Книга - Wenn Sie Sähe

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Wenn Sie Sähe
Blake Pierce


Ein Kate Wise Mystery #2
Ein Meisterwerk von Thriller und Mystery. Auf großartige Art und Weise hat Blake Pierce seine Charaktere entwickelt, und dabei deren psychologischen Seiten so präzise beschrieben, dass wir uns in deren Gedankenwelt einfinden und ihren Ängsten und ihren Erfolgserlebnissen folgen können. Dieses Buch ist so reich an unerwarteten Wendungen, dass es Sie bis tief in die Nacht wachhalten wird, bis zur letzten Seite. Buch- und Film-Kritiken, Roberto Mattos (über Once Gone) WENN SIE SÄHE (Ein Kate Wise Mystery) ist das zweite Buch in der neuen psychologischen Krimireihe von Bestseller Autor Blake Pierce, dessen Nummer 1 Bestseller Once Gone (Buch Nr. 1) (erhältlich als gratis Download) mehr als eintausend 5-Sterne-Kritiken erhalten hat. Kate Wise, eine fünfundfünfzigjährige FBI-Agentin im Ruhestand, deren Tochter schon aus dem Haus ist, wird aus ihrem ruhigen Vorstadtleben gerissen, als ein Pärchen ermordet aufgefunden wird und es keine offensichtlichen Verdächtigen gibt. Das FBI kann nicht auf Kates brillanten Scharfsinn und ihre Fähigkeit, sich in die Gedankenwelt von Serienkillern hineinzuversetzen verzichten und bittet sie, einen schwierigen Fall zu lösen. Warum wurden zwei Pärchen 80 Kilometer voneinander entfernt auf dieselbe Art und Weise ermordet aufgefunden? Was könnte sie verbinden?Die Zeit drängt, denn Kate ist sich sicher, dass der Killer erneut zuschlagen wird. Aber als Kate in ein tödliches Katze-und-Maus-Spiel verwickelt wird, währenddessen sie sich in die dunklen Gedanken der Killers einfühlt, realisiert sie, dass sie vielleicht zu spät gekommen ist. Dieser actionreiche Thriller wird Ihr Herz schneller schlagen und Sie das Buch bis spät in die Nacht nicht aus der Hand legen lassen. Buch Nr. 3 in der KATE WISE MYSTERY Serie kann ab sofort vorbestellt werden.







Wenn sie sähe



(Ein Kate Wise Mystery – Buch 2)



Blake Pierce


Blake Pierce



Blake Pierce ist der Autor der zwölfteiligen RILEY PAGE Mystery-Bestsellerserie (Fortsetzung in Arbeit). Blake Pierce hat außerdem die MACKENZIE WHITE Mystery-Serie, bestehend aus neun Büchern (Fortsetzung in Arbeit), die AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus sechs Büchern (Fortsetzung in Arbeit) und die KERI LOCKE Mystery-Serie, bestehend aus fünf Büchern, die KATE WISE Mystery-Serie, bestehend aus zwei Büchern (Fortsetzung in Arbeit), die CHLOE FINE Psychothriller, bestehend aus zwei Büchern (Fortsetzung in Arbeit) und die JESSE HUNT Psychothriller, die aus drei Büchern besteht (Fortsetzung in Arbeit), geschrieben.

Als leidenschaftlicher Leser und langjähriger Fan von Mystery- und Thriller-Romanen freut sich Blake Pierce, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie www.blakepierceauthor.com (http://www.blakepierceauthor.com) für weitere Infos.



Copyright © 2018 Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Außer durch Genehmigung gemäß U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung des Autors vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt oder in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E-Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit des Autors respektieren. Dieses Buch ist Fiktion. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind vom Autor frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Jacket Image Copyright und reiuc88, unter der Lizenz von Shutterstock.com.


DEUTSCHE BÜCHER VON BLAKE PIERCE



JESSIE HUNT PSYCHO-THRILLER SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Buch 1)

DER PERFEKTE BLOCK (Buch 2)



CHLOE FINE PSYCHO-THRILLER-SERIE

NEBENAN (Buch 1)

DIE LÜGE EINES NACHBARN (Buch 2)

SACKGASSE (Buch 3)



KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WÜSSTE (Buch 1)

WENN SIE SÄHE (Buch 2)



DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Buch 1)

WARTET (Buch 2)

LOCKT (Buch 3)



RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Buch 1)

GEFESSELT (Buch 2)

ERSEHNT (Buch 3)

GEKÖDERT (Buch 4)

GEJAGT (Buch 5)

VERZEHRT (Buch 6)

VERLASSEN (Buch 7)

ERKALTET (Buch 8)

VERFOLGT (Buch 9)

VERLOREN (Buch 10)

BEGRABEN (Buch 11)

ÜBERFAHREN (Buch 12)

GEFANGEN (Buch 13)

RUHEND (Buch 14)



MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TÖTET (Buch 1)

BEVOR ER SIEHT (Buch 2)

BEVOR ER BEGEHRT (Buch 3)

BEVOR ER NIMMT (Buch 4)

BEVOR ER BRAUCHT (Buch 5)

EHE ER FÜHLT (Buch 6)

EHE ER SÜNDIGT (Buch 7)

BEVOR ER JAGT (Buch 8)

VORHER PLÜNDERT ER (Buch 9)

VORHER SEHNT ER SICH (Buch 10)



AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Buch 1)

LAUF (Buch 2)

VERBORGEN (Buch 3)

GRÜNDE DER ANGST (Buch 4)

RETTE MICH (Buch 5)

ANGST (Buch 6)



KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Buch 1)

EINE SPUR VON MORD (Buch 2)

EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Buch 3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Buch 4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Buch 5)


INHALT



PROLOG (#u022c16e0-3112-5468-ac3c-416f42a43804)

KAPITEL EINS (#u4a44973f-7711-5e7a-8b32-e8435047f361)

KAPITEL ZWEI (#u5937d1b5-0657-5ec1-9c4f-04aea5d5d82c)

KAPITEL DREI (#ua450fd85-73ee-53aa-b57c-a3edf6289cc8)

KAPITEL VIER (#u004e5dfb-166f-59d0-bde5-f67cab2fb853)

KAPITEL FÜNF (#u7332e183-7d9d-52c7-ae79-47ba23930f56)

KAPITEL SECHS (#ue7cf9309-b165-5a8c-a565-ae01426277bb)

KAPITEL SIEBEN (#uce2452c3-e5db-59a5-ae41-98913994dcbb)

KAPITEL NEUN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ELF (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWÖLF (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL FÜNFZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)




PROLOG


Als sie aufwuchs, hatte Olivia es nicht für möglich gehalten, tatsächlich einmal gerne zuhause zu sein. Wie die meisten Teenager hatte sie während ihrer Jahre an der High School davon geträumt, von zuhause wegzukommen, aufs College zu gehen und sich ein eigenes Leben aufzubauen. Sie hatte ihren Plan umgesetzt und hatte Whip Springs, Virginia, verlassen, um die University of Virginia zu besuchen. Jetzt war sie in ihrem ersten Jahr, der Sommer, der reif an Jobs war und an dessen Ende die Suche nach einem eigenen Apartments stand, begann gerade. Olivia lebte gerne auf dem Campus, aber sie meinte, dass es als Senior an der Zeit war, anderswo in der Stadt zu wohnen.

Im Moment allerdings war sie für einen vollen Monat wieder bei ihren Eltern in Whip Springs. Und die Erleichterung und der Anflug von Liebe, die sie verspürte, als sie auf die Auffahrt ihrer Eltern fuhr, wären ihr zu Highschooljahren unverzeihlich erschienen. Sie lebten in einer Nebenstraße von Whip Springs – ein kleines, verschlafenes Städtchen mit weniger als fünftausend Einwohnern im Herzen Virginias. Zu allen Seiten war es von Wald umgeben, der sich auch auf Whip Springs erstreckte.

Es wurde dunkel, als sie auf die Auffahrt fuhr. Sie hatte erwartet, dass ihre Mutter für sie das Außenlicht angeschaltet hatte, aber kein Lichtschein beleuchtete die Haustür. Ihre Mutter wusste, dass sie kam. Sie hatten vor zwei Tagen telefoniert und drei Stunden zuvor hatte Olivia ihr sogar per SMS mitgeteilt, dass sie unterwegs war.

Allerdings hatte ihre Mutter nicht zurückgeschrieben, was untypisch für sie war. Aber Olivia meinte, dass sie wahrscheinlich schuftete, um ihr Kinderzimmer auf Vordermann zu bringen und darüber vergessen hatte, zu antworten.

Als Olivia sich dem Haus näherte, fiel ihr nicht nur auf, dass das Außenlicht nicht brannte, sondern auch, dass im ganzen Haus kein Licht brannte. Sie wusste, dass sie zuhause waren; beide Autos waren da. Das ihrer Mutter parkte direkt hinter dem ihres Vaters, genauso, wie immer, solange Olivia zurückdenken konnte.

Wenn sie eine Willkommen-Zuhause-Überraschungsparty für mich schmeißen, muss ich bestimmt losheulen, dachte Olivia, als sie neben dem Wagen ihrer Mutter parkte.

Sie ließ den Kofferraum aufschnappen und holte ihr Gepäck, das nur aus zwei Koffern bestand, von denen einer eine Tonne wog. Sie schleppte sie den Weg entlang auf die Veranda. Ihr letzter Besuch lag fast ein Jahr zurück und sie hatte fast vergessen, wie abgeschieden das Haus lag. Die dichtesten Nachbarn waren nur einige hundert Meter entfernt, aber die umliegenden Bäumen ließen das Haus vollkommen isoliert erscheinen… vor allem im Vergleich zu den vollen Schlafsälen der Uni.

Sie zerrte die Koffer die Stufen hoch und streckte die Hand nach der Klingel aus. Dabei fiel ihr auf, dass die Tür ein wenig offen stand.

Plötzlich erschien ihr die Tatsache, dass drinnen keinerlei Licht brannte, unheimlich – wie eine Warnung. „Mama? Papa?“, rief sie und stieß die Tür mit dem Fuß auf.

Sie schwang auf und gab damit den Blick auf den Eingangsbereich und den kleinen Flur, den sie so gut kannte, frei. Drinnen war es tatsächlich dunkel. Doch als sie trotz ihrer steigenden Angst eintrat, war sie sogleich beruhigt. Von irgendwo im Haus hörte sie den Fernseher – das bekannte Ding und den Applaus beim Glücksrad – ein Klang, der zu diesem Haus gehörte, so weit Olivia zurückdenken konnte.

Als sie das Ende des Flurs und das Wohnzimmer erreichte, sah sie das Glücksrad auf dem Bildschirm des wahrlich großen Fernsehers, der über dem Kamin angebracht war und der einem das Gefühl gab, als stünde Pat Sajak direkt hier im Zimmer.

„Hallo, Leute“, sagte Olivia und schaute sich in dem dunklen Raum um. „Vielen Dank, dass ihr mir mit meinem Gepäck geholfen habt. Die Tür offen zu lassen war wirklich…“

Es sollte witzig sein, aber hier war plötzlich nichts mehr witzig.

Ihre Mutter befand sich auf der Couch. Wäre da nicht all das Blut gewesen, hätte sie ausgesehen, als schliefe sie. Ihre Brust war voller Blut, und viel davon war in den Teppich gesickert. Da war so viel Blut, dass Olivia es zuerst nicht begriff. Dass dabei das Glücksrad im Hintergrund lief, ließ alles noch viel unwirklicher erscheinen.

„Mama…“

Olivia meinte, dass ihr Herz stehenbliebe. Während die Realität sie langsam einholte, ging sie langsam rückwärts aus dem Wohnzimmer. Es war, als ob ihre Gedanken sich von ihr losgelöst hatten und im Raum umher schwebten.

Während sie sich zurückzog, formte ihr Zunge ein weiteres Wort – Papa.

In dem Moment sah sie ihn. Er lag direkt dort auf dem Boden vor dem Wohnzimmertisch und war so voller Blut wie ihre Mutter. Er lag mit dem Gesicht nach unten, bewegungslos. Es sah aus, als hatte er wegkrabbeln wollen.

Während Olivia versuchte, all dies zu verarbeiten, erblickte sie mindestens sechs Stichwunden an seinem Rücken.

Endlich verstand sie, warum ihre Mutter ihre SMS nicht beantwortet hatte. Ihre Mutter war tot. Und ihr Vater auch.

Sie spürte einen Schrei in sich aufsteigen, als sie versuchte, sich aus ihrer Starre zu lösen. Ihr war klar, dass der Täter noch immer hier sein konnte. Bei dem Gedanken löste sich der Schrei in ihrer Kehle, die Tränen kamen, und ihre Beine erwachten aus ihrer Starre.

Olivia raste aus dem Haus und rannte – und rannte – und rannte, bis sie nicht mehr schreien konnte.




