Книга - Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца

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Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца
Stefan Zweig


Exklusive Klassik
Психологический роман австрийского писателя Стефана Цвейга «Нетерпение сердца» – это трагическая история о неразделенной любви между 17-летней дочерью богатого венгерского землевладельца Эдит фон Кекешфальвой, прикованной к инвалидной коляске, и молодым австрийским лейтенантом Антоном Гофмиллером. Может ли сострадание, малодушное и сентиментальное, спасти близкого человека, или же «благими намерениями вымощена дорога в ад»? Почему сердце, так страстно и искренне полюбившее, не дождалось своей счастливой судьбы? К каким серьезным последствиям приведут трусость и предательство, и сможет ли совесть все забыть и предать забвению?

Как и в лучших новеллах автора, в романе мастерски описываются психологические тонкости, благодаря которым раскрываются чувства и поступки главных героев.

Книга издана в неадаптированной версии. Наслаждайтесь единственным завершенным романом Стефана Цвейга в оригинале!

В формате PDF A4 сохранён издательский дизайн.





Stefan Zweig / Стефан Цвейг

Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца



© ООО «Издательство АСТ», 2023




* * *




»Wer da hat, dem wird gegeben«, dieses Wort aus dem Buche der Weisheit darf jeder Schriftsteller getrost in dem Sinne bekräftigen: »Wer viel erzählt hat, dem wird erzählt.« Nichts Irrtümlicheres als die allzu umgängliche Vorstellung, in dem Dichter arbeite ununterbrochen die Phantasie, er erfinde aus einem unerschöpflichen Vorrat pausenlos Begebnisse und Geschichten. In Wahrheit braucht er nur, statt zu erfinden, sich von Gestalten und Geschehnissen finden zu lassen, die ihn, sofern er sich die gesteigerte Fähigkeit des Schauens und Lauschens bewahrt hat, unausgesetzt als ihren Wiedererzähler suchen; wer oftmals Schicksale zu deuten versuchte, dem berichten viele ihr Schicksal.

Auch dieses Begebnis ist mir beinahe zur Gänze in der hier wiedergegebenen Form anvertraut worden und zwar auf völlig unvermutete Art. Das letzte Mal in Wien suchte ich abends, von allerhand Besorgungen abgemüdet, ein vorstädtisches Restaurant auf, von dem ich vermutete, es sei längst aus der Mode geraten und wenig frequentiert. Doch kaum eingetreten, wurde ich meines Irrtums ärgerlich gewahr. Gleich von dem ersten Tisch stand mit allen Zeichen ehrlicher, von mir freilich nicht ebenso stürmisch erwiderter Freude ein Bekannter auf und lud mich ein, bei ihm Platz zu nehmen. Es wäre unwahrhaftig, zu behaupten, daß jener beflissene Herr an sich ein unebener oder unangenehmer Mensch gewesen wäre; er gehörte nur zu jener Sorte zwanghaft geselliger Naturen, die in ebenso emsiger Weise, wie Kinder Briefmarken, Bekanntschaften sammeln und deshalb auf jedes Exemplar ihrer Kollektion in besonderer Weise stolz sind. Für diesen gutmütigen Sonderling – im Nebenberuf ein vielwissender und tüchtiger Archivar – beschränkte sich der ganze Lebenssinn auf die bescheidene Genugtuung, bei jedem Namen, der ab und zu in einer Zeitung zu lesen war, mit eitler Selbstverständlichkeit hinzufügen zu können: »Ein guter Freund von mir« oder »Ach, den habe ich erst gestern getroffen« oder »Mein Freund A hat mir gesagt und mein Freund B hat gemeint«, und so unentwegt das ganze Alphabet entlang. Verläßlich klatschte er bei den Premieren seiner Freunde, telephonierte jede Schauspielerin am nächsten Morgen glückwünschend an, er vergaß keinen Geburtstag, verschwieg unerfreuliche Zeitungsnotizen und schickte einem die lobenden aus herzlicher Anteilnahme zu. Kein unebener Mensch also, weil ehrlich beflissen und schon beglückt, wenn man ihn einmal um eine kleine Gefälligkeit ersuchte oder gar das Raritätenkabinett seiner Bekanntschaften um ein neues Objekt vermehrte.

Aber es tut nicht not, Freund »Adabei« – unter diesem heiteren Spottwort faßt man in Wien jene Spielart gutmütiger Parasiten innerhalb der buntscheckigen Gruppe der Snobs für gewöhnlich zusammen – näher zu beschreiben, denn jeder kennt sie und weiß, daß man sich ihrer rührenden Unschädlichkeit ohne Roheit nicht erwehren kann. So setzte ich mich resigniert zu ihm, und eine Viertelstunde lief schwatzhaft dahin, als ein Herr in das Lokal eintrat, hochgewachsen und auffällig durch sein frischfarbiges, jugendliches Gesicht mit einem pikanten Grau an den Schläfen; eine gewisse Aufrechtheit im Gang verriet ihn sofort als ehemaligen Militär. Eifrig zuckte mein Nachbar mit der für ihn typischen Beflissenheit grüßend auf, welchen Impetus jedoch jener Herr eher gleichgültig als höflich erwiderte, und noch hatte der neue Gast nicht recht bei dem eilig zudrängenden Kellner bestellt, als mein Freund Adabei bereits an mich heranrückte und mir leise zuflüsterte: »Wissen Sie, wer das ist?« Da ich seinen Sammelstolz, jedes halbwegs interessante Exemplar seiner Kollektion rühmend zur Schau zu stellen, längst kannte und überlange Explikationen fürchtete, äußerte ich bloß ein recht uninteressiertes »Nein« und zerlegte weiter meine Sachertorte. Diese meine Indolenz aber machte den Namenskuppler nur noch aufgeregter, und die Hand vorsichtig vorhaltend, hauchte er mir leise zu: »Das ist doch der Hofmiller von der Generalintendanz – Sie wissen doch – der im Krieg den Maria Theresienorden bekommen hat.« Weil nun dieses Faktum mich nicht in der erhofften Weise zu erschüttern schien, begann er mit der Begeisterung eines patriotischen Lesebuchs auszupacken, was dieser Rittmeister Hofmiller im Krieg Großartiges geleistet hätte, zuerst bei der Kavallerie, dann bei jenem Erkundungsflug über die Piave, wo er allein drei Flugzeuge abgeschossen hätte, schließlich bei der Maschinengewehrkompagnie, wo er drei Tage einen Frontabschnitt besetzt und gehalten hätte – all das mit vielen Einzelheiten (die ich hier überschlage) und immer dazwischen sein maßloses Erstaunen bekundend, daß ich von diesem Prachtmenschen nie gehört hatte, den doch Kaiser Karl in Person mit der seltensten Dekoration der österreichischen Armee ausgezeichnet habe.

Unwillkürlich ließ ich mich verleiten, zum andern Tisch hinüberzuschauen, um einmal einen historisch abgestempelten Helden aus Zweimeterdistanz zu sehen. Aber da stieß ich auf einen harten, verärgerten Blick, der etwa sagen wollte: Hat der Kerl dir etwas von mir vorgeflunkert? An mir gibt’s nichts anzugaffen! Gleichzeitig rückte jener Herr mit einer unverkennbar unfreundlichen Bewegung den Sessel zur Seite und schob uns energisch den Rücken zu. Etwas beschämt nahm ich meinen Blick zurück und vermied von nun an, auch nur die Decke jenes Tischs neugierig anzustreifen. Bald darauf verabschiedete ich mich von meinem braven Schwätzer, beim Hinausgehen jedoch schon bemerkend, daß er sich sofort zu seinem Helden hinübertransferierte, wahrscheinlich um einen ebenso eifrigen Bericht über mich zu erstatten wie zu mir über jenen.

Das war alles. Ein Blick hin und her, und ich hätte gewiß diese flüchtige Begegnung vergessen, doch der Zufall wollte, daß ich bereits am nächsten Tage, in einer kleinen Gesellschaft mich neuerdings diesem ablehnenden Herrn gegenübersah, der übrigens im abendlichen Smoking noch auffallender und eleganter wirkte als gestern in dem mehr sportlichen Homespun. Wir hatten beide Mühe, ein kleines Lächeln zu verbergen, jenes ominöse Lächeln zwischen zwei Menschen, die inmitten einer größeren Gruppe ein wohlgehütetes Geheimnis gemeinsam haben. Er erkannte mich genau wie ich ihn, und wahrscheinlich erregten oder amüsierten wir uns auch in gleicher Weise über den erfolglosen Kuppler von gestern. Zunächst vermieden wir, miteinander zu sprechen, was sich schon deswegen als aussichtslos erwiesen hätte, weil rings um uns eine aufgeregte Diskussion im Gange war.

Der Gegenstand jener Diskussion ist im voraus verraten, wenn ich erwähne, daß sie im Jahre 1938 stattfand. Spätere Chronisten unserer Zeit werden einmal feststellen, daß im Jahre 1938 fast jedes Gespräch in jedem Lande unseres verstörten Europa von den Mutmaßungen über Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit eines neuen Weltkrieges beherrscht war. Unvermeidlich faszinierte das Thema jedes Zusammensein, und man hatte manchmal das Gefühl, es seien gar nicht die Menschen, die in Vermutungen und Hoffnungen ihre Angst abreagierten, sondern gleichsam die Atmosphäre selbst, die erregte und mit geheimen Spannungen beladene Zeitluft, die sich ausschwingen wollte im Wort.

Der Hausherr führte das Gespräch an, Rechtsanwalt von Beruf und rechthaberisch dem Charakter nach; er bewies mit den üblichen Argumenten den üblichen Unsinn, die neue Generation wisse um den Krieg und würde in einen neuen nicht mehr so unvorbereitet hineintappen wie in den letzten. Schon bei der Mobilisierung würden die Gewehre nach rückwärts losgehen, und insbesondere die alten Frontsoldaten wie er hätten nicht vergessen, was sie erwarte. Die flunkernde Sicherheit, mit der er in einer Stunde, wo in zehntausenden und hunderttausenden Fabriken Sprengstoffe und Giftgase erzeugt wurden, die Möglichkeit eines Krieges ebenso lässig wegstreifte wie mit einem leichten Klaps des Zeigefingers die Asche seiner Zigarette, ärgerte mich. Man solle nicht immer glauben, was man wahrhaben wolle, antwortete ich recht entschieden. Die Ämter und Militärorganisationen, die den Kriegsapparat dirigierten, hätten gleichfalls nicht geschlafen, und während wir uns mit Utopien beduselten, die Friedenszeit reichlich benützt, um die Massen schon im voraus durchzuorganisieren und gewissermaßen schußfertig in die Hand zu bekommen. Bereits jetzt, mitten im Frieden, sei die allgemeine Servilität dank der Vervollkommnung der Propaganda in unglaublichen Proportionen gewachsen, und man möge der Tatsache nur klar ins Auge sehen, daß von der Sekunde an, wo das Radio die Meldung der Mobilisierung in die Stuben werfen würde, nirgends Widerstand zu erwarten sei. Das Staubkorn Mensch zähle heute als Wille überhaupt nicht mehr mit.

Natürlich hatte ich alle gegen mich, denn in bewährter Praxis sucht sich der Selbstbetäubungstrieb im Menschen innerlich bewußter Gefahren am liebsten dadurch zu entledigen, daß er sie als null und nichtig erklärt, und schon gar mußte eine solche Warnung vor billigem Optimismus unwillkommen wirken angesichts eines im Nebenzimmer bereits splendid aufgedeckten Soupers.

Unerwarteterweise trat nun der Maria Theresienritter als Sekundant mir zur Seite, gerade er, in dem mein falscher Instinkt einen Gegner vermutet hatte. Ja, es sei blanker Unsinn, erklärte er heftig, das Wollen oder Nichtwollen des Menschenmaterials heutzutage noch einkalkulieren zu wollen, denn im nächsten Kriege sei die eigentliche Leistung den Maschinen zugeteilt und die Menschen nur mehr zu einer Art Bestandteil derselben degradiert. Schon im letzten Kriege sei er nicht vielen im Feld begegnet, die den Krieg klar bejaht oder klar verneint hätten. Die meisten seien hineingerollt wie eine Staubwolke mit dem Wind und hätten dann im großen Wirbel einfach dringesteckt, jeder einzelne willenlos herumgeschüttelt wie eine Erbse im großen Sack. In summa seien vielleicht sogar mehr Menschen in den Krieg hineingeflüchtet als aus ihm herausgeflüchtet.

Ich hörte überrascht zu, interessiert vor allem durch die Heftigkeit, mit der er jetzt weitersprach. »Geben wir uns keiner Täuschung hin. Wenn man heute in irgendeinem Land für einen völlig exotischen Krieg, für einen Krieg in Polynesien oder in einem Winkel Afrikas, die Werbetrommel aufstellte, würden Tausende und Hunderttausende zulaufen, ohne recht zu wissen warum, vielleicht nur aus Lust an dem Weglaufen vor sich selbst oder aus unerfreulichen Verhältnissen. Den faktischen Widerstand gegen einen Krieg kann ich aber kaum höher als null bewerten. Widerstand eines Einzelnen gegen eine Organisation erfordert immer einen viel höheren Mut als das bloße Sich-mitreißen-lassen, nämlich Individualmut, und diese Spezies stirbt in unseren Zeiten fortschreitender Organisation und Mechanisierung aus. Ich bin im Krieg fast ausschließlich dem Phänomen des Massenmuts, des Muts innerhalb von Reih und Glied, begegnet, und wer diesen Begriff näher unter die Lupe nimmt, entdeckt ganz seltsame Komponenten: viel Eitelkeit, viel Leichtsinn und sogar Langeweile, vor allem aber viel Furcht – jawohl, Furcht vor dem Zurückbleiben, Furcht vor dem Verspottetwerden, Furcht vor dem Alleinhandeln und Furcht vor allem, sich in Opposition zu setzen zu dem Massenelan der andern; die meisten von jenen, die im Feld als die Tapfersten galten, habe ich persönlich und in Zivil dann als recht fragwürdige Helden gekannt. – Bitte«, sagte er, höflich zu dem Gastgeber gewandt, der ein schiefes Gesicht schnitt, »ich nehme mich selber keineswegs aus.«

Die Art, wie er sprach, gefiel mir, und ich hatte Lust, auf ihn zuzugehen, aber da rief die Hausdame schon zum Abendessen, und weit voneinander placiert, kamen wir nicht mehr ins Gespräch. Erst bei dem allgemeinen Aufbruch gerieten wir bei der Garderobe zusammen.

»Ich glaube«, lächelte er mir zu, »unser gemeinsamer Protektor hat uns indirekt schon vorgestellt.«

Ich lächelte gleichfalls. »Und gründlich dazu.«

»Er hat wahrscheinlich dick aufgetragen, was für ein Achilles ich bin, und sich meinen Orden ausgiebig über die Weste gehängt?«

»So ungefähr.«

»Ja, auf den ist er verflucht stolz – ähnlich wie auf Ihre Bücher.«

»Komischer Kauz! Aber es gibt üblere. Übrigens – wenn’s Ihnen recht ist, könnten wir noch ein Stück zusammen gehen.«

Wir gingen. Er wandte sich mit einem Mal zu mir zu:

»Glauben Sie mir, ich mache wirklich keine Phrasen, wenn ich sage, daß ich jahrelang unter nichts mehr gelitten habe als unter diesem für meinen Geschmack allzu auffälligen Maria Theresienorden. Das heißt, um ehrlich zu sein – als ich ihn damals im Feld draußen umgehängt kriegte, ging mir’s natürlich zunächst durch und durch. Schließlich ist man zum Soldaten auferzogen worden und hat in der Kadettenschule von diesem Orden wie von einer Legende gehört, von diesem einen Orden, der vielleicht nur auf ein Dutzend in jedem Kriege fällt, also tatsächlich so wie ein Stern vom Himmel herunter. Ja, für einen Burschen von achtundzwanzig Jahren bedeutet so etwas schon allerhand. Man steht mit einem Mal vor der ganzen Front, alles staunt auf, wie einem plötzlich etwas an der Brust blitzt wie eine kleine Sonne, und der Kaiser, die unnahbare Majestät, schüttelt einem beglückwünschend die Hand. Aber sehen Sie: diese Auszeichnung hatte doch nur Sinn und Gültigkeit in unserer militärischen Welt, und als der Krieg zu Ende war, schien’s mir lächerlich, noch ein ganzes Leben lang als abgestempelter Held herumzugehen, weil man einmal wirklich zwanzig Minuten couragiert gehandelt hat – wahrscheinlich nicht couragierter als zehntausend andere, denen man nur das Glück voraus hatte, bemerkt zu werden, und das vielleicht noch erstaunlichere, lebendig zurückzukommen. Schon nach einem Jahr, wenn überall die Leute hinstarrten auf das kleine Stückchen Metall und den Blick dann ehrfürchtig zu mir heraufklettern ließen, wurde es mir gründlich über, als ambulantes Monument herumzustiefeln, und der Ärger über diese ewige Auffälligkeit war auch einer der entscheidenden Gründe, weshalb ich nach Kriegsende so bald ins Zivil hinübergewechselt habe.«

Er ging etwas heftiger.

»Einer der Gründe, sagte ich, aber der Hauptgrund war ein privater, der Ihnen vielleicht noch verständlicher sein wird. Der Hauptgrund war, daß ich selbst meine Berechtigung und jedenfalls mein Heldentum gründlich anzweifelte; ich wußte doch besser als die fremden Gaffer, daß hinter diesem Orden jemand steckte, der nichts weniger als ein Held und sogar ein entschiedener Nichtheld war – einer von denen, die in den Krieg nur deshalb so wild hineingerannt sind, weil sie sich aus einer verzweifelten Situation retten wollten. Deserteure eher vor der eigenen Verantwortung als Helden ihres Pflichtgefühls. Ich weiß nicht, wie das bei euch ist – mir wenigstens erscheint das Leben mit Nimbus und Heiligenschein unnatürlich und unerträglich, und ich fühlte mich redlich erleichtert, meine Heldenbiographie nicht mehr auf der Uniform spazierenführen zu müssen. Noch jetzt ärgert’s mich, wenn jemand meine alte Glorie ausgräbt, und warum soll ich’s Ihnen nicht gestehen, daß ich gestern knapp auf dem Sprung war, an Ihren Tisch hinüberzugehen und den Schwätzer anzufahren, er solle mit jemand anderem protzen als gerade mit mir. Den ganzen Abend hat mich Ihr respektvoller Blick noch gewurmt, und am liebsten hätte ich, um diesen Schwätzer zu dementieren, Sie genötigt, anzuhören, auf welchen krummen Wegen ich eigentlich zu meiner ganzen Heldenhaftigkeit gekommen bin – es war schon eine recht sonderbare Geschichte, und immerhin könnte sie dartun, daß Mut oft nichts anderes ist als eine umgedrehte Schwäche. Übrigens – ich hätte kein Bedenken, sie Ihnen noch jetzt kerzengrad zu erzählen. Was ein Vierteljahrhundert in einem Menschen zurückliegt, geht nicht mehr ihn an, sondern längst einen andern. Hätten Sie Zeit? Und langweilt Sie’s nicht?«

Selbstverständlich hatte ich Zeit; wir gingen noch lange auf und nieder in den schon verlassenen Straßen und waren noch in den folgenden Tagen ausgiebig zusammen. In seinem Bericht habe ich nur weniges verändert, vielleicht Ulanen gesagt statt Husaren, die Garnisonen, um sie unkenntlich zu machen, ein wenig auf der Landkarte herumgeschoben und vorsorglich alle richtigen Namen wegschraffiert. Aber nirgends habe ich Wesentliches hinzuerfunden, und nicht ich, sondern der Erzähler beginnt jetzt zu erzählen.






»Es gibt eben zweierlei Mitleid. Das eine, das schwachmütige und sentimentale, das eigentlich nur Ungeduld des Herzens ist, sich möglichst schnell freizumachen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück, jenes Mitleid, das gar nicht Mitleiden ist, sondern nur instinktive Abwehr des fremden Leidens von der eigenen Seele. Und das andere, das einzig zählt – das unsentimentale, aber schöpferische Mitleid, das weiß, was es will, und entschlossen ist, geduldig und mitduldend alles durchzustehen bis zum Letzten seiner Kraft und noch über dies Letzte hinaus.«





* * *


Die ganze Sache begann mit einer Ungeschicklichkeit, einer völlig unverschuldeten Tölpelei, einer »gaffe«, wie die Franzosen sagen. Dann kam der Versuch, meine Dummheit wieder einzurenken; aber wenn man allzu hastig ein Rad in einem Uhrwerk reparieren will, verdirbt man meist das ganze Getriebe. Selbst heute, nach Jahren, vermag ich nicht abzugrenzen, wo mein pures Ungeschick endete und meine eigene Schuld begann. Vermutlich werde ich es niemals wissen.

Ich war damals fünfundzwanzig Jahre alt und aktiver Leutnant bei den x… er Ulanen. Daß ich jemals sonderliche Passion oder innere Berufung für den Offiziersstand empfunden hätte, darf ich nicht behaupten. Aber wenn in einer altösterreichischen Beamtenfamilie zwei Mädel und vier immer hungrige Buben um einen schmalgedeckten Tisch sitzen, so fragt man nicht lange nach ihren Neigungen, sondern schiebt sie frühzeitig in den Backofen des Berufs, damit sie den Hausstand nicht allzulange belasten. Meinen Bruder Ulrich, der sich schon in der Volksschule die Augen mit vielem Lernen verdarb, steckte man ins Priesterseminar, mich dirigierte man um meiner festen Knochen willen in die Militärschule: von dort aus spult sich der Lebensfaden mechanisch fort, man braucht ihn nicht weiter zu ölen. Der Staat sorgt für alles. In wenigen Jahren schneidert er kostenlos, nach vorgezeichnetem ärarischem Muster, aus einem halbwüchsigen, blassen Buben einen flaumbärtigen Fähnrich und liefert ihn gebrauchsfertig an die Armee. Eines Tages, zu Kaisers Geburtstag, noch nicht achtzehn Jahre alt, war ich ausgemustert und kurz darauf mir der erste Stern an den Kragen gesprungen; damit war die erste Etappe erreicht, und nun konnte der Turnus des Avancements in gebührenden Pausen mechanisch sich weiterhaspeln bis zu Pensionierung und Gicht. Auch just bei der Kavallerie, dieser leider recht kostspieligen Truppe, zu dienen, war keineswegs mein persönlicher Wunsch gewesen, sondern die Marotte meiner Tante Daisy, die den älteren Bruder meines Vaters in zweiter Ehe geheiratet hatte, als er vom Finanzministerium zu einer einträglicheren Bankpräsidentschaft übergegangen war. Reich und snobistisch zugleich, wollte sie es nicht dulden, daß irgend einer aus der Verwandtschaft, der gleichfalls Hofmiller hieß, die Familie »verschandeln« sollte, indem er bei der Infanterie diente; und da sie sich diese Marotte hundert Kronen Zuschuß im Monat kosten ließ, mußte ich bei allen Gelegenheiten vor ihr noch submissest dankbar tun. Ob es mir selber zusagte, bei der Kavallerie oder überhaupt aktiv zu dienen, darüber hätte nie jemand nachgedacht, ich selber am wenigsten. Saß ich im Sattel, dann war mir wohl, und ich dachte nicht weit über den Pferdehals hinaus.

In jenem November 1913 muß irgend ein Erlaß aus einer Kanzlei in die andere hinübergerutscht sein, denn surr – auf einmal war unsere Eskadron aus Jaroslau in eine andere kleine Garnison an der ungarischen Grenze versetzt worden. Es ist gleichgültig, ob ich das Städtchen beim richtigen Namen nenne oder nicht, denn zwei Uniformknöpfe am selben Rock können einander nicht ähnlicher sein als eine österreichische Provinzgarnison der andern. Da und dort dieselben ärarischen Ubikationen: eine Kaserne, ein Reitplatz, ein Exerzierplatz, ein Offizierskasino, dazu drei Hotels, zwei Kaffeehäuser, eine Konditorei, eine Weinstube, ein schäbiges Variété mit abgetakelten Soubretten, die sich im Nebenamt liebevollst zwischen Offizieren und Einjährigen aufteilen. Überall bedeutet Kommißdienst dieselbe geschäftig leere Monotonie, Stunde für Stunde eingeteilt nach dem stahlstarren, jahrhundertealten Reglement, und auch die Freizeit sieht nicht viel abwechslungsreicher aus. In der Offiziersmesse dieselben Gesichter, dieselben Gespräche, im Kaffeehaus dieselben Kartenpartien und das gleiche Billard. Manchmal wundert man sich, daß es dem lieben Gott beliebt, wenigstens einen anderen Himmel und eine andere Landschaft um die sechs-oder achthundert Dächer eines solchen Städtchens zu stellen.

Einen Vorteil allerdings bot meine neue Garnison gegenüber der früheren galizischen: sie war Schnellzugsstation und lag einerseits nahe bei Wien, andererseits nicht allzuweit von Budapest. Wer Geld hatte – und bei der Kavallerie dienen immer allerhand reiche Burschen, nicht zuletzt auch die Freiwilligen, teils Hochadel, teils Fabrikantensöhne – der konnte, wenn er rechtzeitig abpaschte, mit dem Fünfuhrzug nach Wien fahren und mit dem Nachtzug um halb drei Uhr wieder zurück sein. Zeit genug also, um ins Theater zu gehen, auf der Ringstraße zu bummeln, den Kavalier zu spielen und sich gelegentliche Abenteuer zu suchen; einige der Beneidetsten hielten sich dort sogar eine ständige Wohnung oder ein Absteigequartier. Leider lagen derlei auffrischende Eskapaden jenseits meines Monatsetats. Als Unterhaltung blieb einzig das Kaffeehaus oder die Konditorei, und dort verlegte ich mich, da mir die Kartenpartien meist zu hoch ins Geld gingen, auf das Billard oder spielte das noch billigere Schach.

So saß ich auch diesmal eines Nachmittags, es muß Mitte Mai 1914 gewesen sein, mit einem gelegentlichen Partner, dem Apotheker zum Goldenen Engel, der gleichzeitig Vizebürgermeister unseres Garnisonsstädtchens war, in der Konditorei. Wir hatten unsere üblichen drei Partien längt zu Ende gespielt, und man redete nur aus Trägheit, sich aufzurappeln – wohin denn in diesem langweiligen Nest? – noch so hin und her, aber das Gespräch qualmte schon schläfrig wie eine abgebrannte Zigarette. Da geht mit einem Mal die Tür auf, und ein wehender Glockenrock schwingt mit einem Büschel frischer Luft ein hübsches Mädel herein: braune, mandelförmige Augen, dunkler Teint, famos gekleidet, gar nicht Provinz, und vor allem ein neues Gesicht in diesem gottsjämmerlichen Einerlei. Leider schenkt die smarte Nymphe uns respektvoll Aufstaunenden keinen Blick; scharf und rassig, mit sportlich festem Schritt quert sie an den neun kleinen Marmortischchen des Lokals vorbei geradewegs auf das Verkaufspult zu, um dort gleich en gros ein ganzes Dutzend Kuchen, Torten und Schnäpse zu bestellen. Mir fällt sofort auf, wie devotissime sich der Herr Kuchenbäcker vor ihr verneigt – nie habe ich die Rückennaht seines Schwalbenrocks so straff hinabgespannt gesehen. Sogar seine Frau, die üppig-grobschlächtige Provinzvenus, die sich sonst von allen Offizieren nachlässigst hofieren läßt (oft bleibt man ja bis Monatsende allerhand Kleinigkeiten schuldig), erhebt sich von ihrem Sitz an der Kasse und zergeht beinahe in pflaumenweicher Höflichkeit. Das hübsche Mädel knabbert, während der Kuchenbäcker die Bestellung ins Kundenbuch notiert, achtlos ein paar Pralinés an und macht ein bißchen Konversation mit Frau Großmaier; für uns aber, die wir vielleicht ungebührlich eifrig die Hälse recken, fällt nicht einmal ein Augenblink ab. Natürlich beschwert sich die junge Dame nicht mit einem einzigen Päckchen die hübsche Hand; es wird ihr alles, wie Frau Großmaier submissest versichert, zuverlässig geschickt. Und sie denkt auch nicht im mindesten daran, wie wir gewöhnlichen Sterblichen an der stählernen Automatenkasse bar zu bezahlen. Sofort wissen wir alle: extrafeine, vornehme Kundschaft!

