Книга - So Gut Wie Tot

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So Gut Wie Tot
Blake Pierce


Das Au-Pair #3
SO GUT WIE TOT (DAS AU-PAIR—BUCH #3) ist der dritte Band der neuen Psycho-Thriller-Reihe der Nr. 1 Bestseller-Autorin Blake Pierce.



Nach ihrer desaströsen Anstellung in England will die 23-jährige Cassandra Vale ihr Leben normalisieren. Eine geschiedene Mutter aus gehobenen Kreisen im sonnigen Italien scheint die Lösung zu sein. Aber ist sie das wirklich?



Neue Familie, neue Kinder, neue Regeln und neue Erwartungen: Cassandra ist entschlossen, ihre neue Anstellung durchzuziehen – bis eine schreckliche Entdeckung sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt.



Als das Unvorstellbare geschieht, stellen sich zwei Fragen. Ist es zu spät für Cassie? Und was ist aus ihr geworden?



Eine fesselnde Mystery-Geschichte mit komplexen Figuren, verdeckten Geheimnissen, dramatischen Wendungen und einer unglaublichen Spannung: SO GUT WIE TOT ist das dritte Buch der spannungsgeladenen Psycho-Thriller-Serie, die man gar nicht aus der Hand legen möchte.



Buch #4 der Serie wird ebenfalls bald erhältlich sein.





Blake Pierce

SO GUT WIE TOT




SO GUT WIE TOT




(DAS AU-PAIR—BUCH DREI)




BLAKE PIERCE



Blake Pierce

Blake Pierce ist der USA Today Bestsellerautor der RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher sechzehn Bücher umfasst. Er ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Mystery-Reihe, die bisher aus dreizehn Büchern besteht, der AVERY BLACK Mystery-Reihe, die aus sechs Büchern besteht, der KERI LOCKE Mystery-Reihe, die in fünf Büchern erhältlich ist, der DAS MAKING OF RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher fünf Bücher umfasst, der KATE WISE Mystery-Reihe, von der bisher sechs Bücher erhältlich sind, der spannenden CHLOE FINE psychologischen Suspense-Mystery-Reihe, die bisher aus fünf Büchern besteht, der JESSE HUNT psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, von der es bisher fünf Bücher gibt, der AU PAIR psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, die bisher aus zwei Büchern besteht, und der ZOE PRIME Mystery-Reihe, von der bisher zwei Bücher erwerblich sind.



Blake ist selbst ein passionierter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres, weshalb er sich freuen würde, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie doch seine Webseite www.blakepierceauthor.com, um mehr über ihn herauszufinden und in Kontakt zu bleiben!








Copyright © 2020 durch Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Außer wie im US-amerikanischen Urheberrechtsgesetz von 1976 erlaubt, darf kein Teil dieser Veröffentlichung in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen werden oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem ohne die vorherige Genehmigung des Autors gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Genuss lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch für eine andere Person freigeben möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben oder es nicht für Ihre Verwendung erworben wurde, geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dieses Buch ist reine Fiktion. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Ereignisse sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen ist völlig zufällig. Buchumschlagsbild Copyright Mimadeo, mit Lizenz von Shutterstock.com



BÜCHER VON BLAKE PIERCE

DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORÜBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)



ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)



JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LÄCHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LÜGE (Band #5)



CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LÜGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)

HEIMKEHR (Band #5)



KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WÜSSTE (Band #1)

WENN SIE SÄHE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WÜRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (Band #5)

WENN SIE FÜRCHTETE (Band #6)



DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TÖTET (Band #6)



RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ÜBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)



EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE

EINST GELÖST



MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FÜHLT (Band #6)

EHE ER SÜNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLÜNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFÄLLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)



AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Band #1)

LAUF (Band #2)

VERBORGEN (Band #3)

GRÜNDE DER ANGST (Band #4)

RETTE MICH (Band #5)

ANGST (Band #6)



KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)




KAPITEL EINS


Cassandra Vale lief hastig übers Pflaster. Kalter Regen schlug ihr ins Gesicht und sie blinzelte. Es war spät, dunkel und sie glaubte, sich verlaufen zu haben. Dieser Teil Mailands war anders, als sie es erwartet hatte. Sie war in einer der Haupteinkaufsstraßen gelandet. Menschen in dunklen, eleganten Mänteln und Einkaufstaschen in den Händen drängten sich über den breiten Fußgängerweg.

Auf dem Weg zum Zebrastreifen schielte Cassie in die Schaufenster und fragte sich, ob sie in einem der Geschäfte nach dem Weg fragen sollte. Die hell erleuchteten Verkaufsflächen waren Oasen der Annehmlichkeit und Wärme, aber ihre schäbige Jacke und ihre nassen Turnschuhe würden ihr vermutlich keinen Einlass verschaffen. Emilio Pucci, Dolce & Gabbana, Moschino – die Namen über den Türen waren ein Inbegriff der Modeindustrie. Die Kleider selbst schienen genauso weit weg zu sein wie ihre Preisschilder.