KAPITEL EINS


Es war erstaunlich, wie schnell sich Kate Wises Einstellung änderte. Während ihres ersten Jahres in Rente hatte sie gärtnern gehasst. Gärtnern, stricken, Bridge Clubs – selbst Buchclubs – waren ihr zuwider. Das waren die typischen Klischees dessen, was pensionierte Frauen taten.

Aber die Monate, seit sie „wieder im Sattel saß“, hatten etwas verändert. Sie war nicht so naiv zu glauben, dass sie nunmehr eine andere Person war. Nein, es hatte sie einfach belebt. Sie hatte wieder eine Aufgabe, einen Grund, sich auf den nächsten Tag zu freuen.

Vielleicht war es deshalb für sie in Ordnung, sich die Zeit mit gärtnern zu vertreiben. Es war nicht entspannend, wie sie es sich vorgestellt hatte. Wenn überhaupt, dann erfüllte es sie mit Ungeduld. Warum die Zeit und Energie investieren, etwas zu pflanzen, wenn man gegen das Wetter arbeitete, um die Pflanze amLeben zu halten. Trotzdem erfüllte es sie irgendwie mit Freude – etwas zu pflanzen und es gedeihen zu sehen.

Sie hatte mit Blumen begonnen – mit Stiefmütterchen und Bougainvilleas. Dann hatte sie rechts hinten in der Ecke ein Gemüsegärtchen angelegt. Hier schaufelte sie gerade Erde über eine Tomatenpflanze und dachte darüber nach, dass sie keinerlei Interesse am gärtnern gehabt hatte, bevor sie Großmutter geworden war.

Sie fragte sich, ob es mit dem hegenden und pflegenden Charakterzug zu tun hatte. Von Freunden und aus Büchern wusste sie, dass das Großmuttersein neues in einem hervorbringen konnte – dass man dies als Mutter nicht nachempfinden konnte.

Ihre Tochter Melissa bescheinigte ihr, eine gute Mutter zu sein. Diese Bestätigung tat ihr hin und wieder gut, vor allem in Lichte dessen, wie sie ihre Karriere zugebracht hatte. Zugegebermaßen war ihr ihre Karriere viel zu lange wichtiger gewesen als ihre Familie und sie war froh, dass Melissa sie deshalb niemals verachtet hatte, abgesehen von einer Zeit nach dem Verlust ihres Vaters.

Das ist das Negative am gärtnern, dachte Kate, als sie aufstand und sich Hände und Knie abklopfte. Die Gedanken wandern. Und dann kommt einem die Vergangenheit wieder hoch.

Sie durchquerte den Garten ihres Hauses, das in Richmond, Virginia, stand und betrat ihre hintere Veranda. An der Hintertür stieg sie sorgfältig aus ihrem mit Erde beschmierten Gartenarbeitsschuhen heraus, legte ihre Handschuhe daneben, damit sie keinen Schmutz ins Haus trug. Die letzten zwei Tage hatte sie mit Hausputz zugebracht. Heute Abend babysittete sie ihre Enkelin Michelle, und obwohl Melissa keinen Sauberkeitsfimmel hatte wollte Kate das Haus blitzsauber haben. Es war fast dreißig Jahre her, seit sie sich in Gesellschaft eines Babys befunden hatte und wollte kein Risiko eingehen.

Sie blickte auf die Uhr und verzog das Gesicht. In fünfzehn Minuten erwartete sie Besuch. Das war noch etwas, was ihr am gärtnern nicht gefiel; dass einem die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt.

Im Bad machte sie sich frisch und setzte dann in der Küche frischen Kaffee. Er war halb durchgelaufen, als es an der Haustür klingelte. Sie öffnete sofort und freute sich, die beiden Frauen zu sehen, mit denen während der letzten anderthalb Jahre mindestens zweimal die Woche einige Stunden verbrachte.

Jane Patterson trat zuerst ein, in der Hand ein Tablett mit Kuchen. Ihre Kuchen waren selbstgebacken, und Jane hatte nun schon zweimal hintereinander den Carytown Cooks Wettbewerb gewonnen. Hinter ihr trat Clarissa James mit einer großen Schüssel voll frischem Obst ein. Beide trugen sie Outfits, die gut zu einem Brunch bei einer Freundin oder zum Shoppen passten, etwas, womit sie einiges an Zeit verbrachten.

„Du hast wieder gegärtnert, oder?“, meinte Clarissa, als sie ihr Essen auf der Kücheninsel abstellte.

„Woher weißt du das?“, fragte Kate.

Clarissa wies auf Kates Haare, die zu den Spitzen hin mit Erde verklebt waren. Kate griff nach hinten und hatte die verklebten Strähnen in der Hand. Ihre Hände ertasteten die Erde, die darin klebte und sowohl Clarissa als auch Jane lachten, als sie die Frischhaltefolie vom Kuchen nahm.

„Lacht, soviel ihr wollt“, meinte Kate. „Das wird euch noch vergehen, wenn die Tomatensträucher erstmal Früchte tragen.

Es war Freitag morgens, und allein diese Tatsache machte es zu einem guten Morgen. Die drei Frauen saßen auf Barhockern um Kates Kücheninsel herum, verzehrten ihr Brunch und tranken Kaffee. Und während die Gesellschaft, das Essen und der Kaffee gut waren, war es schwer zu ignorieren, dass jemand fehlte.

Debbie Meade gehörte nicht mehr zu ihrer kleinen Gruppe. Sie und ihr Ehemann Jim waren weggezogen, nachdem ihre Tochter umgebracht worden war. Sie war eins der drei Opfer eines Killers gewesen, den Kate zur Strecke gebracht hatte. Debbie und ihr Mann lebten nun in Strandnähe in North Carolina. Hin und wieder schickte Debbie Bilder vom Meer – um die anderen aus Spaß zu piesacken. Seit zwei Monaten lebten sie nun dort und schienen glücklich, und imstande, die Tragödie hinter sich zu lassen.

Die Gespräche waren meist fröhlicher, leichter Natur. Jane erzählte, dass ihr Mann mit seiner Pensionierung im nächsten Jahr liebäugelte und plante, ein Buch zu schreiben. Clarissa erzählte von ihren beiden Kindern, die Mitte zwanzig waren, dass beide in ihren Jobs befördert worden waren.

„Apropos Kinder“, sagte Clarissa, „wie geht es denn Melissa? Geht sie voll auf in ihrer Mutterrolle?“

„Oh ja“, meinte Kate. „Sie ist natürlich wahnsinnig vernarrt in ihr kleines Töchterchen. Ein Töchterchen, das ich übrigens heute Abend zum ersten Mal babysitten werd.“

„Zum ersten Mal?“, fragte Jane.

„Ja. Melissa und Terry gehen zum ersten Mal ohne die Kleine aus, so richtig mit Übernachtung.“

„Und wie sieht es bei dir selbst aus, gehst du jetzt in deiner neuen Rolle als Großmutter auf?“

„Das weiß ich noch nicht sor recht“, sagte Kate. „Das wird sich dann wohl heute Abend herausstellen.“

„Weißt du“, meinte Jane, „du könntest babysitten wie ich damals während meiner Zeit in der High-School. Sobald die Kinder im Bett waren, kam mein Freund heimlich vorbei, und…“

„An sowas möchte ich nicht einmal denken“, rief Kate aus.

„Meinst du, Allen wäre für so etwas zu haben?“, fragte Clarissa.

„Keine Ahnung“, meinte Kate und versuchte sich Allen mit einem Baby vorzustellen. Sie waren ein Paar, seit Kate und ihr neuer Partner DeMarco den Fall der Serienmorde hier in Richmond gelöst hatten – der Fall, der auch Debbies Tochter das Leben gekostet hatte. Allen und sie sprachen nicht über die Zukunft, sie waren noch nicht einmal zusammen im Bett gewesen und nur wurden selten überhaupt intim. Sie war gern mit ihm zusammen, konnte sich aber nicht vorstellen, ihn an ihrem Leben und ihrem Großmutterdasein teilhaben zu lassen.

„Läuft es noch gut mit euch beiden?“, fragte Clarissa.

„Ich glaube, schon. Diese ganze Beziehungskiste kommt mir irgendwie komisch vor. Ich fühle mich dafür irgendwie etwas zu alt.“

„Ach was!“, entgegnete Jane. „Versteh mich nicht falsch… ich liebe meinen Mann, ich liebe meine Kinder und ich liebe mein Leben ganz allgemein. Aber ich würde so gern mal wieder mit einem anderen Mann ausgehen. Ich vermisse es, neue Leute kennenzulernen, erste Küsse…“

„Ja, das hat schon was“, meinte Kate. „Allen kommt es allerdings auch ein wenig merkwürdig vor, wieder eine Beziehung zu haben. Wir haben viel Spaß, wenn wir zusammen sind, aber… es ist schon merkwürdig, wenn Sex dann da mit reinspielt.“

„Ja, ja…“, sagte Clarissa. „Aber sieht du ihn als deinen Freund an?“

„Müssen wir da jetzt wirklich drüber reden?“, fragte Kate und bemerkte, dass sie errötete.

„Oh ja, allerdings müssen wir das“, sagte Clarissa. „Wir alten Frauen fiebern doch mit dir mit.“

„Und das gilt auch für deinen Job“, fügte Jane hinzu. „Wie geht es eigentlich damit?“

„Ich habe seit zwei Wochen keinen Anruf bekommen, und beim letzten Mal ging es auch nur um Recherche. Sorry, Mädels, es ist beim besten Willen nicht so aufregend, wie ihr scheinbar gehofft habt.“

„Das heißt, du bist jetzt wieder Rentnerin?“, fragte Clarissa.

„Im Grunde ja. Es ist irgendwie alles kompliziert.“

Damit war der Fragerei ein Ende gesetzt, und sie unterhielten sich wieder über lokale Themen – über Filme, die bald ins Kino kommen sollten, über das Musikfestival, den Bau der neuen Autobahn, und so weiter. Es war schön zu wissen, dass das FBI immer wieder auf sie zurückgriff, aber sie hatte eigentlich auf eine aktivere Rolle gehofft, nachdem sie den letzten Fall so erfolgreich aufgeklärt hatte. Aber seitdem hatte sie nur ein einziges Mal von Deputy Director Duran gehört, und das auch nur, weil er sich über DeMarcos Leistung zu erkundigen wollte.

Ihr war bewusst, dass es ihren Freundinnen merkwürdig vorkam, dass sie theoretisch ein aktiver Agent war, und gleichzeitig so in ihrer Großmutterrolle aufging. Herrgott, es kam ihr ja sogar selbst merkwürdig vor. Wenn man dann noch die langsam erblühende Beziehung zu Allen betrachtete, war ihr Leben alles in allem wahrscheinlich wirklich interessant für ihre Freundinnen.

Und ja, sie schätzte sich wahrlich glücklich. Am Monatsende wurde sie sechsundfünfzig, und ihr war klar, dass viele Frauen ihres Alters sie um ihren Lebensstil beneiden würden. Das sagte sie sich, wenn sie mal wieder das Bedürfnis verspürte, eine aktivere Rolle beim FBI einzunehmen. Und hin und wieder klappte das auch.

Und heute war so ein Tag, denn heute sollte sie zum ersten Mal Besuch seit ihrer Geburt Besuch von ihrer Enkelin bekommen.



***



Eine der Schwierigkeiten, eine Balance zu finden zwischen ihrer neuen Großmutterrolle und ihrem Bedürfnis, sich wieder aktiv mit einem Fall zu befassen, lag darin, sich das Denken einer Großmutter zu eigen zu machen. An diesem Nachmittag verließ sie das Haus und machte sich auf den Weg zu den kleinen Geschäften in Carytown, einem Stadtteil von Richmond. Sie wollte ein Geschenk für Michelle besorgen, zur Feier ihres ersten Abends bei ihrer Großmutter.

Es fiel ihr nicht leicht, die Gedanken an Waffen und Verdächtige beiseite zu schieben und sich stattdessen auf Plüschtiere und Kinderpyjamas zu konzentrieren. Aber während sie so durch mehrere Läden bummelte, fiel es ihr zunehmend leichter. Tatsächlich machte es ihr Spaß, etwas Schönes für ihre Enkelin zu kaufen, obwohl die Kleine mit ihren zwei Monaten natürlich nichts mit den Geschenken würde anfangen können. Trotzdem musste sich Kate zurückhalten, um nicht gleich all die niedlichen Sachen zu kaufen, die sie fand. Allerdings, war es nicht die Aufgabe einer Großmutter, ihre Enkel zu verwöhnen?