Wie sie sich jetzt nach erledigter Bestellung zum Gehen wendet, springt Herr Großmaier hastig vor, um ihr die Tür zu öffnen. Auch mein Herr Apotheker erhebt sich von seinem Sitze, um sich von der Vorbeischwebenden respektvollst zu empfehlen. Sie dankt mit souveräner Freundlichkeit – Donnerwetter, was für samtene, rehbraune Augen! – und ich kann kaum erwarten, bis sie, überzuckert von vielen Komplimenten, den Laden verlassen hat, um neugierigst meinen Partner nach diesem Hecht im Karpfenteich zu fragen.

»Ach, die kennen Sie nicht? Das ist doch die Nichte von…« – nun, ich werde ihn Herrn von Kekesfalva nennen, der Name lautete in Wirklichkeit anders – »Kekesfalva – Sie kennen doch die Kekesfalvas?«

Kekesfalva: wie eine Tausendkronennote wirft er den Namen hin und blickt mich an, als erwarte er als selbstverständliches Echo ein ehrfurchtsvolles »Ach so! Natürlich!« Aber ich frisch transferierter Leutnant, gerade erst vor ein paar Monaten in die neue Garnison geschneit, ich Ahnungsloser weiß nichts von diesem sehr geheimnisvollen Gott und bitte höflichst um weitere Erläuterung, die mir Herr Apotheker auch mit dem ganzen Wohlbehagen provinziellen Stolzes erteilt – selbstredend viel geschwätziger und ausführlicher, als ich sie hier wiedergebe.

Kekesfalva, erklärt er mir, sei der reichste Mann im ganzen Umkreis. Einfach alles gehöre ihm, nicht nur das Schloß Kekesfalva – »Sie müssen’s doch kennen, man sieht’s vom Exerzierplatz aus, links von der Chaussee das gelbe Schloß mit dem flachen Turm und dem großen, alten Park« – sondern auch die große Zuckerfabrik an der Straße nach R. und das Sägewerk in Bruck und dann in M. das Gestüt; all das gehöre ihm und dazu sechs oder sieben Häuser in Budapest und Wien. »Ja, das möchte man nicht glauben, daß es bei uns solche steinreiche Leute gibt, und zu leben weiß der wie ein richtiger Magnat. Im Winter im kleinen Wiener Palais in der Jacquingasse, den Sommer in Kurorten; hier führt er grade nur im Frühjahr ein paar Monate Haus, aber, Herrgott noch einmal, was für ein Haus! Quartette aus Wien, Champagner und französische Weine, das Erste vom Ersten, das Beste vom Besten!« Nun, wenn er mir damit gefällig sein könne, werde er mich gerne dort einführen, denn – große Geste der Genugtuung – er sei mit Herrn von Kekesfalva befreundet, habe in früheren Jahren oft geschäftlich mit ihm zu tun gehabt und wisse, daß er Offiziere immer gern bei sich sehe; nur ein Wort koste es ihn, und ich sei eingeladen.

Nun, warum nicht? Man erstickt ja in dem mulmigen Krebsteich einer solchen Provinzgarnison. Man kennt vom Sehen schon alle Frauen auf dem Korso und von jeder den Sommerhut und den Winterhut und das noble und das gewöhnliche Kleid, es bleibt immer dasselbe. Und den Hund kennt man und das Dienstmädchen und die Kinder vom Anschauen und Wegschauen. Man kennt alle Künste der dicken böhmischen Köchin im Kasino, und der Gaumen wird einem allmählich flau beim Anblick der ewig gleichen Speisekarte im Gasthaus. Man kennt jeden Namen, jedes Schild, jedes Plakat in jeder Gasse auswendig und jedes Geschäft in jedem Haus und in jedem Geschäft jede Auslage. Man weiß schon beinahe so exakt wie der Oberkellner Eugen, um welche Stunde der Herr Bezirksrichter im Kaffeehaus erscheint und daß er an der Fensterecke links Platz nehmen wird und Schlag vier Uhr dreißig eine Melange bestellt, während der Herr Notar wiederum genau zehn Minuten später kommt, vier Uhr vierzig, und dafür – holde Abwechslung – wegen seines schwachen Magens ein Glas Tee mit Zitrone trinkt und zur ewig gleichen Virginia dieselben Witze erzählt. Ach, man kennt alle Gesichter, alle Uniformen, alle Pferde, alle Kutscher, alle Bettler im ganzen Umkreis, man kennt sich selber zum Überdruß. Warum nicht einmal aus der Tretmühle ausbrechen? Und dann, dieses hübsche Mädel, diese rehbraunen Augen! Ich erkläre also meinem Gönner mit gespielter Gleichgültigkeit (nur sich nicht zu happig zeigen vor dem eitlen Pillendreher!), gewiß, es würde mir ein Vergnügen sein, die Bekanntschaft der Familie Kekesfalva zu machen.

Tatsächlich – siehe da, der wackere Apotheker hat nicht geflunkert! – schon zwei Tage später bringt er mir, ganz aufgeplustert vor Stolz, mit gönnerischer Gebärde eine gedruckte Karte ins Kaffeehaus, in die mein Name kalligraphisch eingefügt ist, und diese Einladungskarte besagt, daß Herr Lajos von Kekesfalva Herrn Leutnant Anton Hofmiller für Mittwoch nächster Woche acht Uhr abends zum Diner bitte. Gott sei Dank, auch unsereiner ist nicht auf der Brennsuppe hergeschwommen und weiß, wie man sich in solchem Falle benimmt. Gleich Sonntag vormittag haue ich mich in meine beste Kluft, weiße Handschuhe und Lackschuhe, unerbittlich rasiert, einen Tropfen Eau de Cologne in den Schnurrbart, und fahre hinaus, Antrittsbesuch zu machen. Der Diener – alt, diskret, gute Livree – nimmt meine Karte und murmelt entschuldigend, die Herrschaften würden auf das höchste bedauern, Herrn Leutnant versäumt zu haben, aber sie seien in der Kirche. Um so besser, denke ich mir, Antrittsvisiten sind immer das Grausigste im Dienst und außer Dienst. Jedenfalls, ich habe meine Pflicht getan. Mittwoch abend gehst du hin und hoffentlich wird’s nett. Erledigt, denke ich, Angelegenheit Kekesfalva bis Mittwoch. Aber redlich erfreut finde ich zwei Tage später, Dienstag also, eine eingebogene Visitenkarte von Herrn von Kekesfalva in meiner Bude abgegeben. Tadellos, denke ich mir, die Leute haben Manieren. Gleich zwei Tage nach der Antrittsvisite mir, dem kleinen Offizier, einen Gegenbesuch – mehr Höflichkeit und Respekt kann ein General sich nicht wünschen. Und mit einem wirklich guten Vorgefühl freue ich mich jetzt auf den Mittwochabend.

Aber gleich anfangs fährt ein Schabernack dazwischen – man sollte eigentlich abergläubisch sein und auf kleine Zeichen mehr achten. Mittwoch halb acht Uhr abends, ich bin schon fix und fertig, die beste Uniform, neue Handschuhe, Lackschuhe, die Hose scharf wie eine Rasierschneide gebügelt, und mein Bursche legt mir gerade noch die Falten des Mantels zurecht und revidiert, ob alles klappt (ich brauche immer meinen Burschen dazu, denn ich habe nur einen kleinen Handspiegel in meiner schlecht beleuchteten Bude), da poltert’s an die Tür: eine Ordonnanz. Der Offizier vom Dienst, mein Freund, der Rittmeister Graf Steinhübel, läßt mich bitten, ich solle zu ihm hinüber in den Mannschaftsraum. Zwei Ulanen, sternhagelbesoffen wahrscheinlich, haben miteinander krawalliert, schließlich hat der eine den andern mit dem Karabiner über den Kopf geschlagen. Und nun liegt der Tolpatsch da, blutend, ohnmächtig und mit offenem Mund. Man weiß nicht, ob sein Schädel überhaupt noch ganz ist oder nicht. Der Regimentsarzt aber ist auf Urlaub nach Wien abgeschwommen, der Oberst nicht zu finden; so hat in seiner Not der gute Steinhübel, verflucht, gerade mich herangetrommelt, daß ich ihm beispringe, indes er sich um den Blutenden bemüht, und ich muß jetzt Protokoll aufnehmen und nach allen Seiten Ordonnanzen schicken, damit man im Kaffeehaus oder sonstwo rasch einen Zivilarzt auftreibt. Unter all dem wird es dreiviertel acht. Ich sehe schon, vor einer Viertel-oder einer halben Stunde kann ich keinesfalls loskommen. Verdammt, justament heute muß eine solche Sauerei passieren, justament heute, wo ich eingeladen bin! Immer ungeduldiger sehe ich auf die Uhr; unmöglich pünktlich zurechtzukommen, wenn ich hier auch nur noch fünf Minuten herummurksen muß. Aber Dienst, so ist’s uns ja bis in die Knochen gebleut, geht über jede private Verpflichtung. Ich darf nicht auskneifen, so tue ich das einzig Mögliche in dieser vertrackten Situation – das heißt, ich schicke meinen Burschen mit einem Fiaker (vier Kronen kostet mich der Spaß) zu den Kekesfalva hinaus, ich ließe um Entschuldigung bitten, falls ich mich verspäten sollte, aber ein unvermuteter dienstlicher Vorfall, und so weiter und so weiter. Glücklicherweise dauert der Rummel in der Kaserne nicht allzu lange, denn der Oberst erscheint in Person mit einem rasch aufgefundenen Arzt, und nun darf ich mich unauffällig drücken.

Aber neues Pech: gerade heute steht am Rathausplatz kein Fiaker, ich muß warten, bis man ein achthufiges Gefährt herantelephoniert. So wird’s unvermeidlich, daß, wie ich schließlich bei Kekesfalvas in der großen Hall lande, der lange Zeiger an der Wanduhr schon vertikal herunterhängt, genau halb neun statt acht Uhr, und ich sehe, die Mäntel in der Garderobe bauschen sich bereits dick übereinander. Auch an dem etwas befangenen Gesicht des Dieners merke ich, daß ich reichlich verspätet anrücke – unangenehm, unangenehm, so etwas gerade bei einem ersten Besuch!

Immerhin, der Diener – diesmal weiße Handschuhe, Frack, steifes Hemd und Gesicht – beruhigt mich, mein Bursche habe vor einer halben Stunde meine Botschaft überbracht, und führt mich in den Salon, vierfenstrig, rotseiden ausgespannt, glühend mit kristallenen Leuchtern, fabelhaft elegant, ich habe nie etwas Nobleres gesehen. Aber leider erweist er sich zu meiner Beschämung als völlig verlassen, und von nebenan höre ich deutlich munteres Tellerklirren – ärgerlich, ärgerlich, ich dachte mir’s gleich, sie sitzen schon bei Tisch!

Nun, ich raffe mich zusammen, und sobald der Diener vor mir die Schiebetür auftut, trete ich bis an die Schwelle des Speisezimmers, klappe die Hacken scharf zusammen und verbeuge mich. Alles blickt auf, zwanzig, vierzig Augen, lauter fremde Augen, mustern den Spätling, der sich nicht sehr selbstbewußt vom Türstock rahmen läßt. Sofort erhebt sich ein älterer Herr, der Hausherr zweifellos, tritt, die Serviette rasch abstreifend, mir entgegen und bietet mir einladend die Hand. Gar nicht, wie ich ihn mir vorgestellt habe, gar nicht wie ein Landedelmann magyarisch-schnurrbärtig, vollbäckig, feist und rötlich vom guten Wein, sieht dieser Herr von Kekesfalva aus. Hinter goldener Brille schwimmen ein bißchen müde Augen über grauen Tränensäcken, die Schultern scheinen etwas vorgeneigt, die Stimme klingt flüstrig und ein wenig vom Hüsteln gehemmt: für einen Gelehrten könnte man ihn eher halten, mit diesem schmalen zarten Gesicht, das in einem dünnen weißen Spitzbärtchen endet. Ungemein beschwichtigend wirkt die besondere Artigkeit des alten Herrn auf meine Unsicherheit: nein, nein, an ihm sei es, sich zu entschuldigen, fällt er mir gleich ins Wort. Er wisse genau, was im Dienst alles passieren könne, und es sei eine besondere Freundlichkeit meinerseits gewesen, ihn eigens zu verständigen; nur weil man meines Eintreffens nicht sicher gewesen sei, hätte man schon mit dem Diner begonnen. Aber nun solle ich unverweilt Platz nehmen. Er werde mich dann später mit all den Herrschaften einzeln bekannt machen. Nur hier – dabei geleitet er mich an den Tisch – seine Tochter. Ein halbwüchsiges Mädchen, zart, blaß, fragil wie er selbst, blickt aus einem Gespräch auf, zwei graue Augen streifen mich schüchtern. Aber ich sehe bloß wie im Flug das schmale, nervöse Gesicht, verbeuge mich erst vor ihr, dann korporativ rechts und links gegen die andern, die offenbar froh sind, Gabel und Messer nicht weglegen zu müssen, um durch umständliche Vorstellungszeremonien gestört zu werden.

Die ersten zwei, drei Minuten fühle ich mich noch herzlich unbehaglich. Niemand vom Regiment ist da, kein Kamerad, kein Bekannter, und nicht einmal jemand von den Honoratioren des Städtchens – ausschließlich fremde, stockfremde Menschen. Hauptsächlich scheinen es Gutsbesitzer aus der Umgebung zu sein mit ihren Frauen und Töchtern oder Staatsbeamte. Aber nur Zivil, Zivil, keine andere Uniform als die meine! Mein Gott, wie soll ich ungeschickter, scheuer Mensch mit diesen unbekannten Leuten Konversation machen? Glücklicherweise hatte man mich gut placiert. Neben mir sitzt das braune, übermütige Wesen, die hübsche Nichte, die damals meinen bewundernden Aufblick in der Konditorei doch bemerkt zu haben scheint, denn sie lächelt mir freundlich wie einem alten Bekannten zu. Sie hat Augen wie Kaffeebohnen, und wirklich, es knistert, wenn sie lacht, wie Bohnen beim Rösten. Sie hat entzückende, kleine, durchleuchtende Ohren unter dem dichten schwarzen Haar: wie rosa Zyklamen mitten im Moos, denke ich. Sie hat nackte Arme, weich und glatt; wie geschälte Pfirsiche müssen sie sich anfühlen.

Es tut wohl, neben einem so hübschen Mädchen zu sitzen, und daß sie mit einem vokalischen ungarischen Akzent spricht, macht mich beinahe verliebt. Es tut wohl, in einem so funkelnd hellen Raum an einem so vornehm gedeckten Tisch zu tafeln, hinter sich livrierte Diener, vor sich die schönsten Speisen. Auch meine Nachbarin zur Linken, die wieder mit leicht polnischem Tonfall redet, scheint mir, wenn auch schon etwas massiv, eigentlich appetissant. Oder macht das nur der Wein, der goldhelle, dann wieder blutdunkle und jetzt champagnerperlende Wein, den von rückwärts her die Diener mit ihren weißen Handschuhen aus silbernen Karaffen und breitbäuchigen Flaschen geradezu verschwenderisch einschenken? Wahrhaftig, der wackere Apotheker hat nicht geflunkert. Bei Kekesfalvas geht es zu wie bei Hof. Ich habe noch nie so gut gegessen, nie mir überhaupt träumen lassen, daß man so gut, so nobel, so üppig essen kann. Immer köstlichere und kostbarere Gerichte schweben auf unerschöpflichen Schüsseln heran; blaßblaue Fische, von Lattich gekrönt, mit Hummerscheiben umrahmt, schwimmen in goldenen Saucen, Kapaune reiten auf breiten Sätteln von geschichtetem Reis, Puddinge flammen in blaubrennendem Rum, Eisbomben quellen farbig und süß auseinander, Früchte, die um die halbe Welt gereist sein müssen, küssen einander in silbernen Körben. Es nimmt kein Ende, kein Ende und zum Schluß noch ein wahrer Regenbogen von Schnäpsen, grün, rot, weiß, gelb, und spargeldicke Zigarren zu einem köstlichen Kaffee!

Ein herrliches, ein zauberisches Haus – gesegnet sei er, der gute Apotheker! – ein heller, ein glücklicher, ein klingender Abend! Ich weiß nicht, fühle ich mich nur deshalb so aufgelockert und frei, weil rechts und links und gegenüber nun auch die andern glitzernde Augen und laute Stimmen bekommen haben, weil sie gleichfalls alles Nobeltun vergessen, munter drauflos und durcheinander reden – jedenfalls, meine sonstige Befangenheit ist weg. Ich plaudere ohne die geringste Hemmung, ich hofiere beiden Nachbarinnen zugleich, ich trinke, lache, blicke übermütig und leicht, und wenn es nicht immer Zufall ist, daß ich ab und zu mit der Hand an die schönen, nackten Arme Ilonas (so heißt die knusprige Nichte) streife, so scheint sie dies leise Angleiten und Ausgleiten keineswegs krummzunehmen, auch sie entspannt, beschwingt, gelockert wie wir alle von diesem üppigen Fest.

Allmählich fühle ich – ob das nicht doch der ungewohnt herrliche Wein macht, Tokaier und Champagner quer durcheinander? – eine Leichtigkeit über mich kommen, die an Übermut und fast an Unbändigkeit grenzt. Nur etwas fehlt mir noch zum vollen Glücklichsein, zum Schweben, zum Hingerissensein, und was dies war, nach dem ich unbewußt verlangte, wird mir schon im nächsten Augenblick herrlich klar, als plötzlich von einem dritten Raume her, hinter dem Salon – der Diener hatte unmerklich die Schiebetüren wieder aufgetan – gedämpfte Musik einsetzt, ein Quartett, und gerade die Musik, die ich mir innerlich wünschte, Tanzmusik, rhythmisch und weich zugleich, ein Walzer, von zwei Violinen getragen, von einem dunklen Cello schwermütig getönt; dazwischen taktiert eindringlich mit scharfem Staccato ein Klavier. Ja, Musik, Musik, nur sie hat noch gefehlt! Musik jetzt und vielleicht dazu tanzen, einen Walzer, sich schwingen, sich fliegen lassen, um die innere Leichtigkeit seliger zu empfinden! Und wirklich, diese Villa Kekesfalva muß ein Zauberhaus sein, man braucht nur zu träumen, und schon ist der Wunsch erfüllt. Wie wir jetzt aufstehen und die Sessel rücken und Paar an Paar – ich reiche Ilona den Arm und fühle wieder die kühle, weiche, üppige Haut – in den Salon hinübergehen, sind alle Tische heinzelmännisch weggeräumt und die Sessel rings an die Wand gestellt. Glatt, blank, braun spiegelt das Parkett, himmlische Eisbahn des Walzers, und von dem Nebenraum her animiert unsichtbar die Musik.

Ich wende mich zu Ilona. Sie lacht und versteht. Ihr Auge hat schon »Ja« gesagt, schon wirbeln wir, zwei Paare, drei Paare, fünf Paare über das glatte Parkett, indes die Behutsameren und Älteren zuschauen oder plaudern. Ich tanze gern, ich tanze sogar gut. Verschlungen schweben wir hin, ich glaube, ich habe nie besser getanzt in meinem Leben. Bei dem nächsten Walzer bitte ich meine andere Nachbarin; auch sie tanzt ausgezeichnet, und ich atme, zu ihr hinabgebeugt, mit einer leichten Betäubung das Parfüm ihres Haars. Ach, sie tanzt wunderbar, alles ist wunderbar, ich bin so glücklich wie seit Jahren nicht. Ich weiß nicht mehr recht aus und ein, ich möchte am liebsten alle umarmen und jedem etwas Herzliches, etwas Dankbares sagen, so leicht, so überschwenglich, so selig jung empfinde ich mich. Ich wirble von einer zur andern, ich spreche und lache und tanze und spüre, hingerissen in dem Geström meiner Beglückung, nicht die Zeit.

Da plötzlich – ich blicke zufällig auf die Uhr: halb elf – fällt mir zu meinem Schrecken ein: jetzt tanze und spreche und spaße ich schon fast eine Stunde herum und habe, ich Lümmel, noch gar nicht die Haustochter aufgefordert! Nur mit meinen Nachbarinnen und zwei, drei andern Damen, gerade denen, die mir am besten gefielen, habe ich getanzt und die Haustochter total vergessen! Welche Flegelei, ja, welcher Affront! Nun aber fix, das muß sofort repariert werden!

Doch zu meinem Schrecken kann ich mich überhaupt nicht mehr genau erinnern, wie das Mädchen aussieht. Nur einen Augenblick lang habe ich mich ja vor ihr verbeugt, als sie schon bei Tisch saß; ich entsinne mich bloß an irgend etwas Zartes und Fragiles und dann an ihren raschen grauen Neugierblick. Aber wo steckt sie denn? Als Haustochter kann sie doch nicht weggegangen sein? Unruhig mustere ich die ganze Wand entlang alle Frauen und Mädchen: keine will ihr gleichen. Schließlich trete ich in das dritte Zimmer, wo, von einem chinesischen Paravent verdeckt, das Quartett spielt, und atme entlastet auf. Denn da sitzt sie ja – bestimmt, sie ist es zart, dünn, in ihrem blaßblauen Kleid zwischen zwei alten Damen in der Boudoirecke hinter einem malachitgrünen Tisch, auf dem eine flache Schale mit Blumen steht. Sie hält den schmalen Kopf ein wenig gesenkt, als horchte sie ganz in die Musik hinein, und gerade an dem heißen Inkarnat der Rosen werde ich gewahr, wie durchsichtig blaß ihre Stirn schimmert unter dem schweren braunrötlichen Haar. Aber ich lasse mir keine Zeit zu müßiger Betrachtung. Gott sei Dank, atme ich innerlich auf, daß ich sie aufgespürt habe. So kann ich mein Versäumnis noch rechtzeitig nachholen.

Ich gehe auf dem Tisch zu, nebenan knattert die Musik, und verbeuge mich zum Zeichen höflicher Aufforderung. Ein befremdetes Auge starrt überrascht zu mir auf, die Lippen bleiben halb offen mitten im Wort. Aber sie macht keinerlei Bewegung, mir zu folgen. Hat sie nicht verstanden? Ich verbeuge mich also nochmals, meine Sporen klimpern leise mit: »Darf ich bitten, gnädiges Fräulein?«

Aber was jetzt geschieht, ist furchtbar. Der vorgebeugte Oberkörper fährt mit einem Ruck zurück, als wollte er einem Schlage ausweichen; gleichzeitig stürzt von innen ein Guß von Blut in die bleichen Wangen, die eben noch offenen Lippen pressen sich scharf ineinander, und nur die Augen starren unbeweglich auf mich mit einem solchen Ausdruck von Schrecken, wie er mir noch nie im Leben entgegengefahren ist. Im nächsten Augenblick geht durch den ganzen aufgekrampften Körper ein Ruck. Sie stemmt sich, stützt sich mit beiden Händen am Tisch empor, daß die Schale darauf klappert und klirrt, gleichzeitig fällt etwas hart von ihrem Fauteuil auf den Boden, Holz oder Metall. Noch immer hält sie sich mit beiden Händen an dem wankenden Tisch fest, noch immer schüttert es diesen kindleichten Leib durch und durch; aber trotzdem, sie flüchtet nicht weg, sie klammert sich nur noch verzweifelter an die schwere Tischplatte. Und immer wieder dieses Schüttern, dieses Zittern von den angekrampften Fäusten bis hinauf ins Haar. Und plötzlich bricht es heraus: ein Schluchzen, wild, elementar wie ein erstickter Schrei.

Aber schon sind von rechts und links die beiden alten Damen um sie herum, schon fassen, streicheln, umschmeicheln, beschwichtigen sie die Bebende, schon lösen sie ihre Hände, die angekrampften, sanft vom Tisch, und sie fällt wieder in den Fauteuil zurück. Doch das Weinen hält an; eher vehementer wird es, wie ein Blutsturz, wie ein heißes Erbrechen fährt es in einzelnen Stößen immer wieder zuckend heraus. Wenn die Musik hinter dem Paravent (die all das überlärmt) nur einen Augenblick innehält, muß man das Schluchzen bis in den Tanzraum hinüberhören.

Ich stehe da, vertölpelt, erschreckt. Was – was ist denn geschehen? Ratlos starre ich zu, wie die beiden alten Damen die Schluchzende zu beruhigen suchen, die jetzt in erwachender Scham ihren Kopf auf den Tisch geworfen hat. Aber immer wieder neue Stöße von Weinen laufen, Welle nach Welle, den schmalen Leib bis hinauf in die Schultern, und bei jedem dieser jähen Stöße klirren die Schalen mit. Ich aber stehe gleich ratlos da, Eis in den Gelenken, gewürgt von meinem Kragen wie von einem heißen Strick.

»Verzeihung«, stottere ich schließlich halblaut in die leere Luft und trete – beide Frauen sind um die Schluchzende beschäftigt, keine hat einen Blick für mich – ganz taumlig in den Saal zurück. Hier hat anscheinend noch niemand etwas bemerkt, stürmisch drehen sich die Paare, und ich spüre, daß ich mich an dem Pfosten halten muß, so schwingt der Raum um mich her. Was ist geschehen? Habe ich etwas angestellt? Mein Gott, am Ende habe ich bei Tisch zu viel, zu rasch getrunken und jetzt in der Benommenheit einen Blödsinn getan!

Da stoppt die Musik, die Paare lösen sich. Mit einer Verbeugung gibt der Bezirkshauptmann Ilona frei, und sofort stürze ich auf sie zu und schleppe die Aufstaunende fast gewaltsam beiseite: »Bitte helfen Sie mir! Um Himmels willen, helfen Sie, erklären Sie mir!«

Offenbar hatte Ilona erwartet, ich hätte sie zum Fenster gedrängt, um ihr etwas Lustiges zuzuflüstern, denn ihre Augen werden plötzlich hart: anscheinend muß ich mitleiderregend oder erschreckend ausgesehen haben, in meiner Aufgeregtheit. Mit fliegenden Pulsen erzähle ich alles. Und sonderbar: mit dem gleichen krassen Entsetzen im Blick wie jenes Mädchen drinnen fährt sie mich an:

»Sind Sie wahnsinnig geworden …? Wissen Sie denn nicht …? Haben Sie denn nicht gesehen …?«

»Nein«, stottere ich, vernichtet von diesem neuen und ebenso unverständlichen Entsetzen. »Was gesehen? … Ich weiß doch nichts. Ich bin doch zum erstenmal hier im Hause.«

»Haben Sie denn nicht bemerkt, daß Edith … lahm ist …? Nicht ihre armen verkrüppelten Beine gesehen? Sie kann sich doch keine zwei Schritte ohne Krücken fortschleppen … und Sie … Sie Roh…« – (sie unterdrückt rasch ein Zornwort) – »… Sie fordern die Arme zum Tanz auf … oh, entsetzlich, ich muß gleich hinüber zu ihr …«

»Nein« – (ich packe Ilona in meiner Verzweiflung am Arm) – »einen Augenblick noch, einen Augenblick … Sie müssen mich bei ihr entschuldigen. Ich konnte doch nicht ahnen … ich habe sie nur bei Tisch gesehen, nur eine Sekunde lang … Bitte erklären Sie ihr doch …«

Aber schon hatte Ilona, Zorn im Blick, ihren Arm befreit, schon läuft sie hinüber. Ich stehe mit gewürgter Kehle, Übelkeit im Mund, an der Schwelle des Salons, der wirbelt und schwirrt und schwatzt mit seinen (mir plötzlich unerträglichen) unbefangen plaudernden, lachenden Menschen, und denke: fünf Minuten noch, und alle wissen von meiner Tölpelei. Fünf Minuten, dann tappen und tasten höhnische, mißbilligende, ironische Blicke von allen Seiten mich an, und morgen läuft, von hundert Lippen zerschmatzt, der Schwatz über meine rohe Ungeschicklichkeit durch die ganze Stadt, frühmorgens schon mit der Milch abgelagert an den Haustüren, dann breitgeschwenkt in den Gesindestuben und weitergetragen in die Kaffeehäuser, die Ämter. Morgen weiß man’s in meinem Regiment.

In diesem Augenblick sehe ich wie durch einen Nebel den Vater. Mit einem etwas bedrückten Gesicht – weiß er schon? – kommt er eben quer durch den Saal. Geht er am Ende auf mich zu? Nein – nur ihm jetzt nicht begegnen! Eine panische Angst packt mich plötzlich vor ihm und vor allen. Und ohne recht zu wissen, was ich tue, stolpere ich zur Tür, die hinausführt in die Hall, hinaus aus diesem höllischen Haus.

»Wollen uns Herr Leutnant schon verlassen?« staunt mit respektvoll zweifelnder Geste der Diener.

