zeit über zum Fenster hinaus und tat so, als wäre er unbeschäftigt, aber er suchte nach irgendeiner Art Wahrzeichen oder einem Hinweis, die ihm verraten würden, wo sie sich befanden – idealerweise etwas, das er später den Behörden erzählen konnte, wenn es sein musste.

Vor ihnen erschienen Lichter, aber er konnte aus seinem Blickwinkel die Herkunft nicht erkennen. Der Geländewagen wurde langsamer und kam zu einem sanften Halt. Reid sah einen schwarzen schmiedeeisernen Zaun, jeder seiner Pfosten war mit einer gefährlichen Spitze gekrönt und erstreckte sich zu beiden Seiten, soweit das Auge reichte in die Dunkelheit. Neben ihrem Fahrzeug befand sich ein kleines Wachhaus aus Glas und dunklen Ziegelsteinen mit einem fluoreszierenden Licht darin. Ein Mann tauchte auf. Er trug Hosen und einen Wollmantel mit aufgestelltem Kragen und einem grauen Schal um den Hals. Er versuchte nicht einmal die schallgedämpfte MP7, die an einem Riemen über seiner rechten Schulter hing, zu verstecken. Genau genommen griff er nach der Maschinenpistole, als er auf das Auto zuging, aber er hob sie nicht.

Heckler & Koch, Modellvariante MP7A1, sagte die Stimme in Reids Kopf. Achtzehn-Zentimeter Schalldämpfer. Elcan Reflexvisier. Dreißig-Schuss-Magazin.

Der Fahrer öffnete sein Fenster und sprach für ein paar Sekunden mit dem Mann. Dann ging der Wächter um den Geländewagen herum und öffnete die Tür auf Yuris Seite. Er beugte sich hinunter und sah hinein. Reid konnte den Geruch von Roggenwhisky riechen und spürte einen eisigen Luftzug, der mit ihm von draußen hineinkam. Der Mann sah jeden von ihnen an, sein Blick blieb schließlich auf Reid hängen.

„Kommunicator“, sagte Yuri. „Chtoby uvidet’ nachal’nika.“ Russisch. Nachrichtenüberbringer, der den Boss sehen will.

Der Wachmann sagte nichts. Er schloss die Tür und kehrte auf seinen Posten zurück, von wo aus er einen Knopf auf einer kleinen Konsole drückte. Das schwarze Eisentor summte, als es sich seitlich öffnete und der Geländewagen fuhr hindurch.

Reids Kehle verengte sich, als ihm das volle Ausmaß seiner Situation klar wurde. Er war zu dem Treffen mit der Absicht gegangen, Informationen darüber, was vor sich ging, zu erhalten – nicht nur mit ihm, sondern auch mit all dem Gerede über Pläne und Scheichs und fremde Städte. Er war auf seiner Suche nach einer Quelle mit Yuri und den zwei Schlägertypen ins Auto gestiegen. Er hatte ihnen erlaubt, ihn aus dem Land und mitten hinein in eine dicht bewaldete Region zu bringen und nun befanden sie sich hinter einem hohen, bewachten Tor mit Eisenspitzen. Er hatte keine Ahnung, wie er hier herauskommen sollte, wenn irgendetwas schiefging.

Entspann dich. Du hast so etwas schon mal gemacht.

Nein, das habe ich nicht!, dachte er verzweifelt. Ich bin ein Universitätsprofessor aus New York. Ich weiß nicht, was ich tue. Warum habe ich das gemacht? Meine Mädchen …

Gib einfach nach. Du wirst wissen, was zu tun ist.

Reid atmete tief durch, aber es half nicht seine Nerven zu beruhigen. Er spähte aus dem Fenster. In der Dunkelheit konnte er die Umgebung kaum erkennen. Hinter dem Tor gab es keine Bäume, sondern reihenweise stämmige Reben, die sich durch hüfthohe Gitterwerke wanden und rankten … es war ein Weingut. Ob es wirklich ein Weingut war oder nur die Fassade, darüber war er sich nicht sicher, aber es war zumindest etwas Erkennbares, etwas, das man von einem Hubschrauber oder einer Drohne aus sehen konnte, wenn man darüber flog.

Gut. Das wird später nützlich sein.

Wenn es ein später gibt.

Der Geländewagen fuhr für einen weiteren Kilometer langsam über die Schotterstraße, bis der Weinanbau endete. Vor ihnen lag ein palastartiges Anwesen, quasi ein Schloss, aus grauem Stein mit gewölbten Fenstern und Efeu, der die Südfassade hinauf rankte. Für den Bruchteil einer Sekunde wusste Reid die Schönheit der Architektur zu schätzen; das Schloss war wahrscheinlich zweihundert Jahre alt, vielleicht sogar noch älter. Aber auch hier hielten sie nicht an; stattdessen fuhr das Auto um das Anwesen herum und dahinter weiter. Nach einem weiteren knappen Kilometer erreichten sie ein kleines Grundstück und der Fahrer schaltete den Motor aus.

Sie waren angekommen. Aber wo sie angekommen waren, das wusste er nicht.

Die Schlägertypen stiegen zuerst aus, gefolgt von Reid und danach Yuri. Die bittere Kälte nahm ihm den Atem. Er biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Den beiden großen Begleitern schien die Kälte nichts auszumachen.

Ungefähr vierzig Meter vor ihnen stand ein großes, gedrungenes Gebäude, zwei Etagen hoch und mehrere Male so breit; fensterlos und aus gewelltem Stahl, der beige lackiert war. Eine Art Produktionsstätte, dachte Reid – vielleicht für die Verarbeitung von Wein. Aber er bezweifelte es.

Yuri stöhnte, als er seine Glieder streckte. Dann grinste er Reid an. „Ben, ich weiß, wir sind inzwischen gute Freunde, aber dennoch …“ Er zog ein schmales Stück schwarzen Stoffes aus seiner Jackentasche. „Ich muss darauf bestehen.“

Reid nickte einmal kurz. Welche Wahl hatte er denn? Er drehte sich um, sodass Yuri die Augenbinde über seine Augen legen konnte. Eine kräftige, fleischige Hand griff seinen Oberarm – zweifellos einer der Schlägertypen.

„Also los“, sagte Yuri, „weiter zu Otets.“ Die starke Hand zog ihn vorwärts und führte ihn in die Richtung der Stahlkonstruktion. Er fühlte eine weitere Schulter, die auf der anderen Seite gegen ihn drückte; die beiden großen Schlägertypen hatten ihn in ihre Mitte genommen.

Reid atmete gleichmäßig durch seine Nase und versuchte sein Bestes, ruhig zu bleiben. Höre zu, sagte die Stimme in seinem Kopf.

Ich höre zu.

Nein, höre zu. Höre zu und gib nach.

Jemand klopfte dreimal an eine Tür. Der Klang war dumpf und hohl, wie der einer Basstrommel. Obwohl er nichts sehen konnte, stellte sich Reid in seinen Gedanken vor, wie Yuri mit der flachen Faust gegen die schwarze schwere Stahltür schlug.

Ein Riegel wurde zur Seite geschoben. Ein Schwall warmer Luft kam ihnen entgegen, als sich die Tür öffnete. Plötzlich, eine Mischung verschiedener Geräusche – Glas klirrte, Flüssigkeit spritzte, Riemen schwirrten. Winzerausrüstung, so wie es klang. Seltsam; von draußen hatte er nichts davon gehört. Die äußeren Wände des Gebäudes waren schallisoliert.

Die starke Hand schob ihn hinein. Die Tür schloss sich wieder und der Riegel wurde zurückgeschoben. Der Boden unter ihm fühlte sich wie glatter Beton an. Seine Schuhe platschten in eine kleine Pfütze. Der saure Geruch der Gärung war am stärksten und darunter konnte man ebenfalls den süßeren vertrauten Geruch von Traubensaft riechen. Sie machten hier wirklich Wein.