Als sie gerade im dritten Laden ihre Einkäufe bezahlte, erhielt sie einen Anruf. Sie nahm sofort ab. Während der letzten Wochen hatte sie immer mehr die Hoffnung gehabt, von Duran oder jemand anderem vom FBI zu hören. Sie schalt sich, da sie enttäuscht wurde - denn es war nicht Duran oder jemand vom FBI, sondern es war Allen, der sie anrief. Aber nach dem ersten Stich, den es ihr versetzt hatte, dass das FBI sich noch immer nicht bei ihr gemeldet hatte, freute sie sich, dass Allen sich meldete. Sie freute sich ja im Grunde immer, von ihm zu hören.

„Allen, Hilfe!“, sagte sie spaßend. „Ich bin gerade in den Läden für Michelle unterwegs und ich kann mich kaum stoppen, all die süßen Dinge zu kaufen, dir mir in die Hände fallen. Ist das normal?“

„Keine Ahnung, da kann ich nichts zu sagen“, antwortete Allen. „Keiner meiner Söhne hatte oder hat momentan eine feste Beziehung und mich bis jetzt zum Großvater gemacht.“

„Dann lass dir gesagt sein: fange lieber jetzt schon an zu sparen.“

Allen kicherte, worüber Kate sich freute. „Also, heute ist der große Abend?“, fragte er.

„Ja. Ich habe zwar schon ein Kind großgezogen und sollte deshalb wissen, was da auf mich zukommt, aber ich habe trotzdem ein mulmiges Gefühl.“

„Ach was, das wird super. Wo wir gerade von mulmigem Gefühl sprechen… ich gehe heute mit ein paar Jungs aus… und ich habe seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr als zwei Drinks am Abend gehabt.“

„Viel Spaß.“

„Ich wollte fragen, ob wir uns nicht morgen Abend zum Essen treffen wollen. Dann können wir uns gegenseitig berichten, wie es gelaufen ist.“

„Das wäre schön. Willst du so gegen sieben hier sein?“

„Hört sich gut an. Viel Spaß heute Abend. Schläft Michelle schon durch?“

„Ich glaube nicht.“

„Autsch“, kicherte Allen und beendete damit das Gespräch.

Mit den verschiedenen Einkaufstaschen in den Händen steckte sie ihr Handy wieder ein. Sie musste lächeln. Sie befand sich in ihrem Lieblingsstadtteil, stand in der Sonne, hatte gerade schöne Dinge für ihre zwei Monate alte Enkelin besorgt. So, wie ihr Tag gerade lief, wollte sie da überhaupt, dass das FBI anrief?

Zu Fuß ging sie wieder nach Hause – etwa drei Blocks von der Stelle, an der sie Allens Anruf erhalten hatte – als sie ein Mädchen mit einem My Little Pony-T-shirt erblickte. Hand in Hand mit ihrer Mutter kam sie Kate entgegen. Sie war fünf oder sechs Jahre alt und ihre blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, wie ihn nur eine Mutter hinkriegte. Sie hatte blaue Augen und ein spitzes Näschen, das sie feenartig erscheinen ließ. Und genau dieses Aussehen versetzte Kate einen Stich.

Ein Bild machte sich in ihren Gedanken breit, nämlich das von einem Mädchen, das diesem zum verwechseln ähnlich gesehen hatte. Doch vor ihrem inneren Auge hatte das Mädchen ein schmutzverschmiertes Gesicht, und es weinte. Hinter ihr sah man das Licht der Polizeiwagen.

Das Bild war so stark, dass Kate einen Moment innehalten musste. Sie riss ihren Blick von dem Mädchen los, da sie nicht merkwürdig erscheinen wollte. Sie hielt das Bild in ihren Gedanken fest und versuchte, die Erinnerung heraufzubeschwören. Die Erinnerung breitete sich langsam vor ihrem inneren Auge aus, so, als lese sie gerade den Bericht des Falls.

Fünfjährige gefunden, drei Tage nachdem sie vermisst gemeldet wurde, in einer Fischerhütte in Arkansas neben den Leichen ihrer Eltern. Die Eltern waren das fünfte und sechste Opfer eines Serienkillers, der Arkansas seit fast vier Monaten terrorisiert hatte. Ein Killer, dem Kate das Handwerk legte, aber erst, nachdem er schon neun Menschen umgebracht hatte.

Plötzlich wurde sich Kate bewusst, dass sie stocksteif auf der Straße stand, aber sie konnte sich nicht rühren. So viele Sackgassen, so viele Hinweise, die zu nichts geführt hatten. Sie hatte sich im Kreis gedreht, konnte den Killer nicht aufspüren, während er weiter Leichen produzierte. Niemand konnte ahnen, was er mit dem kleinen Mädchen vorgehabt hatte.

Aber du hast sie gerettet, sagte sie sich selbst. Am Ende hast du sie gerettet.

Langsam ging Kate weiter. Nicht zum ersten Mal war ihr etwas in den Sinn gekommen, aus ihrem vergangenen Arbeitsleben, was sie bewog, innezuhalten. Manchmal kam die Erinnerung langsam, dann wieder schnell und mit aller Macht, wie bei einem posttraumatischen Stresssyndrom.

Das Bild des Mädchens aus Arkansas befand sich irgendwo in der Mitte. Dafür war Kate dankbar. Es war dieser Fall gewesen, der sie damals, 2009, fast dazu bewogen hatte, ihre Karriere hinzuschmeißen. Er hatte ihre Seele gebrochen. Kate hatte sich erst einmal zwei Wochen frei nehmen müssen. Und für einen Augenblick, als sie jetzt die Straße herunter ging, mit den Geschenken für ihre Enkelin in der Hand, kam es Kate so vor, als sei sie in diese Zeit zurück versetzt worden.

Fast zehn Jahre waren seit diesem Fall vergangen. Kate fragte sich, was wohl aus dem Mädchen geworden war. Ob sie das Trauma hinter sich gelassen hatte.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“

Kate zwinkerte, erschrocken durch die Stimme. Ein Teenager stand vor ihr, sein Gesichtsausdruck besorgt, als sei er unsicher, ob er stehenbleiben oder weglaufen sollte.

„Sind Sie okay?“, fragte er noch einmla. „Sie sehen… ich weiß nicht… Sie sehen nicht gut aus. So als ob Sie gleich umfallen oder so.“

„Nein, alles okay“, sagte Kate. „Mir geht es gut. Danke.“

Der Teenager nickte und ging weiter. Auch Kate ging weiter, riss sich aus dem Loch ihrer Vergangenheit, das sich augenscheinlich noch nicht geschlossen hatte. Als sie sich ihrem Haus näherte, fragte sie sich, wie viele solcher Löcher es wohl in ihrem Leben noch geben mochte.

Und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Geister ihrer Vergangenheit sie so lange heimsuchen würden, bis sie selbst zu einem Geist geworden war.




KAPITEL ZWEI


Die nächste Stunde verbrachte Kate mit aufräumen, obwohl sie das eigentlich schon erledigt hatte, ehe sie losgegangen war. Es machte ihr Sorgen, dass sie so ein mulmiges Gefühl hatte, weil Michelle zu ihr kommen sollte. Melissa hatte während ihrer Jahre an der High-School in diesem Haus gewohnt, und wenn sie jetzt zu Besuch kam – was in Kates Augen nicht oft genug war – hatte Kate nie das Bedürfnis verspürt, das Haus pikobello zu haben. Warum also machte sie sich jetzt Sorgen darüber, wenn ein zwei Monate altes Baby hier war?

Vielleicht hat es mit großmütterlichem Nestbau zu tun, dachte sie, während sie das Waschbecken im Bad schrubbte… einem Raum, den ihre Enkelin nicht sehen und schon gar nicht benutzen würde.

Sie spülte gerade das Waschbecken aus, als es an der Tür klingelte. Die Aufregung, die sie nun verspürte, überraschte sie selbst. Als sie die Tür öffnete, strahlte sie über das ganze Gesicht. Melissa stand dort mit Michelle im Kindersitz. Das Baby schlief fest, mit einer dicken Decke über den Beinen.

„Hallo, Mama“, sagte Melissa und trat ein. Sie blickte sich um, rollte die Augen und fragte, „wie lange hast du diesmal geputzt?“

„Ich bin unschuldig“, lachte Kate und umarmte ihre Tochter.

Vorsichtig stellte Melissa den Kindersitz auf den Boden und löste die Gurte. Sie hob Michelle heraus und reichte sie Kate. Es war fast eine ganze Woche her, seit Kate Melissa und Terry besucht hatte, aber als sie Michelle nun im Arm hielt, kam es ihr viel länger vor.

„Was habt ihr beiden für heute Abend geplant?“, fragte Kate Melissa.

„Nichts besonders“, meinte Melissa. „Aber genau das ist ja das schöne. Wir gehen irgendwo essen und etwas trinken, vielleicht auch tanzen. Außerdem haben wir uns das nochmal überlegt, dass du die Kleine über Nacht hast. Terry und ich sind noch nicht soweit, sie über Nacht abzugeben. Mal durchzuschlafen wäre natürlich wichtig, aber ich kann noch nicht so lange von ihr getrennt sein.“

„Oh, das verstehe ich“, meinte Kate. „Geht ihr beiden mal aus und habt Spaß.

Melissa entledigte sich der Wickeltasche und stellte sie neben den Kindersitz auf den Boden. „Alles, was du brauchst, ist hier drin. In einer Stunde wird sie wieder Hunger haben, und sie wird sich gegen den Schlaf wehren. Terry findet das süß, aber ich weniger. Und hier sind die Tropfen gegen Bauchweh, und…“

„Lissa, wir werden schon klarkommen. Ich habe schon ein Kind großgezogen, weißt du? Und das hat sich übrigens ganz prächtig entwickelt.“

Melissa lächelte und überraschte ihre Mutter mit einem Küsschen auf die Wange, das ihr Herz mit Liebe erfüllte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, als sie selbst eine junge Mutter gewesen war, so von Liebe erfüllt – eine Liebe, die so stark war, dass eine Mutter absolut alles tat, um sicherzustellen, dass das Wesen, das sie erschaffen hatte, sicher und geborgen war.

„Wenn etwas ist, ruf mich an“, sagte Melissa, wobei sie immer noch Michelle anschaute und nicht Kate.

„Wird gemacht. Aber jetzt geh. Viel Spaß.“

Melissa wandte sich um und verließ das Haus. Als Kate die Haustür schloss, wachte die kleine Michelle in Kates Armen auf. Sie lächelte ihre Großmutter verschlafen und gähnte herzhaft.

„Na, und was machen wir beiden jetzt?“

Die Frage war spielerisch an Michelle gerichtet, aber Kate fragte sich insgeheim, ob dahinter nicht doch mehr steckte; ob sie sich nicht vielleicht selbst das gleiche fragte. Ihre Tochter war nun erwachsen, sie hatte jetzt eine eigene Tochter. Und da stand nun Kate, sechsundfünfzig Jahre alt, mit ihrer Enkelin im Arm … und fragte sich Und was machen wir jetzt?

Sie dachte an ihren Drang, wieder beim FBI anzufangen, egal in welcher Rolle, und zum ersten Mal kam ihr dieser Drang unbedeutend vor. Kleiner vielleicht als das kleine Mädchen, das sie in den Armen hielt.



***



Gegen acht Uhr abends fragte sich Kate ernsthaft, ob Terry und Melissa das nicht einfach das entspannteste Baby war, das es gab. Nicht einziges Mal schrie sie oder war knatschig. Sie war einfach zufrieden damit, von Kate im Arm gehalten zu werden.

Nach zwei Stunden auf Kates Arm schlief sie ein. Vorsichtig legte Kate sie in die Mitte ihres großen Bettes und hielt an der Tür inne, um ihre Enkelin beim schlafen zu beobachten.

Sie war nicht sicher, wie lange sie so verharrt hatte, als ihr Handy auf dem Küchentisch surrte. Sie riss den Blick von Michelle los und schnappte sich das Handy. Das Surren bedeutete kein Anruf, sondern dass sie eine SMS erhalten hatte, und sie wunderte sich nicht, dass sie von Melissa kam.

Wie geht es ihr? fragte Melissa.

Kate konnte nicht anders, als zu lächeln und zu antworten: Nicht mehr als 3 Bier, hab ich ihr gesagt. Sie ist vor einer Stunde los, mit einen Kerl auf einem Motorrad. Bis 11 soll sie wieder hier sein.

Melissas Antwort kam schnell: Oh, sehr witzig.

Das Hin und Her mit Melissa machte sie fast genauso glücklich wie das schlafende Baby in ihrem Schlafzimmer. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sich Melissa zurückgezogen, vor allem gegenüber Kate. Sie hatte Kates Arbeit die Schuld am Mord ihres Vaters gegeben, und obwohl sie in späteren Jahren verstanden hatte, dass dies nicht zutraf, nahm sie es Kate übel, dass diese nach seinem Tod so viel Zeit bei der Arbeit verbracht hatte. Merkwürdigerweise hatte Melissa Interesse an einer eigenen Karriere beim FBI gezeigt… und trotz ihrer alles andere als positiven Einstellung hinsichtlich der Ereignisse des letzten Jahres, die Kates Pensionierung unterbrochen hatten.