»Ja«, antworte ich und erschrecke bereits, wie das Wort mir vom Munde fährt. Will ich denn wirklich weg? Und im nächsten Augenblick, da er den Mantel vom Haken holt, ist mir schon klar bewußt, daß ich jetzt mit meinem feigen Davonlaufen eine neue und vielleicht noch unentschuldbarere Dummheit begehe. Jedoch es ist schon zu spät. Ich kann ihm den Mantel nicht jetzt mit einmal wieder zurückgeben, ich kann nicht wieder, indes er mir schon die Haustür mit knapper Verbeugung öffnet, zurück in den Saal. Und so stehe ich plötzlich vor dem fremden, dem verfluchten Haus, den Wind kalt im Gesicht, das Herz heiß von Scham und den Atem gekrampft wie ein Erstickender.




* * *


Das war die unselige Tölpelei, mit der die ganze Sache begann. Jetzt, da ich mir beschwichtigten Bluts und aus der Distanz vieler Jahre jene einfältige Episode neuerdings vergegenwärtige, mit der alles Verhängnis seinen Anfang nahm, muß ich mir zuerkennen, eigentlich ganz unschuldig in dieses Mißverständnis hineingestolpert zu sein; auch dem Klügsten, dem Erfahrensten hätte diese »gaffe« passieren können, ein lahmes Mädchen zum Tanz aufzufordern. Aber in der Unmittelbarkeit des ersten Entsetzens empfand ich mich damals nicht nur als heillosen Tölpel, sondern als Rohling, als Verbrecher. Mir war, als hätte ich ein unschuldiges Kind mit der Peitsche geschlagen. All dies hätte schließlich mit Geistesgegenwart noch gutgemacht werden können; unwiderruflich hatte ich erst damit die Situation verdorben – dies wurde mir sofort bewußt, kaum daß der erste Stoß kalter Luft mir vor dem Hause an die Stirne sprang –, daß ich eben wie ein Verbrecher, ohne den Versuch, mich zu entschuldigen, einfach weggelaufen war.

Den Zustand, in dem ich vor dem Hause stand, vermag ich nicht zu schildern. Die Musik schwieg hinter den erleuchteten Fenstern; wahrscheinlich hatten die Spieler bloß eine Pause eingeschaltet. Aber in meinem überreizten Schuldgefühl fieberte ich mir sofort vor, um meinetwillen stocke der Tanz, alles dränge jetzt in das kleine Boudoir, um die Schluchzende zu trösten, alle Gäste, die Frauen, die Männer, die Mädchen ereiferten sich hinter jener verschlossenen Tür in einhelliger Entrüstung über den ruchlosen Mann, der ein verkrüppeltes Kind zum Tanz aufgefordert habe, um dann nach vollbrachtem Bosheitsstreich feige davonzulaufen. Und morgen – der Schweiß brach mir aus, ich fühlte ihn kalt unter der Kappe – wußte und schwätzte und behechelte schon die ganze Stadt meine Blamage. Ich sah sie schon vor mir in Gedanken, meine Kameraden, den Ferencz, den Mislywetz, und vor allem den Jozsi, den verfluchten Witzeschneider, wie sie schmatzend auf mich zukommen würden: »Na, Toni, schön führst du dich auf! Einmal wenn man dich von der Leine läßt, und du blamierst das ganze Regiment!« Monate wird dieses Hecheln und Höhnen noch weitergehen bei der Offiziersmesse; zehn, zwanzig Jahre wird ja bei uns am Kameradschaftstisch jede Dummheit nachgekaut, die irgend einer von uns einmal angestellt hat, jede Eselei verewigt sich, jeder Witz petrifiziert. Heute noch, nach sechzehn Jahren, erzählen sie die öde Geschichte vom Rittmeister Wolinski, wie er heimgekommen war aus Wien und geprotzt hatte, die Gräfin T. auf der Ringstraße kennengelernt und gleich die erste Nacht in ihrer Wohnung verbracht zu haben, und zwei Tage später stand dann in der Zeitung der Skandal von ihrem entlassenen Dienstmädel, das sich in Geschäften und bei Abenteuern hochstaplerisch selber als Gräfin T. ausgegeben hatte, und außerdem mußte der Casanova noch drei Wochen beim Regimentsarzt in die Kur gehen. Wer sich einmal vor den Kameraden lächerlich gemacht hat, bleibt lächerlich für immer, die kennen kein Vergessen, kein Verzeihen. Und je mehr ich mir’s ausmalte und ausdachte, umsomehr kam ich ins Fieber absurder Ideen. Hundertmal leichter schien es mir in diesem Augenblick, mit dem Zeigefinger einen kleinen raschen Druck am Revolver zu tun, als die Höllenqual der nächsten Tage durchzustehen, dieses ohnmächtige Warten, ob die Kameraden schon von meiner Blamage wüßten und etwa hinter meinem Rücken das Tuscheln und Schmunzeln lustig losgegangen sei. Ach, ich kannte mich gut; ich wußte, nie würde ich die Kraft haben, standzuhalten, sobald einmal das Spötteln und Höhnen und Herumerzählen angefangen hätte.

Wie ich damals nach Hause gelangte, weiß ich heute nicht mehr. Ich erinnere mich nur, der erste Griff riß den Schrank auf, wo die Flasche Slibowitz für meine Besucher stand, und ich kippte zwei, drei halbe Wassergläser herunter, um die gräßliche Übelkeit in der Kehle loszuwerden. Dann warf ich mich hin auf das Bett, angezogen wie ich war, und versuchte nachzudenken. Aber wie Blumen in einem Treibhaus ein hitzigeres und tropischeres Wachstum bekommen, so Wahnvorstellungen im Dunkeln. Wirr und phantastisch schießen sie dort im schwülen Grunde auf zu grellen Lianen, die einem den Atem würgen, und mit der Geschwindigkeit von Träumen formen und jagen sich die absurdesten Angstbilder im überhitzten Gehirn. Blamiert auf Lebenszeit, dachte ich mir, ausgestoßen aus der Gesellschaft, bespöttelt von den Kameraden, beschwätzt von der ganzen Stadt! Nie mehr werde ich das Zimmer verlassen, nie mehr mich auf die Straße wagen können, aus Furcht, einem von denen zu begegnen, die um mein Verbrechen wußten (denn als Verbrechen empfand ich in jener Nacht der ersten Überreizung meine simple Dummheit und mich selbst als Gejagten und Gehetzten des allgemeinen Gelächters). Als ich dann schließlich einschlief, kann es nur ein dünner, undichter Schlaf gewesen sein, unter dem mein Angstzustand fiebernd weiterarbeitete. Denn gleich beim ersten Augenaufschlag steht wieder das zornige Kindergesicht vor mir, ich sehe die zuckenden Lippen, die krampfig an den Tisch gekrallten Hände, ich höre das Poltern jener fallenden Hölzer, von denen ich jetzt nachträglich begreife, daß es ihre Krücken gewesen sein mußten, und eine blöde Angst überkommt mich, es könne auf einmal die Tür aufgehen und – schwarzer Rock, weißer Vorstoß, goldene Brille – stapft mit seinem dürren, gepflegten Ziegenbärtchen der Vater heran bis an mein Bett. In der Angst springe ich auf. Und wie ich jetzt vor dem Spiegel in mein von Nacht- und Angstschweiß feuchtes Gesicht starre, habe ich Lust, dem Tölpel hinter dem blassen Glas mitten ins Gesicht zu schlagen.

Aber glücklicherweise, es ist schon Tag, Schritte poltern im Gang, Karren unten auf dem Pflaster. Und bei hellen Fensterscheiben denkt man klarer als eingesackt in jene böse Dunkelheit, die gerne Gespenster schafft. Vielleicht, sage ich mir, ist doch nicht alles so fürchterlich. Vielleicht hat es gar niemand bemerkt. Sie freilich – sie wird es nie vergessen, nie verzeihen, die arme Blasse, die Kranke, die Lahme! Da blitzt ein hilfreicher Gedanke jählings in mir auf. Hastig kämme ich mein verrauftes Haar, fahre in die Uniform und laufe an meinem verdutzten Burschen vorbei, der mir in seinem armen ruthenischen Deutsch verzweifelt nachruft: »Herr Leutnant, Herr Leutnant, schon fertig ist Kaffee.«

Ich sause die Kasernentreppe hinunter und flitze so rasch an den Ulanen, die halb angezogen im Hof herumstehen, vorbei, daß sie gar nicht recht Zeit haben, stramm zu machen. In einem Saus bin ich an ihnen vorüber und beim Kasernentor draußen; geradewegs hin zum Blumengeschäft auf dem Rathausplatz laufe ich, soweit Laufen für einen Leutnant statthaft ist. In meiner Ungeduld habe ich natürlich völlig vergessen, daß um halb sechs Uhr morgens Geschäfte noch nicht offen sind, aber glücklicherweise handelt die Frau Gurtner außer mit Kunstblumen auch mit Gemüsen. Ein Karren mit Kartoffeln steht halb abgeladen vor der Tür, und wie ich heftig an das Fenster klopfe, höre ich sie schon die Treppe heruntertrappen. In der Hast erfinde ich eine Geschichte: ich hätte gestern total vergessen, daß heute der Namenstag von lieben Freunden sei. In einer halben Stunde rückten wir aus, darum möchte ich gern, daß die Blumen gleich abgeschickt würden. Also Blumen her, rasch, die schönsten, die sie hätte! Sofort schlurft die dicke Händlerin, noch in der Nachtjacke, auf ihren löchrigen Pantoffeln weiter, schließt den Laden auf und zeigt mir ihren Kronschatz, ein dickes Büschel langstieliger Rosen: wie viele ich davon haben wollte? Alle, sage ich, alle! Nur so einfach zusammenbinden, ober ob es mir lieber wäre in einem schönen Korb? Ja, ja, einen Korb. Der Rest meiner Monatsgage geht auf die splendide Bestellung, in den letzten Tagen des Monats werde ich dafür das Abendessen und das Kaffeehaus mir abknausern müssen oder Geld ausleihen. Aber das ist mir im Augenblick gleichgültig oder vielmehr, es freut mich sogar, daß mich meine Narrheit teuer zu stehen kommt, denn die ganze Zeit schon fühle ich eine böse Lust, mich Tölpel gründlich zu bestrafen, mich bitter zahlen zu lassen für meine zwiefache Eselei.

Also nicht wahr, alles in Ordnung? Die schönsten Rosen, gut arrangiert in einem Korb, und zuverlässig gleich abgeschickt! Aber da läuft mir die Frau Gurtner verzweifelt auf die Straße nach. Ja wohin denn und zu wem sie die Blumen schicken solle, der Herr Leutnant hätten ja nichts gesagt. Ach so, ich dreifacher Tölpel habe das in meiner Aufregung vergessen. Zur Villa Kekesfalva, ordne ich an, und rechtzeitigerweise erinnere ich mich dank jenem erschreckten Ausruf Ilonas an den Vornamen meines armen Opfers: für Fräulein Edith von Kekesfalva.

»Natürlich, natürlich, die Herren von Kekesfalva«, sagt Frau Gurtner stolz, »unsere beste Kundschaft!«

Und, neue Frage – ich hatte mich schon wieder zum Weglaufen bereitgemacht – ob ich nicht noch ein Wort dazuschreiben wolle? Dazuschreiben? Ach so! Den Absender! Den Spender! Wie soll sie sonst wissen, von wem die Blumen sind?

Ich trete also nochmals in den Laden, nehme eine Visitenkarte und schreibe darauf: »Mit der Bitte um Entschuldigung.« Nein – unmöglich! Das wäre schon der vierte Unsinn: wozu noch an meine Tölpelei erinnern? Aber was sonst schreiben? »In aufrichtigem Bedauern« nein, das geht schon gar nicht, am Ende könnte sie meinen, das Bedauern gelte ihr. Am besten also gar nichts dazuschreiben, überhaupt nichts.

»Nur die Karte legen Sie bei, Frau Gurtner, nichts als die Karte.«

Jetzt ist mir leichter. Ich eile zurück in die Kaserne, schütte meinen Kaffee hinunter und halte schlecht und recht meine Instruktionsstunde ab, wahrscheinlich nervöser, zerfahrener als sonst. Aber beim Militär fällt’s nicht sonderlich auf, wenn ein Leutnant morgens verkatert in den Dienst kommt. Wie viele fahren nach durchbummelter Nacht von Wien so ausgemüdet zurück, daß sie kaum die Augen aufhalten können und im schönsten Trab einschlafen. Eigentlich kommt’s mir sogar gut zupaß, die ganze Zeit kommandieren, examinieren und dann ausreiten zu müssen. Denn der Dienst lenkt die Unruhe doch einigermaßen ab, freilich, noch immer rumort zwischen den Schläfen das unbehagliche Erinnern, noch immer steckt mir etwas dick in der Kehle wie ein galliger Schwamm.

Aber mittags, ich will gerade zur Offiziersmesse hinüber, läuft mit hitzigem »Panje Leutnant« mein Diener mir nach. Er hat einen Brief in der Hand, ein längliches Rechteck, englisches Papier, blau, zart parfümiert, rückwärts ein Wappen fein eingestanzt, ein Brief mit steiler, dünner Schrift, Frauenschrift. Ich reiße hastig den Umschlag auf und lese: »Herzlichen Dank, verehrter Herr Leutnant, für die unverdient schönen Blumen, an denen ich mich furchtbar freute und noch freue. Bitte kommen Sie doch an jedem beliebigen Nachmittag zum Tee zu uns. Ansage ist nicht nötig. Ich bin – leider! – immer zu Hause. Edith v. K.«

Eine zarte Handschrift. Unwillkürlich erinnere ich mich an die schmalen Kinderfinger, wie sie sich an den Tisch preßten, erinnere mich an das blasse Gesicht, wie es plötzlich purpurn erglühte, als hätte man Bordeaux in ein Glas geschüttet. Ich lese noch einmal, zweimal, dreimal die paar Zeilen und atme auf. Wie diskret sie hingleitet über meine Tölpelei! Wie geschickt, wie taktvoll sie zugleich ihr Gebrechen selbst andeutet. »Ich bin – leider! – immer zu Hause.« Vornehmer kann man nicht verzeihen. Kein Ton von Gekränktsein. Eine Last stürzt mir vom Herzen. Wie einem Angeklagten ist mir zumute, der schon lebenslängliches Zuchthaus sich zugesprochen vermeinte, und der Richter erhebt sich, setzt das Barett auf und verkündet: »Freigesprochen.« Selbstverständlich muß ich bald hinaus, um ihr zu danken. Heute ist Donnerstag – also Sonntag mache ich draußen Besuch. Oder nein, lieber doch schon Samstag!



Aber ich hielt mir nicht Wort. Ich war zu ungeduldig. Mich bedrängte die Unruhe, meine Schuld endgültig beglichen zu wissen, möglichst bald fertig zu werden mit dem Unbehagen einer unsicheren Situation. Denn immer kribbelte mir noch die Angst in den Nerven, bei der Offiziersmesse, im Café oder sonstwo würde jemand von meinem Mißgeschick zu sprechen anfangen: »Na, wie war denn das da draußen bei den Kekesfalvas?« Dann wollte ich schon kühl und überlegen erwidern können: »Reizende Leute! Ich war gestern nachmittags wieder bei ihnen zum Tee«, damit jeder gleich sehen könne, daß ich dort nicht etwa mit Stunk abgeglitten war. Nur einmal Strich und Punkt unter die leidige Affäre gesetzt haben! Nur einmal damit fertig sein! Und diese innere Nervosität bewirkt auch schließlich, daß schon am nächsten Tag, am Freitag also, während ich gerade mit Ferencz und Jozsi, meinen besten Kameraden, über den Korso schlendere, mich der Entschluß plötzlich überfällt: noch heute machst du den Besuch! Und ganz unvermittelt verabschiede ich mich von meinen etwas verwunderten Freunden.

Es ist eigentlich kein sonderlich weiter Weg hinaus, höchstens eine halbe Stunde, wenn man tüchtig ausschreitet. Zuerst fünf langweilige Minuten durch die Stadt, dann die etwas staubige Landstraße entlang, die auch zu unserem Exerzierfeld führt und auf der unsere Rösser schon jeden Stein und jede Biegung kennen (man kann die Zügel ganz locker lassen). Erst in ihrer halben Breite zweigt links bei einer kleinen Kapelle an der Brücke eine schmälere, von alten Kastanien beschattete Allee ab, gewissermaßen eine Privatallee, wenig benutzt und befahren und von den gemächlichen Windungen eines kleinen, tümpeligen Baches ohne Ungeduld begleitet.

Aber merkwürdig – je mehr ich mich dem kleinen Schlößchen nähere, von dem nun schon die weiße Rundmauer und das durchbrochene Gittertor sichtbar werden, um so rascher sackt mir der Mut zusammen. So wie man knapp vor der Tür des Zahnarztes nach einem Vorwand sucht, um noch kehrt zu machen, ehe man die Klingel zieht, möchte ich noch rasch echappieren. Muß es wirklich schon heute sein? Soll ich nicht überhaupt durch jenen Brief die peinliche Affäre als endgültig beigelegt betrachten? Unwillkürlich verlangsame ich den Schritt; zum Umkehren bleibt schließlich immer noch Zeit, und ein Umweg weist sich allemal willkommen, wenn man nicht den graden Weg gehen will; so biege ich, den kleinen Bach auf einem wackligen Holzbrett überquerend, von der Allee zu den Wiesen ab, um zunächst einmal von außen das Schloß zu umkreisen.

Das Haus hinter der hohen Steinmauer präsentiert sich als ein einstöckiges weitgestrecktes Gebäude im späten Barockstil, nach altösterreichischer Art mit dem sogenannten Schönbrunner Gelb gefärbelt und mit grünen Fensterläden versehen. Durch einen Hof abgesondert, drücken sich ein paar kleinere Gebäude, offenbar für das Gesinde, die Verwaltung und die Stallungen bestimmt, in den großen Park hinein, von dem ich bei jenem ersten nächtlichen Besuch nichts wahrgenommen hatte. Jetzt erst merke ich, durch die sogenannten Ochsenaugen, die ovalen Durchbrüche jener mächtigen Mauer, hineinspähend, daß dieses Schloß Kekesfalva keineswegs, wie ich unter dem Eindruck der inneren Einrichtung vermeinte, eine moderne Villa ist, sondern ein rechtes ländliches Gutsherrenhaus, ein Adelssitz alter Art, derlei ich im Böhmischen ab und zu bei Manövern im Vorbeireiten gesehen hatte. Auffällig wirkte nur der merkwürdige viereckige Turm, der, mit seiner Form ein wenig an die italienischen Campaniles erinnernd, sich ziemlich ungehörig emporstemmt, vielleicht Überrest eines Schlosses, das vor Zeiten hier gestanden haben mag. Nachträglich entsinne ich mich jetzt, vom Exerzierfeld aus diese sonderbare Warte öfters wahrgenommen zu haben, freilich in der Meinung, es sei der Kirchturm irgend eines Dorfes, und nun erst fällt mir auf, daß der übliche Turmknauf fehlt und der merkwürdige Kubus ein flaches Dach besitzt, das entweder als Sonnenterrasse oder Observatorium dient. Je mehr ich aber des Feudalen, Altererbten dieses adligen Gutsbesitzes gewiß werde, um so unbehaglicher fühle ich mich: gerade hier, wo sicher auf Formen besonders geachtet wird, mußte ich derart tölpelhaft debütieren!

Aber schließlich gebe ich mir, nach beendeter Umkreisung wieder beim Gittertor von der anderen Seite angelangt, den entscheidenden Ruck. Ich durchschreite den Kiesweg zwischen den kerzengrade geschnittenen Bäumen und lasse an der Haustür den schweren bronzegetriebenen Klopfer niederfallen, der hier nach altem Brauch statt einer Glocke dient. Sofort erscheint der Diener – sonderbar, er scheint gar nicht erstaunt über den unangemeldeten Besuch. Ohne weiter zu fragen oder meine schon vorbereitete Visitenkarte entgegenzunehmen, lädt er mich mit höflicher Verbeugung ein, im Salon zu warten, die Damen seien noch auf ihrem Zimmer, würden aber gleich kommen; daß ich empfangen werde, scheint also zweifellos. Wie einen angesagten Besuch führt er mich weiter; mit erneutem Unbehagen erkenne ich den rottapezierten Salon wieder, in dem damals getanzt wurde, und ein bitterer Geschmack in der Kehle erinnert mich, daß nebenan jener Raum mit der verhängnisvollen Ecke sich befinden muß.

Zunächst verschließt allerdings eine cremefarbene, mit goldenen Ornamenten zierlich geschmückte Schiebetür den Ausblick auf den mir deutlich gegenwärtigen Schauplatz meiner Tölpelei, aber bereits nach wenigen Minuten vernehme ich hinter dieser Tür schon Rücken von Sesseln, tuschelndes Sprechen, irgend ein verhaltenes Kommen und Gehen, das mir die Gegenwart mehrerer Personen verrät. Ich versuche die Wartezeit zu nützen, um den Salon zu betrachten: üppige Möbel Louis seize, rechts und links alte Gobelins und zwischen den Glastüren, die unmittelbar in den Garten führen, alte Bilder vom Canale Grande und der Piazza San Marco, die mir, so unbelehrt ich auch in diesen Dingen bin, kostbar zu sein scheinen. Zwar, sehr deutlich unterscheide ich nichts von diesen Kunstschätzen, denn ich horche mit gespannter Aufmerksamkeit zugleich auf die Geräusche von nebenan. Es klirrt dort leise von Tellern, es knarrt eine Tür, jetzt meine ich auch – das unregelmäßige trockene Tappen und Tocken von Krücken zu hören.

Endlich schiebt von innen eine noch unsichtbare Hand die Flügel der Tür auseinander. Es ist Ilona, die mir entgegentritt. »Wie lieb, Herr Leutnant, daß Sie gekommen sind.« Und schon führt sie mich in den mir allzu wohlbekannten Raum. In derselben Boudoirecke, auf derselben Chaiselongue hinter demselben malachitfarbenen Tisch (warum wiederholen sie die für mich so peinliche Situation?) sitzt die Gelähmte, eine weiße Pelzdecke voll und schwer über den Schoß gebreitet, so daß ihre Beine unsichtbar bleiben – offenbar soll ich »daran« nicht erinnert werden. Mit zweifellos vorbereiteter Freundlichkeit lächelt mir von ihrer Krankenecke Edith grüßend entgegen. Aber diese erste Begegnung bleibt doch ein fatales Wiedersehen, und an der genierten Art, wie sie, ein wenig angestrengt, mir die Hand über den Tisch entgegenstreckt, merke ich sofort, auch sie denkt »daran«. Keinem von uns glückt das erste verbindende Wort.

Glücklicherweise wirft Ilona rasch eine Frage in das stickige Schweigen:

»Was dürfen wir Ihnen anbieten, Herr Leutnant, Tee oder Kaffee?«

»Oh, ganz wie es Ihnen beliebt«, erwidere ich.

»Nein – was Sie lieber haben, Herr Leutnant! Nur keine Zeremonien, es ist doch ganz einerlei.«

»Also Kaffee, wenn ich bitten darf«, entschließe ich mich und bin froh, dabei zu hören, daß meine Stimme nicht allzu brüchig klingt.

Verflucht geschickt war das von dem braunen Mädel, mit einer derart sachlichen Anfrage die erste Spannung überbrückt zu haben. Aber wie rücksichtslos wiederum, daß sie gleich darauf das Zimmer verläßt, um dem Diener Auftrag zu erteilen, denn so bleibe ich ungemütlicherweise mit meinem Opfer allein. Es wäre jetzt an der Zeit, etwas zu sagen, Konversation à tout prix zu machen. Doch mir steckt ein Pfropf in der Kehle, und auch mein Blick muß etwas Verlegenes haben, denn ich wage nicht in die Richtung des Sofas zu schauen, weil sie sonst glauben könnte, ich starre auf den Pelz, der ihre lahmen Beine verdeckt. Glücklicherweise zeigt sie sich gefaßter als ich und beginnt mit einer gewissen nervös-heftigen Art, die ich jetzt zum erstenmal an ihr kennenlerne:

»Aber wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Leutnant? Da, rücken Sie sich doch den Fauteuil her. Und warum legen Sie Ihren Säbel nicht ab – wir wollen doch Frieden halten … dort auf den Tisch oder auf das Fensterbrett … ganz wie Sie wollen.«

Ich rücke mir etwas umständlich einen Fauteuil heran. Noch immer gelingt es mir nicht, den Blick unbefangen einzustellen. Aber energisch hilft sie mir weiter.

»Ich muß Ihnen noch danken für die wunderbaren Blumen … wirklich wunderbare Blumen sind das, sehen Sie nur, wie schön sie sich in der Vase machen. Und dann … und dann … ich muß mich auch entschuldigen für meine dumme Unbeherrschtheit … Schrecklich, wie ich mich benommen habe … die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen, so habe ich mich geschämt. Sie haben es doch so lieb gemeint und … wie konnten Sie denn eine Ahnung haben. Und außerdem« – (sie lacht plötzlich scharf und nervös) – »außerdem haben Sie meinen innersten Gedanken erraten … ich hatte mich doch mit Absicht so gesetzt, daß ich den Tanzenden zusehen konnte, und gerade als Sie kamen, hatte ich mir nichts so sehr gewünscht, als mitzutanzen … ich bin ja ganz vernarrt in den Tanz. Stundenlang kann ich zusehen, wie andere tanzen – so zusehen, daß ich selbst jede Bewegung bis in mich hinein spüre … wirklich, jede Bewegung. Nicht der andere tanzt dann, ich bin es selbst, die sich dreht, sich beugt, die nachgibt und sich führen, sich schwingen läßt … so närrisch kann man sein, das vermuten Sie vielleicht gar nicht … Schließlich, früher als Kind hab ich schon ganz gut getanzt und furchtbar gern … und immer, wenn ich jetzt träume, ist es vom Tanz. Ja, so dumm es klingt, ich tanze im Traum, und vielleicht ist es gut für Papa, daß mir das mit … daß mir das passiert ist, sonst wäre ich von zu Hause weggelaufen und Tänzerin geworden … Nichts passioniert mich so, und ich denk mir, es muß herrlich sein, mit seinem Körper, mit seiner Bewegung, mit seinem ganzen Sein jeden Abend hunderte und hunderte Menschen zu packen, zu fassen, aufzuheben … herrlich muß das sein … übrigens, damit Sie sehen, wie närrisch ich bin … ich sammle alle Bilder von großen Tänzerinnen. Alle habe ich, die Saharet, die Pawlowa, die Karsawina. Von allen habe ich die Photographien und in allen ihren Rollen und Posen. Warten Sie, ich zeige sie Ihnen … dort, in der Schatulle liegen sie … dort beim Kamin … dort in der chinesischen Lackschatulle« – (Ihre Stimme wird plötzlich ärgerlich vor Ungeduld) – »Nein, nein, nein, dort links neben den Büchern … ach, sind Sie ungeschickt … Ja, das ist sie« – (ich hatte die Schatulle endlich gefunden und brachte sie) – »Sehn Sie, das da, das zu oberst liegt, ist mein Lieblingsbild, die Pawlowa als sterbender Schwan … ach, wenn ich ihr nur nachreisen, wenn ich sie nur sehen könnte, ich glaube, es wäre mein glücklichster Tag.«

Die rückwärtige Tür, durch die Ilona sich entfernt hatte, beginnt sich leise in den Scharnieren zu bewegen. Hastig, wie ertappt, mit einem trockenen, knallenden Wurf klappt Edith die Schatulle zu. Es klingt wie ein Befehl, den sie mir jetzt zuwirft:

»Nichts davon vor den andern! Kein Wort von dem, was ich Ihnen gesagt habe.«

Es ist der weißhaarige Diener mit den schöngeschnittenen Franz Joseph-Koteletten, der die Tür vorsichtig öffnet; hinter ihm schiebt Ilona einen reichgedeckten Teetisch auf Gummirädern herein. Sie serviert, setzt sich zu uns, und sofort fühle ich mich wieder sicherer. Den willkommenen Anlaß zur Konversation gibt die mächtige Angorakatze, die unhörbar mit dem Teewagen hereingeschlichen ist und sich nun mit unbefangener Vertraulichkeit an meinen Beinen reibt. Ich bewundere die Katze, dann beginnt ein Hin- und Herfragen, wie lange ich hier sei und wie ich mich in der Garnison fühle, ob ich den Leutnant Soundso kenne, ob ich oft nach Wien fahre – unwillkürlich entsteht ein landläufiges, unbeschwertes Gespräch, in dem sich die arge Spannung unmerklich löst. Allmählich traue ich mich sogar schon, die beiden Mädchen ein bißchen von der Seite anzusehen, völlig verschieden ist die eine von der andern, Ilona schon ganz Frau, sinnlich warm, voll, üppig, gesund; neben ihr wirkt Edith, halb Kind und halb Mädchen, vielleicht siebzehn Jahre alt, vielleicht achtzehn, noch irgendwie unfertig. Sonderbarer Kontrast: mit der einen möchte man tanzen, möchte man sich küssen, die andere wie eine Kranke verwöhnen, sie schonend streicheln, sie behüten und vor allem beschwichtigen. Denn eine merkwürdige Unruhe geht von ihrem Wesen aus. Nicht einen Augenblick hält ihr Gesicht still; bald blickt sie nach rechts, bald nach links, bald spannt sie sich auf, bald lehnt sie sich wie erschöpft zurück; und mit der gleichen Nervosität, wie sie sich bewegt, spricht sie auch, immer sprunghaft, immer staccato, immer ohne Pausen. Vielleicht, denke ich mir, daß diese Unbeherrschtheit und Unruhe eine Kompensation ist für die aufgezwungene Unbeweglichkeit ihrer Beine, vielleicht auch ein ständiges leichtes Fieber, das ihre Gesten und ihr Gespräch rascher taktiert. Aber mir bleibt wenig Zeit zum Beobachten. Denn sie versteht mit ihren raschen Fragen und der leichten, fliegenden Art ihres Erzählens die Aufmerksamkeit völlig auf sich zu ziehen; überrascht gerate ich in ein anregendes und interessantes Gespräch.