Reid zählte seine Schritte, als sie durch die Einrichtung liefen. Sie gingen durch eine weitere Tür und mit ihr ertönte eine Reihe neuer Klänge. Maschinen – eine hydraulische Presse. Eine Schlagbohrmaschine. Die klirrende Kette eines Förderbandes. Der Duft der Gärung wich Fett, Motorenöl und … Pulver. Hier wurde etwas hergestellt; höchstwahrscheinlich Munition. Es gab noch etwas anderes, etwas Vertrautes, außer dem Öl und dem Pulver. Es war etwas süßlich, fast wie Mandeln … Dinitrotoluol. Sie stellten Sprengstoff her.

„Stufen“, sagte Yuris Stimme dicht an seinem Ohr, als Reids Schienbein gegen die unterste Treppenstufe stieß. Die starke Hand führte ihn weiter, als die vier Beinpaare die Stahltreppe hinaufstiegen. Dreizehn Stufen. Wer auch immer diesen Ort gebaut hatte, konnte nicht abergläubisch sein.

Oben angekommen gab es noch eine Stahltür. Sobald sie hinter ihnen geschlossen wurde, konnte man keine Maschinengeräusche mehr hören – ein weiterer schallgedämpfter Raum. In der Nähe hörte man klassische Klaviermusik. Brahms. Variationen eines Stückes von Paganini. Die Klänge waren nicht intensiv genug, um von einem echten Klavier zu stammen; es musste eine Art Stereoanlage sein.

„Yuri.“ Die neue Stimme war ein strenger Bariton, leicht krächzend, weil er entweder zu oft brüllte oder zu viele Zigarren rauchte. Dem Geruch des Zimmers nach zu urteilen, war es letzteres. Möglicherweise beides.

„Otets“, sagte Yuri unterwürfig. Er sprach schnell auf Russisch. Reid tat sein Bestes, um Yuris Akzent zu verstehen. „Ich bringe Ihnen gute Nachrichten aus Frankreich ...“

„Wer ist dieser Mann?“, wollte der Bariton wissen. Mit der Art, wie er Russisch sprach, schien es seine Muttersprache zu sein. Reid kam nicht umhin sich zu fragen, was wohl die Verbindung zwischen den Iranern und diesem russischen Mann sein konnte – oder den Schlägertypen im Geländewagen, wenn wir schon dabei waren, und sogar dem serbischen Yuri. Vielleicht ein Waffenhandel, sagte die Stimme in seinem Kopf. Oder etwas Schlimmeres.

„Das ist der Bote der Iraner“, antwortete Yuri. „Er hat die Informationen, nach denen wir suchen –“

„Und du hast ihn hierher gebracht?“, warf der Mann ein. Seine tiefe Stimme erhob sich zu einem Brüllen. „Du solltest nach Frankreich reisen und dich mit den Iranern treffen, nicht ihre Männer hierher zu mir zurückbringen! Du würdest wirklich alles mit deiner Dummheit kompromittieren!“ Es gab ein lautes Klatschen – eine solide Rückhand auf einem Gesicht – und ein Keuchen von Yuri. „Muss ich deine Arbeitsanweisungen auf eine Kugel schreiben, um sie durch deinen dicken Schädel zu bekommen?!“

„Otets, bitte …“, stammelte Yuri.

„Nenn mich nicht so!“, schrie der Mann laut. Eine Waffe wurde geladen – dem Geräusch nach zu urteilen, eine schwere Pistole. „Nenn mich bei überhaupt keinem Namen, in der Gegenwart dieses Fremden!“

„Er ist kein Fremder!“, schrie Yuri zurück. „Er ist Agent Null! Ich habe dir Kent Steele gebracht!“




KAPITEL SIEBEN


Kent Steele.

Für einige Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, herrschte totale Stille. Einhundert Visionen blitzten durch Reids Gedanken, als ob sie maschinell hindurchgeschoben wurden. Die CIA. Geheimoperationen, Division für Spezialaktivitäten, Sondereinheit. Psychologische Operationen.

Agent Null.

Wenn deine Tarnung aufliegt, bist du tot.

Wir reden nicht. Niemals.

Unmöglich.

Seine Finger zitterten wieder.

Es war einfach unmöglich. Dinge wie gelöschte Erinnerungen oder Implantate oder Unterdrücker waren der Inhalt von Verschwörungstheorien und Hollywoodfilmen.

Jetzt war es sowieso egal. Sie wussten bereits die ganze Zeit, wer er war – in der Bar, während der Autofahrt und den ganzen Weg nach Belgien hatte Yuri gewusst, dass Reid nicht der war, der er behauptete. Jetzt waren seine Augen verbunden und er war mit mindestens vier bewaffneten Männern hinter einer Stahltür eingeschlossen. Niemand sonst wusste, wo er war oder wer er war. Ein Knoten der Angst bildete sich tief in seiner Magengegend und ihm wurde fast schlecht davon.

„Nein“, sagte die Baritonstimme langsam. „Nein, du täuschst dich. Dummer Yuri. Das hier ist nicht der CIA Mann. Wenn es so wäre, würdest du nicht hier stehen!“

„Es sei denn, er ist hierhergekommen, um dich zu finden!“, konterte Yuri.

Ein paar Finger griffen nach der Augenbinde und rissen sie ab. Reid blinzelte in die plötzliche Helligkeit der Neonröhren an der Decke. Er blickte in das Gesicht eines Mannes Mitte Fünfzig mit graumelierten Haaren, einem kurzgeschorenen Vollbart und wachsamen, scharfsichtigen Augen. Der Mann, der vermutlich Otets zwar, trug einen anthrazitfarbenen Anzug und die obersten zwei Knöpfe seines Hemdes waren offen. Graue lockige Brusthaare zeigten sich darunter. Sie standen in einem Büro, dessen Wände dunkelrot gestrichen und mit kitschigen Malereien verziert waren.

„Sie“, sagte der Mann in gebrochenem Englisch, „wer sind Sie?“

Reid atmete tief durch und widerstand dem Drang, dem Mann einfach zu sagen, dass er es selbst nicht mehr wusste. Stattdessen sagte er mit zitternder Stimme: „Ich heiße Ben. Ich bin ein Bote. Ich arbeite mit den Iranern zusammen.“

Yuri, der hinter Otets kniete, sprang plötzlich auf die Füße. „Er lügt!“, kreischte der Serbe. „Ich weiß, dass er lügt! Er sagt, dass die Iraner ihn geschickt haben, aber die würden niemals einem Amerikaner vertrauen!“, grinste Yuri heimtückisch. Ein bisschen Blut lief aus der Ecke seines Mundes heraus, wo Otets ihn geschlagen hatte. „Aber ich weiß noch mehr. Sehen Sie, ich habe Sie nach Amad gefragt.“ Er schüttelte seinen Kopf, als er seine Zähne zeigte. „Es gibt keinen Amad unter ihnen.“

Es erschien Reid seltsam, dass diese Männer die Iraner offensichtlich kannten, aber nicht diejenigen, mit denen sie arbeiteten oder die sie schicken würden. Sie waren mit Sicherheit irgendwie verbunden, aber was diese Verbindung sein könnte, wusste er nicht.

Otets fluchte leise auf Russisch vor sich hin. Dann sagte er auf Englisch: „Sie sagten Yuri, Sie seien ein Bote. Yuri sagt mir, Sie sind der CIA Mann. Was soll ich nun glauben? Sie sehen auf jeden Fall nicht so aus, wie ich mir Null vorgestellt hätte. Aber mein dummer Botenjunge sagt eine Wahrheit: die Iraner verachten Amerikaner. Es sieht nicht gut für Sie aus. Sagen Sie mir die Wahrheit oder ich werde Ihnen in die Kniescheibe schießen.“ Er richtete seine schwere Pistole auf ihn – eine TIG Series Desert Eagle.