Sie würde sich mit ihrer Karte begnügen müssen, die sich im Regen immer schneller aufzulösen schien. Sie hielt an der Straßenüberquerung an, um sie auseinanderzufalten. Ihre Lippen und Wangen fühlten sich taub an. Das feuchte Papier riss, als sie es öffnete und während sie die Einzelteile zusammendrückte, versuchte sie, das komplizierte Straßenmuster mit unbekannten – und mittlerweile fast unleserlichen – Namen zu verstehen.

Sie war zu weit gegangen, hätte bereits vor vier Häuserblöcken abbiegen sollen. Ihre Orientierung war abhandengekommen und sie hatte nicht früh genug versucht, ihre Position festzumachen. Ihre Hände zitterten nun, als sie die Karte umdrehte und versuchte, ihren Weg zurückzuverfolgen. Wo musste sie hin? Links abbiegen, dann drei Häuserblocks weiter – nein, fünf – dann wieder nach links in das verwirrende Labyrinth aus Gassen und Straßen. Dort musste sie hin.

Cassie faltete die Kartenstücke so gut sie konnte zusammen und steckte sie in ihre Tasche zurück, obwohl sie wusste, dass die Karte vermutlich keinen weiteren Einsatz überleben würde. Sie musste sich konzentrieren und die Panik unterdrücken, zu spät zu kommen. Was, wenn es bereits geschlossen hatte? Was, wenn ihre Reise in nichts als hoffnungsloser Enttäuschung enden würde?

Dies war ihre einzige Chance, ihre Schwester Jacqui zu finden. Es war der einzige Hinweis, den sie hatte.

Sie bemühte sich, ihre Route nicht zu vergessen und rannte fast die Straßen entlang. Als sie Mailands Fashionzentrum hinter sich ließ, wurden die Fußgängerwege schmäler und die Schaufenster weniger einschüchternd. Günstigere Produkte und Imitate wurden ausgestellt und die Preise sanken mit jedem Häuserblock. Aktionsschilder mit den Worten ‚Frühjahrsschlussverkauf‘ hingen hinter den heruntergekommenen Fenstern.

Sie erkannte sich selbst in dem abgedunkelten Glas. Ihre Haut war bleich, ihre Wangen von der Kälte gerötet. Sie zog sich ihre limettengrüne Mütze über das schulterlange, kastanienbraune Haar. Hauptsächlich der Wärme wegen, aber auch, um die rebellischen Locken zu kontrollieren. In ihrem alten, blauen Mantel mit kaputtem Reißverschluss wirkte sie in der Modehauptstadt unglaublich fehl am Platz. Sie fühlte sich wie eine Außenseiterin inmitten der makellos gekleideten Einheimischen mit ihrem perfekt geschniegelten Haar, ihren teuren Stiefeln und ihrem angeborenen Sinn für Stil.

Als Kinder hatten sie und Jacqui oft kaputte Second-Hand-Kleidung zur Schule getragen, die nicht richtig passte. Ihr verwitweter Vater hatte darauf bestanden, dass es kein Geld gab, um etwas Besseres zu kaufen. Cassie hatte ihr Schicksal williger akzeptiert als Jacqui, die es gehasst hatte, schäbig und arm auszusehen.

Es machte Sinn, dass ihre Schwester von dieser Fashion-Metropole angezogen worden war, wo jedes Kleidungsstück hier doch trendy, neu und wunderschön war.

Während sie nach Atem rang, sah Cassie, dass ihr der Name der Straße vor ihr bekannt vorkam.

Es war die Straße, nach der sie gesucht hatte. Jetzt musste sie lediglich den kleinen Laden finden.

Er hieß Cartolería, sie wusste aber nicht, ob das der tatsächliche Name oder eine Beschreibung war. Bei ihrem Telefonat mit der Angestellten war die Sprachbarriere ein großes Problem gewesen. Cassie hatte es geschafft, der immer ungeduldiger werdenden Frau zumindest den Straßennamen aus der Nase zu ziehen. Das war nicht einfach gewesen, schließlich waren deren Englischkenntnisse auf ‚wir schließen‘ beschränkt gewesen, was sie mehrere Male wiederholt, schließlich ‚addio‘ gekeift und aufgelegt hatte.

Cassie hatte entschlossen, den Laden persönlich aufzusuchen.

Eine Woche hatte sie gebraucht, um ihre Angelegenheiten zu klären und von Edinburgh nach Mailand zu fahren. Sie hatte wesentlich früher ankommen wollen, war aber auf dem Weg in die Stadt im Stau gestanden und hatte sich auf der Suche nach einem billigen Parkplatz mehrere Male verfahren. Ihr Navi hatte nicht richtig funktioniert und der Akku ihres Handys war fast leer. Zum Glück hatte sie daran gedacht, die Karte auszudrucken. Wann machten die Geschäfte hier zu? Um achtzehn Uhr? Später?

Sie wurde immer nervöser, als im Geschäft vor ihr bereits das Schild in der Tür umgedreht und das Licht ausgeschaltet wurde.