Noch immer lächelnd schnappte sich Kate ihr Handy und machte ein paar Fotos von Michelle. Sie schickte sie an Melissa, und nach kurzer Überlegung auch an Allen, nur fügte sie bei ihm noch die Nachricht „Zuviel Party“ hinzu.

Sie ertappte sich dabei, dass sie ihn jetzt gern bei sich gehabt hätte. In letzter Zeit war das oft der Fall. Sie war nicht so naiv zu glauben, dass sie ihn liebte, aber sie meinte, sie sei im Begriff sich in ihn zu verlieben, wenn es so weiterlief wie bisher. Sie vermisste ihn, wenn er nicht bei ihr war, und wenn er sie küsste, fühlte sie sich zwanzig Jahre jünger.

Sie lächelte, als Allen seinerseits mit einem Foto antwortete. Es war ein Selfie, auf dem er selbst mit zwei jungem Männern zu sehen waren, die genauso wie er aussahen - offensichtlich seine Söhne.

Während sie das Foto betrachtete, klingelte ihr Handy. Der Name auf dem Display schickte eine Welle der Erregung, die sie nicht aufhalten konnte, durch ihren Körper.

Deputy Director Duran rief sie an. Das wäre schon an sich aufregend gewesen, aber die Tatsache, dass es Freitag Abend um acht war, ließ ihre Alarmglocken läuten – Alarmglocken, deren Klang sie nur allzu gern mochte.

Sie sammelte sich einen Moment, wobei sie noch immer Michelle anblickte, und nahm dann das Gespräch an. „Kate Wise“, sagte sie und bemühte sich, nicht aufgeregt zu klingen.

„Wise, hier spricht Duran. Störe ich gerade?“

„Nicht direkt, ist schon okay“, antwortete sie. „Ist alles in Ordnung?“

„Das kommt darauf an. Ich rufe an um zu hören, ob Sie Interesse an einem Fall haben.“

„Geht es um die alten, ungeklärten Fälle, die wir besprochen haben?“

„Nein. Dieser hier… hat Ähnlichkeit mit einem Fall, den Sie 1996 ziemlich schnell gelöst haben. Zur Zeit haben wir vier Leichen an zwei verschiedenen Orten in Whip Springs und Roanoke, Virginia. Es sieht aus, als wären die Morde im Abstand von zwei Tagen verübt worden. Die Virginia State Police hat den Fall übernommen, aber ich habe schon mit denen gesprochen. Wenn Sie wollen, ist der Fall Ihrer. Aber Sie müssen sofort loslegen.“

„Ich glaube, das kann ich nicht einrichten“, sagte sie. „Ich habe eine Verpflichtung, der ich nachkommen muss.“ Sie blickte Michelle an, und die Worte kamen ihr leicht über die Lippen. Aber ihr Körper wehrte sich mit jeder Faser gegen ihren neuen großmütterlichen Instinkt.

„Naja, hören Sie sich doch bitte die Eckpunkte doch trotzdem an. Die Ermordeten sind verheiratete Ehepaare, eines Anfang fünfzig, das andere Anfang sechzig. Die letzten waren die in den Fünfzigern. Die Tochter hat sie gefunden, als sie heute vom College nach Hause kam. Die Tatorte liegen circa vierzig Kilometer voneinander entfernt, der eine in Whip Springs und der andere in der Nähe von Roanoke.“

„Ehepaare? Gibt es irgendwelche Parallelen außer, dass sie verheiratet waren?“

„Bisher noch nicht. Aber alle vier Leichen sind ziemlich übel zugerichtet. Der Killer hat ein Messer benutzt. Er ist langsam und methodisch vorgegangen. Soweit ich das beurteilen kann, ist in den nächsten zwei Tagen ein weiteres Ehepaar dran.“

„Ja, das klingt nach dem Beginn von Serienmorden“, stimmte Kate zu.

Sie dachte an den Fall von 1996, den Duran erwähnt hatte. Am Ende war es eine verrückte Nanny gewesen, die innerhalb von zwei Tagen zwei Ehepaare, für die sie über einen Zeitraum von zehn Jahren gearbeitet hatte, umgebracht hatte. Als Kate sie zur Strecke brachte, war sie gerade dem Weg, um ein drittes Ehepaar – und dann sich selbst, wie sie später aussagte – zu töten.

Konnte sie diesen Fall wirklich ablehnen? Nach dem intensiven Flashback, den sie heute gehabt hatte… konnte sie sich da wirklich die Gelegenheit entgehen lassen, einen Serienkiller zu jagen?

„Wie viel Bedenkzeit habe ich?“, fragte sie.

„Ich gebe Ihnen eine Stunde Bedenkzeit. Mehr nicht. Ich brauche jetzt jemanden dran an dem Fall. Ich dachte, Sie und DeMarco könnten das gut übernehmen. Also, eine Stunde… je eher, desto besser.“

Bevor sie „Okay“ oder „Danke“ sagen konnte, hatte Duran schon aufgelegt. Normalerweise war er freundlich und warmherzig, konnte aber sehr ungemütlich werden, wenn man nicht nach seiner Pfeife tanzte.

So leise sie konnte, ging sie zum Bett herüber und setzte sich auf die Kante. Sie beobachtete Michelle beim Schlafen, beobachtete, wie der Atem langsam und methodisch ihren Brustkorb hob und senkte. Sie konnte sich genau daran erinnern, als Melissa noch so klein gewesen war und konnte sie sich nicht erklären, wo bloß die Zeit geblieben war. Und darum ging es; sie hatte auf Grund ihres Jobs so viel Zeit als Mutter verpasst. Trotzdem verspürte sie eine starke Bindung zu ihrem Job. Vor allem jetzt, da sie dort draußen sein konnte, auf der Jagd nach einem Killer.

Was wäre sie für eine Person, wenn sie dieses Angebot ablehnte und Duran deshalb auf einen anderen Agenten zurückgreifen müsste, der womöglich nicht die gleichen Fähigkeiten mitbrächte wie sie selbst?

Aber was für eine Mutter und Großmutter wäre sie, wenn sie jetzt Melissa anriefe mit der Bitte, sie möge ihre Tochter doch bitte früher abholen als vereinbart, weil das FBI sie wieder angerufen hatte?

Noch weitere fünf Minuten starrte Kate Michelle an, legte sich sogar neben sie und legte ihr die Hand auf die Brust, um ihre Atmung zu spüren. Und das kleine Wesen zu sehen, das noch nichts über die Grausamkeiten wusste, die existierten, machte die Entscheidung viel leichter für Kate.

Mit dem ersten finsteren Gesichtsausdruck des Tages griff sich Kate ihr Handy und rief Melissa an.



***



Einmal, als Melissa ungefähr sechzehn Jahre alt war, hatte sie spätabends, als Kate und Michael schon schliefen, einen Jungen in ihr Zimmer geschmuggelt. Kate erwachte durch ein Geräusch (was sie später dafür gehalten hatte, dass jemandes Knie gegen die Wand schlug) und ging nach oben, um nachzuschauen. Als sie Melissas Tür aufmachte und ihre Tochter oben ohne mit einem Jungen im Bett vorfand, schmiss sie ihn vom Bett und schrie ihn an, dass er verschwinden solle.

Die Wut in Melissas Augen damals war vergleichsweise gering gegen das, was sie jetzt sah, als sie nun Michelle gegen 21:30 Uhr in den Kindersitz schnallte – knapp eine Stunde, nachdem Duran Kate hinsichtlich des Falls in Roanoke angerufen hatte

„Das ist voll daneben, Mama“, meinte sie.

„Lissa, es tut mir leid. Aber was zum Teufel sollte ich denn machen?“

„Also, soweit ich informiert bin, bleiben die Leute in Rente, wenn sie erstmal in Rente gegangen sind. Vielleicht probierst du es mal damit!“

„So einfach ist das nicht“, entgegnete Kate.

„Nee, ist klar, Mama“, sagte Melissa. „Mit dir war noch nie etwas einfach.“

„Das ist nicht fair…“

„Glaube nur nicht, dass ich sauer bin, weil du mir meinen einen freien Abend zum relaxen verkürzt. Darum geht es nicht. So egoistisch bin ich nicht. Im Gegensatz zu anderen Leuten. Ich bin sauer, weil dir dein Job – mit dem du vor über einem Jahr hättest durch sein sollen – immer noch wichtiger ist als deine Familie… nach Dad…“

„Lissa, lass uns jetzt nicht davon anfangen.“

Mit einer Zartheit, die sich weder in ihrer Stimme noch in ihrer Haltung wieder spiegelte, nahm Melissa den Kindersitz.

„Ganz deiner Meinung. Lass uns das einfach seinlassen“, sagte Melissa, und dabei spuckte sie die Worte förmlich aus.

Und damit ging sie zur Haustür hinaus, die sie hinter sich laut zuknallte.

Kate wollte nach der Türklinke greifen, stoppte sich aber. Was sollte sie denn tun? Würde sie den Streit vor dem Haus weiterführen? Außerdem kannte sie Melissa sehr genau. Nach ein paar Tagen würde sie sich beruhigt haben und sich Kates Seite der Geschichte anhören. Vielleicht würde sie sogar Kates Entschuldigung annehmen.

Wie eine Verräterin fühlte sie sich trotzdem, als sie nach ihrem Handy griff. Als sie Duran anrief, sagte er, dass er sowieso damit gerechnet hatte, dass sie den Fall übernehmen würde. Nach derzeitigem Stand hatte er jemanden von der Virginia State Police organisiert, der sich mit ihr und DeMarco morgen früh um 4:30 Uhr in Whip Springs traf. DeMarco hatte sich in Washington DC vor einer halben Stunden mit einem Wagen des FBI auf den Weg zu ihr gemacht. Sie sollte bei Kate ungefähr um Mitternacht ankommen. Kate wurde klar, dass sie Michelle leicht wie vereinbart bis 23 Uhr bei sich hätte behalten können und damit keine Konfrontation mit Michelle gehabt hätte. Aber darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken.

Das Tempo, in dem sich die Dinge entwickelten, hatte Kate ein wenig überrascht. Obwohl der letzte Fall, den sie übernommen hatte, auch scheinbar aus dem Nichts gekommen war, hatte er eine Art Struktur gehabt. Aber dass sie zum letzten Mal innerhalb nur einer Stunde solch einen Fall übernommen hatte, das war schon eine Weile her. Ihr war etwas mulmig zumute, aber sie war auch sehr aufgeregt – so sehr, dass sie sogar erst einmal Melissas Wut aus ihren Gedanken verbannen konnte.

Dennoch durchfuhr sie ein stechender Gedanke, während sie die Tasche packte und auf DeMarco wartete. Dies war genau die Eigenschaft, die zwischen ihr und Melissa schon so viel Ärger heraufbeschworen hatte – nämlich die Eigenschaft, dass sie um des Jobs willen alles andere beiseite drängte.

Aber auch diesen Gedanken schob sie jetzt mit Leichtigkeit beiseite.




KAPITEL DREI


Eines der vielen Dinge, die Kate während ihres letzten Falls über DeMarco gelernt hatte, war, dass sie pünktlich war. An diese Eigenschaft erinnerte sie sich, als es exakt um Mitternacht an der Tür klopfen hörte.

Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass ich so spät noch Besuch bekommen habe, dachte sie. Im College vielleicht?

Mit ihrer gepackten Tasche ging sie zur Tür. Aber als sie die Tür öffnete, sah sie, dass DeMarco keineswegs vorhatte, direkt wieder ins Auto zu steigen und zum Tatort zu rasen.

„Auch wenn es unhöflich erscheinen mag, ich muss mal aufs Klo“, eröffnete ihr DeMarco. „Das war keine gute Idee, zwei Cola während der Fahrt runterzukippen, um wach zu bleiben.“

Kate lächelte und trat zur Seite, um DeMarco vorbei zu lassen. Wenn man den Druck betrachtete, den Duran ihr gemacht hatte, erschien die Ruppigkeit der Situation als geradezu ungewollte Erleichterung. Auch gab es ihr ein Gefühl der Verbindung mit DeMarco, nachdem sie sich zuletzt vor fast zwei Monaten gesehen hatten; dass sie auf dem gleichen Level weitermachten, auf dem sie nach der Aufklärung des letzten Falls aufgehört hatten.

Mit einem verschämten Lächeln im Gesicht erschien DeMarco einige Minuten später aus dem Bad.

„Ach, und guten Morgen übrigens“, sagte Kate. Vielleicht lag es am Koffein, aber DeMarco schien zu dieser späten Stunde noch fit zu sein.

„Ja, mir scheint, dass es morgens ist“, meinte sie, als sie auf die Uhr schaute.

„Wann hast du den Anruf bekommen?“, fragte Kate.