Reid hielt für einen Moment die Luft an. Dies war eine sehr große Waffe.

Gib nach, drängte ihn die Stimme.

Er war sich nicht sicher, wie er das tun sollte. Er war sich auch nicht sicher, was passieren würde, wenn er es tat. Das letzte Mal als seine neuen Instinkte das Ruder übernommen hatten, waren vier Männer gestorben und er hatte ganz buchstäblich ihr Blut an seinen Händen gehabt. Aber es gab hier für ihn – das heißt für Professor Reid Lawson – keinen Ausweg. Aber Kent Steele, wer auch immer das war, könnte vielleicht einen Weg finden. Vielleicht wusste er nicht genau, wer er war, aber das wäre auch nicht sehr wichtig, wenn er nicht lange genug überlebte, um es herauszufinden.

Reid schloss seine Augen. Er nickte einmal, eine stille Zustimmung, die er der Stimme in seinem Kopf gab. Seine Schultern wurden locker und seine Finger hörten auf zu zittern.

„Ich warte“, sagte Otets schlicht.

„Sie würden damit nicht auf mich schießen wollen“, sagte Reid. Er war überrascht seine eigene Stimme so ruhig und gleichförmig zu hören. „Ein direkter Schuss aus dieser Waffe würde nicht nur mein Knie verwunden. Er würde mein Bein durchtrennen und ich würde innerhalb von Sekunden auf dem Boden dieses Büros verbluten.“

Otets zuckte eine Schulter. „Was sagen die Amerikaner so gerne? Man kann kein Omelett ohne …“

„Ich habe die Informationen, die Sie brauchen“, unterbrach Reid ihn. „Den Aufenthaltsort des Scheichs. Was er mir erzählt hat. Wem ich es erzählt habe. Ich weiß alles über Ihre Verschwörung und ich bin nicht der Einzige.“

Otets Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. „Agent Null.“

„Das habe ich doch gesagt!“, sagte Yuri. „Das habe ich gut gemacht, stimmt’s?“

„Halt die Klappe“, bellte Otets. Yuri sackte wie ein geschlagener Hund in sich zusammen. „Bringt ihn nach unten und kriegt alles raus, was er weiß. Fangt damit an, die Finger abzuschneiden. Ich möchte keine Zeit verschwenden.“

An jedem gewöhnlichen Tag hätte die Drohung, dass seine Finger abgeschnitten werden könnten, einen Schock der Angst in Reid ausgelöst. Seine Muskeln spannten sich für einen Moment, die kleinen Nackenhaare stellten sich auf – aber sein neuer Instinkt kämpfte dagegen an und zwang ihn, sich zu entspannen. Warte, sagte die Stimme. Warte auf eine Gelegenheit ...

Der glatzköpfige Schlägertyp nickte kurz und griff wieder nach Reids Arm.

„Idiot!“, maulte Otets. „Fessele ihn zuerst! Yuri, geh zum Aktenschrank. Darin sollte etwas sein.“

Yuri eilte zu dem Schrank aus Eichenholz, der in der Ecke stand und wühlte darin, bis er ein aufgewickeltes Bündel Schnur daran fand. „Hier“, sagte er und warf es dem kahlköpfigen Brutalo zu.

Instinktiv blickten alle Augen zu dem Bündel Schnur, das sich in der Luft drehte – die der beiden Schläger, Yuris und Otets. Aber nicht Reids. Er hatte eine Gelegenheit und nutzte sie.

Er beugte seine linke Hand und schlug sie in einem spitzen Winkel nach oben, wobei er die Luftröhre des glatzköpfigen Mannes mit der Außenkante seiner Handfläche traf. Er fühlte die Kehle unter seiner Hand nachgeben. Nachdem der erste Schlag gelandet war, schleuderte er seinen linken Stiefelabsatz nach hinten und traf den bärtigen Schlägertypen an der Hüfte – an der gleichen Hüftseite, die der Mann auf der Fahrt nach Belgien bevorzugt hatte.

Ein nasses, gewürgtes Keuchen entwich den Lippen des kahlköpfigen Mannes, als seine Hände an seinen Hals flogen. Der bärtige Brutalo grunzte, als sich sein riesiger Körper drehte und zusammenbrach.

Runter!

Die Schnur landete auf dem Fußboden. Genau wie Reid. In einer fließenden Bewegung ging er in die Hocke und riss die Glock aus dem Knöchelholster des kahlköpfigen Mannes. Ohne aufzusehen, sprang er vorwärts und machte eine Rolle.

Sobald er aufsprang, ertönte ein unglaublich lauter donnernder Knall durch das kleine Büro. Der Schuss aus der Desert Eagle hinterließ eine beeindruckende Delle in der Stahltür des Büros.

Reids Rolle stoppte nur wenige Meter von Otets entfernt und er warf sich vorwärts auf ihn. Bevor sich Otets zum Zielen drehen konnte, griff Reid von unten nach seiner Waffe – greife niemals nach der oberen Seite, das ist der schnellste Weg einen Finger zu verlieren – und drückte sie hoch und weg. Die Waffe feuerte einen weiteren Schuss, ein durchdringender Knall, nur ein paar Zentimeter von Reids Kopf entfernt. Es pfiff in seinen Ohren, aber er ignorierte es. Er drehte die Waffe seitlich nach unten, wobei er den Lauf von sich weg schob und sie näher an seine Hüfte zog – mit Otets Hand noch immer daran. Der ältere Mann warf seinen Kopf zurück und schrie als der Finger brach, den er noch immer am Abzug hatte. Reid wurde von dem Geräusch fast schlecht, als die Desert Eagle zu Boden fiel.

Er wirbelte herum und schlang einen Arm um Otets Hals, um ihn als Schild zu benutzen, als er auf die beiden Schlägertypen zielte. Der Glatzkopf war außer Gefecht und rang verzweifelt durch seine zerstörte Luftröhre nach Luft, doch der bärtige Mann hatte seine TEC-9 aus dem Riemen gezogen. Ohne zu zögern, feuerte Reid in schneller Folge drei Schüsse ab, zwei in die Brust und einen in die Stirn. Ein vierter Schuss erlöste den Glatzkopf von seinem Elend.

Reids Gewissen schrie ihn aus seinem Hinterkopf an. Du hast gerade zwei Männer getötet. Noch zwei weitere Männer. Aber sein neues Bewusstsein war stärker und schob die Übelkeit und den Drang nach Selbstschutz in den Hintergrund.

Du kannst später in Panik geraten. Im Moment bist du noch nicht fertig hier.

Reid wirbelte wieder herum, mit Otets vor ihm, als würden sie tanzen und richtete er die Glock nun auf Yuri. Der unglückselige Bote hatte Schwierigkeiten, seine Sig Sauer aus seinem Schultergurt herauszuziehen.

„Stopp“, befahl Reid. Yuri erstarrte.

„Hände hoch.“ Der serbische Bote hob langsam die Hände. Seine Handflächen zeigten nach außen. Er grinste breit.

„Kent“, sagte er auf Englisch, „wir sind doch sehr gute Freunde, nicht wahr?“

„Nehmen Sie meine Beretta aus Ihrer linken Jackentasche und legen Sie sie auf den Boden“, wies Reid ihn an.

Yuri leckte das Blut aus seinem Mundwinkel und wackelte mit den Fingern seiner linken Hand. Langsam griff er in die Tasche und zog die kleine schwarze Pistole heraus. Aber er legte sie nicht auf den Boden. Stattdessen hielt er sie, mit dem Lauf nach unten gerichtet.