„Entschuldigung. Cartolería. Welche Richtung?“, fragte sie mit der Ahnung, dass jede Sekunde zählen könnte.

Der Mann runzelte die Stirn, deutete die Straße herunter und murmelte etwas auf Italienisch, das sie nicht verstehen konnte. Zumindest hatte er sie davon abgehalten, in die falsche Richtung zu gehen.

„Danke“, sagte sie.

„Signorina!“, rief er ihr nach, aber Cassie hielt für niemanden an.

Die Aufregung nahm ihr den Atem. Es bestand die Chance, wenn auch noch so klein, dass Jacqui tatsächlich in diesem Laden arbeitete. Cassie stellte sich vor, das Geschäft zu betreten und ihrer Schwester in die Augen zu sehen. Sie fragte sich, was Jacqui tun würde. Sie selbst würde vor Freude schreien und sie so fest umarmen wie sie konnte. Hoffentlich hätten sie dann die Möglichkeit, sich zu unterhalten. Sie wollte herausfinden, was geschehen war und warum Jacqui sich so lange nicht gemeldet hatte.

Und obwohl es sehr unwahrscheinlich war, konnte Cassie nicht anders, als zu träumen.

Da war es. Sie sah das Schild, Cartolería, und rannte los. Der Laden musste offen sein, er musste es einfach. Das war ihre Chance, sich mit der einzigen Familie zu vereinen, die sie noch hatte.

Sie rannte platschend über die nassen Pflastersteine und flocht sich durch die langsameren Fußgänger, die unter ihren monströsen Schirmen Schutz suchten.

Dann blieb sie stehen und starrte ungläubig ins Schaufenster.

Die Cartolería war geschlossen.

Nicht nur für den Tag, sondern für immer.

Die Fenster waren vernagelt, durch eine Lücke konnte sie die dunklen Räumlichkeiten sehen. Das ramponierte und schäbige Schild über der Tür war die einzige Erinnerung daran, was sich einst hinter den Schaufenstern befunden hatte.

Cassie starrte in die trostlose Leere und verstand nun, dass sie die ungeduldige Angestellte missverstanden hatte, als sie vor einer Woche dort angerufen hatte. Die Frau hatte versucht, ihr mitzuteilen, dass der Laden für immer geschlossen wurde. Hätte sie das sofort realisiert, hätte sie zurückrufen, weitere Fragen stellen und aufdringlicher sein können.

Stattdessen war sie viele hundert Kilometer gefahren, um vor der Sackgasse aller Sackgassen zu stehen.

Ihre einzige Spur war verschwunden, zusammen mit ihren Hoffnungen und Träumen. Sie hatte die einzige Chance verloren, ihre Schwester wiederzufinden.




KAPITEL ZWEI


Cassie starrte in die leeren Ladenräume und fühlte, wie die Enttäuschung über sie hereinbrach. Sie wusste, dass sie sich auf den langen Rückweg zu ihrem Wagen begeben sollte, hinaus in die dunkle und feuchte Nacht, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden.

Sich jetzt wegzudrehen war wie für immer aufzugeben und allein bei dem Gedanken fühlte sie, wie ihre Füße sich fester auf den Boden drückten. Sie konnte die Gewissheit nicht abschütteln, dass es hier noch immer etwas gab, das sie ihr irgendwie zu Jacqui führen würde.

Sie sah sich um und sah, dass eines der Nachbargeschäfte – ein Café und Bistro – noch immer offen war. Vielleicht wusste dort jemand, wo der Besitzer der Cartolería hingegangen war und wo er oder sie sich nun aufhielt.

Cassie betrat das Bistro, erleichtert, Schutz vor den Regenböen zu finden. Innen roch es köstlich nach Kaffee und Brot und sie erinnerte sich daran, heute noch nichts gegessen zu haben. Auf dem Holztresen stand stolz eine große Cappuccino-Maschine aus Chrom.

Nur vier Tische fanden in dem Café Platz und sie waren alle besetzt. An der Bar jedoch war ein leerer Stuhl und sie setzte sich.

Ein erschöpft wirkender Kellner eilte zu ihr.

„Cosa prendi?“, fragte er.

Cassie vermutete, dass er ihre Bestellung aufnehmen wollte.

„Sorry, ich spreche kein Italienisch“, entschuldigte sie sich und hoffte, dass er sie verstehen würde. „Wissen Sie, wem der Laden nebenan gehört hat?“

Der junge Mann zuckte mit den Schultern und wirkte verwirrt.

„Ich kann Essen bringen?“, fragte er in brüchigem Englisch.

Cassie begriff, dass die Sprachbarriere ihre Befragung beendet hatte, also scannte sie schnell die Speisekarte, die auf die schwarze Kreidetafel an der Wand geschrieben worden war.

„Kaffee, bitte. Und ein Panini.“

Sie blätterte ein paar Scheine aus ihrer schrumpfenden Notreserve. Die Preise in Mailand waren noch höher als erwartet, aber es wurde spät und sie war am Verhungern.

„Bist du Americana?“, fragte der Mann neben ihr.

Beeindruckt nickte Cassie.