Eine Stunde dauert das. Vielleicht sogar anderthalb Stunden. Dann schattet mit einem Mal vom Salon her eine Gestalt; vorsichtig tritt jemand ein, als hätte er Furcht, zu stören. Es ist Kekesfalva.

»Bitte, bitte«, drückt er mich, da ich respektvoll aufstehen will, und beugt sich dann zu einem flüchtigen Kuß über die Stirn des Kindes. Wieder trägt er den schwarzen Rock mit dem weißen Vorstoß und der altmodischen Binde (ich habe ihn nie anders gesehen); wie ein Arzt sieht er aus mit seinen behutsam beobachtenden Augen hinter der goldenen Brille. Und wirklich wie ein Arzt an den Rand eines Krankenbetts, setzt er sich vorsichtig hin zu der Gelähmten. Merkwürdig, mit dem Augenblick, da er gekommen, scheint das Zimmer melancholischer zu schatten; die ängstliche Art, mit der er manchmal prüfend und zärtlich von der Seite auf sein Kind blickt, hemmt und dunkelt den Rhythmus unseres bisher unbefangenen Geplauders. Auch er empfindet bald unsere Befangenheit und sucht nun seinerseits eine Konversation zu erzwingen. Er fragt gleichfalls nach dem Regiment, dem Rittmeister, erkundigt sich nach dem früheren Oberst, der jetzt als Divisionär im Kriegsministerium sei. Er scheint seit Jahren unsere Personalangelegenheiten überraschend genau zu kennen, und ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl, daß er aus einer bestimmten Absicht bei jedem einzelnen hohen Offizier seine besondere Vertrautheit besonders betont.

Zehn Minuten noch, denke ich mir, dann kann ich mich unauffällig empfehlen; da klopft es abermals leise an der Tür, der Diener tritt ein, unhörbar, als ob er bloßfuß ginge, und flüstert Edith etwas ins Ohr. Unbeherrscht fährt sie auf.

»Er soll warten. Oder nein, er soll mich überhaupt heute in Ruhe lassen. Er soll weggehen, ich brauche ihn nicht.«

Wir sind alle geniert durch ihre Heftigkeit, und ich erhebe mich mit dem peinlichen Gefühl, zu lang geblieben zu sein. Aber gleich rücksichtslos wie den Diener herrscht sie mich an:

»Nein, bleiben Sie! Es hat gar nichts zu sagen.«

Eigentlich liegt in dem befehlshaberischen Ton eine Ungezogenheit. Auch der Vater scheint das Peinliche zu empfinden, denn mit hilflos bekümmertem Gesicht mahnt er:

»Aber Edith …«

Und nun spürt sie selbst, vielleicht an seiner Erschrockenheit, vielleicht an meinem verlegenen Dastehen, daß ihr die Nerven durchgegangen sind, denn sie wendet sich mir plötzlich zu.

»Verzeihen Sie. Josef hätte wirklich warten können, statt da hereinzupoltern. Es ist ja nichts als die tägliche Quälerei, der Masseur, der mit mir Streckübungen macht. Der reinste Unsinn, eins, zwei, eins, zwei, auf, ab, ab, auf; davon soll alles auf einmal gut werden. Die neueste Erfindung unseres Herrn Doktors und eine völlig überflüssige Sekkatur. Sinnlos wie alle andern.«

Herausfordernd sieht sie ihren Vater an, als ob sie ihn verantwortlich machte. Verlegen (er schämt sich vor mir) beugt sich der alte Mann zu ihr nieder.

»Aber Kind … glaubst du wirklich, daß Doktor Condor …«

Doch schon hält er inne, denn um ihren Mund hat ein Zucken begonnen, die schmalen Nasenflügel erzittern. Genau so hat es damals um die Lippen gebebt, und schon ängstige ich mich vor einem neuen Ausbruch. Aber plötzlich errötet sie und murmelt nachgiebig:

»Nun gut, ich geh schon, obwohl’s gar keinen Sinn hat, gar keinen Sinn. Verzeihen Sie, Herr Leutnant, ich hoffe, Sie kommen bald wieder.«

Ich verbeuge mich und will mich verabschieden. Aber bereits hat sie sich’s wieder überlegt.

»Nein, bleiben Sie noch mit Papa, während ich abmarschiere« – sie betont das letzte Wort »abmarschiere« so scharf und staccato wie eine Drohung. Dann faßt sie die kleine bronzene Glocke, die auf dem Tisch steht, und klingelt – später erst habe ich bemerkt, daß überall im ganzen Haus in ihrer Greifnähe solche Glocken auf allen Tischen standen, damit sie jederzeit jemand herankommandieren könne, ohne auch nur einen Augenblick warten zu müssen. Die Glocke klingelt scharf und schrill. Sofort erscheint wieder der Diener, der bei ihrem Ausbruch diskret verschwunden war.

»Hilf mir«, befiehlt sie ihm und wirft die Pelzdecke ab. Ilona beugt sich zu ihr, um ihr etwas zuzuflüstern, aber »Nein«, herrscht die sichtbar Erregte die Freundin unwillig an. »Josef soll mich nur aufstützen. Ich geh schon allein.«

Was jetzt kommt, ist furchtbar. Der Diener beugt sich über sie und hebt mit einem offenbar eingelernten Griff den leichten Körper unter den Achseln mit beiden Händen hoch. Wie sie nun aufrecht steht, mit beiden Händen sich an der Lehne des Fauteuils anhaltend, mißt sie uns alle erst einzeln mit einem herausfordernden Blick; dann greift sie nach den beiden Stöcken, die unter der Decke verborgen lagen, beißt die Lippen fest zusammen, stemmt sich auf die Krücken und – tapp-tapp, tock-tock – stapft, schwankt, stößt sie sich vorwärts, schief und hexenhaft, indes der Diener hinter ihr mit vorgebreiteten Armen wacht, um sie bei einem Ausgleiten oder Nachgeben sofort aufzufangen. Tapp-tapp, tock-tock, wieder ein Schritt und wieder einer, dazwischen klirrt und knirscht etwas leise wie von gespanntem Leder und Metall: sie muß – ich traue mich nicht, auf ihre armen Beine zu sehen – irgendwelche Stützmaschinen an den Fußgelenken tragen. Wie unter einem Eisgriff krampft sich mir das Herz zusammen bei diesem forcierten Gewaltmarsch, denn ich verstehe sofort die demonstrative Absicht darin, daß sie sich nicht helfen oder in einem Rollstuhl hinausfahren läßt: sie will mir, gerade mir, sie will uns allen zeigen, daß sie ein Krüppel ist. Sie will uns wehtun aus irgendeiner geheimnisvollen Rachsucht der Verzweiflung, uns peinigen mit ihrer Pein, uns, die Gesunden, an Stelle Gottes anklagen. Aber gerade an dieser furchtbaren Herausforderung fühle ich – und noch tausendfach stärker als bei ihrem früheren verzweifelten Ausbruch, da ich sie zum Tanzen aufforderte – wie grenzenlos sie unter ihrer Hilflosigkeit leiden muß. Endlich – es dauert eine Ewigkeit – ist sie die paar Schritte bis zur Türe hin- und hergeschwankt, gewaltsam sich von einer Krücke auf die andere werfend mit dem ganzen Gewicht ihres geschüttelten, geschleuderten schmalen Körpers; ich finde nicht den Mut, ein einziges Mal scharf hinzublicken. Denn schon der harte, trockene Ton der Krücken, dieses Tock-tock des Stockaufstoßens beim Ausschreiten, das Kreischen und Schleifen der Maschinen und dazu das dumpfe Keuchen der Anstrengung beklemmt und erregt mich dermaßen, daß ich mein Herz bis an den Stoff der Uniform schlagen spüre. Schon hat sie das Zimmer verlassen, und noch immer horche ich atemlos zu, wie hinter der verschlossenen Tür das schreckliche Geräusch leiser wird und endlich erlischt.

Nun erst, da es vollkommen still geworden ist, wage ich den Blick wieder zu heben. Der alte Mann – ich merke es erst jetzt – muß unterdes leise aufgestanden sein und blickt angestrengt zum Fenster hinaus – etwas zu angestrengt blickt er hinaus. Ich sehe im unsicheren Gegenlicht nur seinen Schattenriß, aber die Schultern dieser gebeugten Gestalt zucken in zitternden Linien. Auch er, der Vater, der täglich sein Kind sich so hinquälen sieht, auch er ist von diesem Anblick zernichtet.

Die Luft steht starr im Zimmer zwischen uns beiden. Nach einigen Minuten wendet die dunkle Gestalt sich endlich um und kommt mit unsicherem Schritt, als ginge sie über glitschigen Grund, leise heran:

»Bitte nehmen Sie’s dem Kind nicht übel, Herr Leutnant, wenn sie ein wenig brüsk war, aber … Sie wissen ja nicht, wie viel man sie gequält hat in all diesen Jahren … immer etwas anderes, und es geht so furchtbar langsam vorwärts, ich versteh ja, daß sie ungeduldig wird. Aber was sollen wir tun? Man muß doch alles versuchen, man muß doch.«

Der alte Mann ist vor dem verlassenen Teetisch stehengeblieben, er blickt mich nicht an, während er spricht. Starr hält er die von den grauen Lidern fast verdeckten Augen auf den Tisch gerichtet. Wie ein Träumender greift er in die offene Zuckerdose, faßt ein viereckiges Stück, dreht es zwischen den Fingern hin und her, starrt es sinnlos an und legt es wieder weg; etwas von einem Trunkenen ist in seinem Gehaben. Noch immer kann er den Blick von dem Teetisch nicht abziehen, als hielte ihn dort etwas Besonderes im Bann. Unbewußt nimmt er einen Löffel, hebt ihn auf, legt ihn wieder hin und spricht dann gleichsam auf den Löffel zu:

»Wenn Sie wüßten, wie das Kind früher war! Den ganzen Tag ging das treppauf, treppab, sie sauste nur so über die Stiegen und durch die Zimmer, daß uns angst und bange wurde. Mit elf Jahren ritt sie auf ihrem Pony die ganzen Wiesen in einer Karriere entlang, keiner konnte sie einholen. Oft hatten wir Furcht, meine selige Frau und ich, so tollkühn war sie, so übermütig und behend, so leicht war ihr alles. Immer hatte man das Gefühl, sie brauchte nur die Arme auszubreiten und könnte fliegen … und gerade ihr mußte das zustoßen, gerade ihr …«

Der Scheitel zwischen den dünnen, weißen Haaren beugt sich immer tiefer über den Tisch. Noch immer stochert die nervöse Hand zwischen all den verstreuten Dingen herum, statt des Löffels jetzt eine müßige Zuckerzange fassend und damit runde merkwürdige Runen auf dem Tisch ziehend (ich weiß: es ist Scham, es ist Verlegenheit, er fürchtet sich nur, mich anzublicken).

»Und dabei, wie leicht ist es noch heute, sie froh zu machen. An der kleinsten Kleinigkeit kann sie sich freuen wie ein Kind. Sie kann lachen über den dümmsten Scherz und sich begeistern an einem Buch – ich wollte, Sie hätten sehen können, wie entzückt sie war, als Ihre Blumen kamen und die Angst von ihr fiel, sie hätte Sie beleidigt … Sie ahnen ja nicht, wie fein sie alles empfindet … alles spürt sie viel stärker als unsereiner. Ich weiß genau, niemand ist jetzt mehr verzweifelt als sie selbst, daß sie so unbeherrscht gewesen … Aber wie soll man … wie soll man sich denn beherrschen können … wie soll ein Kind immer wieder Geduld aufbringen, wenn es so langsam vorwärts geht, wie stillhalten, wenn man so geschlagen wird von Gott und hat doch nichts getan … niemandem etwas getan!«

Er starrte noch immer hin auf die imaginären Figuren, die seine zitternde Hand mit der Zuckerzange ins Leere zeichnete. Und plötzlich klirrte er sie wie erschreckt hin. Es war, als ob er aufwachte und dadurch erst bewußt würde, nicht zu sich allein, sondern vor einem völlig Fremden gesprochen zu haben. Mit einer ganz andern Stimme, einer wachen und gedrückten, begann er sich ungeschickt zu entschuldigen.

»Verzeihen Sie, Herr Leutnant … wie kommen Sie dazu, daß ich Sie mit unseren Sorgen beschwere! Es war nur so, weil … es kam nur so über mich … und ich wollte Ihnen doch bloß erklären … Ich möchte nicht, daß Sie von ihr schlecht denken … daß Sie …«

Ich weiß nicht, wieso ich den Mut fand, den verlegen Stammelnden zu unterbrechen und auf ihn zuzugehen. Aber plötzlich nahm ich mit beiden Händen die Hand des alten, fremden Mannes. Ich sagte nichts. Ich faßte nur seine kalte, knochige, seine unwillkürlich zurückscheuende Hand und drückte sie. Er starrte mich erstaunt an, die Brillengläser blitzten schräg empor, und hinter ihnen tastete ein unsicherer Blick weich und verlegen nach dem meinen. Ich hatte Angst, er würde jetzt etwas sagen. Aber er tat es nicht; nur die schwarzen, runden Pupillen weiteten sich mehr und mehr, als wollten sie überströmen. Auch ich spürte eine Ergriffenheit noch unerlebter Art in mir aufquellen, und um ihr zu entfliehen, verbeugte ich mich hastig und ging hinaus.

Im Vorraum half mir der Diener in den Mantel. Auf einmal spürte ich eine Zugluft im Rücken. Ohne mich umzuwenden, wußte ich, daß der alte Mann mir nachgegangen war und nun im Türrahmen stand, aus dem Bedürfnis, mir zu danken. Doch ich wollte mich nicht beschämen lassen. Ich tat, als ob ich nicht merkte, daß er hinter mir stand. Rasch, mit schlagenden Pulsen, verließ ich das tragische Haus.




* * *


Am nächsten Morgen – ein blasser Nebel hängt noch über den Häusern, und die Fensterläden sind alle geschlossen, um den braven Schlaf der Bürger zu hüten, – reitet, wie jeden Morgen, unsere Eskadron auf das Exerzierfeld. In hottelndem Schritt geht es zuerst quer über das unbequeme Pflaster; noch ziemlich schlaftrunken, steif und verdrossen, schwanken meine Ulanen in ihren Sätteln. Bald haben wir die vier, fünf Gassen durchgetrottet, bereits auf der breiten Chaussee gehen wir über in einen leichten Trab und schwenken dann rechts ab gegen die offenen Wiesen. Ich kommandiere meinem Zug »Galopp«, und mit einem einzigen atmenden Stoß schnauben die anstürmenden Pferde los. Sie kennen schon das weiche, gute, weite Feld, die klugen Tiere; man muß sie weiter nicht antreiben, locker kann man die Zügel lassen, denn kaum daß sie den Schenkeldruck gespürt haben, legen die Gäule mit aller Kraft los. Auch sie fühlen die Lust der Erregung und der Entspannung.

Ich reite voran. Ich reite leidenschaftlich gern. Rieselnd spüre ich von den Hüften her das schwingende, schlingernde Blut im aufgelockerten Leib als lebendige Lebenswärme kreisen, indes einem sausend die kalte Luft um Stirn und Backen fährt. Herrliche morgendliche Luft: den Tau der Nacht schmeckt man noch darin, den Atem der aufgelockerten Erde, den Ruch der blühenden Felder, und zugleich umfließt einen der warme, sinnliche Dampf der atmenden Nüstern. Immer begeistert mich von neuem dieser erste Morgengalopp, der den stockigen, schlaftrunkenen Leib so wohlig durchschüttelt und die Benommenheit wie dumpfen Nebel wegreißt; unwillkürlich dehnt das Gefühl der Leichtigkeit, die mich trägt, mir die Brust, und mit aufgetanen Lippen trinke ich die sausende Luft in mich ein. »Galopp! Galopp!« – ich spüre die Augen heller, die Sinne lebendiger werden, und hinter mir klingt in regelmäßigem Rhythmus das Klickern der Säbel, das stoßende Schnauben der Pferde, das weiche, knisternde Quellen und Quietschen der Sättel, der gleiche schlagende Takt der Hufe. Ein einziger centaurischer Leib ist diese sausende Gruppe der Männer und Pferde, von einem einzigen Schwung getragen. Vor, vor, vor, Galopp, Galopp, Galopp! Ah, so reiten, so reiten bis ans Ende der Welt! Mit dem heimlichen Stolz, Herr und Schöpfer dieser Lust zu sein, wende ich mich manchmal im Sattel zurück, um meine Leute anzuschauen. Und mit einemmal sehe ich, alle meine braven Ulanen haben andere Gesichter. Die schwere ruthenische Bedrücktheit, die Dumpfheit, die Unausgeschlafenheit ist wie Ruß weggewischt von ihren Augen. Straffer richten sie sich auf, da sie sich beobachtet fühlen, mit lächelndem Mund erwidern sie die Freude in meinem Blick. Ich spüre, auch diese dumpfen Bauernburschen sind durchdrungen von der Lust der sausenden Bewegung, diesem Vortraum menschlichen Flugs. Alle empfinden sie genau so beseligt wie ich das animalische Glück ihres Jungseins, ihrer angespannten und zugleich erlösten Kraft.

Aber plötzlich kommandiere ich: »Haaalt! Trab!« Mit einem überraschten Ruck reißen alle die Zügel an. Der ganze Zug fällt wie eine scharf abgebremste Maschine in die schwerfälligere Gangart. Etwas verdutzt schielen sie zu mir herüber, denn sonst – sie kennen mich und meine unbändige Reitlust – preschen wir in einem einzigen scharfen Galopp über die Wiesen bis zum abgesteckten Exerzierfeld durch. Doch mir war, als hätte jählings eine fremde Hand meinen Zügel angerissen: ich habe mich plötzlich an etwas erinnert. Unbewußt muß ich am Rand des Horizonts links drüben das weiße Karree der Mauer, die Bäume des Schloßgartens und das Turmdach wahrgenommen haben, wie ein Schuß ist es in mich hineingefahren: vielleicht sieht dir jemand von dort zu! Jemand, den du mit deiner Tanzlust gekränkt hast und mit deiner Reitlust neuerdings kränkst. Jemand mit lahmen, gefesselten Beinen, der dir’s neiden könnte, dich so vogelhaft leicht hinsausen zu sehen. Jedenfalls, plötzlich schäme ich mich, so gesund, ungehemmt und rauschhaft hinzustürmen, ich schäme mich dieses allzu körperlichen Glücks als einer ungehörigen Bevorzugung. Langsam, in schwerem Hott und Trott, lasse ich hinter mir meine enttäuschten Burschen durch die Wiesen traben. Vergebens warten sie, ich spüre es, ohne sie anzusehen, auf ein Kommando, das sie neuerdings in Schwung setzt.

Freilich, im gleichen Augenblick, da diese sonderbare Hemmung mich überfällt, weiß ich auch schon, daß solche Kasteiung dumm und zwecklos ist. Ich weiß, daß es keinen Sinn hat, sich einen Genuß zu versagen, weil er andern versagt ist, sich ein Glück zu verbieten, weil irgendein anderer unglücklich ist. Ich weiß, daß in jeder Sekunde, während wir lachen und einfältige Scherze reißen, irgendwo einer in seinem Bette röchelt und stirbt, daß hinter tausend Fenstern sich Elend duckt und Menschen hungern, daß es Krankenhäuser, Steinbrüche und Kohlenbergwerke gibt, daß in Fabriken, in Ämtern, in Zuchthäusern Unzählige in Frondienst gespannt sind zu jeder Stunde, und keinem leichter wird in seiner Not, wenn noch ein anderer sich sinnlos quält. Wollte man beginnen, darüber bin ich mir klar, das gleichzeitige Elend dieser Erde sich auszudenken, es würgte einem den Schlaf ab und erstickte einem jedes Lachen im Mund. Aber immer ist es ja nicht das erdachte, das imaginierte Leiden, das einen bestürzt und zernichtet; nur was die Seele mit mitfühlenden Augen leibhaftig gesehen, vermag sie wahrhaft zu erschüttern. So nah und wesenhaft wie in einer Vision hatte ich inmitten meiner leidenschaftlichen Beschwingtheit plötzlich das blasse, verzerrte Gesicht zu erblicken vermeint, wie sie auf ihren Krücken sich durch den Saal schleppte, und gleichzeitig das Tocken und Tappen gehört und das Klirren und Quietschen der verborgenen Maschinen an den kranken Gelenken; gleichsam im Schreck, ohne zu denken, ohne zu überlegen, hatte ich die Zügel angerissen. Es hilft nichts, daß ich mir jetzt nachträglich sage: wem nützt du damit, daß du dummen schweren Trab reitest statt des mitreißenden, aufreizenden Galopps? Aber doch, der Stoß hat irgendeine Stelle meines Herzens getroffen, die nahe dem Gewissen liegt; ich habe nicht den Mut mehr, kraftvoll, frei und gesund die Lust meines Körpers zu genießen. Langsam, schläfrig trotten wir hin bis zur Lisière, die zum Exerzierfeld führt; erst wie wir völlig außer Blickweite des Schlosses sind, rüttle ich mich auf und sage mir: »Unsinn! Laß diese dummen Sentimentalitäten!« Und kommandiere: »Vorwärts! Gaa-lopp!«



Mit diesem einen plötzlichen Zügelriß begann es. Er war gleichsam das erste Symptom jener sonderbaren Vergiftung durch Mitgefühl. Zunächst spürte ich nur dumpf – etwa wie man bei einer Krankheit mit benommenem Kopfe aufwacht –, daß etwas mit mir geschehen war oder geschah. Bisher hatte ich in meinem engumzirkten Lebenskreis achtlos dahingelebt. Ich hatte mich einzig um das gekümmert, was meinen Kameraden, was meinen Vorgesetzten wichtig oder amüsant erschien, niemals aber hatte ich an etwas persönlich Anteil genommen oder jemand an mir. Nie hatte mich etwas eigentlich erschüttert. Meine Familienverhältnisse waren geregelt, mein Beruf, meine Karriere abgegrenzt und reglementiert, und diese Unbekümmertheit hatte – ich begriff es erst jetzt – mein Herz gedankenlos gemacht. Nun plötzlich war etwas an mir, mit mir geschehen – nichts äußerlich Sichtbares, nichts dem Anschein nach Wesentliches. Aber doch, dieser eine zornige Blick, da ich in den Augen der Gekränkten eine bisher ungeahnte Tiefe menschlichen Leidens erkannt, hatte etwas in mir aufgesprengt, und nun strömte von innen eine jähe Wärme durch mich hin, jenes geheimnisvolle Fieber erregend, das mir selbst unerklärlich blieb wie immer dem Kranken seine Krankheit. Ich begriff davon zunächst nicht mehr, als daß ich den gesicherten Kreis, innerhalb dessen ich bisher unbefangen dahingelebt, nun überschritten hatte und eine neue Zone betreten, die wie jedes Neue erregend und beunruhigend zugleich war; zum erstenmal sah ich einen Abgrund des Gefühls aufgerissen, den auszumessen und in den sich hinabzustürzen mir auf unerklärliche Weise verlockend schien. Aber gleichzeitig warnte mich ein Instinkt, solch verwegener Neugier nachzugeben. Er mahnte: »Genug! Du hast dich entschuldigt. Du hast die dumme Sache ins reine gebracht.« Aber »Geh nochmals hin!« raunte eine andere Stimme in mir. »Fühle noch einmal diesen Schauer über den Rücken hinwehen, dieses Rieseln von Angst und Spannung!« Und: »Laß ab«, warnte es wieder. »Dräng dich nicht auf, dräng dich nicht ein! Du wirst, simpler junger Mensch, der du bist, diesem Übermaß nicht gewachsen sein und noch ärgere Albernheiten begehen als das erste Mal.«

Überraschenderweise wurde diese Entscheidung mir selber abgenommen, denn drei Tage später lag ein Brief von Kekesfalva auf meinem Tisch, ob ich nicht sonntags bei ihnen dinieren möchte. Es kämen diesmal nur Herren, darunter jener Oberstleutnant von F. aus dem Kriegsministerium, von dem er mir gesprochen hätte, und selbstverständlich würden sich auch seine Tochter und Ilona besonders freuen. Ich schäme mich nicht, einzugestehen, daß diese Einladung mich eher schüchternen jungen Menschen sehr stolz machte. Man hatte mich also doch nicht vergessen, und die eine Bemerkung, daß Oberstleutnant von F. käme, schien sogar anzudeuten, daß Kekesfalva (ich verstand sofort, aus welchem Gefühl der Dankbarkeit) mir auf diskrete Art eine dienstliche Protektion verschaffen wollte.

Und wirklich, ich hatte es nicht zu bereuen, daß ich sofort zusagte. Es wurde ein richtiger gemütlicher Abend, und ich subalterner Offizier, um den sich beim Regiment niemand recht kümmerte, hatte das Gefühl, einer besonderen, völlig ungewohnten Herzlichkeit bei diesen älteren und soignierten Herren zu begegnen – offenbar hatte Kekesfalva sie auf eine besondere Weise auf mich aufmerksam gemacht. Zum erstenmal in meinem Leben behandelte mich ein höherer Vorgesetzter ohne jede rangliche Überlegenheit. Er erkundigte sich, ob ich zufrieden wäre bei meinem Regiment und wie es mit meinem Avancement stünde. Er ermutigte mich, wenn ich nach Wien käme oder sonst einmal etwas benötigte, bei ihm vorzusprechen. Der Notar wiederum, ein glatzköpfiger, munterer Mann mit einem gutmütig glänzenden Mondgesicht, lud mich in sein Haus, der Direktor der Zuckerfabrik richtete immer wieder das Wort an mich – welch eine andere Art Konversation als in unserer Offiziersmesse, wo ich jeder Meinung eines Vorgesetzten mit einem »gehorsamst« beipflichten mußte! Rascher als ich dachte, kam eine gute Sicherheit über mich, und schon nach einer halben Stunde sprach ich vollkommen ungehemmt mit.

Abermals tischten die beiden Diener Dinge auf, die ich bisher nur vom Hörensagen und vom Prahlen begüterter Kameraden kannte; Kaviar, köstlichen, eisgekühlten, ich schmeckte ihn zum erstenmal, Rehpastete und Fasanen, und dazu immer wieder diese Weine, die wohlig die Sinne beschwingten. Ich weiß, daß es dumm ist, von solchen Dingen sich imponieren zu lassen. Aber warum es leugnen? Ich kleiner, junger, unverwöhnter Leutnant genoß es mit geradezu kindischer Eitelkeit, mit so angesehenen älteren Herren derart schlaraffisch zu tafeln. Donnerwetter, dachte ich immer wieder, Donnerwetter, das sollte der Wawruschka sehen und der käsige Freiwillige, der uns immer anprotzt, wie üppig sie in Wien beim Sacher diniert haben! In ein solches Haus sollten sie einmal kommen, da würden sie Mund und Augen aufreißen! Ja, wenn sie zuschauen dürften, diese Neidhammel, wie ich da munter sitze und der Oberstleutnant aus dem Kriegsministerium mir zutrinkt, wie ich mit dem Direktor der Zuckerfabrik freundschaftlich diskutiere und er dann ganz ernsthaft äußert: »Ich bin überrascht, wie Sie mit all dem vertraut sind.«

Der schwarze Kaffee wird im Boudoir serviert, Kognak marschiert auf in großen, bauchigen, eisgekühlten Gläsern und dazu wiederum jenes Kaleidoskop von Schnäpsen, selbstverständlich auch die famosen dicken Zigarren mit den pompösen Bauchbinden. Mitten im Gespräch beugt sich Kekesfalva zu mir heran, um diskret anzufragen, was mir lieber sei: ob ich mitspielen wolle bei der Kartenpartie oder vorzöge, mit den Damen zu plaudern. Natürlich das letztere, erkläre ich schleunigst, denn mir wäre es doch nicht ganz behaglich, mit einem Oberstleutnant aus dem Kriegsministerium einen Rubber zu riskieren. Gewinnt man, so kann man ihn vielleicht verärgern, verliere ich, ist mein Monatsbudget geschmissen. Und dann, erinnere ich mich, habe ich im ganzen höchstens zwanzig Kronen in der Brieftasche.