„Wissen Sie“, sagte er, „es scheint so, dass, wenn Sie Informationen haben möchten, Sie mindesten einen von uns lebendig brauchen. Ja?“

„Yuri!“, knurrte Otets. „Tu, was er sagt an!“

„Auf den Boden“, wiederholte Reid. Er wandte seinen Blick nicht von Yuri ab, war jedoch besorgt, das andere Leute in der Anlage den Knall der Desert Eagle gehört haben könnten. Er wusste nicht, wie viele Leute dort unten waren, aber das Büro war schallisoliert und es liefen überall Maschinen. Es war möglich, dass niemand etwas gehört hatte – oder sie waren vielleicht an den Klang gewöhnt und dachten nicht weiter darüber nach.

„Vielleicht“, sagte Yuri, „nehme ich diese Waffe und erschieße Otets. Dann brauchen Sie mich.“

„Yuri, nyet!“, heulte Otets dieses Mal mehr erstaunt als wütend.

„Sehen Sie, Kent“, sagte Yuri, „dies ist nicht La Cosa Nostra. Es ist mehr wie, ähm … ein verstimmter Angestellter. Sehen Sie, wie er mich behandelt. Also vielleicht sollte ich ihn erschießen und Sie und ich finden dann eine Lösung …“

Otets biss die Zähne zusammen und zischte eine Reihe von Flüchen, aber der Bote grinste nur noch breiter.

Reid wurde langsam ungeduldig. „Yuri, wenn Sie die Waffe nicht hinlegen, bin ich gezwungen –“

Yuris Arm bewegte sich leicht mit dem geringsten Anzeichen nach oben zu gehen. Reids Instinkt reagierte blitzschnell. Ohne nachzudenken zielte und feuerte er, einen einzigen Schuss. Es passierte so schnell, dass der Knall der Pistole ihn erschrak.

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Reid, er hätte ihn nicht getroffen. Dann rann dunkles Blut aus einem Loch in Yuris Hals. Er fiel auf seine Knie und versuchte schwach mit einer Hand den Blutstrom zu stoppen, aber dafür war es bereits viel zu spät.

Es kann bis zu zwei Minuten dauern, aus einer durchtrennten Halsschlagader zu verbluten. Er wollte wirklich nicht wissen, woher er das wusste. Aber es dauerte nur sieben bis zehn Sekunden, um von dem Blutverlust das Bewusstsein zu verlieren.

Yuri sackte nach vorn. Reid drehte sich sofort in die Richtung der Stahltür und zielte mit der Glock auf ihre Mitte. Er wartete. Sein eigener Atem war ruhig und gleichmäßig. Er war nicht einmal ins Schwitzen geraten. Otets atmete kurze, keuchende Atemzüge und hielt seinen gebrochenen Finger mit seiner unverletzten Hand fest.

Es kam niemand.

Ich habe gerade drei Männer erschossen.

Dafür ist jetzt keine Zeit. Verschwinde, so schnell du kannst.

„Bleiben Sie auf der Stelle“, knurrte Reid Otets an, als er ihn langsam losließ. Er gab der Desert Eagle einen Tritt, sodass sie in die Ecke flog. Sie landete unter dem Aktenschrank. Er hatte keine Verwendung für eine Waffe wie diese. Er ließ auch die automatischen TEC-9 Pistolen zurück, die den Schlägertypen gehört hatten; sie waren ziemlich ungenau, nur dafür geeignet, möglichst viele Kugeln in einem breiten Bereich zu feuern. Stattdessen schob er Yuris Körper mit dem Fuß zur Seite und griff sich die Beretta. Er behielt außerdem die Glock und steckte je eine Pistole und seine Hände in seine Jackentaschen.

„Wir werden von hier verschwinden“, sagte Reid zu Otets, „Sie und ich. Sie gehen zuerst und werden so tun, als wäre alles in Ordnung. Sie gehen mit mir nach draußen und führen mich zu einem anständigen Auto. Denn die hier?“ Er deutete auf seine Hände, die jeweils in einer Tasche steckten und eine Pistole umschlungen hielten. „Diese beiden hier werden auf Ihre Wirbelsäule gerichtet sein. Machen Sie einen einzigen Fehltritt oder sagen Sie ein falsches Wort und ich werde eine Kugel zwischen Ihren L2- und L3-Wirbeln vergraben. Wenn Sie das Glück haben, es zu überleben, werden Sie für den Rest Ihres Lebens gelähmt sein. Verstanden?“

Otets funkelte ihn an, aber er war klug genug, einfach zu nicken.

„Gut. Dann gehen Sie vor.“

Der russische Mann blieb an der Stahltür des Büros kurz stehen. „Sie werden hier nicht lebend herauskommen“, sagte er auf Englisch.

„Sie sollten es besser hoffen“, knurrte Reid, „weil ich sonst dafür sorgen werde, dass Sie es auch nicht tun.“

Otets öffnete die Tür und trat auf die Treppe hinaus. Sofort konnte man wieder Maschinengeräusche hören. Reid folgte ihm aus dem Büro auf die kleine Stahlplattform. Er blickte nach unten über das Geländer auf den Bereich darunter. Seine Gedanken – Kents Gedanken? – waren korrekt gewesen; dort waren zwei Männer, die an einer hydraulischen Presse arbeiteten. Ein weiterer Mann an einer Schlagbohrmaschine. Noch einer stand an einem kurzen Förderband und inspizierte elektronische Komponenten, die langsam auf eine Stahlfläche am Ende rollten. Zwei weitere Männer mit Schutzbrille und Latexhandschuhen saßen an einem Melamintisch und maßen sorgfältig irgendwelche Chemikalien ab. Seltsamerweise, wie er bemerkte, handelte es sich um eine Mischung aus Nationalitäten – drei waren dunkelhaarig und weiß, wahrscheinlich russisch, aber zwei kamen definitiv aus dem Nahen Osten. Der Mann an der Bohrmaschine war Afrikaner.

Der mandelähnliche Duft des Dinitrotoluols kam ihm entgegen. Sie stellten Sprengstoff her, wie er bereits vorher am Geruch und an den Geräuschen erkannt hatte.

Insgesamt waren sie sechs. Wahrscheinlich bewaffnet. Keiner von ihnen blickte auch nur zu dem Büro hinauf. Sie würden hier drinnen nicht schießen – nicht wenn Otets hier draußen war und diese flüchtigen Chemikalien in der Luft lagen.

Aber ich kann es auch nicht, dachte Reid.

„Beeindruckend, nicht wahr?“, sagte Otets mit einem Grinsen. Er hatte bemerkt, wie Reid die Halle inspizierte.

„Bewegen Sie sich“, befahl er.

Otets ging los, sein Tritt war auf der ersten Metallstufe zu hören. „Wissen Sie“, sagte er beiläufig, „Yuri hatte recht.“

Geh hinaus. Geh zum Geländewagen. Zertrümmere das Tor. Und fahre, so schnell du kannst.

„Sie brauchen einen von uns.“

Fahre wieder auf die Autobahn. Finde eine Polizeistation. Beziehe Interpol mit ein.

„Und der arme Yuri ist tot …“

Übergib ihnen Otets. Zwinge ihn zum Reden. Wasche deinen Namen von den Morden an den sieben Männern rein.

„Es kommt mir also so vor, dass Sie mich nicht töten können.“

Ich habe sieben Männer ermordet.

Aber es war Selbstverteidigung.

Otets erreichte die untere Stufe und Reid war direkt hinter ihm mit beiden Händen in seinen Jackentaschen. Seine Handflächen waren verschwitzt, eine jede hielt eine Pistole. Der Russe blieb stehen und blickte leicht über seine Schulter, ohne Reid jedoch direkt anzusehen. „Die Iraner. Sind sie tot?“

„Vier von ihnen“, sagte Reid. Der Lärm der Maschinerie übertönte fast seine Stimme.