„Ja, das bin ich.“

„Mein Name ist Vadim“, stellte er sich vor.

Er hörte sich nicht italienisch an, aber ihr Ohr für Akzente war bei weitem nicht so gut wie seins. Sie vermutete, dass er irgendwo aus Osteuropa oder sogar Russland stammen könnte.

„Ich bin Cassie Vale“, antwortete sie.

Er schien einige Jahre älter zu sein als sie, also Ende zwanzig, und trug Lederjacke und Jeans. Vor ihm stand ein halbvolles Glas Rotwein.

„Machst du Urlaub hier? Arbeit oder Universität?“, fragte er.

„Ich bin tatsächlich hier, um jemanden zu finden.“

Dieses Geständnis schmerzte, jetzt wo Cassie fürchtete, genau das niemals erledigen zu können.

Er zog seine dicken Augenbrauen hoch.

„Was meinst du mit finden? Jemand bestimmtes?“

„Ja. Meine Schwester.“

„Ist sie verschwunden?“, fragte er.

„Das ist sie. Ich bin einer Spur nachgegangen, in die ich viel Hoffnung investiert hatte. Vor einiger Zeit hat sie eine Freundin in den Vereinigten Staaten angerufen und wir haben die Nummer verfolgt.“

„Du hast also den Anruf zurückverfolgt und bist hier gelandet? Das ist gute Detektivsarbeit“, sagte Vadim bewundernd, während der Kellner ihren Kaffee über den Tresen schob.

„Nein, ich war zu langsam. Weißt du, sie hat mich zwei Mal angerufen. Die erste Nummer hat überhaupt nicht funktioniert. Und erst letzte Woche ist mir eingefallen, dass der zweite Anruf möglicherweise von einer anderen Nummer aus gemacht worden war.“

Vadim nickte mitfühlend.

„Und jetzt ist die Cartolería geschlossen“, erklärte Cassie weiter.

„Das Geschäft nebenan?“

„Ja. Von dort aus hat sie mich angerufen. Ich hoffe, herauszufinden, wem der Laden gehört hat.“

Er runzelte die Stirn.

„Ich weiß, dass die Cartolería zu einer Ladenkette gehört. Es gibt noch andere in Mailand. Es ist ein Internet-Café, das auch Stifte, Kugelschreiber und solche Dinge verkauft.“

„Schreibwaren“, schlug Cassie vor.

„Ja, genau. Vielleicht kannst du einen anderen Laden der Kette anrufen, um den Manager dieser Filiale ausfindig zu machen.“

Der Kellner kehrte zurück und stellte einen Teller vor ihr ab. Cassie machte sich hungrig darüber her.

„Bist du alleine unterwegs?“, fragte Vadim.

„Ja, ich bin alleine hergekommen, um Jacqui zu finden.“

„Warum suchst du nach ihr und sie nicht nach dir?“

„Wir hatten eine schwere Kindheit“, erklärte sie. „Meine Mutter starb, als wir noch klein waren und mein Vater kam ohne sie nicht klar. Er wurde sehr wütend und schien unserer aller Leben zerstören zu wollen.“

Vadim nickte.

„Jacqui war älter als ich und ist eines Tages einfach gegangen. Ich glaube, sie kam nicht mehr damit klar. Mit seiner Wut, seinem Schreien, den Glasscherben auf dem Boden. Er hatte viele verschiedene Freundinnen und oft waren Fremde in unserem Zuhause.“

Eine dunkle Erinnerung drückte sich an die Oberfläche – ihr Versteck unter dem Bett, die schweren Schritte auf der Treppe, das Öffnen ihrer Türe. Jacqui hatte sie gerettet. Sie hatte so laut geschrien, dass die Nachbarn angerannt gekommen waren und der Mann sich aus dem Staub gemacht hatte. Cassie erinnerte sich an die Angst, die sie verspürt hatte, als er an ihrer Schlafzimmertür gerüttelt hatte. Jacqui war ihre Beschützerin gewesen, bis sie weggerannt war.

„Als Jacqui weg war, bin ich ausgezogen. Mein Dad wurde zwangsgeräumt und musste eine neue Unterkunft finden. Ich habe ein neues Handy, er hat ein neues Handy. Sie kann uns unmöglich kontaktieren. Aber ich glaube, dass sie es versucht. Doch sie scheint Angst zu haben und ich weiß nicht, warum. Vielleicht denkt sie, dass ich wütend bin, weil sie mich alleine gelassen hat.“

Vadim schüttelte den Kopf.

„Du bist also ganz allein auf dieser Welt?“

Cassie nickte und fühlte sich unglaublich traurig.

„Kann ich dir einen Wein spendieren?“

Cassie schüttelte den Kopf.

„Vielen Dank, aber ich muss fahren.“

Ihr Wagen war fünfundvierzig Gehminuten von hier entfernt. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie hinsollte, da sie keine Unterkunft gebucht hatte. Sie hatte gehofft, früher anzukommen, in dem Geschäft einen Hinweis auf Jacquis Aufenthaltsort zu finden und von dort ihre Suche weiterzuführen. Doch jetzt war es dunkel und sie hatte keine Ahnung, wo sich die bezahlbaren Inns und Hostels der Stadt befanden. Vermutlich würde sie im Parkhaus in ihrem Wagen schlafen müssen.