So setze ich mich, während nebenan der Spieltisch aufgeschlagen wird, zu den beiden Mädchen, und sonderbar – ist es der Wein oder die gute Laune, die mir alles verklärt? – sie scheinen mir heute beide besonders hübsch. Edith sieht nicht so blaß, so gelblich, so kränklich aus wie das letztemal – mag sein, daß sie den Gästen zu Ehren etwas Rot aufgelegt hat, oder es ist wirklich nur die animierte Stimmung, die ihr die Wangen färbt; jedenfalls, es fehlt die gespannte, nervös flattrige Falte um ihren Mund und das eigenwillige Zucken der Brauen. In einem langen rosa Kleid sitzt sie da, kein Pelz, keine Decke verbirgt ihr Gebrest, und doch denke ich, denken wir alle in unserer guten Laune nicht »daran«. Bei Ilona hege ich sogar den leisen Verdacht, daß sie sich einen leichten Schwips angetrunken hat, ihre Augen knallen nur so, und wenn sie lachend ihre schönen, vollen Schultern zurückwirft, muß ich wirklich abrücken, um der Versuchung zu widerstehen, ihre bloßen Arme durch halben Zufall anzustreifen!

Mit einem Kognak hinter der Kehle, der einen wunderbar durchwärmt, mit einer schönen, schweren Zigarre, deren Rauch einem köstlich die Nase kitzelt, mit zwei hübschen, angeregten Mädchen neben sich und nach einem derart sukkulenten Diner fällt es auch dem Dümmsten nicht schwer, aufgeräumt zu plaudern. Ich weiß, ich kann im allgemeinen ganz gut erzählen, außer wenn mich meine verfluchte Schüchternheit hemmt. Aber diesmal bin ich ganz besonders in Form und konversiere mit wirklichem Animo. Natürlich sind es nur dumme kleine Geschichten, die ich auftische, gerade das Letzte, das sich bei uns ereignet hat, etwa wie der Oberst vorige Woche einen Eilbrief noch vor Postschluß zum Wiener Schnellzug schicken wollte und einen Ulanen rief, einen rechten ruthenischen Bauernjungen, und ihm einschärfte, der Brief müsse sofort nach Wien, worauf der dumme Kerl spornstreichs in den Stall rennt, sein Pferd sattelt und geradeaus auf der Landstraße nach Wien losgaloppiert; hätte man nicht noch telephonisch das nächste Kommando verständigt, so wäre der Esel wirklich die achtzehn Stunden geritten. Es sind also, bei Gott, keine tiefsinnigen Gescheitheiten, mit denen ich mich und die andern strapaziere, wirklich nur Allerweltsgeschichten, Kasernenhofblüten ältester und neuester Fechsung, aber – ich bin selbst darüber erstaunt – sie amüsieren die beiden Mädels unbändig, beide lachen ununterbrochen. Ediths Lachen klingt besonders übermütig mit seinem hohen silbrigen Ton, der im scharfen Diskant manchmal leicht überschlägt, aber die Lustigkeit muß bei ihr wirklich und ehrlich von innen kommen, denn die porzellanen dünne und durchsichtige Haut ihrer Wangen zeigt immer lebhaftere Tönung, ein Hauch von Gesundheit und sogar Hübschheit erhellt ihr Gesicht, und ihre grauen Augen, sonst etwas stählern und scharf, funkeln von einer kindlichen Freude. Gut ist es, sie anzusehen, solange sie ihren gefesselten Körper vergißt, denn freier und immer freier werden dadurch ihre Bewegungen, lockerer ihre Gesten; völlig unbefangen lehnt sie sich zurück, sie lacht, sie trinkt, sie zieht Ilona an sich heran und legt ihr den Arm um die Schulter; wirklich, die beiden amüsieren sich mit meinen Kinkerlitzchen ganz famos. Erfolg im Erzählen hat nun immer etwas Anfeuerndes für den Erzähler; eine Menge Geschichten fallen mir ein, die ich längst vergessen hatte. Sonst eher ängstlich und verlegen, finde ich einen mir ganz neuen Mut: ich lache mit und mache sie lachen. Wie übermütige Kinder kuscheln wir drei uns in der Ecke zusammen.

Und doch, während ich so ununterbrochen spaße und ganz eingetan scheine in unseren munteren Kreis, spüre ich gleichzeitig halb unbewußt, halb bewußt einen Blick, der mich beobachtet. Er kommt über ein Brillenglas, dieser Blick, er kommt herüber vom Kartentisch, und es ist ein warmer, ein glücklicher Blick, der mein eigenes Glücklichsein noch steigert. Ganz heimlich (ich glaube, er schämt sich vor den andern), ganz vorsichtig schielt der alte Mann von Zeit zu Zeit über seine Karten zu uns herüber, und einmal, da ich seinen Blick auffange, nickt er mir vertraulich zu. Sein Gesicht hat in diesem Augenblick den gesammelten, spiegelnden Glanz eines, der Musik hört.

Das dauert beinahe bis Mitternacht; nicht ein einzigesmal kommt unser Plaudern ins Stocken. Noch einmal wird etwas Gutes serviert, wunderbare Sandwiches, und merkwürdigerweise bin ich es nicht allein, der fest zugreift. Auch die beiden Mädchen packen kräftig ein, auch sie trinken ausgiebigst von dem schönen, schweren, schwarzen, alten englischen Port. Aber schließlich muß doch Abschied genommen werden. Wie einem alten Freunde, einem lieben, verläßlichen Kameraden, schütteln Edith und Ilona mir die Hand. Selbstverständlich muß ich ihnen versprechen, bald zu kommen, morgen schon oder übermorgen. Und dann gehe ich mit den drei andern Herren hinaus in die Halle. Das Auto soll uns nach Hause bringen. Ich hole mir selbst meinen Rock, indes der Diener beschäftigt ist, dem Oberstleutnant behilflich zu sein. Plötzlich spüre ich, wie mir jemand beim Umschwingen des Rocks helfen will: es ist Herr von Kekesfalva, und während ich ganz erschrocken abwehre (wie kann ich mich von ihm bedienen lassen, ich grüner Junge von dem alten Herrn?), drängt er flüsternd heran.

»Herr Leutnant«, raunt mir der alte Mann ganz scheu zu. »Ach Herr Leutnant, Sie wissen gar nicht. Sie können’s sich nicht denken, wie mich das glücklich gemacht hat, das Kind wieder einmal richtig lachen zu hören. Sie hat ja sonst gar keine Freude. Und heute war sie beinah wie früher, wenn …«

In diesem Augenblick tritt der Oberstleutnant auf uns zu. »Na, gehn wir?« lächelt er mich freundlich an. Selbstverständlich wagt Kekesfalva nicht, vor ihm weiterzusprechen, aber ich spüre, wie plötzlich die Hand des alten Mannes mir über den Ärmel streift, ganz, ganz leise und schüchtern über den Ärmel streift, so wie man ein Kind liebkost oder eine Frau. Eine unermeßliche Zärtlichkeit, unermeßliche Dankbarkeit liegt gerade im Versteckten und Verdeckten dieser scheuen Berührung; so viel Glück und so viel Verzweiflung fühle ich darin, daß ich abermals ganz erschüttert bin, und während ich militärisch respektvoll neben dem Herrn Oberstleutnant zum Auto die drei Stufen hinabschreite, muß ich mich gut zusammenhalten, damit niemand meine Benommenheit bemerkt.




* * *


Ich konnte nicht gleich schlafen gehen an jenem Abend, ich war zu erregt. So winzig der Anlaß sich auch, von außen gesehen, darstellen mochte – es war doch schließlich nichts Weiteres geschehen, als daß ein alter Mann mir zärtlich den Ärmel gestreichelt hatte – diese eine verhaltene Geste inbrünstigen Danks hatte schon ausgereicht, um ein Innerlichstes in mir zum Fluten und Überfluten zu bringen. Ich hatte in dieser überwältigenden Berührung eine Zärtlichkeit von so keuscher und doch leidenschaftlicher Innigkeit erfahren, wie nicht einmal von einer Frau. Zum erstenmal in meinem Leben war mir jungem Menschen Gewißheit geworden, irgend jemandem auf Erden geholfen zu haben, und maßlos war mein Staunen, daß ich kleiner, mittelmäßiger, unsicherer Offizier wirklich Macht haben sollte, jemanden derart glücklich zu machen. Vielleicht muß ich, um das Berauschende, das für mich in dieser jähen Entdeckung lag, zu erklären, mich selbst erst wieder erinnern, daß nichts seit meiner Kindheit mir dermaßen auf der Seele gelastet hatte wie die Überzeugung, ich sei ein völlig überflüssiger Mensch, allen andern uninteressant und bestenfalls gleichgültig. In der Kadettenschule, in der Militärakademie hatte ich immer nur zu den mittleren, völlig unauffälligen Schülern gehört, nie zu den beliebten oder besonders bevorzugten, und nicht besser ging’s mir beim Regiment. So war ich im tiefsten überzeugt, daß wenn ich plötzlich verschwinden würde, etwa vom Pferd fallen und mir das Genick brechen, die Kameraden vielleicht sagen würden »Schad um ihn« oder »Der arme Hofmiller«, aber nach einem Monat würde ich niemandem wirklich fehlen. An meine Stelle, auf mein Pferd würde ein anderer gesetzt, und dieser andere würde genau so gut oder schlecht meinen Dienst machen. Genau wie bei den Kameraden war es mir bei den paar Mädeln ergangen, mit denen ich in meinen zwei Garnisonen Verhältnisse gehabt hatte; in Jaroslau mit der Assistentin eines Zahnarztes, in Wiener Neustadt mit einer kleinen Näherin; wir waren zusammen ausgegangen, ich hatte Annerl an ihrem freien Tag ins Zimmer genommen, ihr zum Geburtstag ein kleines Halsband aus Korallen geschenkt; man hatte sich die üblichen zärtlichen Worte gesagt, wahrscheinlich sie auch wirklich ehrlich gemeint. Doch als ich dann abkommandiert wurde, hatten wir beide uns rasch getröstet; die ersten drei Monate schrieben wir uns noch ab und zu die obligaten Briefe, dann freundeten wir uns jeder mit anderen an; der ganze Unterschied blieb, daß sie in zärtlicher Aufwallung nun dem andern Ferdl sagte statt Toni. Vorüber, vergessen. Nirgends aber hatte bisher ein starkes, ein leidenschaftliches Gefühl mich, den Fünfundzwanzigjährigen, zum Anlaß genommen, und ich selbst erwartete und forderte im Grunde vom Leben gar nicht mehr, als sauber und korrekt meinen Dienst zu tun und in keiner Weise unangenehm aufzufallen.

Nun aber war das Unerwartete geschehen, und staunend blickte ich mit aufgeschreckter Neugier mich selber an. Wie? Auch ich mittelmäßiger junger Mensch hatte Macht über andere Menschen? Ich, der keine fünfzig Kronen ehrlich meinen Besitz nennen konnte, vermochte einem reichen Manne mehr Glück zu schenken als alle seine Freunde? Ich, Leutnant Hofmiller, konnte jemandem helfen, ich konnte jemanden trösten? Wenn ich mich einen Abend, zwei Abende zu einem lahmen, verstörten Mädchen setzte und mit ihr plauderte, wurden ihre Augen hell, ihre Wangen atmeten Leben, und ein ganzes verdüstertes Haus ward licht durch meine Gegenwart?

Ich gehe so rasch in meiner Erregung durch die dunkeln Gassen, daß mir ganz warm wird. Am liebsten möchte ich den Rock aufreißen, so dehnt sich mir das Herz. Denn in dieser Überraschung drängt und enthüllt sich unvermutet eine neue, eine zweite, die noch berauschender wirkt – nämlich, daß es so leicht war, so rasend leicht, diese fremden Menschen zu Freunden zu gewinnen. Was hatte ich denn viel geleistet? Ich hatte ein bißchen Mitleid gezeigt, ich hatte zwei Abende und zwar fröhliche, heitere, beschwingte Abende in dem Hause verbracht, und schon das war genug gewesen? Wie dumm dann, seine ganze freie Zeit tagtäglich im Kaffee zu verdösen, mit langweiligen Kameraden stumpfsinnig Karten zu spielen oder den Korso hinauf und hinunter zu promenieren. Nein, von nun ab nicht mehr diesen Stumpfsinn, diesen ludrigen Leerlauf! Mit wirklicher Leidenschaft nehme ich junger, plötzlich aufgeweckter Mensch mir vor, während ich immer hastiger hinschreite durch die weiche Nacht: Ich will von nun ab mein Leben ändern. Ich werde weniger ins Kaffeehaus gehen, werde aufhören mit dem dummen Tarockieren und Billardspiel, werde energisch Schluß machen mit allen diesen Zeittotschlägereien, die niemandem nützen und mich selber verdummen. Ich werde lieber dieser Kranken öfters Besuch machen, mich sogar jedesmal besonders vorbereiten, damit ich den beiden Mädchen immer etwas Nettes und Lustiges erzählen kann, wir werden zusammen Schach spielen oder sonst die Zeit behaglich verbringen; schon dieser bloße Vorsatz, zu helfen, und von nun ab andern nützlich zu sein, erregt in mir eine Art Begeisterung. Ich möchte am liebsten singen, ich möchte etwas Unsinniges tun aus diesem Gefühl der Beschwingtheit; immer erst, sobald man weiß, daß man auch andern etwas ist, fühlt man Sinn und Sendung der eigenen Existenz.



So kam es und nur so, daß ich in den nächsten Wochen die Spätnachmittage und meist auch die Abende bei den Kekesfalvas verbrachte; bald wurden diese freundschaftlichen Plauderstunden schon Gewöhnung und eine nicht ungefährliche Verwöhnung dazu. Aber welche Verlockung auch für einen seit den Knabenjahren von einer Militäranstalt in die andere herumgestoßenen jungen Menschen, unverhofft ein Zuhause zu finden, eine Heimat des Herzens statt kalter Kasernenräume und rauchiger Kameradschaftsstuben! Wenn ich nach erledigtem Dienst, halb fünf oder fünf, hinauswanderte, schlug meine Hand noch nicht recht auf den Klopfer, und schon riß der Diener freudigst die Tür auf, als hätte er durch ein magisches Guckloch mein Kommen beobachtet. Alles deutete mir liebevoll-sichtbar an, wie selbstverständlich man mich als zur Familie gehörig rechnete; jeder meiner kleinen Schwächen und Vorlieben war vertraulicher Vorschub geleistet. Von Zigaretten lag immer just meine Lieblingssorte bereit, ein beliebiges Buch, von dem ich das letzte Mal zufällig erwähnt hatte, ich würde es gerne einmal lesen, fand sich wie durch Zufall neu und doch schon vorsorglich aufgeschnitten auf dem kleinen Taburett, ein bestimmter Fauteuil gegenüber Ediths Chaiselongue galt unumstößlich als »mein« Platz – Kleinigkeiten, Nichtigkeiten dies alles, gewiß, aber doch solche, die einen fremden Raum wohltuend mit Heimischkeit durchwärmen und den Sinn unmerklich erheitern und erleichtern. Da saß ich dann, sicherer als je im Kreis meiner Kameraden, plauderte und spaßte, wie es mir vom Herzen kam, zum erstenmal wahrnehmend, daß jede Form der Gebundenheit die eigentlichen Kräfte der Seele bindet und das wahre Maß eines Menschen erst in seiner Unbefangenheit zutage tritt.

Aber noch ein anderes, viel Geheimnisvolleres hatte unbewußt Anteil daran, daß mich das tägliche Beisammensein mit den beiden Mädchen so sehr beschwingte. Seit meiner frühzeitigen Auslieferung an die Militäranstalt, seit zehn, seit fünfzehn Jahren also, lebte ich unausgesetzt in männlicher, in männischer Umgebung. Von morgens bis nachts, von nachts bis früh, im Schlafraum der Militärakademie, in den Zelten der Manöver, in den Stuben, bei Tisch und unterwegs, in der Reitschule und im Lehrzimmer, immer und immer atmete ich im Luftraum nur Dunst des Männlichen um mich, erst Knaben, dann erwachsene Burschen, aber immer Männer, Männer, schon gewöhnt an ihre energischen Gebärden, ihren festen, lauten Gang, ihre gutturalen Stimmen, ihren knastrigen Geruch, ihre Ungeniertheit und manchmal sogar Ordinärheit. Gewiß, ich hatte die meisten meiner Kameraden herzlich gern und durfte wahrhaftig nicht klagen, daß sie es nicht ebenso herzlich meinten. Aber eine letzte Beschwingtheit fehlte dieser Atmosphäre, sie enthielt gleichsam nicht genug Ozon, nicht genug spannende, prickelnde, elektrisierende Kräfte. Und wie unsere prächtige Militärkapelle trotz ihres vorbildlich rhythmischen Schwungs doch immer nur kalte Blechmusik blieb, also hart, körnig und einzig auf Takt eingestellt, weil ihr der zärtlich-sinnliche Streicherton der Violinen fehlte, so entbehrten sogar die famosesten Stunden unserer Kameraderie jenes sordinierenden Fluidums, das immer die Gegenwart oder auch nur Atemnähe von Frauen jeder Geselligkeit beimischt. Schon damals, als wir Vierzehnjährigen je zwei und zwei in unseren verschnürten kleidsamen Kadettenmonturen durch die Stadt promenierten, hatten wir, wenn wir andern jungen Burschen mit Mädchen flirtend oder nachlässig plaudernd begegneten, wirr sehnsüchtig empfunden, daß durch die seminaristische Einkasernierung etwas unserer Jugend gewalttätig entzogen wurde, was unseren Altersgenossen tagtäglich auf Straße, Korso, Eisbahn und im Tanzsaal ganz selbstverständlich zugeteilt war: der unbefangene Umgang mit jungen Mädchen, indessen wir, die Abgesonderten, die Eingegitterten, diesen kurzröckigen Elfen wie zauberischen Wesen nachstarrten, von einem einmaligen Gespräch mit einem Mädchen schon wie von einer Unerreichbarkeit träumend. Solche Entbehrung vergißt sich nicht. Daß späterhin rasche und meist billige Abenteuer mit allerhand gefälligen Weibspersonen sich einstellten, bot keinerlei Ersatz für diese sentimentalen Knabenträume, und ich spürte an der Ungelenkigkeit und Blödigkeit, mit der ich jedesmal (obwohl ich schon mit einem Dutzend Frauen geschlafen) in der Gesellschaft herumstotterte, sobald ich zufällig an ein junges Mädchen geriet, daß mir jene naive und natürliche Unbefangenheit durch allzulange Entbehrungen für allezeit versagt und verdorben war.

Und nun hatte sich plötzlich dies uneingestandene knabenhafte Verlangen, eine Freundschaft statt mit bärtigen, männischen, ungehobelten Kameraden einmal mit jungen Frauen zu erleben, auf die vollkommenste Weise erfüllt. Jeden Nachmittag saß ich, Hahn im Korbe, zwischen den beiden Mädchen; das Helle, das Weibliche ihrer Stimmen tat mir (ich kann es nicht anders ausdrücken) geradezu körperlich wohl, und mit einem kaum zu beschreibenden Glücksgefühl genoß ich zum erstenmal mein eigenes Nichtscheusein mit jungen Mädchen. Denn es steigerte nur das besonders Glückhafte in unserer Beziehung, daß durch eigenartige Umstände jener elektrisch knisternde Kontakt abgeschaltet war, der sich sonst unaufhaltsam bei jedem längeren Zuzweitsein von jungen Leuten verschiedenen Geschlechts ergibt. Völlig fehlte unseren ausdauernden Plauderstunden alles Schwülende, das sonst ein tête-à-tête im Halbdunkel so gefährlich macht. Zuerst freilich – ich gestehe es willig ein – hatten die küßlich vollen Lippen, die fülligen Arme Ilonas, die magyarische Sinnlichkeit, die sich in ihren weichen, schwingenden Bewegungen verriet, mich jungen Menschen auf die angenehmste Art irritiert. Ich mußte einigemal meine Hände in straffer Dressur halten gegen das Verlangen, einmal dies warme, weiche Ding mit den schwarzen, lachenden Augen an mich heranzureißen und ausgiebigst abzuküssen. Aber erstlich vertraute mir Ilona gleich in den Anfangstagen unserer Bekanntschaft an, daß sie seit zwei Jahren einem Notariatskandidaten in Becskeret verlobt sei und nur die Wiederherstellung oder Besserung im Befinden Ediths abwarte, um ihn zu heiraten ich erriet, daß Kekesfalva der armen Verwandten eine Mitgift zugesagt hatte, falls sie bishin ausharre. Und überdies, welcher Roheit, welcher Perfidie hätten wir uns schuldig gemacht, im Rücken dieser rührenden, ohnmächtig an den Rollstuhl gefesselten Gefährtin kleine Küßlichkeiten oder Handgreiflichkeiten ohne rechte Verliebtheit zu versuchen. Sehr rasch also versickerte der anfängliche sinnlich flirrende Reiz, und was ich an Zuneigung zu empfinden imstande war, wandte sich auf immer innigere Weise der Hilflosen, der Zurückgesetzten zu, denn zwanghaft bindet sich in der geheimnisvollen Chemie der Gefühle Mitleid für einen Kranken unmerklich mit Zärtlichkeit. Neben der Gelähmten zu sitzen, sie im Gespräch zu erheitern, ihren schmalen unruhigen Mund durch ein Lächeln beschwichtigt zu sehen oder manchmal, wenn sie, einer heftigen Laune nachgebend, ungeduldig aufzuckte, schon durch das bloße Auflegen der Hand beschämte Nachgiebigkeit zu erzielen und dafür noch einen dankbaren grauen Blick zu empfangen – solche kleinen Vertraulichkeiten einer seelischen Freundschaft beglückten mich bei dieser Wehrlosen, dieser Kraftlosen mehr, als es die leidenschaftlichsten Abenteuer mit ihrer Freundin vermocht hätten. Und dank dieser leisen Erschütterungen entdeckte ich – wie viele Erkenntnisse verdankte ich schon diesen wenigen Tagen! – mir völlig unbekannte und ungeahnt zartere Zonen des Gefühls.

Unbekannte und zartere Zonen des Gefühls – aber freilich gefährlichere auch! Denn vergeblich die schonendste Bemühung: nie vermag die Beziehung zwischen einem Gesunden und einer Kranken, einem Freien und einer Gefangenen auf die Dauer völlig in reiner Schwebe zu bleiben. Unglück macht verletzbar und unablässiges Leiden ungerecht. Genau wie zwischen Gläubiger und Schuldner unausrottbar ein Peinliches beharrt, weil eben dem einen unabänderlich die Rolle des Gebenden und dem andern die des Empfangenden zugeteilt ist, so bleibt in dem Kranken eine heimliche Gereiztheit gegen jede sichtbare Besorgtheit ständig im Ansprung. Unablässig mußte man auf der Hut sein, nicht die kaum merkliche Grenze zu überschreiten, wo Anteilnahme, statt zu beschwichtigen, die leicht Verwundbare noch mehr verletzte; einerseits verlangte sie, verwöhnt wie sie war, daß alles sie bediente wie eine Prinzessin und verhätschelte wie ein Kind, aber schon im nächsten Augenblick konnte diese Rücksicht sie erbittern, weil sie ihr die eigene Hilflosigkeit deutlicher zum Bewußtsein brachte. Rückte man etwa das Taburett gefällig heran, um ihr den anstrengenden Handgriff nach Buch und Tasse möglichst zu ersparen, so herrschte sie einen blitzenden Auges an: »Glauben Sie, daß ich mir nicht selbst nehmen kann, was ich will?« Und wie ein eingegittertes Tier sich manchmal ohne jeden Anlaß gegen den sonst so umschmeichelten Wärter wirft, kam ab und zu eine boshafte Lust über die Gelähmte, unsere unbefangene Stimmung mit einem plötzlichen Prankenschlag zu zerfleischen, indem sie ganz unvermittelt von sich selbst als »einem elenden Krüppel« sprach. In solchen gespannten Augenblicken mußte man wirklich alle Kraft in sich zusammennehmen, um nicht ungerecht gegen ihren aggressiven Unmut zu werden.

Aber zu meinem eigenen Erstaunen fand ich immer wieder diese Kraft. Immer wachsen einer ersten Erkenntnis im Menschlichen andere geheimnisvoll zu, und wem nur einmal die Fähigkeit zuteil ward, eine einzige Form irdischen Leidens wahrhaft mitzufühlen, der versteht durch diese magische Belehrung alle Formen, auch die fremdartigsten und scheinbar widersinnigen. So ließ ich mich nicht beirren durch Ediths gelegentliche Revolten; im Gegenteil, je ungerechter und schmerzlicher ihre Ausbrüche waren, umsomehr erschütterten sie mich; allmählich verstand ich auch, warum mein Kommen dem Vater und Ilona, warum mein Mitdabeisein dem ganzen Hause so willkommen war. Ein lang dauerndes Leiden ermüdet im allgemeinen nicht nur den Kranken, sondern auch das Mitleid der andern; starke Gefühle lassen sich nicht ins Ungemessene verlängern. Nun litten sicherlich der Vater und die Freundin bis in den Grund ihrer Seele mit dieser armen Ungeduldigen, aber sie litten schon in einer erschöpften und resignierten Art. Sie nahmen die Kranke als Kranke, die Tatsache der Lähmung als Tatsache, sie warteten jedesmal gesenkten Blicks, bis diese kurzen Nervengewitter sich ausgetobt. Aber sie erschraken nicht mehr so, wie ich jedesmal von neuem erschrak. Ich dagegen, der einzige, dem ihr Leiden eine immer erneute Erschütterung bedeutete, wurde bald der einzige, vor dem sie sich ihrer Maßlosigkeit schämte. Ich brauchte nur, wenn sie unbeherrscht auffuhr, ein kleines mahnendes Wort wie »Aber liebes Fräulein Edith« zu sagen, und schon duckte sich gehorsam der ganze Blick. Sie errötete, und man sah, am liebsten wäre sie, wenn ihre Füße sie nicht gefesselt hätten, vor sich selber geflüchtet. Und nie konnte ich von ihr Abschied nehmen, ohne daß sie mit einer gewissen flehenden Art, die mir durch und durch ging, gesagt hätte: »Aber Sie kommen doch morgen wieder? Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse wegen all der Dummheiten, die ich heute gesagt habe?« In solchen Minuten fühlte ich eine Art rätselhaften Staunens, daß ich, der ich doch nichts zu geben hatte als mein ehrliches Mitleid, soviel Macht besaß über andere Menschen.