Otets schnalzte mit der Zunge. „Schade. Aber andererseits … bedeutet es, dass ich richtig liege. Sie haben keine Spuren, niemanden sonst, zu dem Sie gehen könnten. Sie brauchen mich.“

Er hatte Reid durchschaut. Panik stieg in seiner Brust auf. Die andere Seite, die Kent-Seite, wehrte sich dagegen. „Ich weiß alles, was uns der Scheich gesagt hat –“

Otets kicherte leise. „Der Scheich, ja. Aber Sie wissen bestimmt bereits, dass Mustafar nur so wenig wusste. Er war ein Geldgeber. Er war weich. Dachten Sie, wir würden ihm wirklich unsere Pläne anvertrauen? Und wenn dem so sei, warum sind Sie dann hierhergekommen?“

Schweißperlen bildeten sich auf Reids Stirn. Er war in der Hoffnung hierhergekommen, Antworten zu finden, nicht nur über diesen angeblichen Plan, sondern auch darüber, wer er war. Er hatte viel mehr gefunden, als er erwartet hätte. „Bewegen Sie sich“, forderte er erneut. „Zur Tür, langsam.“

Otets ging die letzte Stufe hinunter und bewegte sich langsam, aber er ging nicht in Richtung Tür. Stattdessen machte er einen Schritt in Richtung Halle, in die Richtung seiner Männer.

„Was machen Sie da?“, fragte Reid.

„Ich habe Sie durchschaut, Agent Null. Sollte ich falsch liegen, werden Sie mich erschießen.“ Er grinste und machte einen weiteren Schritt.

Zwei der Arbeiter sahen auf. Aus ihrer Sicht sah es so aus, als würde Otets einfach mit einem unbekannten Mann sprechen, vielleicht ein Geschäftspartner oder ein Vertreter einer anderen Interessengruppe. Kein Grund zur Besorgnis. Die Panik machte sich erneut in Reids Brust breit. Er wollte die Waffen nicht loslassen. Otets war nur zwei Schritte entfernt, aber Reid konnte ihn ja nicht greifen und in Richtung Tür zwingen – nicht ohne die sechs Männer zu alarmieren. Und er konnte es nicht riskieren, in einem Raum voller Sprengstoff zu schießen.

„Do svidaniya, Agent Null“, grinste Otets. Ohne seine Augen von Reid zu nehmen, schrie er auf Englisch: „Erschießt diesen Mann!“

Zwei weitere Männer sahen auf und blickten Otets verwirrt an. Reid hatte den Eindruck, dass diese Männer Arbeiter waren, keine Fußsoldaten oder Bodyguards, wie das Paar toter Gauner oben im Büro.

„Idioten!“, brüllte Otets, um die Maschinerie zu übertönen. „Dieser Mann ist von der CIA! Erschießt ihn!“

Das hatte funktioniert. Die zwei Männer am Melamintisch sprangen auf und griffen nach ihren Schulterholstern. Der Afrikaner an der Schlagbohrmaschine bückte sich und hob eine AK-47 an seine Schulter.

Sowie sie sich bewegt hatten, sprang Reid nach vorne und riss gleichzeitig beide Hände – und beide Pistolen – aus seinen Taschen. Er drehte Otets an der Schulter herum und richtete die Beretta auf die linke Schläfe des Russen. Dann richtete er die Glock auf den Mann mit der AK, sein Arm ruhte auf Otets Schulter.

„Das wäre nicht sehr weise“, sagte er laut. „Sie wissen ja, was passieren könnte, wenn wir anfangen, hier drinnen zu schießen.“

Der Anblick einer Pistole am Kopf ihres Bosses veranlasste den Rest der Männer zum Handeln. Er hatte recht; sie alle waren bewaffnet und jetzt hatte er sechs Waffen auf sich gerichtet und lediglich Otets stand zwischen ihnen. Der Mann, der die AK hielt, blickte nervös zu seinen Kollegen. Eine kleine Schweißperle rann ihm die Stirn hinunter.

Reid ging einen kleinen Schritt rückwärts und bewegte Otets mit einem Stoß der Beretta dazu, ihm zu folgen. „Nett und einfach“, sagte er ruhig. „Wenn Sie hier drinnen anfangen zu schießen, wird das gesamte Gebäude in die Luft gehen. Und ich glaube nicht, dass Sie heute sterben wollen.“

Otets biss die Zähne zusammen und murmelte einen Fluch auf Russisch.

Stück für Stück wichen sie mit winzigen Schritten zur Tür der Anlage. Reids Herzschlag drohte Überhand zu nehmen. Seine Muskeln spannten sich nervös an und dann wurde er wieder locker, als ihn die andere Seite in ihm zwang, sich zu entspannen. Keine Spannung in den Gliedmaßen. Angespannte Muskeln verlangsamen deine Reaktionszeit.

Mit jedem winzigen Schritt, den er und Otets rückwärts gingen, kamen die sechs Männer ihnen einen Schritt hinterher, wobei sie den Abstand zwischen ihnen kurz hielten. Sie warteten auf eine Gelegenheit und je weiter entfernt sie von den Maschinen sein würden, desto unwahrscheinlicher wäre es, eine unbeabsichtigte Explosion auszulösen. Reid wusste, dass es lediglich die Angst Otets versehentlich zu töten war, die sie vom Schießen abhielt. Niemand sprach, aber die Maschinen dröhnten hinter ihnen. Die Spannung in der Luft war greifbar, elektrisch; er wusste, dass jeden Moment jemand nervös werden und schließen könnte. Dann berührte sein Rücken die Doppeltür. Noch ein Schritt und er drückte sie auf und zog Otets mit einem weiteren Stoß vom Lauf der Beretta mit sich.

Noch bevor sich die Tür wieder schloss, knurrte Otets seine Männer an. „Der kommt hier nicht lebend raus!“

Dann schloss sich die Tür und die Beiden befanden sich im nächsten Raum, wo Wein hergestellt wurde, mit klirrenden Flaschen und dem süßen Duft von Trauben. Sobald sie hindurch waren, drehte sich Reid um, die Glock zielte in Brusthöhe vor sich – und die Beretta drückte noch immer auf Otets Schläfe.

Eine Abfüll- und Verschlussmaschine lief, war aber größtenteils automatisiert. Die einzige Person im ganzen Raum war eine einzelne, müde aussehende, russische Frau mit einem grünen Kopftuch. Beim Anblick der Pistole und Reid und Otets wurden ihre müden Augen vor Entsetzen riesengroß und sie warf beide Hände in die Luft.

„Machen Sie sie aus“, sagte Reid auf Russisch. „Verstehen Sie?“

Sie nickte energisch und bewegte zwei Hebel auf einem Bedienfeld. Die Maschinen surrten kurz und kamen langsam zum Stillstand.

„Gehen Sie“, sagte er zu ihr. Sie schluckte und ging langsam in Richtung Ausgangstür. „Schnell“, rief er mürrisch. „Gehen Sie raus!“

„Da“, murmelte sie. Die Frau eilte zur schweren Stahltür, warf sie auf und rannte in die Nacht hinaus. Die Tür knallte mit großem Krach wieder zu.

„Was nun, Agent?“, grunzte Otets auf Englisch. „Wie ist Ihr Fluchtplan?“

„Halten Sie die Klappe.“ Reid zielte mit der Waffe auf die Doppeltür zum nächsten Raum. Warum waren sie noch nicht durchgekommen? Er konnte nicht einfach weitergehen, ohne zu wissen, wo sie sich befanden. Wenn es in der Anlage eine Hintertür gab, dann waren sie vielleicht draußen und warteten auf ihn. Sollten Sie ihnen folgen, würde es nicht möglich sein, Otets zum Geländewagen zu bringen und damit wegzufahren, ohne dabei erschossen zu werden. Hier drüben drohte kein Sprengstoff; sie könnten also, wenn sie wollten, Schüsse abgeben. Würden sie es riskieren, Otets zu töten, um zu ihm zu gelangen? Angespannte Nerven und eine Pistole waren für niemanden die ideale Kombination, nicht mal für ihren Boss.