„Hast du eine Unterkunft für heute Abend?“, fragte Vadim, als könne er Gedanken lesen.

Cassie schüttelte den Kopf.

„Das muss ich noch klären.“

„Ganz in der Nähe befindet sich eine Backpackers Lodge. Eine pensione, wie sie es hier in Italien nennen. Das könnte genau das Richtige für dich sein. Ich komme auf meinem Nachhauseweg daran vorbei und kann dich hinbringen.“

Cassie lächelte zögernd. Sie machte sich Sorgen um den Preis und die Tatsache, dass sich ihr Gepäck noch immer im Wagen befand. Trotzdem klang eine Unterkunft in der Nähe besser als der lange Rückweg zum Parkhaus. Es bestand sogar die Chance, dass Jacqui auch dort untergekommen war; sie sollte sich die Lodge also zumindest ansehen.

Sie trank ihren Kaffee und aß die letzten Krümel ihres Paninis, während Vadim sein Weinglas leerte und einige Nachrichten auf seinem Handy tippte.

„Komm mit mir. Hier entlang.“

Draußen regnete es noch immer, doch Vadim öffnete einen großen Schirm. Cassie lief dicht neben ihm und war dankbar für den Schutz vor dem Regen. Er machte große und eilige Schritte und sie musste sich bemühen, Schritt zu halten. Sie war froh, dass er nicht trödelte, aber gleichzeitig fragte sich, ob das Gästehaus für ihn einen Umweg darstellte.

Sie erhaschte kurze Blicke auf die Gebäude, die sie passierten und versuchte, herauszufinden, wo sie waren. Namen von Restaurants, Läden und Geschäften blinkten und leuchteten im Regen und die unbekannte Sprache überforderte Cassie.

Sie überquerten eine Straße und sie bemerkte, dass der Verkehr ruhiger geworden war. Obwohl sie schon länger nicht mehr auf die Uhr gesehen hatte, glaubte sie, dass es bereits weit nach neunzehn Uhr war. Sie fühlte sich erschöpft und fragte sich, wie weit entfernt die Backpackers Lodge war und was sie tun würde, wenn kein Bett mehr frei war.

Zu ihrer Rechten befand sich ein Supermarkt, dessen war sie sich sicher. Links war eine Art Unterhaltungsestablishment angesiedelt. Das Schild blinkte in Neonfarben. Es war kein Rotlichtbezirk, wenn es so etwas in Mailand überhaupt gab, aber es war auch nicht zu weit davon entfernt.

Plötzlich wurde klar, dass sie zu schnell und zu weit gegangen waren und zwar ohne ein Wort zu sprechen.

Sie hatten fast eineinhalb Kilometer zurückgelegt und kein vernünftiger Mensch würde das als ‚in der Nähe‘ bezeichnen.

Dann holte ihre Erinnerung auf.

Nach den ersten Kreuzungen hatte sie einen Blick nach links geworfen. Abgelenkt und mit Regentropfen in den Augen hatte sie das Schild nicht wahrgenommen – ein bescheidenes Schild mit schwarzen Buchstaben statt den blinkenden Tafeln, die sie jetzt umringten.

„Pensione.“

Das war das Wort, das auch Vadim benutzt hatte. Das italienische Äquivalent für eine Backpackers Lodge.

„Warum wirst du langsamer?“, fragte er und sein Ton wurde schärfer.

Weiter vorne sah Cassie die wartenden Scheinwerfer. Ein weißer Van parkte auf der anderen Straßenseite und Vadim schien direkt darauf zuzusteuern.

Er streckte seine Hand aus und innerhalb eines Sekundenbruchteils realisierte Cassie erschrocken, dass er ihr Zögern bemerkt hatte und nun nach ihrem Arm greifen wollte.




KAPITEL DREI


Zu spät wurde Cassie klar, dass sie zu naiv, zu gesprächig und zu gutgläubig gewesen war. In ihrem Bedürfnis nach Gesellschaft hatte sie mit einem Fremden geteilt, dass sie ganz alleine auf dieser Welt war und niemand ihren Aufenthaltsort kannte.

Horrorszenarien spielten sich nun in ihrem Kopf ab – Kidnapping, Menschenhandel und Missbrauch. Sie musste entkommen.

Als Vadims Hand ihrem Handgelenk näherkam, sprang sie abrupt zurück und er erwischte stattdessen nur ihren Jackenärmel.

Der ausgetragene, dünne Stoff riss und er hielt lediglich ein Stück Polyester in den Händen. Dann war sie frei.

Cassie drehte sich um und rannte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Mit gesenktem Kopf floh sie durch den Regen und über die Straße, während die Ampel bereits auf Rot schaltete. Hinter ihr fluchte Vadim und sie wusste, dass der große Schirm ihn nun mehr behinderte als ihm nützte. Sie bog links in eine Seitengasse ein, während hinter ihr ein Bus vorbeifuhr und sie hoffte, dass Vadim ihren Richtungswechsel nicht gesehen hatte. Aber ein Rufen hinter ihr belehrte sie eines Besseren – er war ihr noch immer auf den Fersen.