Aber es ist der Sinn der Jugend, daß jede neue Erkenntnis ihr zu Exaltation wird und sie, einmal angeschwungen von einem Gefühl, davon nicht genug zu bekommen vermag. Eine sonderbare Verwandlung begann in mir, sobald ich entdeckte, daß dies mein Mitfühlen eine Kraft war, die nicht nur mich selbst geradezu lustvoll erregte, sondern auch über mich hinaus wohltätig wirkte: seit ich zum erstenmal dieser neuen Fähigkeit des Mitleidens Einlaß in mich gegeben, schien es mir, als sei ein Toxin in mein Blut eingedrungen und hätte es wärmer, röter, geschwinder, pulsender, vehementer gemacht. Mit einem Schlage verstand ich die Stumpfheit nicht mehr, in der ich bislang so schlendrig dahingelebt wie in einer grauen gleichgültigen Dämmerung. Hundert Dinge beginnen mich zu erregen, zu beschäftigen, an denen ich früher achtlos vorübergegangen. Überall gewahre ich, als wäre mit jenem ersten Blick in ein fremdes Leiden ein schärferes, wissenderes Auge in mir erwacht, Einzelheiten, die mich beschäftigen, begeistern, erschüttern. Und da doch unsere ganze Welt voll ist, Straße um Straße und Zimmer um Zimmer, mit fühlbarem Schicksal und durchflutet von brennender Not bis zum untersten Grund, so ist mein Tag jetzt ununterbrochen von Aufmerksamkeit und Spannung erfüllt. Ich ertappe mich zum Beispiel beim Remontenreiten, daß ich auf einmal nicht mehr wie früher einem stützigen Pferd mit voller Wucht einen Hieb über die Kruppe schlagen kann, denn ich spüre schuldbewußt den von mir verursachten Schmerz, und die Strieme brennt mir auf der eigenen Haut. Oder unwillkürlich krampfen sich mir die Finger zusammen, wenn unser cholerischer Rittmeister einem armen ruthenischen Ulanen, der den Sattel schlecht aufgezäumt hat, die geballte Faust ins Gesicht knallt, und der Bursche steht stramm, die Hand an der Hosennaht. Ringsum starren oder lachen blöd die andern Soldaten, ich aber, ich allein sehe, wie unter den beschämt gesenkten Augenlidern des dumpfen Burschen die Wimpern sich feuchten. Mit einmal kann ich in unserer Offiziersmesse die Witze über ungeschickte oder unbeholfene Kameraden nicht mehr ertragen; seit ich an diesem wehrlosen, machtlosen Mädchen die Qual der Unkraft begriffen habe, erregt mich haßvoll jede Brutalität und anteilfordernd jede Wehrlosigkeit. Unzählige Kleinigkeiten, die mir bisher entgangen sind, bemerke ich, seit mir der Zufall diesen einen heißen Tropfen Mitleid ins Auge geträufelt, einfältige, simple Dinge, aber von jedem einzelnen geht für mich Spannung und Erschütterung aus. Es fällt mir zum Beispiel auf, daß die Tabaktrafikantin, bei der ich immer meine Zigaretten kaufe, die hingereichten Geldstücke auffällig nah an die rundgeschliffene Brille hält, und sofort beunruhigt mich der Verdacht, daß sie den Star bekommen könne. Morgen will ich sie vorsichtig ausfragen und vielleicht auch den Regimentsarzt Goldbaum bitten, daß er sie einmal untersucht. Oder es fällt mir auf, daß die Freiwilligen den kleinen rothaarigen K. in der letzten Zeit so sichtlich schneiden, und ich erinnere mich, daß in der Zeitung gestanden hat (was kann er dafür, der arme Junge?), sein Onkel sei wegen betrügerischer Malversationen eingesperrt worden; mit Absicht setze ich mich bei der Menage zu ihm hin und fange ein langes Gespräch an, an seinem dankbaren Blick sofort spürend, daß er versteht, ich tu’s nur, um den andern zu zeigen, wie ungerecht und ordinär sie ihn behandeln. Oder ich bettle einen von meinem Zug heraus, dem der Oberst sonst unbarmherzig vier Stunden Spangen aufgebrummt hätte; immer neu und an täglich anderen Proben genieße ich diese plötzlich in mich gefahrene Lust. Und ich sage mir: von jetzt ab helfen, soviel du kannst, jedem und jedem! Nie mehr träge, nie mehr gleichgültig sein! Sich steigern, indem man sich hingibt, sich bereichern, indem man jedem Schicksal sich verbrüdert, jedes Leiden durch Mitleiden versteht und besteht. Und mein über sich selbst erstauntes Herz zittert vor Dankbarkeit für die Kranke, die ich unwissend gekränkt, und die durch ihr Leiden mich diese schöpferische Magie des Mitleids gelehrt.




* * *


Nun, aus derart romantischen Gefühlen wurde ich bald erweckt, und zwar auf die allergründlichste Art. Das kam so: Wir hatten an jenem Nachmittag Domino gespielt, dann lange geplaudert und so angeregt die Zeit verbracht, daß wir alle nicht bemerkten, wie spät es geworden war. Endlich, um halb zwölf, blicke ich erschrocken auf die Uhr und empfehle mich hastig. Aber schon während mich der Vater hinaus in die Halle begleitet, hören wir von draußen ein Summen und Brummen wie von hunderttausend Hummeln. Ein veritabler Wolkenbruch trommelt auf das Vordach. »Das Auto bringt Sie hinein«, beruhigt mich Kekesfalva. Ich protestiere, das sei keineswegs nötig; der Gedanke ist mir wirklich peinlich, der Chauffeur solle einzig um meinetwillen jetzt um halb zwölf sich noch einmal anziehen und den schon abgestellten Wagen aus der Garage herausholen (alles dies Nachfühlen und Rücksichtnehmen auf fremde Existenzen ist völlig neu bei mir, ich habe es erst in diesen Wochen gelernt). Aber schließlich liegt doch gute Verlockung darin, in einem weichen, gut gefederten Coupé bei solchem Hundewetter bequem heimzusausen, statt eine halbe Stunde lang triefnaß mit dünnen Lackstiefeletten durch die aufgeschlammte Chaussee zu stapfen: so gebe ich nach. Der alte Mann läßt sich’s nicht nehmen, trotz des Regens mich selbst ans Auto zu begleiten und mir die Decke umzuschlagen. Der Chauffeur kurbelt an; in einem Schwung sause ich durch das trommelnde Unwetter nach Hause.

Wunderbar bequem und behaglich fährt sich’s in dem lautlos gleitenden Wagen. Aber doch, wie wir jetzt zauberhaft schnell ist das gegangen – auf die Kaserne zusteuern, klopfe ich gegen die Scheibe und ersuche den Chauffeur, er möge schon auf dem Rathausplatz anhalten. Denn lieber nicht in Kekesfalvas elegantem Coupé bei der Kaserne vorfahren! Ich weiß, es macht sich nicht gut, wenn ein kleiner Leutnant wie ein Erzherzog im fabelhaften Auto vorknattert und sich von einem livrierten Chauffeur heraushelfen läßt. Derlei Protzereien sehen bei uns die goldenen Kragen nicht gern, außerdem rät mir längst ein Instinkt, meine beiden Welten möglichst wenig zu vermengen, den Luxus des Draußen, wo ich ein freier Mann bin, unabhängig, verwöhnt, und die andere, die Dienstwelt, in der ich mich ducken muß, ein armer Schlucker, den es mächtig entlastet, wenn der Monat nur dreißig Tage hat statt einunddreißig. Unbewußt will mein eines Ich nicht gerne von dem anderen wissen; manchmal vermag ich schon nicht mehr zu unterscheiden, wer eigentlich der wirkliche Toni Hofmiller ist, der im Dienst oder der bei Kekesfalvas, der draußen oder der drinnen.

Der Chauffeur hält wunschgemäß am Rathausplatz, zwei Straßen von der Kaserne. Ich steige aus, schlage den Kragen hoch und will rasch den weiten Platz überqueren. Aber gerade in diesen Augenblick strubelt das Unwetter mit verdoppelter Wucht los, mit nassem Hieb schlägt der Wind mir gradaus ins Gesicht. Besser darum unter einem Haustor ein paar Minuten warten, ehe man die zwei Gassen zur Kaserne hinüberläuft. Oder am Ende ist das Kaffeehaus noch offen und ich kann dort im Sicheren sitzen, bis der liebe Himmel seine dicksten Gießkannen verschüttet hat. Zum Kaffeehaus hinüber sind es nur sechs Häuser, und siehe da, hinter den schwimmenden Scheiben glänzt schummrig das Gaslicht. Am Ende hocken die Kameraden noch am Stammtisch; famose Gelegenheit das, allerhand gutzumachen, denn es gehört sich längst, daß ich mich wieder einmal zeige. Gestern, vorgestern, die ganz Woche und die letzte bin ich vom Stammtisch weggeblieben. Eigentlich hätten sie guten Grund, gegen mich verärgert zu sein; wenn man schon untreu wird, soll man wenigstens die Formen wahren.

Ich klinke auf. In der vorderen Hälfte des Lokals sind die Lampen aus Sparsamkeitsgründen bereits abgelöscht, ausgespannt liegen die Zeitungen herum und der Markeur Eugen zählt die Losung zusammen. Jedoch im Spielzimmer rückwärts sehe ich noch Licht und einen Schimmer von blanken Uniformknöpfen; wahrhaftig, da sitzen sie noch, die ewigen Tarockkumpane, Jozsi, der Oberleutnant, Ferencz, der Leutnant, und der Regimentsarzt Goldbaum. Anscheinend haben sie ihre Partie längst ausgespielt und lehnen nur noch duslig herum in jener mir wohlbekannten Kaffeehausfaulheit, die sich vor dem Aufstehen fürchtet; so wird’s ein rechtes Gottesgeschenk für sie, daß mein Erscheinen ihr langweiliges Dösen unterbricht.

»Hallo, der Toni«, alarmiert Ferencz die andern, und »Welch ein Glanz in unserer niedern Hütte«, deklamiert der Regimentsarzt, der, wie wir zu spotten pflegen, an chronischer Zitatendiarrhöe leidet. Sechs schläfrige Augen blinzeln und lachen mir entgegen. »Servus! Servus!«

Ihre Freude freut mich. Sind doch wirklich brave Burschen, denke ich mir. Haben’s mir gar nicht übelgenommen, daß ich die ganze Zeit über ohne Entschuldigung und Erklärung ausgepascht bin.

»Einen Schwarzen«, bestelle ich bei dem schläfrig heranschlurfenden Kellner und rücke mir den Sessel zurecht mit dem unausweichlichen »No, was gibt’s denn Neues?«, das bei uns jedes Zusammensein eröffnet.

Ferencz schiebt sein breites Gesicht noch mehr in die Breite, die blinzelnden Augen verschwinden beinahe in den rötlichen Apfelbacken; langsam, teigig geht ihm der Mund auf.

»Also, das Allerneueste war«, schmunzelt er behäbig, »daß euer Wohlgeboren die Gnad haben, wieder einmal bei uns in unserm bescheidenen Czoch zu erscheinen.«

Und der Regimentsarzt lehnt sich zurück und beginnt mit Kainzens Tonfall: »Mahadöh, der Gott der Erde – stieg herab zum letztenmal – daß er ihresgleichen werde – mitzufühlen Lust und Qual.«

Alle drei schauen mich amüsiert an, und sofort überkommt mich ein saures Gefühl. Am besten, denke ich mir, jetzt rasch selber loslegen, ehe sie anfangen zu fragen, warum ich alle die Tage ausgeblieben bin und woher ich heut komme. Aber ehe ich einhaken kann, hat schon der Ferencz merkwürdig gezwinkert und den Jozsi angestoßen.

»Da schau her«, deutet er unter den Tisch. »No, was sagst? Lackstiefeletten trägt er bei dem Sauwetter und die noble Montur! Ja, der versteht’s, der Toni, der hat sich gut ins Warme gesetzt! Soll ja fabelhaft draußen zugehn bei dem alten Manichäer! Fünf Gänge jeden Abend, hat der Apotheker erzählt, Kaviar und Kapaune, echten Bols und piekfeine Zigarren – anders als unser Saufraß im ›Roten Löwen‹! Ja, den Toni, den ham wir alle unterschätzt, der hat’s faustdick hinter den Ohren.«

Jozsi sekundiert sofort. »Nur mit der Kameradschaft, da steht’s halt schwach bei ihm. Ja, mein lieber Toni, statt daß du draußen deinem Alten einmal sagen tätst: ›Du, Alter, ich hab’ da ein paar fesche Kameraden, bildsaubere, brave Kerle, die auch nicht mit dem Messer fressen, die luchs ich euch einmal her‹ – statt dem denkt er sich: sollen nur ihr saures Pilsner saufen und sich die Gurgel mit ihrem öden Rindsgulasch auspaprizieren! Ja, piekfeine Kameradschaft, das muß ich schon sagen! Alles für sich und nix für die andern! Na – hast mir wenigstens eine dicke Upman mitgebracht? Dann bist du für heut noch pardoniert.«

Sie lachen und schmatzen alle drei. Aber mir steigt plötzlich das Blut vom Kragen her bis an die Ohren hoch. Denn, Teufel, woran kann der verdammte Jozsi erraten haben, daß mir wirklich Kekesfalva zum Abschied im Vorzimmer – er tut das immer – eine seiner feinen Zigarren zugesteckt hat? Steht sie mir am Ende zwischen den beiden Brustknöpfen beim Rock heraus? Wenn die Burschen nur nichts merken! In meiner Verlegenheit zwinge ich mich zu einem Lachen:

»Natürlich – eine Upman! Billiger gibst du’s nicht! Ich glaub’, eine Zigarette dritter Sorte wird’s dir auch tun«, und halte ihm offen die Tabatiere hin. Doch im selben Augenblick zuckt mir schon die Hand. Denn vorgestern war mein fünfundzwanzigster Geburtstag gewesen, irgendwie hatten die beiden Mädel das herausspekuliert, und bei dem Abendessen, als ich von meinem Teller die Serviette aufhob, spürte ich etwas Schweres darin eingefaltet: eine Zigarettendose als Geburtstagsgeschenk. Aber schon hatte der Ferencz das neue Etui bemerkt – in unserem engen Klüngel wird ja auch die kleinste Kleinigkeit zum Ereignis.

»Hallo, was ist das?« brummt er. »Ein neues Ausrüstungsstück!« Er nimmt mir die Zigarettendose einfach aus der Hand (was kann ich dagegen tun?), betastet, beschaut und wiegt sie schließlich auf der Handfläche. »Du, mir scheint«, wendet er sich hinüber zum Regimentsarzt, »die ist sogar echt. Geh, schau dir die einmal gut an – dein würdiger Erzeuger soll ja mit derlei handeln, da wirst dich doch auch einigermaßen auskennen.«

Der Regimentsarzt Goldbaum, wirklich Sohn eines Goldschmieds in Drohobycz, stülpt den Zwicker auf die etwas dickliche Nase, nimmt die Tabatière, wiegt sie, beschaut sie von allen Seiten und klopft sie geschult mit dem Knöchel ab.

»Echt«, diagnostiziert er endlich. »Echtes Gold, punziert und verdammt schwer. Damit könnt man dem ganzen Regiment die Zähne plombieren. Preislage etwa siebenhundert bis achthundert Kronen.«

Nach diesem Verdikt, das mich selbst überrascht (ich hatte sie wirklich nur für vergoldet gehalten), gibt er die Dose an Jozsi weiter, der sie schon viel ehrfürchtiger anfaßt als die beiden andern (ach, was für Respekt wir jungen Kerle doch vor allem Kostbaren haben!). Er beschaut, bespiegelt, betastet sie, klappt sie schließlich am Rubin auf und stutzt:

»Hallo – eine Inschrift! Hört, hört! Unserem lieben Kameraden Anton Hofmiller zum Geburtstag. Ilona, Edith.«

Alle drei starren mich jetzt an. »Donnerwetter«, schnauft schließlich Ferencz, »du suchst dir aber deine Kameraden neuestens gut aus! Alle Hochachtung! Von mir hättst höchstens eine tombakene Zündholzdosen statt so was bekommen.«

Ein Krampf sitzt mir in der Kehle. Morgen weiß prompt das ganze Regiment die peinliche Neuigkeit von der goldenen Zigarettendose, die ich von den Kekesfalvas zum Präsent gekriegt habe, und kennt die Inschrift auswendig. »Zeig sie einmal her, deine noble Dosen«, wird der Ferencz bei der Offiziersmesse sagen, um mit mir zu protzen, und gehorsamst werde ich sie dem Herrn Rittmeister, gehorsamst dem Herrn Major, gehorsamst vielleicht sogar dem Herrn Oberst vorweisen müssen. Alle werden sie in der Hand wiegen, abschätzen, die Inschrift ironisch anschmunzeln, und dann kommt unvermeidlich das Gefrage und Gewitzel, und ich darf angesichts der Vorgesetzten nicht unhöflich werden.

In meiner Verlegenheit, rasch dem Gespräch ein Ende zu bereiten, frage ich: »Na – habt’s noch Lust auf einen Tarock?«

Aber sofort wird ihr gutmütiges Schmunzeln zu breitem Lachen. »Hast schon so was gehört, Ferencz?« stupft ihn der Jozsi an, »jetzt um halber eins, wo die Bude schließt, möcht er noch einen Tarock anfangen!«

Und der Regimentsarzt lehnt sich zurück, faul und gemütlich: »Ja, ja, dem Glücklichen schlägt keine Stunde.«

Sie lachen und schmatzen noch ein bißchen an dem schalen Witz herum. Doch schon ist mit bescheidenem Drängen der Markeur Eugen herangetreten: Polizeistunde! Wir gehen – der Regen hat nachgelassen – zusammen bis zur Kaserne und schütteln dort einander zum Abschied die Hand. Ferencz klopft mir auf die Schulter. »Brav, daß d’ wieder einmal eingerückt bist«, und ich spüre, es kommt ihm vom Herzen. Warum war ich eigentlich so wütend auf sie? Sind doch einer wie der andere kreuzbrave, anständige Kerle ohne eine Spur von Neid und Unfreundlichkeit. Und wenn sie ein bissel Spaß mit mir machten, so haben sie’s nicht bös gemeint.



Sie haben es wahrhaftig nicht bös gemeint, die braven Jungen – aber doch, mit ihrem tölpischen Staunen und Raunen haben sie etwas unwiederbringlich in mir zerstört: meine Sicherheit. Denn bisher hatte jene sonderbare Beziehung zu den Kekesfalvas mein Selbstgefühl in einer wunderbaren Weise gesteigert. Ich hatte zum ersten Male in meinem Leben mich als der Gebende, als der Helfende gefühlt; nun wurde ich gewahr, wie die andern diese Beziehung sahen, oder vielmehr, wie man sie von außen, in Unkenntnis all der geheimen Zusammenhänge, unvermeidlich sehen mußte. Was konnten Fremde denn verstehen von dieser subtilen Lust des Mitleidens, der ich – ich kann es nicht anders sagen – wie einer dunklen Leidenschaft verfallen war. Für sie blieb es ausgemacht, daß ich mich einzig deshalb einnistete in dieses üppige, gastliche Haus, um mich reichen Leuten anzubiedern, ein Nachtmahl zu sparen und mir Geschenke zu holen. Dabei meinen sie’s innerlich nicht böse, sie gönnen mir, die guten Jungen, die warme Ecke, die schönen Zigarren; sie sehen zweifellos – und gerade das ärgert mich – nicht das geringste Unehrenhafte oder Unsaubere darin, daß ich mich von diesen »Wurzen« fêtieren und hofieren lasse, weil unsereiner, nach ihrer Auffassung, so einem Pfeffersack doch nur eine Ehre antut, wenn man als Kavallerieoffizier sich an seinen Tisch setzt; nicht die geringste Mißbilligung hatte dabei mitgespielt, wenn der Ferencz und der Jozsi jene goldene Zigarettendose bewunderten im Gegenteil, es hatte ihnen sogar einen gewissen Respekt eingeflößt, daß ich es verstand, meine Mäzene derart hochzunehmen. Aber was mich jetzt so sehr verdrießt, ist, daß ich selber an mir irre zu werden beginne. Führe ich mich denn nicht wirklich wie ein Schmarotzer auf? Darf ich als Offizier, als erwachsener Mensch mich Abend für Abend freihalten und hofieren lassen? Die goldene Tabatiere zum Beispiel, die hätte ich keinesfalls annehmen dürfen und ebensowenig den seidenen Schal, den sie mir jüngst umhängten, als es draußen so stürmte. Man läßt sich als Kavallerieoffizier keine Zigarren für den Nachhauseweg in die Tasche schieben, und – um Gottes willen, das muß ich morgen gleich Kekesfalva ausreden, – das mit dem Reitpferd! Jetzt fällt’s mir erst auf, daß er vorgestern etwas gemurmelt hat, mein brauner Wallach (den ich natürlich auf Raten abzahle) halte nicht gut Form, und damit hat er schließlich recht. Aber daß er mir aus seinem Gestüt einen Dreijährigen leihen will, einen famosen Renner, mit dem ich Ehre einlegen könne, das paßt mir nicht. Ja, »leihen« – ich verstehe schon, was das bei ihm heißt! So wie er Ilona eine Mitgift versprochen hat, nur damit sie bei dem armen Kind als Pflegerin durchhält, will er mich kaufen, mich bar bezahlen für mein Mitleid, für meine Späße, meine Gesellschafterei! Und ich einfältiger Mensch wäre beinahe darauf hereingefallen, ohne zu merken, daß ich mich damit zum Schmarotzer herabwürdige!

Unsinn, sage ich mir dann wieder und erinnere mich, wie erschüttert der alte Mann meinen Ärmel gestreichelt, wie jedesmal sein Gesicht hell wird, kaum daß ich die Tür hereintrete. Ich erinnere mich an die herzliche, brüderlich-schwesterliche Kameradschaft, die mich mit den beiden Mädchen verbindet; die achten gewiß nicht darauf, ob ich vielleicht ein Glas zuviel trinke, und wenn sie’s merken, so freut sie’s doch nur, daß ich’s mir bei ihnen wohl sein lasse. Unsinn, Irrsinn, wiederhole ich mir immer wieder, Unsinn – dieser alte Mann liebt mich mehr als mein eigener Vater.

Aber was hilft alles Sichzureden und Sichaufrichten, wenn einmal das innere Gleichgewicht ins Schwanken gekommen ist! Ich spüre: das Schmatzen und Staunen von Jozsi und Ferencz hat mir meine gute, meine leichte Unbefangenheit zerstört. Gehst du wirklich nur aus Mitleid, nur aus Mitgefühl zu diesen reichen Leuten, frage ich mich argwöhnisch? Steckt nicht auch ein gutes Stück Eitelkeit und Genießerei dahinter? Jedenfalls, da muß Klarheit geschaffen werden. Und als erste Maßnahme beschließe ich, von nun ab Pausen in meine Visiten einzuschalten und gleich morgen den üblichen Nachmittagsbesuch bei den Kekesfalvas zu unterlassen.




* * *


Ich bleibe also am nächsten Tage aus. Gleich nach Beendigung des Dienstes bummle ich mit Ferencz und Jozsi hinüber ins Café, wir lesen die Zeitung und beginnen dann den unvermeidlichen Tarock. Aber ich spiele verdammt schlecht, denn gerade mir gegenüber ist in der getäfelten Wand eine runde Uhr eingelassen: vier Uhr zwanzig, vier Uhr dreißig, vier Uhr vierzig, vier Uhr fünfzig, anstatt die Tarocke richtig mitzuzählen, zähle ich die Zeit. Halb fünf, da rücke ich gewöhnlich an zum Tee, alles steht gedeckt und bereit, und wenn ich mich einmal um eine Viertelstunde verspäte, so sagen und fragen sie schon: »Was war denn heute los?« So selbstverständlich ist mein pünktliches Kommen bereits geworden, daß sie damit wie mit einer Verpflichtung rechnen; seit zweieinhalb Wochen habe ich keinen Nachmittag versäumt, und wahrscheinlich blicken sie jetzt genau so unruhig wie ich selbst auf die Uhr und warten und warten. Ob sich’s nicht doch gehören würde, daß ich wenigstens hinaustelephonierte, um abzusagen? Oder vielleicht noch besser, ich schicke meinen Burschen …

»Aber Toni, das ist doch ein Skandal, was du heut zusamm’patzt. Paß doch anständig auf«, ärgerte sich der Jozsi und sieht mich ganz fuchtig an. Meine Zerstreutheit hat ihn ein Rekontra gekostet. Ich raffe mich zusammen.

»Sag, kann ich mit dir Platz tauschen?«

»Natürlich, aber warum denn?«

»Ich weiß nicht«, lüge ich, »ich glaube, der Lärm in der Bude hier macht mich so nervios.«

In Wirklichkeit ist es die Uhr, die ich nicht ansehen will, und ihr unerbittliches Vorrücken Minute um Minute. Ein kribbeliges Gefühl sitzt mir in den Nerven, immer wieder flattern mir die Gedanken weg, immer wieder bedrückt’s mich, ob ich nicht doch ans Telephon gehen und mich entschuldigen sollte. Zum erstenmal beginne ich zu ahnen, daß wirkliche Teilnahme sich nicht einschalten und abschalten läßt wie ein elektrischer Kontakt, und jedwedem, der teilnimmt an fremdem Schicksal, etwas genommen wird an Freiheit des eigenen.

Aber Kreuzteufel, fahre ich mich selber an, ich bin doch nicht verpflichtet, täglich die halbe Stunde weit hinauszustiefeln. Und gemäß dem geheimen Gesetz der Gefühlsverschränkung, demzufolge ein Geärgerter seinen Ärger unbewußt gegen ganz Unbeteiligte weitergibt wie eine Billardkugel den empfangenen Stoß, wendet sich meine Verstimmung statt gegen Jozsi und Ferencz gegen die Kekesfalvas. Sie sollen nur einmal auf mich warten! Sollen sehen, daß ich mit Geschenken und Liebenswürdigkeiten nicht zu kaufen bin, daß ich nicht auf die Stunde antrete wie der Masseur oder Turnlehrer. Nur kein Präjudiz schaffen, Gewohnheit verpflichtet, und ich will mich nicht festlegen. So versitze ich in meinem dummen Trotz dreieinhalb Stunden bis halb acht im Kaffeehaus, einzig um mir einzureden und zu beweisen, daß ich vollkommen frei bin, zu kommen und zu gehen, wann ich will, und daß mir das gute Essen und die noblen Zigarren der Kekesfalvas total gleichgültig sind.

Um halb acht Uhr machen wir uns zusammen auf. Ferencz hat einen kleinen Bummel über den Korso vorgeschlagen. Aber kaum daß ich hinter den beiden Freunden aus dem Kaffeehaus trete, streift mich ein bekannter Blick im raschen Vorübergehen an. Ist das nicht Ilona gewesen? Natürlich – selbst wenn ich das weinrote Kleid und den breiten bebänderten Panamahut nicht gerade vorgestern bewundert hätte, würde ich sie von rückwärts erkannt haben an dem weichen, wiegenden Hüftgang. Aber wohin eilt sie denn so hitzig? Das ist doch kein Promenierschritt, sondern eher Sturmlauf – jedenfalls dem hübschen Vogel nach, so geschwind er auch flattern mag!

»Pardon«, empfehle ich mich etwas brüsk von meinen verblüfften Kameraden und eile dem schon über die Straße wehenden Rock nach. Denn wirklich, ich freue mich unbändig über den Zufall, die Kekesfalvanichte einmal in meiner Garnisonswelt zu erwischen.

»Ilona, Ilona, stopp, stopp!« rufe ich ihr nach, die merkwürdig rasch geht; schließlich bleibt sie doch stehen, ohne dann im geringsten überrascht zu tun. Natürlich hat sie mich bei dem Vorüberstreifen längst bemerkt.

»Das ist famos, Ilona, daß ich Sie einmal in der Stadt erwische. Das hab ich mir schon lang gewünscht, einmal mit Ihnen spazierenzugehen in unserer Residenz. Oder wollen wir lieber noch auf einen Sprung hinein in die wohlbekannte Konditorei?«

»Nein, nein«, murmelt sie etwas verlegen. »Ich habe Eile, man erwartet mich zu Hause.«

»Nun, dann wird man eben fünf Minuten länger warten. Im ärgsten Fall, nur damit man Sie nicht ins Winkerl stellt, gebe ich Ihnen sogar einen Entschuldigungsbrief mit. Kommen Sie und blicken Sie nicht so bitter streng.«

Am liebsten würde ich sie unter dem Arm fassen. Denn ich freue mich ehrlich, gerade ihr, der Repräsentablen von den beiden, in meiner andern Welt zu begegnen, und wenn die andern, die Kameraden, mich mit ihr, der Bildhübschen, ertappen, um so besser! Aber Ilona bleibt nervös.

»Nein, ich muß wirklich nach Hause«, sagt sie hastig, »dort drüben wartet schon das Auto.« Und in der Tat, vom Rathausplatz her grüßt bereits respektvoll der Chauffeur.

»Aber wenigstens zum Auto darf ich Sie doch begleiten?«

»Natürlich«, murmelte sie merkwürdig fahrig. »Natürlich … übrigens … warum sind Sie denn heute nachmittag nicht gekommen?«

»Heute nachmittag?« frage ich mit Absicht langsam, als ob ich mich erinnern müsse. »Heute nachmittag? Ach ja, das war eine dumme Geschichte heute nachmittag. Der Oberst wollte sich ein neues Pferd kaufen und da mußten wir alle mitgehen, es anschauen und zureiten.« (In Wirklichkeit hatte sich das schon vor einem Monat abgespielt. Ich lüge wirklich schlecht).