„Zwischen 20 und 21 Uhr, würde ich sagen. Ich wollte früher losfahren, aber Duran wollte erst hundertprozentig sicher sein, dass du dabei bist.“

„Ja, das tut mir leid“, meinte Kate. „Ich hatte heute zum ersten Mal meine Enkelin zum babysitten hier bei mir.“

„Oh nein. Wise… das ist ja jetzt echt blöd. Dass dir der Fall so in die Quere kommt...“

Kate zuckte mit den Schultern und wedelte den Gedanken mit der Hand fort. „Es wird schon okay sein. Bist du soweit, dass wir loskönnen?“

„Ja. Ich habe unterwegs ein paar Anrufe getätigt. Einige Jungs in Washington DC haben mit für uns ein Meeting angesetzt. Wir treffen die Virginia State Police um 4:30 Uhr beim Haus des Ehepaars Nash.“

„Das Haus des Ehepaars Nash?“

„Das letzte Paar, das ermordet wurde.“

Sie gingen zur Tür hinaus und auf dem Weg schaltete Kate das Wohnzimmerlicht aus und schnappte sich ihre Tasche. Sie war aufgeregt hinsichtlich dessen, was jetzt wohl vor ihnen lag, fühlte sich aber gleichzeitig, als verlasse sie auf unüberlegte Weise ihr Zuhause. Schließlich hatte bis vor einigen Stunden noch ihre zwei Monate alte Enkelin friedlich auf ihrem Bett geschlafen. Und jetzt war sie gerade dabei, zum Tatort eines Doppelmordes zu fahren.

Sie sah den Zivilwagen des FBI am Kantstein direkt vor ihrem Haus parken. Er wirkte surreal und gleichzeitig einladend.

„Willst du fahren?“, fragte DeMarco.

„Klar“, sagte Kate und fragte sich, ob der jüngere Agent ihr die Fahrerrolle anbot, um ihr Respekt zu erweisen, oder ob sie einfach eine Pause vom Autofahren brauchte.

Kate setzte sich hinter das Steuer, während DeMarco die Wegbeschreibung zum letzten Tatort aufrief. Das Städtchen hieß Whip Springs, lag in Virginia und war ein verschlafenes Nest am Fuße der Blue Ridge Mountains vor den Toren der Stadt Roanoke. Unterwegs hatten sie nur wenig Small Talk – Kate beschrieb DeMarco, wie sie sich nun als Großmutter fühlte, während DeMarco kaum etwas sagte. Sie selbst erwähnte nur eine erneut in die Brüche gegangene Beziehung, nachdem ihre Lebensgefährtin sie verlassen hatte. Dies überraschte Kate, denn sie hatte DeMarco nicht für lesbisch gehalten. Das führte ihr vor Augen, dass sie sich wirklich mehr Zeit nehmen musste, um die Frau, mit der sie als Partnerin so viel Zeit verbrachte, besser kennenzulernen. Ihre Pünktlichkeit hatte sie bemerkt. Ihre Homosexualität nicht. Was sagte das über sie selbst als Partnerin aus?

Als sie sich dem Tatort näherten, las DeMarco ihr aus den Berichten zu dem Fall vor, die Duran geschickt hatte. Während DeMarco las, suchten Kates Augen den Horizont nach den ersten Sonnenstrahlen ab, sahen aber keine.

„Zwei ältere Ehepaare“, begann DeMarco. „Moment… eines Anfang fünfzig, das andere Anfang sechzig… also, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

„Bist du nicht“, antwortete Kate, und fragte sich, ob dies DeMarcos merkwürdige Art von Humor war.

„Auf den ersten Blick haben die Ehepaare nichts gemeinsam, abgesehen von den Tatorten. Der erste liegt direkt hier im Herzen von Roanoke und der zweite liegt kaum vierzig Kilometer entfernt in Whip Springs. Es ist nicht erkennbar, ob der Mann oder die Frau das primäre Ziel war. Jeder der Morde war blutrünstig und extrem, was darauf schließen lässt, dass der Killer Spaß an seinem Werk hatte.“

„Und das wiederum lässt typischerweise darauf schließen, dass der Killer meint, dass ihm die Opfer zu irgendeiner Zeit Unrecht getan haben“, meinte Kate. „Entweder das, oder es handelt sich um ein krankes, psychologisches Verlangen nach Gewalt und Blutvergießen.“

„Die letzten Opfer, die Nashes, waren vierundzwanzig Jahre lang verheiratet. Sie haben zwei Kinder. Eines lebt in San Diego, das andere besucht derzeit die University of Virginia. Sie ist diejenige, die die Leichen entdeckt hat, als sie gestern nach Hause kam.“

„Was ist mit dem anderen Ehepaar?“, fragte Kate. „Hatten sie Kinder?“

„Davon steht nichts in den Berichten.“

Kate dachte daüber nach und aus irgendeinem Grund kam ihr das Mädchen, das ihr früher an diesem Tag auf der Straße begegnet war, in den Sinn. Oder genauer gesagt, ihr kam der Flashback in den Sinn, den das Mädchen ausgelöst hatte.

Als sie schließlich am Haus der Nashes ankamen, zeigte der Himmel sein erstes Licht, wenn auch noch keine Sonnenstrahlen zu sehen waren. Schwache Sonnenstrahlen stachen hier und da durch die Baumreihe, die das Haus der Nashes umgab. Sie sahen ein einzelnes Auto vor dem Grundstück parken. Ein Mann stand an die Motorhaube gelehnt, rauchte eine Zigarette und hatte einen Kaffeebecher in der Hand.

„Sie sind Wise und DeMarco?“, fragte der Mann.

„Ja“, sagte Kate und trat vor, um ihren Ausweis zu zeigen. „Und wer sind Sie?“

„Palmetto, Virginia State Police Department. Spurensicherung. Ich habe vor einigen Stunden den Anruf erhalten, dass Sie beiden den Fall übernehmen. Dachte mir, ich sollte hier sein, um das zu übergeben, was ich habe. Was übrigens nicht gerade viel ist.“

Palmetto nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, warf die Kippe auf den Boden und drücke sie mit seinem Fuß aus. „Die Leichen wurden bewegt und es gibt sehr wenig Spuren. Aber kommen Sie erstmal herein. Es ist… nicht ohne.“

Palmetto sprach mit dem Tonfall eines Mannes, der den Job schon eine ganze Zeitlang machte. Er führte sie den Pfad zu Nashes Haus entlang und auf die Veranda. Sobald er die Tür öffnete und sie hinein führte, konnte Kate es riechen: Der Geruch eines Tatorts, an dem eine Menge Blut vergossen worden war. Da hing etwas Chemisches in der Luft, nicht nur der kupferartige Geruch von Blut, sondern auch der von Bewegung und von Leuten, die mit Gummihandschuhen gerade erst den Tatort untersucht hatten.

Je weiter sie in das Haus vordrangen, desto mehr Lichter schaltete Palmetto ein – im Eingangsbereich, im Flur, im Wohnzimmer. Im hellen Schein der Deckenlampe sah Kate zuerst den Blutfleck auf den Holzdielen. Dann noch einen, und noch einen.

Palmetto führte sie zur Vorderseite der Couch und wies auf das Blut.

„Die Leichen waren hier, eine auf der Couch, die andere auf dem Boden. Es hatte den Anschein, als dass die Mutter zuerst umgebracht wurde, wahrscheinlich durch den Schnitt quer über ihren Hals, wobei dieser sehr nah am Herzen endete, aber auf der Rückseite. Theoretisch muss es einen Kampf mit dem Vater gegeben haben. Er hat Hämatome an den Unterarmen, aus seinem Mund ist Blut gedrungen, und der Couchtisch liegt auf der Seite.“

„Irgendwelche frühen Eingebungen, was den Zeitrahmen angeht, von den Morden bis die Tochter die Leichen entdeckte?“, fragte Kate.

„Nicht mehr als ein Tag“, antwortete Palmetto. „Eher zwölf bis sechszehn Stunden. Ich bin sicher, der Gerichtsmediziner wird im Laufe des Tages etwas Konkreteres für Sie haben.“

„Sonst noch irgendwas von Bedeutung?“, fragte DeMarco.

„Tatsächlich, ja“, sagte Palmetto, griff in die Innentasche seiner dünnen Jacke und zog ein unscheinbares Beweismitteltütchen hervor. „Ein Beweismittel. Das einzige. Ich habe es bei mir behalten. Habe mir auch die Erlaubnis geholt, also machen Sie sich keinen Kopf. Hab mir gedacht, Sie wollen es sicher haben und sich darum kümmern. Es ist die einzige Spur, die wir gefunden haben, und sie ist ziemlich unheimlich.“

Er übergab die kleine Plastiktüte an Kate. Sie griff danach und betrachtete den Inhalt. Es sah aus wie ein Stück einfachen Stoffs, zehn mal fünf Zentimeter. Es war dick, blau und flauschig. Die gesamte rechte Seite war voller Blut.

„Wo ist das gefunden worden?“, fragte Kate.

„Tief reingestopft in den Rachen der Mutter. Fast bis ganz runter in den Hals hinein.“

Kate hielt es gegen das Licht.

„Sieht aus wie einfach irgendein Fetzen Stoff.“

Aber da war sich Kate nicht so sicher. Ihre großmütterliche Intuition sagte ihr, dass dies nicht einfach irgendein Fetzen Stoff war. Nein… er war weich, hellblau, und sah flauschig aus.

Dies war das Stück einer Decke. Vielleicht von der Kuscheldecke eines Kindes.

„Haben Sie noch andere Überraschungsbeweise für uns auf Lager?“, fragte DeMarco.

„Nein, mehr gibt es von meiner Seite aus nicht“, meinte Palmetto und war schon auf dem Weg zur Tür. „Falls die Damen weitere Hilfe benötigen, dann melden Sie sich gern beim State Police Department.“

Hinter seinem Rücken tauschten Kate und DeMarco einen genervten Blick aus. Ohne dass eine von ihnen etwas sagen musste, war klar, dass ihnen beiden die Floskel „die Damen“ sauer aufgestoßen war.

„Kurz und knapp, der Mann“, meinte DeMarco, als Palmetto von der Haustür aus die Hand zum Gruß erhob und dann ging.

„Auch gut“, meinte Kate. „Dann können wir schon einmal anfangen, den Fall mit unseren eigenen Augen zu betrachten, ohne davon beeinflusst zu werden, war jemand anderes gefunden hat.“

„Glaubst du, wir sollten zuerst mit der Tochter sprechen?“

„Wahrscheinlich. Und dann untersuchen wir den ersten Tatort und sehen, was wir dort herausfinden können. Hoffentlich treffen wir dort auf jemanden, der etwas gesprächiger ist als unser guter Freund Palmetto.“

Sie verließen das Haus und schalteten nacheinander dabei alle Lichter aus. Als sie vor die Tür traten, ließen sich die ersten Sonnenstrahlen blicken. Kate steckte die Plastiktüte mit dem Inhalt, den sie für den Stofffetzen einer Decke hielt, vorsichtig in ihre Tasche und konnte nicht umhin zu denken, dass ihre Enkelin unter einer ganz ähnlichen Decke schlief.

Die Sonne konnte den kalten Schauer, der ihr über den Rücken lief, nicht unterdrücken.




KAPITEL VIER


Zum Frühstück fuhren sie durch den Drive-Through eines Panera Bread. Während sie dort in der Schlange warteten, tätigte DeMarco mehrere Anrufe, um ein Treffen mit Olivia Nash zu organisieren, der Tochter des zuletzt ermordeten Ehepaares. Sie war bei ihrer Tante in Roanoke und, nach den Worten der Tante, ein totales Wrack.

Nachdem sie die Zustimmung der Tante sowie eine Wegbeschreibung eingeholt hatten, fuhren sie um kurz nach 7 Uhr morgens zum Haus der Tante. Die frühe Uhrzeit war kein Problem, denn die Tante hatte gesagt, dass Olivia sich weigerte zu schlafen, seitdem sie ihre Eltern ermordet aufgefunden hatte.

Die Tante saß auf der Veranda, als Kate und DeMarco das Haus erreichten. Cami Nash erhob sich zwar, als Kate aus dem Auto stieg, machte aber keinerlei Anstalten, ihnen entgegen zu kommen. Sie hielt einen Kaffeebecher in der Hand und hatte ein solch müdes Gesicht, dass Kate annahm, dass sie schon lange wach und dies nicht ihr erster Kaffee des Tages war.

„Cami Nash?“, fragte Kate.

„Ja“, sagte sie.

„Zuerst einmal, unser herzliches Beileid für Ihren Verlust“, sagte Kate. „Standen Sie Ihrem Bruder nahe?“

„Ziemlich nahe, ja. Aber im Moment kann ich darüber nicht nachdenken. Ich kann noch nicht… trauern, denn Olivia braucht jemanden an ihrer Seite. Sie ist nicht mehr die gleiche wie vor einer Woche, als wir telefoniert haben. Etwas in ihr ist zerbrochen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss… sie so vorzufinden und…“

Ihre Worte verloren sich und sie trank schnell ihren Kaffee, wie um sich abzulenken von den Tränen, die gleich aus ihr herauszubrechen drohten.