Sie bog rechts auf eine geschäftigere Straße ab und während sie sich an langsamer gehenden Fußgängern vorbeischlängelte, zog sie sich sowohl Jacke als auch Mütze aus, um mit deren grellen Farben nicht aufzufallen. Sie knüllte die Jacke unter ihrem Arm zusammen und als sie die nächste Kreuzung erreichte und dort links abbog, warf sie einen schnellen Blick nach hinten.

Niemand schien ihr zu folgen, aber er konnte sie noch immer einholen – oder, noch schlimmer, sie an ihrem Ziel erwarten.

Vor ihr sah sie ein Leuchtfeuer der Hoffnung und Sicherheit: das ‚Pensione‘-Schild, an dem sie zuvor vorbeigegangen waren. Vadim war nirgends zu sehen.

Cassie sprintete darauf zu und betete, rechtzeitig aus der Gefahrenzone hinaus und ins Innere zu gelangen.


*

Die Musik des Gästehauses war auch von der Straße aus hörbar. Das wackelige, weiß gestrichene Tor stand nur angelehnt.

Cassie drückte es auf und stampfte die schmale Holztreppe hinauf. Stimmen, Gelächter und Zigarettenrauch hießen sie willkommen.

Sie warf einen Blick nach hinten, doch der Treppenaufgang war leer.

Vielleicht hatte er die Jagd nach ihr aufgegeben. Jetzt, nachdem ihr die Flucht gelungen war, fragte sie sich, ob sie die Bedrohung aufgebauscht hatte. Der geparkte Van war möglicherweise nur ein Zufall gewesen. Vielleicht hatte Vadim sie lediglich mit zu sich nach Hause nehmen wollen.

Doch wie dem auch sei – er hatte sein Versprechen nicht gehalten und sogar versucht, sie zu packen, als sie gezögert hatte. Wieder überkam sie die Angst, als sie sich daran erinnerte, wie knapp sie ihm entkommen war.

Es war so idiotisch gewesen, hinauszuposaunen, dass sie alleine war, niemand wusste, wo sie sich aufhielt und sie sich auf einer hoffnungslosen Suche nach einer möglicherweise für immer verschwundenen Person befand. Schwer atmend schalt sich Cassie für ihre entsetzliche Dummheit. Es war so erleichternd gewesen, Jacquis Geschichte mit einem Fremden zu teilen, der sie nicht verurteilte. Dabei hatte sie nicht realisiert, auch andere Informationen preisgegeben zu haben.

Das Sicherheitstor am Ende der Treppenstufen war geschlossen. Es führte in ein kleines Foyer, das nicht besetzt war, doch unter einem Knopf an der Wand hing ein Schild.

Die Worte waren auf mehrere Sprachen übersetzt worden und Englisch stand ganz oben.

„Bitte klingeln.“

Cassie klingelte und hoffte, gehört zu werden, wo die Musik doch laut durch das Haus schallte.

Hoffentlich hört mich jemand, betete sie.

Dann öffnete sich die Tür auf der anderen Seite des Foyers und eine rotblonde Frau in Cassies Alter betrat den Raum. Sie wirkte überrascht, Cassie dort stehen zu sehen.

„Buono sera“, begrüßte sie sie.

„Sprichst du Englisch?“, fragte Cassie und hoffte, dass die Frau zweisprachig war und verstand, dass sie schnell hereingelassen werden musste.

Zu Cassies Erleichterung antwortete sie auf Englisch. Sie schien einen deutschen Akzent zu haben.

„Wie kann ich dir helfen?“

„Ich brauche dringend eine Unterkunft. Habt ihr freie Zimmer?“

Die rotblonde Frau dachte kurz nach.

„Keine Zimmer“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Cassie war am Boden zerstört. Sie blickte über die Schulter nach hinten und fürchtete, Schritte auf der Treppe gehört zu haben. Aber es musste das Dröhnen der Musik im Gästehaus gewesen sein.

„Kann ich wenigstens reinkommen?“, fragte sie.

„Natürlich. Ist alles in Ordnung?“

Die Frau betätigte den Tür-Buzzer. Cassie fühlte die Vibration des kalten Metalls in ihren Händen, als das Schloss aufsprang. Energisch drückte sie die Tür hinter sich zu.

Endlich war sie sicher.

„Ich habe draußen eine schlechte Erfahrung gemacht. Ein Mann wollte mich herbegleiten, hat aber dann eine andere Richtung eingeschlagen. Als ich gemerkt habe, dass etwas nicht stimmt, hat er mich am Arm gepackt, doch ich habe es geschafft, mich zu befreien.“

Die Frau runzelte die Stirn und sah erschrocken aus.