Sie zögerte und will etwas erwidern. Aber warum zerrt sie am Handschuh, warum wippt sie so nervös mit dem Fuß? Dann sagt sie plötzlich hastig: »Wollen Sie nicht wenigstens jetzt mit mir hinaus zum Abendessen?«

Durchhalten, sage ich mir innerlich rasch. Nicht nachgeben! Wenigstens einmal einen einzigen Tag! So seufze ich bedauernd. »Wie schade, ich käme ja furchtbar gerne. Aber der heutige Tag ist schon ganz verknackst, wir haben abends eine gesellige Veranstaltung, und da darf ich nicht fehlen.«

Sie sah mich scharf an – merkwürdig, daß sich jetzt dieselbe ungeduldige Falte zwischen ihren Brauen spannt wie bei Edith – und sagt kein Wort, ich weiß nicht, ob aus bewußter Unhöflichkeit oder Geniertheit. Der Chauffeur öffnet ihr die Tür, sie schlägt sie krachend zu und fragt durch die Scheibe: »Aber morgen kommen Sie?«

»Ja, morgen bestimmt.« Und schon fährt das Auto los.

Ich bin nicht sehr zufrieden mit mir. Warum diese merkwürdige Eile Ilonas, diese Geniertheit, als fürchte sie sich, mit mir gesehen zu werden, und wozu dieses hitzige Losfahren? Und dann: wenigstens einen Gruß hätte ich höflicherweise mitschicken sollen an den Vater, irgendein nettes Wort an Edith, sie haben mir doch nichts getan! Aber anderseits bin ich auch zufrieden mit meiner reservierten Haltung. Ich habe standgehalten. Jetzt können sie wenigstens von mir nicht denken, daß ich mich ihnen aufdrängen will.



Obwohl ich Ilona zugesagt hatte, am nächsten Nachmittag zur gewohnten Stunde zu kommen, melde ich vorsichtigerweise meinen Besuch noch vorher telephonisch an. Besser strenge Formen einhalten, Formen sind Sicherungen. Ich will damit klarmachen, daß ich niemandem unerwünscht ins Haus falle, ich will von nun ab jedesmal anfragen, ob mein Besuch erwartet und gern erwartet ist. Das allerdings brauche ich diesmal nicht zu bezweifeln, denn der Diener wartet bereits vor der geöffneten Tür, und gleich beim Eintreten vertraut er mir mit dringlicher Beflissenheit an: »Das gnädige Fräulein sind auf der Turmterrasse und lassen Herrn Leutnant bitten, gleich hinaufzukommen.« Und er fügt hinzu: »Ich glaube, Herr Leutnant sind noch niemals oben gewesen. Herr Leutnant werden staunen, wie schön es dort ist.«

Er hat recht, der wackere alte Josef. Ich hatte wirklich noch nie jene Turmterrasse betreten, wiewohl dies merkwürdige und abstruse Gebäude mich oftmals interessiert hatte. Ursprünglich – ich sagte es bereits früher – der Eckturm eines längst zerfallenen oder abgerissenen Schlosses (selbst die Mädchen kannten die Vorgeschichte nicht genau), hatte dieser wuchtige vierkantige Turm durch Jahre hindurch leer gestanden und als Speicher gedient; während ihrer Kindheit war Edith zum Schrecken ihrer Eltern oftmals auf den ziemlich defekten Leitern emporgeklettert bis in den Dachraum, wo zwischen altem Gerümpel Fledermäuse schlaftrunken schwirrten und bei jedem Schritt über die alten vermorschten Balken Staub und Moder in dicker Wolke aufquoll. Aber das phantastisch veranlagte Kind hatte dieses unnütze Gemach, das von den verschmutzten Fenstern unbeschränkten Blick in die Ferne gab, gerade wegen seiner geheimnisvoll nutzlosen Art sich als eigenste Spielwelt und Versteck gewählt; und als dann das Unglück kam und sie nicht mehr hoffen durfte, jemals wieder mit ihren damals noch völlig unbeweglichen Beinen jene hochgelegenen romantischen Rumpelkammern zu erklimmen, fühlte sie sich wie beraubt; oft beobachtete der Vater, wie sie mit bitterem Blick hinaufsah zu diesem geliebten und plötzlich verlorenen Paradies ihrer Kinderjahre.

Um sie zu überraschen, nützte nun Kekesfalva die drei Monate, die Edith in einem deutschen Sanatorium verbrachte, um einen Wiener Architekten zu beauftragen, den alten Turm umzubauen und oben eine bequeme Aussichtsterrasse anzulegen; als Edith im Herbst nach kaum merkbarer Besserung ihres Zustandes zurückgebracht wurde, war der aufgestockte Turm bereits mit einem Lift versehen, breit wie der eines Sanatoriums, und der Kranken damit Gelegenheit gegeben, zu jeder Stunde im Rollstuhl zu dem geliebten Ausblick hinaufzufahren; die Welt ihrer Kindheit war ihr damit unvermutet zurückgewonnen.

Auf Stilreinheit war freilich der etwas eilige Architekt weniger bedacht gewesen als auf technische Bequemlichkeit; der nackte Kubus, welchen er dem schroffen, vierkantigen Turm aufgestülpt hatte, hätte mit seinen geometrisch geraden Formen viel eher in ein Hafendock oder zu einem Elektrizitätswerk als zu den behaglichen schnörkeligen Barockformen des wohl auf die Maria-Theresianische Zeit zurückreichenden Schlößchens gepaßt. Aber der wesentliche Wunsch des Vaters erwies sich als geglückt; Edith zeigte sich völlig begeistert von dieser Terrasse, die sie in unverhoffter Weise von der Enge und Einförmigkeit ihrer Krankenstube erlöste. Von diesem ihrem eigensten Aussichtsturm aus konnte sie mit Ferngläsern die weite tellerflache Landschaft überschauen, alles was im Umkreis geschah, Saat und Mahd, Geschäft und Geselligkeit. Nach endloser Abgeschiedenheit wieder mit der Welt verbunden, blickte sie stundenlang von dieser Warte auf das muntere Spielzeug der Eisenbahn, die mit ihrem kleinen Rauchkringel die Landschaft durchquerte, kein Wagen auf der Chaussee entging ihrer müßigen Neugier, und wie ich später erfuhr, hatte sie auch viele unserer Ausritte, Übungen und Paraden mit ihrem Teleskop begleitet. Aus einer merkwürdigen Eifersucht heraus hielt sie aber diesen ihren abseitigen Ausflugsplatz vor allen Hausgästen als ihre Privatwelt verborgen; erst an der impulsiven Begeisterung des treuen Josef merkte ich, daß die Einladung, diese sonst unzugängliche Warte zu betreten, als eine besondere Auszeichnung gewertet werden sollte.

Der Diener wollte mich mit dem eingebauten Lift hinaufführen; man sah ihm den Stolz an, daß dieses kostspielige Vehikel ihm zu alleiniger Führung anvertraut war. Aber ich lehnte ab, sobald er mir berichtete, daß außerdem noch eine kleine, von seitlichen Loggiendurchbrüchen in jedem Stockwerk erhellte Wendeltreppe zur Dachterrasse emporführe; ich malte mir gleich aus, wie anziehend es sein müßte, von Treppenabsatz zu Treppenabsatz die Landschaft sich immer weiter ins Ferne auffalten zu sehen; tatsächlich bot jede dieser schmalen unverglasten Luken ein neues bezauberndes Bild. Über dem sommerlichen Lande lag wie ein goldenes Gespinst ein windstiller, durchsichtig heißer Tag. In fast reglosen Ringen schnörkelte sich der Rauch über den Schornsteinen der verstreuten Häuser und Höfe, man sah – jede Kontur wie mit einem scharfen Messer aus dem stahlblauen Himmel geschnitten – die strohgedeckten Hütten mit ihrem unvermeidlichen Storchennest auf dem Giebel, und die Ententeiche vor den Scheunen blitzten wie geschliffenes Metall. Dazwischen in den wachsfarbenen Feldern liliputanisch winzige Figuren, weidende Kühe in gesprenkelten Farben, jätende und waschende Frauen, ochsengezogene schwere Gespanne und behend hinflitzende Wägelchen inmitten der sorgfältig rastrierten Felderkarrees. Als ich die etwa neunzig Stufen emporgestiegen war, umfaßte der Blick gesättigt die ganze Runde des ungarischen Flachlands bis an den leicht dunstigen Horizont, wo in der Ferne ein erhobener Streifen blaute, vielleicht die Karpathen, und zur Linken leuchtete zierlich zusammengedrängt unser Städtchen mit seinem zwiebligen Turm. Freien Auges erkannte ich unsere Kaserne, das Rathaus, das Schulhaus, den Exerzierplatz, zum erstenmal seit meiner Transferierung in diese Garnison empfand ich die anspruchslose Anmut dieser abseitigen Welt.

Aber mich gelassen dieser freundlichen Schau hinzugeben, ging nicht an, denn, bereits an die flache Terrasse emporgelangt, mußte ich mich bereitmachen, die Kranke zu begrüßen. Zunächst entdeckte ich Edith überhaupt nicht; der weiche Strohfauteuil, in dem sie ruhte, wandte mir seine breite Rücklehne zu, die wie eine bunte wölbige Muschel ihren schmalen Körper völlig verdeckte. Nur an dem danebenstehenden Tisch mit Büchern und dem offenen Grammophon gewahrte ich ihre Gegenwart. Ich zögerte, zu unvermittelt gegen sie vorzutreten; das konnte die Ruhende oder Träumende vielleicht erschrecken. So wanderte ich das Viereck der Terrasse entlang, um ihr lieber Auge in Auge entgegenzukommen. Aber da ich behutsam nach vorne schleiche, merke ich, daß sie schläft. Man hat den schmalen Körper sorgfältig eingebettet, eine weiche Decke um die Füße geschlagen, und auf einem weißen Kissen ruht, ein wenig zur Seite geneigt, das ovale, von rötlichblondem Haar umrahmte Kindergesicht, dem die schon sinkende Sonne einen bernsteingoldenen Schein von Gesundheit leiht.

Unwillkürlich bleibe ich stehen und nutze dies zögernde Warten, um die Schlafende wie ein Bild zu betrachten. Denn eigentlich habe ich bei unserem oftmaligen Beisammensein noch nie wirklich Gelegenheit gehabt, sie geradewegs anzuschauen, denn wie alle Empfindlichen und Überempfindlichen leistet sie einen unbewußten Widerstand, sich betrachten zu lassen. Auch wenn man sie nur zufällig im Gespräch anblickt, spannt sich sofort die kleine ärgerliche Falte zwischen den Brauen, die Augen werden fahrig, die Lippen nervös, nicht einen Augenblick gibt sich unbewegt ihr Profil. Nun erst, da sie mit geschlossenen Augen liegt, widerstandlos und reglos, kann ich (und ich habe das Gefühl eines Ungehörigen, eines Diebstahls dabei) das ein wenig eckige und gleichsam noch unfertige Antlitz betrachten, in dem sich Kindliches mit Fraulichem und Kränklichem auf die anziehendste Weise mischt. Die Lippen, leicht wie die eines Dürstenden aufgetan, atmen sacht, aber schon diese winzige Anstrengung hügelt und hebt ihre kindlich karge Brust, und wie erschöpft davon, wie ausgeblutet lehnt das blasse Gesicht, eingebettet in das rötliche Haar, in den Kissen. Ich trete vorsichtig näher. Die Schatten unter den Augen, die blauen Adern an den Schläfen, der rosige Durchschein der Nasenflügel verraten, mit wie dünner und farbloser Hülle die alabasterblasse Haut dem äußeren Andrang wehrt. Wie empfindlich muß man sein, denke ich mir, wenn so nah, so unbeschirmt die Nerven unter der Oberfläche pochen, wie unermeßlich leiden mit solch einem flaumleichten elfischen Leibe, der wie zum leichten Lauf geschaffen scheint, zu Tanz und Schweben, und dabei grausam der harten schweren Erde verkettet bleibt! Armes gefesseltes Geschöpf – abermals fühle ich das heiße Quellen von innen, jenen schmerzhaft erschöpfenden und gleichzeitig wild erregenden Aufschwall des Mitleids, der mich jedesmal übermannt, wenn ich an ihr Unglück denke; mir zittert die Hand vor Verlangen, ihr zart über den Arm zu streichen, mich hinzubeugen über sie und das Lächeln gleichsam wegzupflücken von ihren Lippen, falls sie aufwacht und mich erkennt. Ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, das sich bei mir dem Mitleid jedesmal beimengt, wenn ich an sie denke oder sie betrachte, drängt mich näher heran. Aber nicht diesen Schlaf stören, der sie weghält von sich selbst, von ihrer körperlichen Wirklichkeit! Gerade dies ist ja so wunderbar, Kranken während ihres Schlafes innig nahe zu sein, wenn alle Angstgedanken in ihnen gefangen sind, wenn sie so restlos ihr Gebrest vergessen, daß sich manchmal auf ihre halboffenen Lippen ein Lächeln niederläßt wie ein Schmetterling auf ein schwankes Blatt, ein fremdes, gar nicht ihnen selbst gehöriges Lächeln, das auch sofort wegschrickt beim ersten Erwachen. Welches Glück von Gott, denke ich mir, daß die Verkrüppelten, die Verstümmelten, die vom Schicksal Beraubten wenigstens im Schlaf nicht um Form oder Unform ihres Leibes wissen, daß der milde Betrüger Traum wenigstens dort ihnen ihre Gestalt in Schönheit und Ebenmaß vortäuscht, daß der Leidende zumindest in dieser einen, dunkel umrandeten Welt des Schlummers dem Fluch zu entfliehen vermag, in den er leiblich verkettet ist. Das Ergreifendste aber für mich sind die Hände, die über der Decke verkreuzt liegen, matt durchäderte, langgestreckte Hände mit zerbrechlich schmalen Gelenken und spitz zugeformten, etwas bläulichen Nägeln – zarte, ausgeblutete, machtlose Hände, gerade vielleicht noch stark genug, kleine Tiere zu streicheln, Tauben und Kaninchen, aber zu schwach, etwas festzuhalten, etwas zu fassen. Wie kann man, denke ich mir erschüttert, mit solch ohnmächtigen Händen sich gegen wirkliches Leiden wehren? Wie irgend etwas erkämpfen und fassen und halten? Und es widert mich fast, wenn ich an meine eigenen Hände denke, diese festen, schweren, muskulösen, starken Hände, die mit einem Zügelriß das unbotmäßigste Pferd bändigen können. Gegen meinen Willen muß mein Blick nun auch auf die Decke hinabstarren, die zottig und schwer, viel zu schwer für dies vogelleichte Wesen, auf ihren spitzen Knien lastet. Unter dieser undurchsichtigen Hülle liegen tot – ich weiß nicht, ob zerschmettert, gelähmt oder bloß geschwächt, ich habe nie den Mut gehabt, zu fragen – die ohnmächtigen Beine in jene stählerne oder lederne Maschinerie gespannt. Bei jeder Bewegung, erinnere ich mich, hängt sich schwer wie Kettenkugeln diese grausame Apparatur an die versagenden Gelenke, unablässig hat sie dies Widrige klirrend und knirschend mit sich zu schleppen, sie, die Zarte, die Schwächliche, gerade sie, von der man fühlt, daß ihr Schweben und Laufen und Sichaufschwingen natürlicher wäre als Gehen!

Unwillkürlich schauere ich zusammen bei dem Gedanken, und so stark rinnt und rieselt der Riß bis zu den Sohlen, daß die Sporen klingelnd aufzittern. Es kann nur ein ganz minimales, ein kaum hörbares Geräusch gewesen sein, dies silberne Klirren und Klingeln, aber es scheint ihren dünnen Schlaf durchdrungen zu haben. Noch öffnet die beunruhigt Aufatmende nicht die Lider, aber die Hände beginnen bereits aufzuwachen: lose falten sie sich auseinander, dehnen sich, spannen sich; als ob die Finger im Aufwachen gähnten. Dann blinzeln versucherisch die Lider, und befremdet tasten die Augen um sich.

Plötzlich entdeckt mich ihr Blick und wird sofort starr; noch hat der Kontakt vom bloß optischen Schauen nicht hinübergezündet zum gewußten Denken und Erinnern. Aber dann ein Ruck, und sie ist völlig erwacht, sie hat mich erkannt; mit purpurnem Guß stürzt ihr das Blut in die Wangen, vom Herzen mit einem Stoß hochgepumpt. Wieder ist es, als schüttete man in ein kristallenes Glas plötzlich roten Wein.

»Wie dumm«, sagt sie mit scharf zusammengezogenen Brauen und rafft mit einem nervösen Griff die abgesunkene Decke näher an sich, als hätte ich sie nackt überrascht. »Wie dumm von mir! Ich muß einen Augenblick eingeschlafen sein.« Und schon beginnen – ich kenne das Wetterzeichen – die Nasenflügel leise zu zucken. Herausfordernd sieht sie mich an.

»Warum haben Sie mich nicht sofort aufgeweckt? Man beobachtet einen nicht im Schlaf! Das gehört sich nicht. Jeder Mensch sieht lächerlich aus, wenn er schläft.«

Peinlich berührt, sie mit meiner Rücksicht verärgert zu haben, versuche ich, mich in einen dummen Scherz hinüberzuretten. »Besser lächerlich, während man schläft«, sage ich, »als lächerlich, wenn man wach ist.«

Aber schon hat sie sich mit beiden Armen höher die Lehne emporgestemmt, die Falte zwischen den Brauen schneidet tiefer, jetzt beginnt auch um die Lippen das wetterleuchtende Flattern und Flackern. Scharf springt ihr Blick mich an.

»Warum sind Sie gestern nicht gekommen?«

Der Stoß ist zu unerwartet losgefahren, als daß ich gleich antworten könnte. Aber schon wiederholt sie inquisitorisch:

»Nun, Sie werden doch eine besondere Ursache gehabt haben, uns einfach sitzen und warten zu lassen. Sonst hätten Sie wenigstens abtelephoniert.«

Dummkopf, der ich bin! Gerade diese Frage hätte ich doch voraussehen und im voraus mir eine Antwort zurechtlegen sollen! Statt dessen trete ich verlegen von einem Fuß auf den andern und kaue an der altbackenen Ausrede herum, wir hätten plötzlich Remonteninspektion bekommen. Noch um fünf Uhr hätte ich gehofft, wegpaschen zu können, aber der Oberst hätte uns allen dann noch ein neues Pferd vorführen wollen, und so weiter und so weiter.

Ihr Blick, grau, streng und scharf, weicht nicht von mir. Je umständlicher ich schwätze, um so argwöhnischer spitzt er sich zu. Ich sehe, wie die Finger an der Lehne auf und nieder zucken.

»So«, antwortet sie schließlich ganz kalt und hart. »Und wie endet diese rührende Geschichte von der Remonteninspektion? Hat es der Herr Oberst schließlich gekauft, das funkelnagelneue Pferd?«

Ich spüre bereits, daß ich mich gefährlich verrannt habe. Ein-, zwei-, dreimal schlägt sie mit ihrem losen Handschuh auf den Tisch, als wollte sie eine Unruhe in den Gelenken loswerden. Dann blickt sie drohend auf.

»Schluß jetzt mit dieser dummen Lügerei! Kein einziges Wort von all dem ist wahr. Wie können Sie wagen, mir solchen Unsinn aufzutischen?«

Heftig und heftiger klatscht der lose Handschuh gegen die Tischplatte. Dann schleudert sie ihn entschlossen im Bogen weg.

»Kein Wort ist wahr von Ihrer ganzen Faselei! Kein Wort! Sie sind nicht in der Reitschule gewesen, Sie haben keine Remonteninspektion gehabt. Schon um halb fünf sind Sie im Kaffeehaus gesessen, und dort reitet man meines Wissens keine Pferde zu. Machen Sie mir nichts vor! Unser Chauffeur hat Sie ganz zufällig noch um sechs beim Kartenspiel gesehen.«

Mir stockt noch immer das Wort. Aber sie unterbricht sich brüsk:

»Übrigens, wozu brauch ich mich vor Ihnen zu genieren? Soll ich, weil Sie die Unwahrheit sagen, vor Ihnen Verstecken spielen? Ich fürchte mich ja nicht, die Wahrheit zu sagen. Also, damit Sie es wissen – nein, nicht durch Zufall hat Sie unser Chauffeur im Kaffeehaus gesehen. Sondern ich hab ihn eigens hineingeschickt, um nachzufragen, was mit Ihnen los ist. Ich dachte, Sie seien am Ende krank oder es sei Ihnen was zugestoßen, weil Sie nicht einmal telephoniert haben, und … nun, bilden Sie sich meinetwegen ein, daß ich nervös bin … ich vertrag es eben nicht, daß man mich warten läßt … ich vertrag’s einfach nicht … so hab ich den Chauffeur hineingeschickt. Aber in der Kaserne hat er gehört, Herr Leutnant tarockierten wohlbehalten im Kaffeehaus, und da hab ich dann noch Ilona gebeten, sich zu erkundigen, warum Sie uns derart brüskieren … ob ich Sie vielleicht vorgestern mit etwas beleidigt habe … ich bin ja manchmal wirklich unverantwortlich in meiner blöden Hemmungslosigkeit … So – damit Sie’s sehen – ich schäme mich nicht, Ihnen das alles einzugestehen … Und Sie kramen solche einfältigen Ausreden aus – spüren Sie nicht selbst, wie schäbig das ist, unter Freunden so miserabel zu lügen?«

Ich wollte antworten – ich glaube, ich hatte sogar den Mut, ihr die ganze dumme Geschichte von Ferencz und Jozsi zu erzählen. Aber ungestüm befiehlt sie:

»Keine neuen Erfindungen jetzt … nur keine neuen Unwahrheiten, ich ertrag keine mehr! Mit Lügen bin ich überfüttert bis zum Erbrechen. Von früh bis abends löffelt man sie mir ein: ›Wie gut du heute aussiehst, wie famos du heute marschierst … großartig, es geht schon viel, viel besser‹ – immer dieselben Beruhigungspillen von früh bis abends, und keiner merkt, daß ich daran ersticke. Warum sagen Sie nicht kerzengrad: Ich habe gestern keine Zeit, keine Lust gehabt. Wir haben doch kein Abonnement auf Sie und nichts hätt mich mehr gefreut, als wenn Sie mir durchs Telephon hätten sagen lassen: ›Ich komm heut nicht hinaus, wir bummeln lieber in der Stadt lustig herum.‹ Halten Sie mich für so albern, daß ich’s nicht verstehen sollte, wie Ihnen das manchmal über sein muß, hier tagtäglich den barmherzigen Samariter zu spielen, und daß ein erwachsener Mann lieber herumreitet oder seine gesunden Beine spazierenführt, statt an einem fremden Lehnstuhl herumzuhocken? Nur eins ist mir widerlich und eins ertrag ich nicht: Ausreden und Schwindel und Lügereien – damit bin ich eingedeckt bis an den Hals. Ich bin nicht so dumm, wie ihr alle meint, und kann schon einen guten Brocken Aufrichtigkeit vertragen. Sehen Sie, vor ein paar Tagen kriegten wir eine neue böhmische Aufwaschfrau ins Haus, die alte war gestorben, und am ersten Tag – sie hatte noch mit niemandem gesprochen – merkt sie, wie man mir mit meinen Krücken hinüberhilft in den Fauteuil. Im Schreck läßt sie die Schrubbürste fallen und schreit laut: ›Jeschusch, so ein Unglück, so ein Unglück! Ein so reiches, so vornehmes Fräulein … und ein Krüppel!‹ Wie eine Wilde ist Ilona auf die ehrliche Person losgefahren; gleich wollten sie die Arme entlassen und wegjagen. Aber mich, mich hat das gefreut, mir hat ihr Schrecken wohlgetan, weil es eben ehrlich, weil es menschlich ist, zu erschrecken, wenn man unvorbereitet so was sieht. Ich hab ihr auch sofort zehn Kronen geschenkt, und gleich ist sie in die Kirche gelaufen, um für mich zu beten … Den ganzen Tag hat’s mich noch gefreut, ja, faktisch gefreut, endlich einmal zu wissen, was ein fremder Mensch wirklich empfindet, wenn er mich zum erstenmal sieht … Aber ihr, ihr meint immer, mit eurer falschen Feinheit mich ›schonen‹ zu müssen, und bildet euch ein, daß ihr mir am End’ noch wohltut mit eurer verfluchten Rücksicht … Aber meint ihr, ich hab keine Augen im Kopf? Meint ihr, ich spür nicht hinter eurem Geschwätz und Gestammel das gleiche Grausen und Unbehagen heraus wie bei jener braven, jener einzig ehrlichen Person? Glaubt ihr, ich merk’s nicht, wie es euch mitten in den Atem fährt, wenn ich die Krücken anfaß, und wie ihr hastig Konversation forciert, nur daß ich nichts merke – als ob ich euch nicht durch und durch kennte mit eurem Baldrian und Zucker, Zucker und Baldrian, diesem ganzen ekelhaften Geschleim … Oh, ich weiß haargenau, daß ihr jedesmal aufatmet, wenn ihr die Tür wieder hinter euch habt und mich liegen laßt wie einen Kadaver … genau weiß ich’s, wie ihr dann augenverdreherisch seufzt ›Das arme Kind‹, und gleichzeitig doch höchst zufrieden seid mit euch selbst, da ihr so schonungsvoll eine Stunde, zwei Stunden dem ›armen kranken Kind‹ geopfert habt. Aber ich will keine Opfer! Ich will nicht, daß ihr euch verpflichtet glaubt, mir die tägliche Portion Mitleid zu servieren – ich pfeif auf allergnädigstes Mitgefühl – ein für allemal – ich verzichte auf Mitleid! Wenn Sie kommen wollen, dann kommen Sie, und wenn Sie nicht wollen, dann eben nicht! Aber ehrlich dann und keine Geschichten von Remonten und Pferdeausprobiererei! Ich kann … ich kann die Lügerei und euer ekelhaftes Geschone nicht mehr ertragen!«

Ganz unbeherrscht hat sie die letzten Worte herausgestoßen, brennend die Augen, fahl das Gesicht. Dann löst sich mit einemmal der Krampf. Wie erschöpft fällt der Kopf an die Lehne, und erst allmählich füllt wieder Blut die von der Erregung noch zitternden Lippen.

»So«, atmet sie ganz leise und wie beschämt. »Das mußte einmal gesagt sein! Und jetzt erledigt! Reden wir nicht weiter davon. Geben Sie mir … geben Sie mir eine Zigarette.«

Nun geschieht mir etwas Sonderbares. Ich bin doch sonst leidlich beherrscht und habe feste, sichere Hände. Aber dieser unvermutete Ausbruch hat mich derart erschüttert, daß ich alle Glieder wie gelähmt fühle; nie hat mich irgend etwas in meinem Leben so bestürzt gemacht. Mühsam hole ich eine Zigarette aus der Dose, reiche sie hinüber und zünde ein Streichholz an. Aber beim Hinüberreichen zittern mir die Finger dermaßen, daß ich das brennende Zündhölzchen nicht gerade zu halten vermag und die Flamme im Leeren zuckt und verlischt. Ich muß ein zweites Streichholz anzünden; auch dieses schwankt unsicher in meiner zitternden Hand, ehe es ihre Zigarette entflammt. Sie aber muß unverkennbar an der augenfälligen Ungeschicklichkeit meine Erschütterung wahrgenommen haben, denn es ist eine ganz andere, eine staunend beunruhigte Stimme, mit der sie mich leise fragt:

»Aber was haben Sie denn? Sie zittern ja … Was … was erregt Sie denn so? … Was geht Sie denn das alles an?«

Die kleine Flamme des Streichhölzchens ist erloschen. Ich habe mich stumm gesetzt, und sie murmelt ganz betroffen: »Wie können Sie sich denn so aufregen über mein dummes Geschwätz? … Papa hat recht: Sie sind wirklich ein … ein sehr merkwürdiger Mensch.«

In diesem Augenblick flirrt hinter uns ein leises Surren. Es ist der Lift, der zu unserer Terrasse herauffährt. Johann öffnet den Verschlag, und heraus tritt Kekesfalva mit jener schuldbewußten, scheuen Art, die ihm unsinnigerweise immer die Schultern niederdrückt, sobald er sich der Kranken nähert.




* * *


Ich stehe schleunigst auf, um den Eintretenden zu begrüßen. Er nickt befangen und beugt sich gleich über Edith, um ihr die Stirn zu küssen. Dann entsteht ein merkwürdiges Schweigen. Alle spüren ja alles von allen in diesem Haus; zweifellos muß der alte Mann gefühlt haben, daß eben eine gefährliche Spannung zwischen uns beiden schwingt; so steht er mit gesenkten Augen beunruhigt herum. Am liebsten, ich merke es, flüchtete er gleich wieder zurück. Edith versucht zu helfen.