„Wird sie mit uns sprechen können?“, fragte DeMarco.

„Vielleicht kurz. Ich habe ihr gesagt, dass Sie kommen und sie schien es verstanden zu haben. Deshalb habe ich Sie auch hier draußen erwartet. Ich möchte Ihnen sagen, dass sie eine normale, junge Frau ist. Aber in ihrem derzeitigen Zustand… ich möchte nicht, dass Sie denken, dass sie psychische Probleme hat.“

„Vielen Dank“, sagte Kate. Sie hatte schon Leute erlebt, die auf Grund ihrer Trauer völlig fertig waren, und es war nie ein schöner Anblick. Sie konnte nicht umhin sich zu fragen, wie viel Erfahrung DeMarco damit hatte.

Cami führte sie ins Haus. Drinnen war es still wie in einem Grab. Das einzige Geräusch war das Summen der Klimaanlage. Kate bemerkte, dass Cami langsam ging, damit sie keinen Lärm machte. Kate tat es ihr gleich und fragte sich, ob Cami hoffte, dass Olivia durch die Stille einschlief, oder ob sie die ohnehin schon erschöpfte junge Frau nicht verängstigen wollte.

Sie betraten das Wohnzimmer, wo sich eine junge Frau auf der Couch befand, halb sitzend, halb liegend. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen waren geschwollen vom vielen weinen. Sie sah aus, als hätte sie schon seit einer Woche nicht mehr geschlafen, und nicht erst seit gestern. Sie richtete sich auf, als sie Kate und DeMarco sah.

„Hallo, Miss Nash“, sagte Kate. „Danke, dass Sie zugestimmt haben, mit uns zu sprechen. Herzliches Beileid.“

„Nennen Sie mich bitte Olivia.“ Ihre Stimme war heiser und klang müde – fast so mitgenommen wie ihre Augen.

„Wir werden uns so kurz wie möglich fassen,“ meinte Kate. „Sie waren gerade vom College nach Hause gekommen. Wissen Sie, ob Ihre Eltern für diesen Tag Besuch erwarteten?“

„Wenn das der Fall war, dann weiß ich nichts davon.“

„Entschuldigen Sie bitte die Frage, aber wissen Sie, ob Ihre Eltern Feinde hatten?“

Olivia schüttelte den Kopf. „Dad war vorher schon einmal verheiratet… bevor er Mama kennenlernte. Aber auch mit seiner Ex-Frau hat er sich gut verstanden.“

Leise fing Olivia an zu weinen. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen.

„Ich möchte Ihnen gern etwas zeigen. Ich weiß nicht, ob Sie dies zuordnen können. Falls ja, könnte dies schmerzhaft werden. Könnten Sie sich dies hier ansehen und uns sagen, ob Sie es wiedererkennen?“

Olivia blickte erschrocken, vielleicht auch ein wenig ängstlich drein. Kate konnte sie verstehen und scheute sich fast davor, ihr den Stofffetzen zu zeigen, den Palmetto ihnen überlassen hatte. Ein wenig widerwillig zog sie ihn aus der Tasche.

Sie sah sofort, dass Olivia ihn nicht erkannte. Ein Ausdruck von Erleichterung und Verwirrung zeigte sich sogleich in ihrem Gesicht, als sie die Plastiktüte und deren Inhalt sah.

Olivia schüttelte den Kopf, behielt aber die durchsichtige Plastiktüte im Blick. „Nein, das sagt mir nichts. Warum?“

„Das können wir Ihnen im Moment noch nicht sagen“, antwortete Kate. Tatsächlich wäre es legitim gewesen, es der Angehörigen mitzuteilen, aber Kate sah keinen Sinn darin, Olivia Nash noch mehr zu traumatisieren.

„Haben Sie eine Ahnung, wer das getan haben könnte?“, fragte Olivia. Sie wirkte verloren, so als wisse sie nicht, wo sie sich befand, oder wer sie selbst war. Kate sich nicht erinnern, wann sie zum letzten mal jemanden erlebt hatte, der sich so gelöst hatte von allem.

„Noch nicht“, sagte sie, „aber wir werden Sie auf dem Laufenden halten. Und bitte…“, und sie blickte dabei erst Olivia und dann Cami an, „kontaktieren Sie uns, sobald Ihnen irgendetwas einfällt, das helfen könnte.“

Mit der Bemerkung zog DeMarco eine Visitenkarte aus ihrer Innentasche und gab sie Cami.

Ob es die Zeit war, in der sie pensioniert gewesen war, oder ihre Schuldgefühle, dass sie der Großmutterrolle nicht gerecht geworden war, konnte Kate nicht sagen, doch sie fühlte sich furchtbar, als sie aus dem Raum ging und Olivia mit ihrer intensiven Trauer zurückließ. Als sie und DeMarco auf die Veranda traten, hörten sie, wie ihnen ein dumpfes Klagen folgte.

Kate und DeMarco tauschten einen hilflosen Blick aus, als sie zum Auto gingen. Kate konnte das Plastiktütchen in ihrer Innentasche fühlen, und plötzlich schien es sehr schwer zu wiegen.




KAPITEL FÜNF


Als Kate aus dem Städtchen Whip Springs heraus und in Richtung Roanoke fuhr, sah DeMarco die Berichte zum ersten Fall durch. Sie waren fast identisch mit den Berichten zum Tatort der Familie Nash; ein Ehepaar war in seinem Zuhause auf besonders grausame Art und Weise ermordet worden. Vorläufig gab es keine Verdächtigen, und es gab auch keinerlei Zeugen.

„Steht da irgendetwas darüber drin, dass im Rachen der Opfer etwas gefunden wurde?“, fragte Kate.

DeMarco überflog den Report und schüttelte den Kopf. „Ich sehe dazu nichts. Vielleicht ist es… doch Moment, hier ist es, im Bericht des Gerichtsmediziners. Es wurde erst gestern gefunden, anderthalb Tage nachdem die Leichen gefunden wurden. Aber ja… im Bericht steht, dass sich ein kleines Stückchen Stoff im Rachen der Mutter befand.“

„Gibt es eine Beschreibung?“

„Nein. Ich rufe in der Gerichtsmedizin an und sehe zu, ein Foto zu bekommen.“

DeMarco verlor keine Zeit und rief sofort an. Während sie telefonierte, versuchte Kate, eine Parallele zu finden zwischen diesen beiden Doppelmorden, die auf den ersten Blick nur insofern etwas miteinander zu tun hatten, als dass etwas im Rachen des weiblichen Opfers gefunden worden war. Obwohl sie noch nicht das Foto davon gesehen hatte, erwartete Kate, dass das Stückchen Stoff, das im Rachen der Frau gefunden wurde, haargenau zu dem passte, das sich im Rachen von Mrs. Nash befunden hatte.

Nach drei Minuten beendete DeMarco das Gespräch. Nur Sekunden später erhielt sie eine Nachricht. Sie blickte auf ihr Handy und sagte „Es passt.“

Als sie sich auf dem Weg ins Stadtzentrum von Roanoke einer Ampel näherten, schaute Kate auf DeMarcos Handy, das sie ihr hinhielt. Wie erwartet war der Stofffetzen weich und hellblau – exakt genau wie der andere.

„Wir haben einiges in den Akten zu beiden Ehepaaren, richtig?“, fragte Kate.

„So einiges, ja“, sagte DeMarco. „Wir haben vieles in den Akten und in den Berichten zu den Fällen – klar, einiges wird fehlen – aber trotzdem haben wir schon das Eine oder Andere, mit dem wir arbeiten können.“ Hier hielt sie inne, da ihre GPS-App auf ihrem iPad einen Ton von sich gab. „Hier an der Ampel links abbiegen“, sagte sie. „Das Haus liegt keinen Kilometer entfernt in der nächsten Straße.“

Kates Gedanken überschlugen sich, als sie sich dem ersten Tatort näherten.

Zwei Ehepaare, auf brutale Weise umgebracht. Stücke irgendeiner alten Decke in den Rachen der Frauen.

Man konnte auf vielerlei Weise mit den Hinweisen umgehen. Aber bevor sich Kate auf einen bestimmten Ansatz konzentrieren konnte, sprach DeMarco.

„Hier ist es“, sagte sie und wies auf ein kleines Steinhaus auf der rechten Seite.

Kate hielt am Kantstein. Das Haus lag in einer schmalen Seitenstraße, die zwei Hauptstraßen miteinander verband. Es war eine ruhige Straße, in der mehrere kleine Häuser standen. Die Straße strahlte einen fast historischen Flair aus; die Bürgersteige waren zugewachsen und rissig, und die Grundstücke und Häuser sahen ähnlich aus.

LANGLEY stand in verblichenen, weißen Buchstaben am Briefkasten. Kate erblickte auch ein dekorierendes L über der Haustür, gefertigt aus altem Holz. Es stand in krassem Gegensatz zu dem hellem Gelb des Polizeiabsperrbands, das vom Geländer der Veranda hing.

Als Kate und DeMarco auf die vordere Veranda zugingen, wiederholte DeMarco halb lesend, halb aus dem Gedächtnis, die Informationen aus den Berichten zu der Familie Langley.

„Scott und Bethany Langley – Scott war neunundfünfzig Jahre alt, Bethany einundsechzig. Scott wurde tot in der Küche gefunden und Bethany in der Waschküche. Gefunden hat sie ein Fünfzehnjähriger, der bei Scott Gitarrenunterricht hatte. Allem Anschein nach sind sie erst einige Stunden, bevor sie gefunden wurden, getötet worden.“

Als sie das Haus der Langleys betraten, blieb Kate einen Augenblick in der Tür stehen, um sich das Layout einzuprägen. Es war ein kleineres Haus, aber gut in Schuss. Durch die Haustür betrat man einen sehr kleinen Eingangsbereich, der dann in das Wohnzimmer überging. Ein Tresen teilte das Wohnzimmer von der Küche ab. Rechter Hand zweigte ein Flur ab, von dem der restliche Teil des Hauses zu erreichen war.

Allein durch das Layout war Kate in der Lage zu sagen, dass höchstwahrscheinlich der Mann als erstes getötet worden war. Doch von der Haustür aus konnte man quasi direkt bis in die Küche sehen. Scott Langley musste stark beschäftigt gewesen sein, um nicht zu bemerken, dass jemand durch die Haustür herein kam.

Vielleicht ist der Killer auf anderem Wege ins Haus gelangt, dachte Kate.

Sie betraten die Küche, auf deren Laminat die Blutflecken deutlich hervortraten. Eine Pfanne und eine Spray mit Sonnenblumenöl standen neben dem Herd.

Er wollte gerade etwas kochen, dachte Kate. Vielleicht wurden sie also zur Abendessenzeit getötet.

DeMarco ging in Richtung Flur und Kate folgte ihr. Links zweigte ein kleiner Raum ab, der sich als betriebsame Waschküche entpuppte. Hier war noch viel mehr Blut. Blut klebte an der Waschmaschine, am Trockner, an den Wänden, auf dem Boden und bedeckte einen Stapel sorgfältig zusammengelegter, sauberer Wäsche in einem Wäschekorb.

Da die Leichen schon abtransportiert worden waren, gab es wenige Hinweise im Hause der Langleys. Allerdings war da noch einen Sache, die Kate untersuchen wollte. Sie ging zurück ins Wohnzimmer und betrachtete die Bilder an den Wänden und auf dem Regal. Darin sah sie die Langleys glücklich lächeln. Auf einem Bild war ein älteres Paar zu sehen, das mit den Langleys am Ende eines Stegs an einem Strand stand.

„Was wissen wir über das Familienleben der Langleys?“, wollte Kate wissen.

DeMarco, die das iPad in der Rechten hielt, ging die Informationen durch und begann, die Details vorzulesen. Mit jeder Information wurde es wahrscheinlicher, dass das Bauchgefühl, dass Kate schon seit einigen Minuten hatte, zutraf.

„Sie waren fünfundzwanzig Jahre verheiratet. Bethany Langley hatte eine Schwester, die vor zwölf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Keiner von beiden hat noch lebende Eltern. Scott Langleys Vater ist erst vor kurzem gestorben, vor sechs Monaten; an einer aggressiven Form von Prostatakrebs.“

„Werden Kinder erwähnt?“

„Nein. Keine Kinder.“ Hier machte DeMarco eine Pause und schien zu begreifen, worauf Kate hinauswollte. „Du denkst an das Stückchen Stoff, nicht wahr? Dass es aussieht, als ob es zu einer Kuscheldecke gehört.“

„Ja, genau das habe ich gedacht. Aber wenn die Langleys keine Kinder hatten, dann gibt es hier auch keine offensichtliche Verbindung.“

„Also, ich glaube nicht, dass ich jemals bei einem Fall eine offensichtliche Verbindung zu irgendetwas gesehen habe“, sagte DeMarco mit einem unsicherem Lachen.