„Ich bin froh, dass du dich befreien konntest. Dieser Teil Mailands kann nachts gefährlich sein. Bitte, komm mit ins Büro. Ich glaube, deine Frage missverstanden zu haben. Wir haben keine freien Zimmer; alle Einzelzimmer sind belegt. Aber wir haben ein Bett in einem der Gemeinschaftsräume, wenn das für dich in Ordnung ist.“

„Vielen Dank, das ist es.“

Erleichtert, nicht erneut die dunklen Straßen Mailands betreten zu müssen, folgte Cassie der Frau durch das kleine Foyer in ein winziges Büro. An der Tür hing ein Schild: ‚Hostel Manager‘.

Dort bezahlte Cassie für die Unterkunft. Wieder wurde ihr klar, wie hoch die Preise waren. Mailand war ein teures Pflaster und es schien keine Möglichkeit zu geben, günstig zu leben.

„Hast du Gepäck?“, fragte sie.

Cassie schüttelte den Kopf. „Das ist im Auto, mehrere Kilometer von hier entfernt.“

„Dann möchtest du bestimmt das Notfallset kaufen.“

Zahnbürste, Zahnpaste, Seife und Baumwollshirt waren wahre Lebensretter und Cassie gab der Frau dafür noch mehr Euros aus ihrem Portemonnaie.

„Das Zimmer befindet sich am Ende des Korridors und dein Bett ist das neben der Tür. Außerdem gehört dir ein Schließfach.“

„Danke.“

„Die Bar ist dort drüben. Wir bieten unseren Gästen das billigste Bier Mailands.“ Sie lächelte, als sie den Schließfachschlüssel auf den Tresen legte.

„Mein Name ist Gretchen“, fügte sie hinzu.

„Ich bin Cassie.“

Sie erinnerte sich an den Grund ihres Besuchs. „Was ist mit einem Telefon? Oder Internet?“

Sie hielt den Atem an, während Gretchen nachdachte.

„Gäste dürfen das Hostel-Telefon nur in Notfällen benutzen“, sagte sie. „Aber es gibt mehrere Einrichtungen in der Nähe, wo man telefonieren oder einen Computer verwenden kann. Die Adressen stehen an der Pinnwand neben dem Bücherregal, dort befindet sich auch eine Karte.“

„Danke.“

Cassie sah sich um. Sie hatte die Pinnwand beim Betreten des Hostels gesehen, sie hing über einem Regal. Das große Brett war mit den Zetteln übersät.

„Wir hängen auch Jobs an dem Board aus“, erklärte Gretchen. „Wir suchen täglich die Stellenanzeigen raus. Manche kontaktieren uns sogar direkt, wenn sie Hilfe beim Kellnern, Regale einräumen oder Putzen brauchen. Jobs wie diese werden normalerweise tagesweise und in bar bezahlt.“

Sie lächelte Cassie mitfühlend an, als verstünde sie das Dilemma, in einem fremden Land ohne Geld dazustehen.

„Die meisten unserer Gäste finden Arbeit, wenn sie danach suchen. Lass mich wissen, wenn ich dir dabei helfen kann“, sagte sie.

„Nochmals danke“, sagte Cassie.

Sie ging direkt zur Pinnwand.

Fünf Einrichtungen, die Telefone und Internet zur Nutzung anboten, waren darauf ausgeschrieben. Cassie hielt kurz den Atem an, als sie den Namen Cartolería sah, aber der Eintrag war kürzlich durchgestrichen und mit der Notiz ‚geschlossen‘ versehen worden.

Das war ein gutes Zeichen, also entschied sich Cassie, Gretchen nach der Gästeliste zu fragen. Sie ging zur Lounge, wo die Managerin sich gerade ein Bier geöffnet hatte und inmitten von lachenden Menschen auf einem Sofa saß.

„Hier ist noch eine Kundin.“

Ein großer, schlanker Mann mit britischem Akzent, der noch jünger aussah als Cassie, sprang auf und öffnete den Kühlschrank.

„Ich bin Tim. Was kann ich dir bringen?“, fragte er.

Als er ihr Zögern sah, fügte er hinzu: „Heineken sind im Angebot.“

„Danke“, sagte Cassie.

Sie bezahlte und er überreichte ihr eine eiskalte Flasche. Zwei dunkelhaarige Mädchen, vermutlich Zwillinge, rutschten auf das andere Sofa, um ihr Platz zu machen.

„Ich bin eigentlich nur hier, weil ich gehofft hatte, meine Schwester zu finden“, sagte sie und wurde nervös.

„Vielleicht kennt ihr sie oder sie ist hier untergekommen. Sie hat blondes Haar – oder zumindest war es blond, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Ihr Name ist Jacqui Vale.“

„Seid ihr schon lange getrennt?“, fragte eines der dunkelhaarigen Mädchen interessiert.

Als Cassie nickte, meinte sie: „Das ist sehr traurig. Ich hoffe, du findest sie.“

Cassie nahm einen Schluck Bier. Es war kalt und malzig.

Die Managerin scrollte durch ihr Handy.

„Wir hatten im Dezember keine Jacqui hier. Und im November auch nicht“, sagte sie und Cassies Herz wurde schwer.