»Denk dir, Papa, der Herr Leutnant hat heute zum erstenmal die Terrasse gesehen.«

Und »Ja, wunderschön ist es hier«, sage ich, sofort peinlich bewußt werdend, daß ich etwas beschämend Banales ausspreche, und stocke schon wieder. Um die Befangenheit zu lösen, beugt sich Kekesfalva über den Fauteuil.

»Ich fürchte, es wird hier bald zu kühl für dich. Wollen wir nicht lieber hinunter?«

»Ja«, antwortet Edith. Wir sind alle froh, dadurch ein paar ablenkende nichtige Beschäftigungen zu finden; die Bücher zusammenzupacken, ihr den Shawl umzulegen, mit der Glocke zu schellen, deren eine hier wie auf jedem Tisch dieses Hauses bereitliegt. Nach zwei Minuten surrt der Fahrtstuhl hoch und Josef rollt den Fauteuil mit der Gelähmten behutsam hin bis zum Schacht.

»Wir kommen gleich hinunter«, winkt ihr Kekesfalva zärtlich nach, »vielleicht machst du dich zum Abendessen zurecht. Ich kann unterdes mit dem Herrn Leutnant noch ein bißchen im Garten Spazierengehen.«

Der Diener schließt die Tür des Lifts; wie in eine Gruft sinkt der Rollstuhl mit der Gelähmten in die Tiefe. Unwillkürlich haben der alte Mann und ich uns abgewendet. Wir schweigen beide, aber mit einem Mal spüre ich, daß er sich mir ganz zaghaft nähert.

»Wenn es Ihnen recht ist, Herr Leutnant, möchte ich gerne etwas mit Ihnen besprechen … das heißt, Sie um etwas bitten … Vielleicht gehen wir hinüber in mein Büro drüben im Verwaltungsgebäude … ich meine natürlich nur, falls es Ihnen nicht lästig ist … Sonst … sonst können wir natürlich auch im Park spazierengehen.«

»Aber es ist mir doch nur eine Ehre, Herr von Kekesfalva«, antworte ich. In diesem Augenblick surrt der Lift zurück, um uns abzuholen. Wir fahren hinab, schreiten quer über den Hof zum Verwaltungsgebäude; mir fällt auf, wie vorsichtig, wie sehr an die Wand gedrückt Kekesfalva am Haus entlangschleicht, wie schmal er sich macht, als fürchte er, ertappt zu werden. Unwillkürlich – ich kann ja nicht anders – gehe ich mit ebenso leisen, vorsichtigen Schritten hinter ihm her.

Am Ende des niederen und nicht sehr sauber gekalkten Verwaltungsgebäudes öffnet er eine Tür; sie führt in sein Kontor, das sich als nicht viel besser eingerichtet erweist als mein eigenes Kasernenzimmer: ein billiger Schreibtisch, morsch und verbraucht, alte verfleckte Strohsessel, an der Wand ein paar alte, offenbar seit Jahren unbenutzte Tabellen über der zerschlissenen Tapete. Auch der muffige Geruch erinnert mich mißlich an unsere eigenen ärarischen Büros. Schon mit dem ersten Blick – wieviel habe ich verstehen gelernt in diesen wenigen Tagen! erkenne ich, daß dieser alte Mann allen Luxus, alle Bequemlichkeit einzig auf sein Kind häuft und für sich selber spart wie ein knickriger Bauer; zum erstenmal habe ich auch, da er mir vorausging, bemerkt, wie abgestoßen sein schwarzer Rock an den Ellbogen glänzt; wahrscheinlich trägt er ihn schon seit zehn oder fünfzehn Jahren.

Kekesfalva schiebt mir den breiten, schwarzledernen Bocksessel des Kontors hin, den einzig bequemen. »Setzen Sie sich, Herr Leutnant, bitte setzen Sie sich«, sagt er mit einem gewissen zärtlich eindringlichen Ton, während er sich selbst, ehe ich zugreifen kann, bloß einen der fragwürdigen Strohsessel heranholt. Nun sitzen wir hart aneinander, er könnte, er sollte jetzt beginnen, und ich warte darauf mit einer begreiflichen Ungeduld, denn was kann er, der reiche Mann, der Millionär, mich armseligen Leutnant zu bitten haben. Aber hartnäckig hält er den Kopf gesenkt, als betrachtete er angelegentlich seine Schuhe. Nur den Atem höre ich aus der vorgeneigten Brust. Er geht gepreßt und schwer.

Endlich hebt Kekesfalva die Stirn, sie ist feucht überperlt, nimmt die angehauchte Brille ab, und ohne diesen blitzenden Schutz wirkt sein Gesicht sofort anders, gleichsam nackter, ärmer und tragischer; wie oft bei Kurzsichtigen erscheinen seine Augen viel stumpfer und müder als unter dem verstärkenden Glas. Auch meine ich an den leicht entzündeten Lidrändern zu erkennen, dieser alte Mann schläft wenig und schlecht. Wieder spüre ich jenes warme Quellen innen – das Mitleid, ich weiß es jetzt schon, bricht vor. Mit einmal sitze ich nicht mehr dem reichen Herrn von Kekesfalva gegenüber, sondern einem alten sorgenvollen Mann.

Aber jetzt setzt er räuspernd an: »Herr Leutnant« – die eingerostete Stimme gehorcht ihm noch immer nicht – »ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten … Ich weiß natürlich, ich habe kein Recht, Sie zu bemühen, Sie kennen uns ja kaum … übrigens, Sie können auch ablehnen … selbstverständlich können Sie ablehnen … Vielleicht ist es eine Anmaßung von mir, eine Zudringlichkeit, aber ich habe vom ersten Augenblick an zu Ihnen Vertrauen gehabt. Sie sind, man spürt das gleich, ein guter, ein hilfreicher Mensch. Ja, ja, ja« – ich mußte eine abwehrende Bewegung gemacht haben – »Sie sind ein guter Mensch. Es ist etwas in Ihnen, das einen sicher macht, und manchmal … habe ich das Gefühl, als ob Sie mir geschickt wären von …« – er stockte, und ich spürte, er wollte sagen, »von Gott« und hatte nur nicht den Mut dazu – »geschickt wären als jemand, zu dem ich ehrlich sprechen kann … Es ist übrigens nicht viel, um das ich Sie bitten möchte … aber ich rede so weiter und weiter und frag Sie gar nicht, ob Sie mir zuhören wollen.«

»Aber gewiß.«

»Ich danke Ihnen … wenn man alt ist, braucht man einen Menschen nur anzusehen und kennt ihn durch und durch … Ich weiß, was ein guter Mensch ist, ich weiß es durch meine Frau, Gott hab sie selig … Das war das erste Unglück, wie sie mir weggestorben ist, und doch, heut sag ich mir, vielleicht war es besser, daß sie das Unglück mit dem Kind nicht hat mitansehen müssen … sie hätte es nicht ertragen. Wissen Sie, wie das anfing vor fünf Jahren … da glaubte ich zuerst nicht dran, daß das lange so bleiben könnte … Wie soll man sich vorstellen können, daß da ein Kind ist wie alle andern und läuft und spielt und saust wie ein Kreisel herum … und plötzlich soll das vorbei sein, für immer vorbei … Und dann, man ist doch aufgewachsen mit einer Ehrfurcht vor den Ärzten … in der Zeitung liest man, was für Wunder sie wirken können, Herzen können sie vernähen und Augen umpflanzen, heißt es … Da mußte doch unsereins überzeugt sein, nicht wahr, daß sie das Einfachste können, was es gibt … daß sie einem Kind … einem Kind, das gesund geboren ist, das immer ganz gesund gewesen war, rasch wieder aufhelfen. Deshalb war ich am Anfang gar nicht sehr erschrocken, denn ich glaubte doch nie daran, nicht einen Augenblick glaubte ich daran, daß Gott so etwas tun könne, daß er ein Kind, ein unschuldiges Kind, für immer schlägt … Ja, wenn es mich getroffen hätte – mich haben meine Beine lang genug herumgetragen. Was brauch ich sie noch … und dann, ich war kein guter Mensch, viel Schlechtes habe ich getan, ich hab auch … Aber was, was sagte ich eben? … Ja … ja also, wenn es mich getroffen hätte, das hätt ich begriffen. Doch wie kann Gott so daneben schlagen auf den Unrechten, den Unschuldigen … und wie soll unsereins begreifen, daß an einem lebendigen Menschen, an einem Kind, die Beine plötzlich tot sein sollen, weil so ein Nichts, ein Bazillus, haben die Ärzte gesagt, und meinen, sie hätten etwas damit gesagt … Aber das ist doch nur ein Wort, eine Ausrede, und das andere, das ist wirklich, daß ein Kind daliegt, auf einmal sind ihm die Glieder starr, es kann nicht mehr gehen und sich nicht mehr regen und man selber steht wehrlos dabei … Das kann man doch nicht begreifen.«

Er wischte sich heftig mit dem Handrücken den Schweiß von dem angenäßten, verwirrten Haar. »Natürlich habe ich alle Ärzte befragt … wo nur einer von den Berühmten war, sind wir zu ihm gefahren … alle habe ich sie mir kommen lassen, und sie haben doziert und lateinisch geredet und diskutiert und Konsilien gehalten, der eine hat das versucht und der andere das, und dann haben sie gesagt, sie hoffen und sie glauben, und haben ihr Geld genommen und sind gegangen und alles ist geblieben, wie es war. Das heißt, etwas besser ist es geworden, eigentlich schon bedeutend besser. Früher hat sie immer flach auf dem Rücken liegen müssen und der ganze Leib war gelähmt … jetzt sind doch wenigstens die Arme, ist der Oberkörper normal, und sie kann allein an ihren Krücken gehn … etwas besser, nein, viel besser, ich darf nicht ungerecht sein, ist es geworden … Aber ganz geholfen hat ihr noch keiner … Alle haben die Achseln gezuckt und gesagt: Geduld, Geduld, Geduld … Nur einer hat ausgehalten mit ihr, einer, der Doktor Condor … ich weiß nicht, ob Sie je von ihm gehört haben. Sie sind doch aus Wien.«

Ich mußte verneinen. Ich hatte den Namen nie gehört.

»Natürlich, wie sollen Sie ihn kennen, Sie sind ja ein gesunder Mensch, und er gehört nicht zu denen, die von sich viel Wesens machen … er ist auch gar nicht Professor, nicht einmal Dozent … ich glaub auch nicht, daß er eine gute Praxis hat … das heißt, er sucht keine große Praxis. Er ist eben ein merkwürdiger, ein ganz besonderer Mensch … ich weiß nicht, ob ich’s Ihnen recht erklären kann. Ihn interessieren nicht die gewöhnlichen Fälle, nicht, was jeder Bader behandeln kann … ihn interessieren nur die schweren Fälle, nur die, an denen die andern Ärzte mit Achselzucken vorübergehen. Ich kann natürlich nicht, ich ungebildeter Mensch, behaupten, daß Doktor Condor ein besserer Arzt ist als die andern … nur das weiß ich, daß er ein besserer Mensch ist als die andern. Ich hab ihn zum erstenmal kennengelernt, damals, bei meiner Frau, und gesehen, wie er gekämpft hat um sie … Er war der einzige, der bis zum letzten Augenblick nicht nachgeben wollte, und damals hab ich’s gespürt – dieser Mensch lebt und stirbt mit jedem Kranken mit. Er hat, ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke … er hat eben irgendeine Passion, stärker zu sein als die Krankheit … nicht wie die andern bloß den Ehrgeiz, sein Geld zu kriegen und Professor und Hofrat zu werden … er denkt eben nicht von sich aus, sondern von dem andern her, von dem Leidenden … oh, er ist ein wunderbarer Mensch!«

Der alte Mann war ganz in Erregung geraten, seine Augen, eben noch müde, bekamen einen heftigen Glanz.

»Ein wunderbarer Mensch, sage ich Ihnen, der läßt niemanden im Stich; für ihn ist jeder Fall eine Verpflichtung … ich weiß, ich kann das nicht richtig ausdrücken … aber es ist bei ihm so, als ob er sich jemand schuldig fühlte, wenn er nicht helfen kann … selber schuldig fühlte … und darum – Sie werden’s mir nicht glauben, aber ich schwör Ihnen, es ist wirklich wahr – das eine Mal, wie ihm nicht gelungen ist, was er sich vorgenommen hat … er hatte einer Frau, die erblindete, versprochen, er bringe sie durch … und wie sie dann wirklich erblindet ist, hat er diese Blinde geheiratet, denken Sie sich, als junger Mensch eine blinde Frau, sieben Jahre älter als er, nicht schön und ohne Geld, eine hysterische Person, die jetzt auf ihm lastet und ihm gar nicht dankbar ist … Nicht wahr, das zeigt doch, was für ein Mensch das ist, und Sie verstehen, wie glücklich ich bin, so jemanden gefunden zu haben … einen Menschen, der sich sorgt um mein Kind wie ich selber. Ich hab ihn auch eingesetzt in meinem Testament … wenn einer, wird er ihr helfen, Gott geb es! Gott gebe es!«

Der alte Mann hielt beide Hände zusammengepreßt wie im Gebet. Dann rückte er mit einem Ruck näher heran.

»Und nun hören Sie, Herr Leutnant. Ich wollte Sie doch um etwas bitten. Ich sagte Ihnen schon, was für ein anteilnehmender Mensch dieser Doktor Condor ist … Aber sehen Sie, verstehen Sie … gerade, daß er so ein guter Mensch ist, das beunruhigt mich auch … Ich fürchte immer, verstehen Sie … ich fürchte, daß er aus Rücksicht auf mich mir nicht die Wahrheit sagt, nicht die ganze Wahrheit … Immer verspricht und vertröstet er, es würde bestimmt besser, ganz gesund würde das Kind werden … aber immer, wenn ich ihn genau frage, wann denn, und wie lange wird es noch dauern, dann weicht er aus und sagt bloß: Geduld, Geduld! Aber man muß doch eine Gewißheit haben … ich bin ein alter, ein kranker Mann, ich muß doch wissen, ob ich’s noch erlebe und ob sie überhaupt gesund wird, ganz gesund … nein, glauben Sie mir, Herr Leutnant, ich kann nicht mehr so leben … ich muß wissen, ob es sicher ist, daß sie geheilt wird und wann … ich muß es wissen, ich ertrag diese Unsicherheit nicht länger.«

Er stand auf, überwältigt von seiner Erregung, und trat mit drei hastig-heftigen Schritten ans Fenster. Ich kannte das nun schon an ihm. Immer wenn ihm die Tränen in die Augen stiegen, rettete er sich in dieses brüske Wegwenden. Auch er wollte kein Mitleid – weil er ihr doch ähnlich war! Ungeschickt tastete zugleich seine rechte Hand in die rückwärtige Rocktasche des tristen schwarzen Jacketts, knüllte ein Tuch heraus; und vergeblich, daß er dann so tat, als hätte er sich nur den Schweiß von der Stirne gewischt: ich sah zu deutlich die geröteten Lider. Einmal, zweimal ging er im Zimmer auf und nieder; es stöhnte und stöhnte, ich wußte nicht, waren es die abgemorschten Balken unter seinem Schritt oder war er es selbst, der morsche, alte Mann. Dann holte er wie ein Schwimmer vor dem Abstoß wieder Atem.

»Verzeihen Sie … ich wollte nicht davon sprechen … was wollte ich? Ja … morgen kommt Doktor Condor wieder aus Wien, er hat sich telephonisch angesagt … er kommt immer regelmäßig jede zwei oder drei Wochen, um nachzuschauen … Wenn’s nach mir ginge, ließe ich ihn überhaupt nicht weg … er könnte doch hier wohnen im Haus, jeden Preis würde ich ihm zahlen. Aber er sagt, er braucht eine gewisse Distanz in der Beobachtung, um … eine gewisse Distanz, um … ja … was wollte ich sagen? … Ich weiß schon … also morgen kommt er und wird nachmittags Edith untersuchen; er bleibt dann jedesmal zum Abendessen und fährt nachts mit dem Schnellzug zurück. Und nun hab ich mir gedacht, wenn jemand ihn so ganz zufällig fragte, jemand ganz Fremder, ein Unbeteiligter, jemand, den er gar nicht kennt … ihn fragte so … so ganz zufällig, wie man sich eben nach einem Bekannten erkundigt … ihn fragte, was das eigentlich auf sich hat mit der Lähmung und ob er meint, daß das Kind überhaupt noch je gesund wird, ganz gesund … hören Sie: ganz gesund, und wie lang er glaubt, daß es dauert … ich habe das Gefühl, Sie wird er nicht anlügen … Sie braucht er doch nicht zu schonen. Ihnen kann er doch ruhig die Wahrheit sagen … bei mir hält ihn vielleicht was zurück, ich bin der Vater, bin ein alter, kranker Mann, und er weiß, wie es mir das Herz zerreißt … Aber natürlich dürfen Sie ihn nicht merken lassen, daß Sie mit mir gesprochen haben … ganz zufällig müssen Sie darauf zu sprechen kommen, so wie man eben bei einem Arzt sich erkundigt … Wollen Sie … würden Sie das für mich tun?«

Wie sollte ich mich weigern? Vor mir saß mit schwimmenden Augen der alte Mann und wartete auf mein Ja wie auf die Posaune des Jüngsten Gerichts. Selbstverständlich versprach ich ihm alles. Mit einem Ruck stießen mir seine beiden Hände entgegen.

»Ich habe es gleich gewußt … schon damals, als Sie wiederkamen und so gut waren mit dem Kind, nach … nun, Sie wissen ja … da habe ich gleich gewußt, das ist ein Mensch, der mich versteht … der und nur der wird ihn für mich fragen und … ich versprech’s Ihnen, ich schwör’s Ihnen, niemand wird vorher und nachher davon erfahren, nicht Edith, nicht Condor, nicht Ilona … nur ich werde wissen, was für einen Dienst, was für einen ungeheuren Dienst Sie mir erwiesen haben.«

»Aber wieso denn, Herr von Kekesfalva … das ist doch wirklich nur eine Kleinigkeit.«

»Nein, das ist keine Kleinigkeit … das ist ein sehr großer … ein ganz großer Dienst, den Sie mir erweisen … ein ganz großer Dienst, und wenn …« – er duckte sich ein wenig und auch die Stimme kroch gleichsam scheu zurück – »… wenn ich meinerseits einmal etwas … etwas für Sie tun könnte … vielleicht haben Sie …«

Ich mußte eine erschreckte Bewegung gemacht haben (wollte er mich gleich bezahlen?), denn er fügte in jener stammeligen Art, die bei ihm jedesmal starke Erregung begleitete, hastig hinzu:

»Nein, mißverstehen Sie mich nicht … ich meine doch … ich meine nichts Materielles … ich meine nur … ich meine … ich habe gute Verbindungen … ich kenne eine Menge Leute in den Ministerien, auch im Kriegsministerium … und es ist doch immer gut, wenn man heutzutage jemanden hat, auf den man zählen kann … nur so mein ich’s natürlich … Es kann für jeden ein Augenblick kommen … nur das … nur das wollte ich sagen.«

Die scheue Verlegenheit, mit der er mir seine Hände anbot, beschämte mich. Die ganze Zeit über hatte er mich nicht ein einziges Mal angeblickt, sondern immer hinab wie zu seinen eigenen Händen gesprochen. Jetzt erst sah er unruhig auf, tastete nach der abgelegten Brille und nestelte sie mit zitternden Fingern an.

»Vielleicht wär’s besser«, murmelte er dann, »wir gehen jetzt hinüber, sonst … sonst fällt es Edith auf, daß wir so lange fortbleiben. Man muß leider furchtbar behutsam mit ihr sein; seit sie krank ist, hat sie … hat sie irgendwie schärfere Sinne bekommen, die andere nicht haben; von ihrem Zimmer her weiß sie alles, was im Haus vorgeht … alles errät sie, eh man’s recht ausgesprochen hat … Da könnte sie am Ende … darum möchte ich vorschlagen, wir gehen hinüber, ehe sie Verdacht schöpft.«

Wir gingen hinüber. Im Salon wartete Edith bereits in ihrem Rollstuhl. Als wir eintraten, hob sie ihren grauen, scharfen Blick, als wollte sie unseren etwas verlegen gesenkten Stirnen ablesen, was wir beide gesprochen. Und da wir keinerlei Andeutung machten, blieb sie den ganzen Abend auffällig einsilbig und in sich gekehrt.




* * *


Als eine »Kleinigkeit« hatte ich Kekesfalva gegenüber jenen Wunsch bezeichnet, den mir noch unbekannten Arzt möglichst unbefangen über die Genesungsmöglichkeiten der Gelähmten auszukundschaften, und von außen her betrachtet war mir damit wirklich nur eine unbeträchtliche Bemühung auferlegt. Aber ich vermag schwer zu schildern, wieviel dieser unvermutete Auftrag mir persönlich bedeutete. Nichts erhöht ja in einem jungen Menschen dermaßen das Selbstbewußtsein, nichts fördert derart die Formung seines Charakters, als wenn er unerwartet sich vor eine Aufgabe gestellt sieht, die er ausschließlich aus eigener Initiative und eigener Kraft zu bewältigen hat. Selbstverständlich war mir schon früher Verantwortung zugefallen, aber immer war es eine dienstliche, eine militärische gewesen, immer bloß eine Leistung, die ich als Offizier auf Befehl meiner Vorgesetzten und im Rahmen eines eng umschriebenen Wirkungskreises durchzuführen hatte; etwa eine Schwadron zu kommandieren, einen Transport zu führen, Pferde einzukaufen, Streitigkeiten der Mannschaft zu schlichten. All diese Befehle und ihre Durchführung aber standen innerhalb der ärarischen Norm. Sie waren gebunden an geschriebene oder gedruckte Instruktionen, und im Zweifelsfall brauchte ich nur einen älteren und erfahreneren Kameraden um Rat anzugehen, um mich meines Mandats verläßlich zu entledigen. Die Bitte Kekesfalvas dagegen sprach nicht den Offizier in mir an, sondern jenes mir noch ungewisse innere Ich, dessen Fähigkeit und Leistungsgrenzen ich erst zu entdecken hatte. Und daß dieser fremde Mensch gerade mich in seiner Not unter allen seinen Freunden und Bekannten auswählte, dieses Vertrauen beglückte mich mehr als jedes bisher erhaltene dienstliche oder kameradschaftliche Lob.

Allerdings, dieser Beglückung war auch eine gewisse Bestürzung verschwistert, denn sie offenbarte mir neuerdings, wie stumpf und lässig bisher meine Anteilnahme gewesen. Wie hatte ich Wochen und Wochen in diesem Haus verkehren können, ohne die natürlichste, die selbstverständlichste Frage zu fragen: wird diese Arme dauernd gelähmt bleiben? Kann die ärztliche Kunst nicht eine Heilung finden für diese Schwächung der Glieder? Unerträgliche Schande: nicht ein einziges Mal hatte ich mich bei Ilona, bei ihrem Vater, bei unserem Regimentsarzt erkundigt; fatalistisch hatte ich die Tatsache des Lahm-seins als Faktum hingenommen; wie ein Schuß fuhr darum die Unruhe, die den Vater seit Jahren quälte, in mich hinein. Wie, wenn jener Arzt dieses Kind wirklich von seinen Leiden erlösen könnte! Wenn diese armen gefesselten Beine wieder frei ausschreiten könnten, wenn dies von Gott betrogene Geschöpf einmal wieder hinwehen könnte im Lauf, treppauf, treppab, dem eigenen Lachen nachschwingend, beglückt und beseligt! Wie ein Rausch überfiel mich diese Möglichkeit; lustvoll war es, auszudenken, wie wir dann zu zweit, zu dritt zu Pferd über die Felder sprengen würden, wie sie, statt mich in ihrem Gefängnisraum zu erwarten, schon am Tor mich begrüßen und auf Spaziergängen begleiten könnte. Ungeduldig zählte ich jetzt die Stunden, um jenen fremden Arzt möglichst bald auszukundschaften, ungeduldiger vielleicht als Kekesfalva selbst; keine Aufgabe innerhalb meines eigenen Lebens war mir je so wichtig gewesen.

Früher als sonst (ich hatte mich eigens freigemacht) erschien ich darum am nächsten Tage. Diesmal empfing mich Ilona allein. Der Arzt aus Wien sei gekommen, erklärte sie mir, er sei jetzt bei Edith und scheine sie diesmal besonders gründlich zu untersuchen. Zweieinhalb Stunden sei er schon da, und wahrscheinlich würde Edith dann zu müde sein, um noch herüberzukommen; ich müßte diesmal mit ihr allein vorliebnehmen – das heißt, fügte sie bei, wenn ich nichts Besseres vorhätte.

Aus dieser Bemerkung ersah ich zu meiner Freude (es macht immer eitel, ein Geheimnis nur zu zweit zu wissen), daß Kekesfalva sie nicht in unsere Vereinbarung eingeweiht hatte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Wir spielten Schach, um die Zeit zu vertreiben, und es dauerte noch eine gute Weile, ehe die ungeduldig erwarteten Schritte sich im Nebenzimmer hören ließen. Endlich traten Kekesfalva und Doktor Condor in lebhaftem Gespräch herein, und ich mußte hart an mich halten, eine gewisse Betroffenheit zu unterdrücken, denn mein erster Eindruck, als ich diesem Doktor Condor gegenüberstand, war der einer großen Enttäuschung. Immer arbeitet ja, wenn uns von einem Menschen, den wir noch nicht kennen, viel und Interessantes berichtet wird, unsere visuelle Phantasie sich im voraus ein Bild aus und verwendet dazu verschwenderisch ihr kostbarstes, ihr romantischestes Erinnerungsmaterial. Um mir einen genialen Arzt, als den Kekesfalva mir Condor doch geschildert hatte, vorzustellen, hatte ich mich an jene schematischen Merkmale gehalten, mit Hilfe derer der Durchschnittsregisseur und Theaterfriseur den Typus »Arzt« auf die Szene stellt: durchgeistigtes Antlitz, scharf und durchdringend das Auge, überlegen die Haltung, blitzend und geistreich das Wort – rettungslos fallen wir ja immer wieder dem Wahn anheim, die Natur zeichne besondere Menschen durch eine besondere Prägung schon für den ersten Blick aus. Einen peinlichen Magenstoß empfand ich darum, als ich mich unversehens vor einem untersetzten, dicklichen Herrn, kurzsichtig und glatzköpfig, den zerdrückten grauen Anzug mit Asche bestäubt, die Krawatte schlecht gebunden, zu verbeugen hatte; statt des vorgeträumten, scharf diagnostizierenden Blicks kam mir hinter einem billigen Stahlkneifer ein ganz lässiger und eher schläfriger entgegen. Noch ehe Kekesfalva mich vorgestellt hatte, reichte Condor mir eine kleine, feuchte Hand und wandte sich bereits wieder weg, um beim Rauchtisch eine Zigarette anzuzünden. Faul reckte er die Glieder.

»So, da wären wir. Aber daß ich’s Ihnen gleich gestehe, lieber Freund, ich habe einen furchtbaren Hunger; es wäre famos, wenn wir bald zu essen kriegten. Falls das Diner noch nicht funktioniert, kann mir Josef vielleicht irgend eine Kleinigkeit vorausschicken, ein Butterbrot oder was immer.« Und, breit sich niederlassend im Fauteuil: »Jedesmal vergeß ich von neuem, daß grad dieser Nachmittagsschnellzug keinen Speisewagen hat. Wieder einmal eine echt österreichische Staatsgleichgültigkeit …« Und: »Ah, bravo«, unterbrach er sich, als der Diener die Schiebetür des Speisezimmers zurückschob, »auf deine Pünktlichkeit kann man sich verlassen, Josef. Dafür werd ich auch eurem Herrn Oberkoch Ehre antun. Ich bin heut durch die verdammte Hetzerei nicht einmal dazugekommen, Mittag zu essen.«





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Психологический роман австрийского писателя Стефана Цвейга «Нетерпение сердца» – это трагическая история о неразделенной любви между 17-летней дочерью богатого венгерского землевладельца Эдит фон Кекешфальвой, прикованной к инвалидной коляске, и молодым австрийским лейтенантом Антоном Гофмиллером. Может ли сострадание, малодушное и сентиментальное, спасти близкого человека, или же «благими намерениями вымощена дорога в ад»? Почему сердце, так страстно и искренне полюбившее, не дождалось своей счастливой судьбы? К каким серьезным последствиям приведут трусость и предательство, и сможет ли совесть все забыть и предать забвению?

Как и в лучших новеллах автора, в романе мастерски описываются психологические тонкости, благодаря которым раскрываются чувства и поступки главных героев.

Книга издана в неадаптированной версии. Наслаждайтесь единственным завершенным романом Стефана Цвейга в оригинале!

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