Bevor er sich entscheiden konnte, was er als Nächstes tun würde, erloschen die hellen Neonröhren über ihren Köpfen. Augenblicklich wurden sie in Dunkelheit getaucht.




KAPITEL ACHT


Reid konnte nichts sehen. Es gab in der Anlage keine Fenster. Die Arbeiter im anderen Raum mussten einige Schutzschalter umgelegt haben, denn selbst die Geräusche der Maschinen im nächsten Raum wurden leiser und verstummten schließlich.

Er griff schnell dorthin, wo Otets stand und schnappte den Kragen des Russen, bevor er davonlaufen konnte. Otets gab ein kleines Würgen von sich, als Reid ihn zurückzog. Im nächsten Moment schaltete sich ein rotes Notlicht ein, lediglich eine kleine Glühbirne an der Wand über der Tür. Sie beleuchtete den Raum mit einem sanften, leicht unheimlichen Schein.

„Diese Männer sind keine Dummköpfe“, sagte Otets leise. „Sie werden es nicht lebend hier raus schaffen.“

Seine Gedanken rasten. Er musste wissen, wo sie sich befanden – oder noch besser, er wollte, dass sie zu ihm kamen.

Aber wie?

Ganz einfach. Du weißt, was zu tun ist. Höre auf, es anzukämpfen.

Reid atmete tief durch die Nase ein und tat dann das Einzige, was in dem Moment Sinn ergab.

Er schoss auf Otets.

Der scharfe Knall der Beretta halte in dem sonst stillen Raum. Otets schrie vor Schmerzen. Seine beiden Hände flogen zu seinem linken Oberschenkel – die Kugel hatte ihn nur gestreift, aber es blutete kräftig. Ein langer wütender Schwall russischer Flüche verließ seine Lippen.

Reid griff wieder nach Otets Kragen und zerrte ihn rückwärts, was den Russen fast umwarf und zwang ihn hinter die Abfüllmaschine. Er wartete. Wenn die Männer noch drinnen waren, hatten sie den Schuss auf jeden Fall gehört und würden nun angerannt kommen. Wenn niemand kam, hieß das, dass sie draußen waren und dort auf ihn lauerten.

Ein paar Sekunden später erhielt er seine Antwort. Die Doppeltür wurde von der anderen Seite so kräftig aufgestoßen, dass sie gegen die Wand flog. Der erste, der hindurch kam, war der Mann mit der AK, der den Lauf seiner Waffe schnell von links nach rechts schwenkte. Direkt hinter ihm waren noch zwei andere, ebenfalls mit Pistolen bewaffnet. Otets stöhnte vor Schmerzen und hielt sich das Bein. Seine Leute hörten ihn; sie kamen mit gerichteten Waffen um die Ecke der Abfüllmaschine und fanden Otets, der mit seinem verletzten Bein am Boden saß und zischte.

Aber Reid war nicht dort.

Schnell schlich er sich auf die andere Seite der Maschine und blieb in der Hocke. Er steckte die Beretta ein und nahm eine leere Flasche vom Förderband. Bevor sie sich umdrehen konnten, hatte er schon eine Flasche über dem Kopf des nächsten Arbeiters zerschlagen, einem Mann aus dem Nahen Osten und rammte dann den abgeschlagenen Flaschenhals in den Hals des Zweiten. Warmes Blut lief über seine Hand, als der Mann stotterte und zu Boden ging.

Eins.

Der Afrikaner mit der AK-47 drehte sich um, aber er war nicht schnell genug. Reid nutzte seinen Unterarm, um den Lauf der Waffe zur Seite zu drücken, als eine Reihe Schüsse durch die Luft flogen. Er trat mit der Glock nach vorn, drückte sie unter das Kinn des Mannes und drückte den Abzug.

Zwei.

Ein weiterer Schuss erledigte den ersten Terroristen – denn das war ganz eindeutig, mit wem er es hier zu tun hatte, entschied er – der noch immer bewusstlos auf dem Fußboden lag.

Drei.

Reid atmete schwer und versuchte seinen Herzschlag unter Kontrolle zu halten. Er hatte keine Zeit, sich um das, was er gerade getan hatte, zu sorgen und wollte auch nicht wirklich darüber nachdenken. Es schien, als wäre Professor Lawson im Schockzustand und der andere Teil hatte nun völlig die Oberhand.

Bewegung. Auf der rechten Seite.

Otets kroch hinter der Maschine hervor und griff nach der AK. Reid drehte sich schnell und trat ihm in die Magengegend. Die Kraft des Tritts ließ den Russen auf die andere Seite rollen und er hielt sich stöhnend seinen Bauch.

Reid hob die AK auf. Wie viele Schüsse waren geschossen worden? Fünf? Sechs. Das Magazin enthielt zweiunddreißig Schüsse. Wenn es voll gewesen war, waren noch sechsundzwanzig Schüsse übrig.

„Bleiben Sie hier“, sagte er zu Otets. Zur Überraschung des Russen ließ Reid ihn dort zurück und ging durch die Doppeltür zurück auf die andere Seite der Anlage. Der Raum, in dem die Bomben hergestellt wurden, wurde von einem ähnlich roten Schein eines Notlichtes erleuchtet. Reid trat die Tür auf und ließ sich sofort auf die Knie fallen – für den Fall, dass jemand eine Waffe auf den Eingang gerichtet hatte – und schwenkte die AK nach rechts und links.

Es war niemand dort, was bedeutete, dass es eine Hintertür geben musste. Er fand sie schnell, eine Sicherheitstür zwischen den Treppenstufen und der südlichen Wand. Höchstwahrscheinlich konnte sie nur von innen geöffnet werden.

Die anderen drei waren irgendwo da draußen. Es war ein Wagnis – er hatte keine Möglichkeit zu wissen, ob sie direkt auf der anderen Seite der Tür auf ihn warteten oder ob sie versucht hatten, zur Vorderseite des Gebäudes zu gelangen. Er musste auf Nummer sicher gehen.

Dies war schließlich eine Anlage zur Herstellung von Bomben …

In der hintersten Ecke auf der anderen Seite, hinter dem Förderband, fand er eine lange Holzkiste, die etwa so groß war, wie ein Sarg. Sie war mit Styroporflocken gefüllt. Er wühlte darin, bis er etwas Festes fand und herauszog. Es war ein mattschwarzer Plastikkoffer und er wusste bereits, was sich darin befand.

Vorsichtig stellte er ihn auf den Melamintisch und öffnete ihn. Mehr zu seinem Ärger als zu seiner Überraschung sah er sofort, dass es sich um eine Kofferbombe handelte, die mit einer Zeitschaltuhr ausgestattet war, aber auch einen Totmannschalter hatte, der als Ausfallsicherung diente.

Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Werde ich das hier wirklich tun?

Neue Visionen blitzten durch seine Gedanken – afghanische Bombenmacher, denen wegen schlecht gebauter Brandbomben Finger oder ganze Gliedmaßen fehlten. Gebäude, die sich in Rauch auflösen, nur wegen eines einzigen falschen Kabels.

Welche Wahl hast du denn? Entweder das oder erschossen werden.

Der Totmannschalter war ein kleines grünes Rechteck, ungefähr so groß wie ein Taschenmesser, mit einem Hebel an jeder Seite. Er nahm ihn in die linke Hand und hielt den Atem an.

Dann drückte er ihn.

Nichts passierte. Das war ein gutes Zeichen.