„Auch wieder wahr“, meinte Kate, aber sie war sich trotzdem sicher, dass es eine geben musste. Auch bei diesen scheinbar zufälligen Opfern gab es etwas, was sie gemeinsam hatten.

Beide Paare waren Mitte bis Ende fünfzig, Anfang sechzig. Beide waren verheiratet. Die Frau hatte jeweils etwas im Rachen, das wie ein Stück flauschiger Decke aussieht.

Also ja, es gab Ähnlichkeiten, allerdings führten die zu keiner richtigen Spur. Jedenfalls noch nicht.

„DeMarco“, sagte sie. „Könntest du bitte ein paar Leute anrufen und in die Wege leiten, dass uns die hiesige Polizei Büroraum zur Verfügung stellt.“

„Schon passiert“, sagte DeMarco. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich Duran schon darum gekümmert hat, noch bevor wir hier angekommen sind.“

Der meint wohl, mich nur allzu gut zu kennen, dachte sie leicht gereizt. Allerdings tat er dies allem Anschein nach auch.

Kate blickte sich noch einmal im Haus um, betrachtete die Bilder, die Blutflecken. Sie musste die Ehepaare besser kennenlernen, wenn sie weiterkommen wollte. Und sie musste die Stofffetzen untersuchen lassen. In Anbetracht der Ähnlichkeiten der beiden Tatorte meinte sie, dass gute alte Recherche mehr als andere Resultate bringen würde.

Als sie zurück zum Wagen gingen, wurde ihr klar, zu was für einer lächerlich frühen Uhrzeit sie den Tag begonnen hatten. Als sie sah, dass es erst 10 Uhr morgens war, hatte dies jedoch einen belebenden Effekt. Der Großteil des Tages lag noch vor ihnen. Vielleicht, mit etwas Glück, konnten sie den Fall so schnell lösen, wie sie es hoffte und dann noch vor Ende des Wochenendes wieder zurück in Richmond sein und noch einmal Michelle sehen – das hieß, wenn Melissa dies erlaubte.

Siehst du, hörte sie in Gedanken ihre Großmutterstimme, als sie sich wieder hinter das Steuer setzte. Selbst inmitten von zwei blutigen Doppelmorden denkst du an deine Enkelin – an deine Familie. Sagt dir das nicht irgendetwas?

Das tat es wohl. Doch wo sie jetzt ein spätes Kapitel ihres Lebens begann, war es trotz allem sehr schwer zuzugeben, dass noch etwas im Leben neben ihrer Arbeit wichtig war. Das war vor allem dann schwer zuzugeben, wenn sie auf der Spur eines Killers war und wusste, dass er jederzeit wieder zuschlagen konnte.




KAPITEL SECHS


Kate und DeMarco wurde ein kleiner Konferenzraum im hinteren Teil der City of Roanoke Polizeiwache zur Verfügung gestellt. Nachdem sie dort ankamen, führte eine kleine, beleibte Frau sie durch das Gebäude zu dem Raum. Sobald sie sich gesetzt und angefangen hatten, sich einen Arbeitsbereich einzurichten, klopfte es an der Tür.

„Herein“, sagte Kate.

Als sich die Tür öffnete, sah sie ein bekanntes Gesicht – Palmetto vom State Police Department, der leicht versteifte Mann, der sie vor dem Haus der Nashes früher am Tage empfangen hatte.

„Als ich mich um den Papierkram gekümmert habe, sah ich, dass Sie hier sind“, sagte Palmetto. „In ein paar Stunden fahre ich wieder nach Chesterfield. Dachte mir, ich gucke nochmal vorbei um zu sehen, ob ich Ihnen noch behilflich sein kann.“

„Nichts gravierendes“, sagte Kate. „Wussten Sie, dass auch im Rachen von Bethany Langley ein Fetzen desselben Stoffes gefunden wurde?“

„Nicht bis vor einer halben Stunde. Eine von Ihnen hat anscheinend im Labor angerufen und darum gebeten, ein Foto geschickt zu bekommen.“

„Richtig“, sagte DeMarco. „Und wie es scheint, handelt es sich um den gleichen Fetzen wie der, den Sie uns gegeben haben.“

Bei Erwähnung des Stofffetzens legte Kate das Plastiktütchen, das Palmetto ihr gegeben hatte, auf den Tisch. „Im Moment ist das der einzige konkrete Hinweis, der die beiden Doppelmorde verbindet.“

„Und die Gerichtsmedizin hat quasi keine Spuren an diesem Stoffetzen sichern können“, meinte Palmetto. „Abgesehen von Mrs. Nashs DNA.“

„Der Bericht zu den Langleys, den ich hier habe, gibt auch keinerlei Aufschluss.“

„Trotzdem ist es vielleicht einen Besuch in der Gerichtsmedizin wert“, sagte Kate.

„Dann mal viel Glück“, sagte Palmetto. „Als ich sie dort auf den Fall Nash angesprochen habe, hatten sie keine Ahnung.“

„Waren Sie in irgendeiner Weise in den Fall der Langleys involviert?“, wollte Kate wissen.

„Nein. Ich bin dazugekommen, direkt nachdem es passiert war. Ich habe die Leichen gesehen und den Tatort untersucht, aber da war nichts. Wenn Sie mit dem Gerichtsmediziner sprechen, fragen Sie ihn aber nach dem einzelnen Haar, das auf der sauberen Wäsche gefunden wurde. Es schien nicht von Mrs. Langley zu stammen, deshalb wird es gerade untersucht.“

„Bevor Sie gehen“, sagte Kate, „haben Sie irgendwelche Theorien, die Sie mit uns teilen wollen?“

„Ich habe keine“, sagte Palmetto trocken. „Ich habe alle Details abgeklopft, aber wie es scheint, gibt es überhaupt keine Verbindung zwischen den Nashs und den Langleys. Allerdings, der Stofffetzen im Rachen… etwas für den Killer so Spezielles und Persönliches muss sie doch verbinden, oder?“

„Das ist genau, was ich denke“, sagte Kate.

Er legte die Hand an die Tür, und nun sah Kate ihn zum ersten Mal lächeln. „Ich bin mir sicher, Sie werden es herausfinden. Ich habe von Ihnen gehört, wissen Sie? Viele von uns hier beim State Police Department haben das.“

„Da bin ich mir sicher“, sagte sie und verzog das Gesicht.

„Fast nur Gutes. Und dann haben Sie sich vor ein paar Monaten von ihrer Rente verabschiedet, um jemanden zur Strecke zu bringen, richtig?“

„So könnte man das sagen.“

Palmetto, dem klar war, dass Kate nicht einfach nur dasitzen und in Lob baden würde, zuckte die Schultern. „Rufen Sie die Jungs bei der State Police an, falls Sie irgendetwas benötigen, Agent Wise.“

„Das werde ich tun“, sagte sie, als Palmetto sich verabschiedete.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schüttelte DeMarco spielerisch den Kopf. „Hast du jemals genug davon, dass die Leute dich loben?“

„Ja, schon“, entgegnete Kate, ohne dass es selbstgefällig klang. Während es natürlich ein erhebendes Gefühl war, an das erinnert zu werden, was sie während ihrer Karriere geleistet hatte, so wusste sie doch tief im Innern, dass sie immer nur ihren Job gemacht hatte. Vielleicht hatte sie ihren Job mit mehr Hingabe erledigt als andere, aber es war eben doch nur naja – ein gut erledigter Job… ein Job, den sie scheinbar nicht hinter sich lassen konnte.

Innerhalb weniger Minuten und mit der Hilfe des Systemadministrators der Wache hatten Kate und DeMarco schnell Zugriff auf die Datenbank des Police Departments. Sie arbeiteten zusammen und gingen die Vergangenheiten sowohl der Nashs als auch der Langleys durch. Keine der Familien war kriminell aufgefallen. Tatsächlich war es schwer vorstellbar bei beiden Familien, dass sie sich jemanden zum Feind gemacht hatten. Die Langleys waren für einige Jahre ihres Lebens Pflegeeltern gewesen. Sie waren sehr engagiert gewesen in ihrer Kirche und über die letzten zwanzig Jahre auf vielen Missionen gewesen, vor allem in Nepal und in Honduras.

Nach einer Weile gab Kate auf und lief im Raum umher. Sie benutzte das Whiteboard im Konferenzraum, um Notizen aufzuschreiben, in der Hoffnung, etwas Schriftliches zu sehen würde ihr helfen, sich zu konzentrieren. Aber das war nicht der Fall. Keine Verbindung, keine Spuren, keine konkrete Richtung, wie sie weiter verfahren sollten.

„Du auch, was?“, fragte DeMarco. „Nichts?“

„Bisher nicht. Ich glaube, wir sollten uns an das halten, was wir haben, statt versuchen Neues zu finden. Ich glaube, wir müssen die Stofffetzen noch einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Zwar hat das Labor nichts Aufschlussreiches entdeckt, aber vielleicht weist uns der Stoff an sich in eine bestimmte Richtung.“

„Ich kann dir nicht folgen“, meinte DeMarco.

„Das ist schon in Ordnung“, entgegnete Kate. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir selbst überhaupt folgen kann. Aber vielleicht wissen wir, was wir suchen, wenn wir es sehen.“



***



Als Kate die Müdigkeit zum ersten Mal richtig spürte, fuhr sie gerade mit DeMarco von der Polizeiwache zur Gerichtsmedizin. Es erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie seit siebenundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte, und wie irre früh ihr Arbeitstag begonnen hatte. Vor zwanzig Jahren hätte ihr das nichts ausgemacht. Aber mit ihren sechsundfünfzig Jahren lagen die Dinge inzwischen nunmal anders.

Die Fahrt zur Gerichtsmedizin dauerte nur fünf Minuten. Sie befand sich inmitten eines kleinen Netzwerkes an Gebäuden, bestehend aus der Polizeiwache, dem Gericht und dem Gefängnis. Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, wurde sie am Fronttresen des Gerichtsmedizinisch-wissenschaftlichen Labors vorbei in das zentrale Labor geführt. Sie wurden gebeten, vorerst in der kleinen Lobby Platz zu nehmen, während der Techniker, der die Stofffetzen untersucht hatte, ausgerufen wurde.

„Glaubst du, dass der Stoff nur so eine Art Visitenkarte für den Killer ist?“

„Könnte sein. Hat vielleicht überhaupt nichts mit dem Warum des Falls zu tun. Vielleicht hat es für den Killer eine Bedeutung. So oder so, im Moment sieht es so aus, als seien die Stofffetzen – die, da bin ich mir sicher, von irgendeiner kuscheligen Decke stammen – unsere einzige echte Verbindung zu ihm.“

Dadurch wurde Kate an einen abscheulichen Fall erinnert, an dem sie in den Neunzigern mitgearbeitet hatte. Ein Mann hatte fünf Menschen umgebracht – alles seine Ex-Freundinnen. Bevor er sie erwürgte, hatte er sie gezwungen, ein Kondom zu schlucken. Am Ende stellte sich heraus, dass er dafür keinen wirklich Grund gehabt hatte, nur den, dass er es gehasst hatte, während des Sex ein Kondom zu tragen. Kate fragte sich, ob sich in diesem Fall die Stofffetzen als genauso unwichtig herausstellen würden.

Sie mussten nicht lange warten, bis ein großer, älterer Mann durch die gegenüber liegende Tür geeilt kam. „Sie sind vom FBI?“, fragte er.

„Ja, sind wir“, sagte Kate und zeigte ihren Ausweis. DeMarco tat es ihr gleich und der Mann betrachtete beide Ausweise eingehend.

„Nett Sie kennenzulernen, Agents“, sagte er. „Ich bin Will Reed, und ich habe die Untersuchungen an den Stücken Stoff vorgenommen, die bei den letzten Mordopfern gefunden wurden. Ich nehme an, deswegen sind Sie hier? Agent DeMarco, ich nehme an, Sie sind diejenige, an die ich vorhin das Bild geschickt habe?“

„Richtig“, sagte DeMarco. „Wir hoffen, Sie können uns etwas mehr über diese Stofffetzen erzählen.“

„Ich würde Ihnen ja sehr gerne helfen, aber wenn es um diese Stofffetzen geht, dann fürchte ich, dass ich nicht wirklich helfen kann. Wie es scheint, hat sich der Täter nicht nur die Mühe gemacht, die Fetzen tief in den Rachen der Opfer zu schieben, sondern ferner ist auch die Tatsache beachtlich, dass er keinerlei Spuren von sich selbst hinterlassen hat.“

„Ja, das verstehen wir“, meinte Kate. „Aber ohne konkrete physische Hinweise, auf die man sich stützen kann, hätte ich gern gewusst, ob Sie mir über den Stoff selbst sagen können.“

„Oh, damit kann ich vielleicht dienen“, sagte Reed.