Er stellte sicher, dass er den Hebel in seiner Faust geschlossen hielt (ihn loszulassen, würde die Bombe sofort zünden) und stellte die Zeitschaltuhr des Koffers auf zwanzig Minuten – so lange würde er sowieso nicht brauchen. Dann nahm er die AK in seine rechte Hand und sah zu, dass er von dort verschwand.

Er zuckte zusammen; die hintere Sicherheitstür quietschte in ihren Angeln, als er sie öffnete. Er sprang mit der angehobenen AK hinaus in die Dunkelheit. Niemand war dort, nicht hinter dem Gebäude, aber sie hatten mit Sicherheit das verräterische Quietschen der Tür gehört.

Sein Hals war trocken und sein Herz klopfte noch immer heftig, aber er drückte seinen Rücken nah an die Stahlwand und bewegte sich vorsichtig zur Ecke des Gebäudes. Seine Hand schwitzte und hielt den Totmannschalter in einem Todesgriff. Wenn er ihn jetzt losließ, wäre er höchstwahrscheinlich sofort tot. Die Menge an Sprengstoff, die sich in dieser Bombe befand, würde die Wände des Gebäudes plattmachen und ihn zerreißen, wenn er nicht bereits vorher verbrennen würde.

Gestern war mein größtes Problem, neunzig Minuten lang die Aufmerksamkeit meiner Studenten zu behalten. Heute hielt er krampfhaft den Hebel einer Bombe gedrückt, während er versuchte, sich russischen Terroristen zu entziehen.

Fokus. Er erreichte die Ecke des Gebäudes und schaute seitlich darum, wobei er so gut es ging versuchte, im Schatten zu bleiben. Dort befand sich die Silhouette eines Mannes mit einer Pistole, der an der westlichen Wand Wache hielt.

Reid vergewisserte sich, dass er den Schalter fest im Griff hatte. Du kannst das. Dann trat er in Sichtweite. Der Mann drehte sich schnell und hob seine Waffe.

„Hey“, sagte Reid. Er hob seine eigene Hand – nicht die mit der Waffe, sondern die andere. „Wissen Sie, was das ist?“

Der Mann hielt inne und legte seinen Kopf leicht schräg. Dann wurden seine Augen vor Angst so groß, dass Reid selbst im Mondschein das Weiße in ihnen sehen konnte.

„Schalter“, murmelte er. Er blickte kurz vom Schalter auf das Gebäude und wieder zurück und schien zu der gleichen Schlussfolgerung zu kommen, die Reid bereits gehabt hatte – wenn er diesen Hebel losließ, wären sie beide sekundenschnell tot.

Der Bombenbauer gab seinen Plan, Reid zu erschießen, auf und sprintete stattdessen zur Vorderseite des Gebäudes. Reid folgte, so schnell er konnte. Er hörte seine Rufe auf Arabisch – „Schalter! Er hat den Schalter!“

Er ging um die Ecke zur Vorderseite der Anlage, die AK nach vorne gerichtet, ihr Schaft ruhte in seiner Armbeuge und seine andere Hand hielt den Totmannschalter hoch über seinen Kopf. Der sprintende Bombenbauer hatte nicht angehalten; er rannte weiter die Schotterstraße hinauf, die von dem Gebäude wegführte und schrie sich dabei heiser. Die anderen beiden Bombenbauer standen in der Nähe der Eingangstür und schienen sich bereitzuhalten, Reid zu erledigen. Verwirrt starrten sie ihn an, als er um die Ecke kam. Reid schätzte die Szene schnell ein. Die anderen beiden Männer hielten Pistolen – Sig Sauer P365, dreißig-Schuss Kapazität mit verlängerten Griffen – aber keiner von ihnen zielte auf ihn. Wie er vermutet hatte, war Otets durch die Eingangstür geflohen und war in diesem Moment bereits auf halbem Wege zum Geländewagen. Er humpelte, während er sein verletztes Bein festhielt und auf einer Seite von der Schulter eines kurzen, kräftigen Mannes mit einer schwarzen Kappe unterstützt wurde – der Fahrer, wie Reid annahm.

„Waffen nieder“, befahl Reid, „oder ich puste alles in die Luft.“

Die Bombenbauer legten vorsichtig ihre Waffen auf den Boden. Reid konnte aus der Entfernung Rufe hören, mehrere Stimmen. Andere kamen aus der Richtung des alten Anwesens. Vermutlich hatte die Russin sie losgeschickt.

„Rennen Sie los“, sagte er zu ihnen. „Erzählen Sie Ihnen, was hier gleich passiert.“

Er musste es den beiden Männern nicht zweimal sagen. Sie rannten schnell in die gleiche Richtung, in die ihr Kollege verschwunden war.

Reid wandte seine Aufmerksamkeit dem Fahrer zu, der dem verletzten Otets half. „Stopp!“, brüllte er.

„Nein nicht!“, schrie Otets auf Russisch.

Der Fahrer zögerte. Reid ließ die AK fallen und zog die Glock aus seiner Jackentasche. Sie waren ein bisschen weiter als zur Hälfte des Weges zum Auto gekommen – ungefähr fünfundzwanzig Meter. Einfach.

Er trat ein paar Schritte näher heran und rief: „Vor dem heutigen Tag dachte ich, dass ich noch nie zuvor eine Waffe gefeuert hätte. Es stellt sich heraus, dass ich richtig gut darin bin.“

Der Fahrer war ein vernünftiger Mann – oder vielleicht nur ein Feigling oder vielleicht beides. Er ließ Otets los und sein Boss fiel kurzerhand auf den Boden.

„Schlüssel“, forderte Reid. „Lassen Sie sie fallen.“

Die Hände des Fahrers zitterten, als er die Schlüssel zum Geländewagen aus der Innentasche seiner Jacke zog. Er warf sie vor seine eigenen Füße.

Reid machte eine Bewegung mit dem Lauf seiner Pistole. „Gehen Sie.“

Der Fahrer rannte. Die schwarze Kappe flog von seinem Kopf, aber er beachtete sie nicht.

„Feigling!“, spottete Otets auf Russisch.

Reid holte sich zuerst die Schlüssel und stand dann vor Otets. Die Stimmen in der Distanz kamen näher. Das Anwesen war einen halben Kilometer entfernt; es würde ungefähr vier Minuten gedauert haben, bis die russische Frau zu Fuß dort ankam und dann ein paar weitere Minuten, bis die Männer hier waren. Er schätzte, er hatte weniger als zwei Minuten Zeit. „Stehen Sie auf.“

Otets spukte als Antwort auf seine Schuhe.

„Ganz wie Sie wollen.“ Reid steckte die Glock ein und packte Otets hinten an seinem Jackett und zog ihn zum Geländewagen. Der Russe schrie vor Schmerzen, als sein vom Pistolenschuss verletztes Bein über den Kies gezogen wurde.

„Steigen Sie ein“, befahl Reid, „oder ich schieße Ihnen in Ihr anderes Bein.“

Otets grummelte vor sich hin und zischte vor Schmerzen, aber er stieg ins Auto. Reid knallte die Tür hinter ihm zu, ging schnell um das Auto herum und setzte sich hinter das Lenkrad. Seine linke Hand umklammerte noch immer den Totmannschalter.

Er drehte den Zündschlüssel und gab Gas. Die Reifen drehten durch, schleuderten Kies und Dreck umher und das Fahrzeug bewegte sich mit einem Ruck vorwärts. Sobald er auf die enge Zufahrtsstraße gefahren war, erklangen Schüsse. Kugeln trafen die Beifahrerseite mit schweren Schlägen. Das Fenster – direkt rechts neben Otets Kopf – splitterte spinnennetzförmig, aber die Scheibe hielt.

„Idioten!“, schrie Otets. „Hört auf zu schießen!“

Kugelsicher, dachte Reid. Selbstverständlich ist es das. Aber er wusste auch, dass es nicht lange anhalten würde. Er drückte das Gaspedal durch und der Geländewagen beschleunigte noch einmal und raste an den drei Männern am Straßenrand vorbei, während sie auf das Auto schossen. Reid ließ sein Fenster runter, als sie an den beiden Bombenbauern vorbeifuhren, die noch immer um ihr Leben rannten. Dann warf er den Schalter aus dem Fenster.

Die Explosion erschütterte den Geländewagen sogar in dieser Entfernung. Er konnte die Detonation nicht so sehr hören, wie er sie fühlte. Tief in seinem Inneren erschütterte sie seine Innereien. Der Blick in den Rückspiegel zeigte ein intensives, gelbes Licht, als würde man direkt in die Sonne starren. Für einen Moment wurde seine Sehfähigkeit beeinträchtigt und er zwang sich nach vorn auf die Straße zu schauen. Ein orangefarbener Feuerball rollte in den Himmel und mit ihm eine riesige Rauchwolke.

Otets stieß einen unregelmäßigen, stöhnenden Seufzer aus. „Sie haben keine Ahnung, was Sie gerade getan haben“, sagte er leise. „Sie sind ein toter Mann, Agent Null.“

Reid sagte nichts. Er wusste, was er gerade getan hatte – er hatte eine beträchtliche Menge an Beweismitteln vernichtet, für den Fall gegen Otets, wenn er den offiziellen Behörden ausgeliefert wurde. Aber Otets hatte Unrecht; er war kein toter Mann, jedenfalls noch nicht und die Bombe hatte ihm geholfen zu fliehen.

Bis hierher jedenfalls.

Vor ihnen kam das Anwesen in Sichtweite, aber es gab keinen Moment dieses Mal die Architektur zu bewundern. Reid hielt seine Augen nach geradeaus gerichtet und schoss daran vorbei, während der Geländewagen über die Spurrillen der Straße sprang. Ein Schimmer im Spiegel zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Zwei Scheinwerferpaare kamen in Sicht, die die Einfahrt des Hauses verließen. Sie lagen tief auf der Straße und er konnte das hohe Heulen der Motoren sogar über das Brüllen seines eigenen Motors hinweg hören. Sportwagen. Er trat wieder aufs Gaspedal. Sie würden schneller sein, aber der Geländewagen war besser ausgestattet, um die unebene Straße zu bewältigen.

Weitere Schüsse flogen durch die Luft und Kugeln trafen ihren hinteren Kotflügel. Reid packte das Lenkrad fest mit beiden Händen, die Venen waren unter der Spannung seiner Muskeln gut sichtbar. Er hatte alles unter Kontrolle. Er könnte dies tun. Das Eisentor konnte nicht mehr weit entfernt sein. Er raste mit neunzig Kilometern pro Stunde durch das Weingut; wenn er diese Geschwindigkeit beibehalten konnte, wäre es vielleicht ausreichend, um das Tor zu durchbrechen.

Der Geländewagen schaukelte heftig, als eine Kugel den hinteren Reifen auf der Fahrerseite traf und dieser explodierte. Der vordere Teil des Fahrzeugs geriet ins Schleudern. Reid lenkte instinktiv und mit zusammengebissenen Zähnen dagegen an. Das Heck schlitterte, aber der Geländewagen überschlug sich nicht.

„Gott rette mich“, stöhnte Otets. „Dieser Wahnsinnige wird noch mein Tod sein …“

Reid riss das Lenkrad wieder herum und steuerte das Fahrzeug wieder geradeaus, aber das stetige, permanente Geräusch des Reifens verriet ihm, dass sie auf der Felge und ein paar Fetzen des Gummis fuhren. Seine Geschwindigkeit ging auf fünfundsechzig runter. Er versuchte wieder Gas zu geben, aber der Geländewagen bebte und drohte erneut auszuscheren.

Er wusste, dass sie nicht genug Tempo hatten, um das Tor zu durchbrechen. Sie würden einfach daran abprallen.

Es war ein elektronisches Tor, dachte er plötzlich und es wurde von einer Wache auf der Außenseite kontrolliert – die zu diesem Zeitpunkt seines Fluchtversuchs mit Sicherheit Bescheid wusste und mit der gefährlichen MP7 auf ihn wartete – aber das bedeutete, dass es einen weiteren Ausgang von diesem Gelände geben musste.

Weitere Kugeln gingen auf seinem Kotflügel nieder. Die beiden Verfolger hinter ihnen schossen auf sie. Er schaltete das Fernlicht ein und sah, wie sie sich dem Eisentor schnell näherte. „Halten Sie sich an irgendwas fest“, warnte Reid. Otets griff nach dem Handgriff über seinem Fenster und murmelte ein Gebet vor sich her, als Reid das Lenkrad hart nach rechts einschlug. Der Geländewagen schlitterte seitwärts in den Kies. Er fühlte, wie sich die beiden Reifen auf der Beifahrerseite vom Boden lösten und für einen Moment hielt er bei dem Gedanken die Luft an, dass sie sich überschlagen könnten.

Aber er behielt die Kontrolle und die Reifen setzten wieder auf. Er trat aufs Gaspedal und fuhr direkt in das Weingut, wobei er durch die dünnen Holzgitter rauschte, als wären sie Zahnstocher und machte die Weinstöcke platt.

„Was zum Teufel machen Sie denn?!“, kreischte Otets auf Russisch. Er hüpfte auf seinem Sitz hin und her, als sie über die gepflanzten Reihen der Reben fuhren. Hinter ihnen kamen die beiden Sportwagen zum Stillstand. Sie konnten ihnen nicht folgen, nicht durch das Feld – aber sie ahnten wahrscheinlich bereits, wonach er suchte und wussten, wo es sich befand.





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Einer der besten Thriller, die ich dieses Jahr gelesen habe. Buch- und Filmbewertungen (über: Koste es, was es wolle) In diesem lang erwartetem Debüt einer epischen Spionage-Thriller-Serie des #1 meistverkauften Autors Jack Mars, werden die Leser in einem Action-Thriller nach Europa geführt, wo der mutmaßliche CIA Agent Kent Steele, der von Terroristen, der CIA und seiner eigenen Identität gejagt wird, eine Reihe von Mysterien entschlüsseln muss. Wer ist hinter ihm her, wer ist er, welches ist das anstehende Ziel der Terroristen – und was hat es mit der wunderschönen Frau auf sich, die er immer wieder vor seinem geistigen Auge sieht?Kent Steele, 38, ein brillanter Professor für Europäische Geschichte an der Columbia Universität, lebt mit seinen zwei Teenager Töchtern in einem New Yorker Vorort ein ruhiges Leben. All das verändert sich, als es eines Abends an seiner Tür klopft und er von drei Terroristen entführt wird – er wird quer über den Ozean geflogen, um in einem Pariser Keller verhört zu werden. Sie sind überzeugt davon, dass Kent der tödlichste Spion ist, den die CIA je kannte. Er ist sich sicher, dass sie den falschen Mann haben. Aber stimmt das?Inmitten einer Verschwörung, mit Gegenspielern, so schlau wie er selbst und einem Auftragskiller dicht auf seinen Fersen, beginnt ein wildes Katz und Maus Spiel, das Kent auf einen verhängnisvollen Weg führt – einen Weg, der ihn zurück nach Langley führen könnte – und zu einer schockierenden Entdeckung über seine eigene Identität. AGENT NULL ist ein Spionage Thriller, der dich bis spät in die Nacht an sich fesseln wird. Ein Thriller der Extraklasse. Midwest Book Review (über: Koste es, was es wolle) Außerdem erhältlich ist Jack Mars #1 meistverkaufte LUKE STONE THRILLER Serie (7 Bücher), die mit Koste es, was es wolle (Buch #1) beginnt, einem kostenlosen Download mit über 800 5-Sterne-Bewertungen!

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