„Ich bin der Meinung, dass beide Fetzen vom gleichen Ursprungsmaterial stammen“, sagte Kate. „Wahrscheinlich von einer Decke. Einer kuscheligen Decke. Wie sie für Kinder hergestellt werden.“

„Ich denke, dass kann man mit einiger Sicherheit behaupten. Bis ich den zweiten Fetzen sah, war ich mir nicht ganz sicher. Aber beide passen hundertprozentig zusammen – Farbe, Muster, Beschaffenheit, und so weiter.“

„Ist es möglich zu sagen, wie alt die Decke war?“, wollte Kate wissen.

„Ich fürchte nicht. Allerdings kann ich Ihnen sagen, woraus die Decke gemacht wurde. Und ich fand es merkwürdig, denn es ist eine unübliche Stoffkombination für eine traditionelle Decke, soweit man das sagen kann. Der Großteil der Decke besteht natürlich aus Wolle, das ist üblich. Aber bei dem zweiten Material handelt es sich um Bambuswolle.“

„Inwiefern ist das etwas anderes als herkömmliche Wolle?“ fragte Kate.

„Ich bin nicht ganz sicher“, sagte er. „Wir sehen viel Kleidung und Stoffe hier. Aber ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich mit etwas in Berührung gekommen bin, das Spuren von Bambuswolle enthielt. Es ist kein explizit rares Material, aber generell keineswegs so weit verbreitet wie herkömmliche Wolle.“

„Mit anderen Worten“, sagte DeMarco, „sollte es nicht allzu schwierig sein, Firmen ausfindig zu machen, die Bambuswolle als primäres Material verwenden?“

„Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen“, antwortete Reed. „Aber es interessiert Sie sicher, dass Bambuswolle tatsächlich oft in flauschigen Decken verwendet wird. Es ist sehr luftdurchlässig. Sie sollten sich wahrscheinlich auf etwas Teureres konzentrieren. Tatsächlich gibt es eine Firma, direkt hier vor den Toren der Stadt, die genau solche Produkte herstellt.“

„Kennen Sie den Namen dieses Herstellers?“

„Biltmore Threads. Es handelt sich um eine kleinere Firma, die fast pleitegegangen wäre, als alle anfing, online zu kaufen.“

„Können Sie uns sonst noch etwas sagen?“, bat Kate.

„Ja, aber es ist ein wenig unappetitlich. Soweit ich weiß, war der Stoff bei der Nash-Frau so tief in den Rachen gestopft, dass sie sich fast übergeben musste, selbst im Todeskampf. Wir haben Magensäure an dem Fetzen gefunden.“

Kate stellte sich vor, wie viel Gewalt man anwenden musste, um dies zu bewerkstelligen… wie weit man die eigene Hand in den Rachen des Opfers hineinstoßen musste, damit der Fetzen Stoff dort platziert war, wo man ihn schließlich gefunden hatte.

„Herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, Mr. Reed“, sagte Kate.

„Gerne. Lassen Sie uns nur hoffen, dass ich nicht bald einen dritten Stofffetzen zu Gesicht bekomme.“




KAPITEL SIEBEN


Um zu Biltmore Threads zu gelangen, mussten Kate und DeMarco unheimlicherweise die gleiche Straße nehmen, die sie schon morgens um vier befahren hatten, auf dem Weg nach Whip Springs. Die Produktionsstätte und das Lagerhaus befanden sich an einer zweispurigen Straße am Rande des Highways. Sie standen ein wenig zurück, hinter einem Streifen verdorrten Grases, und am Rande des gleichen Waldes, der das Haus der Familie Nash auf der anderen Seite abschirmte.

So wie der Parkplatz aussah, ging es Biltmore Threads allerdings nicht so schlecht, wie Will Reed angedeutet hatte. Es schien, als arbeiteten mindestens fünfzig Leute hier, und das war nur nach der jetzigen Tageszeit beurteilt. Kate meinte, dass so eine Firma wahrscheinlich in Schichten arbeitete, was hieß, das wahrscheinlich weitere fünfzig Arbeiter später kamen, um die Nachtschicht zu übernehmen.

Sie betraten die dunkle Lobby. Die Frau, die hinter dem Empfangstresen sah, beäugte sie mit einem fragenden Blick. Es war klar, dass sich hierher nicht viele Besucher verirrten.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.

DeMarco stellte sich und Kate vor und, nachdem sie sich ausgewiesen hatten, betätigte die Frau einen Türsummer am hinteren Ende der Lobby. Sie traten durch eine Tür, hinter der die Frau sie in Empfang nahm und sie einen schmalen Flur entlang führte, an deren Ende sie eine Doppeltür aufstieß, die in die Produktionshalle von Biltmore Threads führte. Mehrere Webrahmen und andere große Maschinen, die Kate noch nie zuvor gesehen hatte, ratterten vor sich hin. Am anderen Ende der Halle transportierte ein großer Gabelstapler eine Palette mit Stoffen ins Lager.

Sie gingen mit Vorsicht an der Wand der Halle entlang bis die Frau vor einer Tür Halt machte und sie dann hindurchführte. Sie standen in einem Flur, von dem fünf Räume abzweigten. Die Frau ging auf die erste Tür zu und klopfte an.

„Ja?“, donnerte eine Männerstimme von drinnen.

„Wir haben Besucher“, sagte die Frau, ohne die Tür zu öffnen. „Zwei Damen vom FBI.“

Es herrschte ein Moment Stille, bevor die Tür von innen geöffnet wurde. Dort stand ein dunkelhaariger Mann mit dicker Brille. Sein Blick wanderte an Kate und DeMarco auf und ab, weniger aus Nervosität heraus, sondern eher neugierig.

„FBI?“, fragte er. „Was kann ich für Sie tun?“

„Haben Sie eine Minute Zeit?“, fragte Kate.

„Sicher“, antwortete er, ging einen Schritt zur Seite und ließ sie in sein Büro eintreten.

Abgesehen von seinem Bürostuhl gab es nur einen einzigen anderen Stuhl in dem Raum. Weder Kate noch DeMarco setzten sich. Auch der dunkelhaarige Mann setzte sich nicht, sondern blieb bei ihnen stehen.

„Ich nehme an, Sie sind einer der Vorgesetzten?“, fragte Kate.

„Ich bin der Regionalmanager und Leiter der Tagesschicht, ja“, antwortete er und streckte ihnen schnell seine Hand entgegen; als sei er verlegen, dass er dies nicht schon früher getan hatte. „Ray Garraty.“

Kate gab ihm die Hand und zeigte ihm ihren Ausweis. Dann griff sie in die Tasche und zog das Plastiktütchen mit dem Stofffetzen, das vom Nash-Tatort stammte, hervor.

„Dies ist ein Stofffetzen, der kürzlich an einem Tatort gefunden wurde“, begann sie. „Und wir glauben, dass er elementar ist, um dem Killer auf die Spur zu kommen. Das Labor hat darin Bambuswolle gefunden, und soweit ich unterrichtet bin, verwendet Biltmore Threads regelmäßig eben solche Bambuswolle in seinen Produkten.“

„Ja, das tun wir“, sagte Garraty. Er griff nach dem Tütchen, zögerte und fragte, „darf ich?“

Kate übergab ihm das Tütchen. Garraty betrachtete es sehr genau und nickte dann. „Ohne es weiter zu zerreißen, kann ich natürlich keine Garantien geben, aber ja, hier scheint Bambuswolle drin zu sein. Wissen Sie, woher der Fetzen stammt?“

„Von einer Decke, nehme ich an.“

„Ja. Sieht so aus“, stimmte Garraty zu. „Und obwohl ich natürlich nicht sicher sein kann, sieht es so aus, als sei sie hier entworfen und produziert worden.“

„Hier bei Biltmore Threads?“, fragte Kate.

„Sehr gut möglich.“

Garraty gab Kate das Tütchen zurück und ging dann zu einem alten Aktenschrank in der Ecke seines kleinen Büros. Er öffnete die untere Schublade und zog nach einigem Suchen zwei Bücher heraus. Beide waren recht groß. Während er anfing, in dem einen zu blättern, sah Kate, dass es sich um Produktkataloge handelte.

„Farbe und Beschaffenheit kann man ähnlich erscheinen lassen“, erklärte er, während er weiter blätterte. „Wenn die Decke hier hergestellt wurde, ist sie in einem dieser Bücher abgebildet.“

Der Gedanke erregte Kate, aber sie war sich noch nicht ganz sicher, was dies bedeutete. Falls die Decke wirklich von Biltmore Threads hergestellt worden war, eröffnete dies denn überhaupt neue Möglichkeiten? Bevor man zu solch einer Schlussfolgerung gelangen konnte, mussten noch viele weitere Fragen gestellt und beantwortet werden.

„Hier“, sagte Garraty, drehte das Buch zu ihnen und wies auf eine von vielen verschiedenen Decken auf einer Seite im hinteren Teil des Buches. „Sieht das für Sie passend aus?“

Kate und DeMarco betrachteten die Seite. Sie blickte zwischen dem Stofffetzen und dem Bild hin und her, um sicherzugehen, dass sie sich nichts einbildete. Aber nach einigen Sekunden antwortete schon DeMarco.

„Ich meine, der Fetzen, den wir haben, ist ausgeblichen, aber es passt. Trotz des verblichenen weißen Karomusters.“

„Es ist verblichen, weil es ein altes Produkt ist“, sagte Garraty. Er zeigte auf die Produktbeschreibung. „Hier steht, dass es ab 1991 produziert wurde, und dass 2004 die Produktion eingestellt wurde.“

„Diese Decke wurde also dreizehn Jahre lang produziert?“, fragte DeMarco.

„Ja, es war ein sehr beliebtes Produkt, deshalb habe ich es auch gleich erkannt.“

„Das heißt, das letzte Mal, dass solch eine Decke ihr Lager verlassen hat, war 2004“, meinte Kate. „Also ist unser Fetzen zwischen fünfzehn und dreißig Jahre alt.“

„Korrekt.“

Also, selbst wenn die Decke eine Verbindung darstellt, macht es das dreißigjährige Zeitfenster extrem schwierig, dachte Kate.

„Mr. Garraty, wie lange sind Sie schon in dieser Position beschäftigt?“

„Fast sechsundzwanzig Jahre“, antwortete Garraty. „Nächstes Jahr gehe ich in Rente.“

„Während Ihrer Zeit hier, hatte Biltmore Threads jemals Angestellte namens Scott oder Bethany Langley, oder Toni und Derrick Nash?“





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Ein Meisterwerk von Thriller und Mystery. Auf großartige Art und Weise hat Blake Pierce seine Charaktere entwickelt, und dabei deren psychologischen Seiten so präzise beschrieben, dass wir uns in deren Gedankenwelt einfinden und ihren Ängsten und ihren Erfolgserlebnissen folgen können. Dieses Buch ist so reich an unerwarteten Wendungen, dass es Sie bis tief in die Nacht wachhalten wird, bis zur letzten Seite. Buch- und Film-Kritiken, Roberto Mattos (über Once Gone) WENN SIE SÄHE (Ein Kate Wise Mystery) ist das zweite Buch in der neuen psychologischen Krimireihe von Bestseller Autor Blake Pierce, dessen Nummer 1 Bestseller Once Gone (Buch Nr. 1) (erhältlich als gratis Download) mehr als eintausend 5-Sterne-Kritiken erhalten hat. Kate Wise, eine fünfundfünfzigjährige FBI-Agentin im Ruhestand, deren Tochter schon aus dem Haus ist, wird aus ihrem ruhigen Vorstadtleben gerissen, als ein Pärchen ermordet aufgefunden wird und es keine offensichtlichen Verdächtigen gibt. Das FBI kann nicht auf Kates brillanten Scharfsinn und ihre Fähigkeit, sich in die Gedankenwelt von Serienkillern hineinzuversetzen verzichten und bittet sie, einen schwierigen Fall zu lösen. Warum wurden zwei Pärchen 80 Kilometer voneinander entfernt auf dieselbe Art und Weise ermordet aufgefunden? Was könnte sie verbinden?Die Zeit drängt, denn Kate ist sich sicher, dass der Killer erneut zuschlagen wird. Aber als Kate in ein tödliches Katze-und-Maus-Spiel verwickelt wird, währenddessen sie sich in die dunklen Gedanken der Killers einfühlt, realisiert sie, dass sie vielleicht zu spät gekommen ist. Dieser actionreiche Thriller wird Ihr Herz schneller schlagen und Sie das Buch bis spät in die Nacht nicht aus der Hand legen lassen. Buch Nr. 3 in der KATE WISE MYSTERY Serie kann ab sofort vorbestellt werden.

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