„Warte“, sagte Tim. „Ich erinnere mich an jemanden.“

Er schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, während Cassie ihn aufgeregt beobachtete.

„Wir haben hier nicht viel Amerikaner, ich erinnere mich aber an den Akzent. Sie selbst war kein Gast, sondern hat einen Freund hier besucht. Sie hatte einen Drink und ist dann gegangen. Aber sie war nicht blond, sondern braunhaarig, aber sehr hübsch und dir ein bisschen ähnlich. Vielleicht ein paar Jahre älter.“

Cassie nickte ermutigend. „Jacqui ist älter.“

„Ihre Freundin nannte sie Jax. Wir haben geplaudert, während ich sie bedient habe und sie hat mir erzählt, in einer kleinen Stadt zu wohnen. Ich glaube, ein oder zwei Stunden von hier entfernt. Natürlich kann ich mich aber nicht mehr an den Namen der Stadt erinnern.“

Cassie blieb der Atem stehen, als sie daran dachte, dass ihre Schwester tatsächlich hier gewesen war, einen Freund besucht und ihr Leben gelebt hatte. Sie schien weder pleite noch verzweifelt zu sein, war nicht drogensüchtig und wurde nicht missbraucht – Cassie hatte viele Worst-Case-Szenarien entworfen, als sie an Jacqui gedacht und sich gewundert hatte, nie von ihr gehört zu haben.

Vielleicht war ihr Familie einfach nicht so wichtig gewesen und sie hatte nicht das Bedürfnis verspürt, sich zu melden. Ja, sie hatten eine enge Beziehung geführt, aber es war die Not gewesen, die sie zusammengebracht hatte, während sie die Wutanfälle des Vaters und das unstabile Familienleben überlebten. Vielleicht hatte Jacqui diese Erinnerungen hinter sich lassen wollen.

„Ich wusste nicht, dass du dich so gut an Gesichter erinnern kannst, Tim“, neckte ihn Gretchen. „Oder funktioniert das nur bei hübschen Mädchen?“

Tim grinste und wirkte beschämt. „Hey, sie war umwerfend. Ich wollte mich sogar mit ihr verabreden, habe dann aber herausgefunden, dass sie nicht in Mailand lebt und mir gedacht, dass sie vermutlich sowieso nicht an mir interessiert ist.“

Die anderen Mädchen protestierten lauthals und im Chor.

„Dummerchen! Du hättest sie fragen sollen“, meinte das Mädchen neben Cassie beharrlich.

„Sie hätte vermutlich nein gesagt. Aber Cassie, wenn du mir deine Handynummer gibst, kann ich mich bei dir melden, wenn mir der Name der Stadt wieder einfällt.“

„Danke“, sagte Cassie.

Sie gab Tim ihre Nummer und leerte ihr Bier. Die anderen schienen bereit für die nächste Runde zu sein und würden vermutlich bis nach Mitternacht weiterplaudern, aber sie war erschöpft.

Sie stand auf, wünschte allen eine gute Nacht, nahm dann eine heiße Dusche und kletterte ins Bett.

Erst als sie die Bettdecke über sich zog, fiel ihr mit Schrecken ein, dass sich ihre Medikamente noch in ihrem Koffer befanden.

Schon mehrmals hatte sie die Konsequenzen einer vergessenen Dosis ausbaden müssen. Es fiel ihr schwer, zu schlafen, wenn sie nicht regelmäßig ihre Tabletten nahm und sie wurde immer wieder von lebhaften Albträumen geplagt. Manchmal schlafwandelte sie sogar und Cassie fürchtete sich davor, dass in dem Schlafsaal zu tun.

Sie konnte nur hoffen, dass ihre eigene Erschöpfung in Kombination mit dem Bier die bösen Träume fernhalten würde.




KAPITEL VIER


„Schnell, steh auf. Wir müssen gehen.“

Jemand tippte Cassie an der Schulter an, aber sie war müde – so müde, dass sie kaum die Augen öffnen konnte. Gegen ihre Erschöpfung ankämpfend, wachte sie langsam auf.

Jacqui stand an ihrem Bett, ihr Haar glänzend und braun. Sie trug eine stylische, schwarze Jacke.

„Du bist hier?“ Aufgeregt setzte Cassie sich auf, um ihre Schwester zu umarmen.

Aber Jacqui drehte sich weg.

„Beeil dich“, flüsterte sie. „Sie sind hinter uns her.“

„Wer denn?“, fragte Cassie.

Sofort dachte sie an Vadim. Er hatte sie am Ärmel gepackt, ihre Jacke zerrissen. Er hatte Pläne für sie gehabt. Ihr war es gelungen, ihm zu entkommen, aber jetzt hatte er sie entdeckt. Sie hätte es wissen müssen.

„Ich weiß nicht, wie wir entkommen können“, sagte sie nervös. „Es gibt nur eine Tür.“

„Über die Feuerleiter. Komm, ich zeig es dir.“

Jacqui führte sie den langen, dunklen Korridor entlang. Sie trug modische, kaputte Jeans und rote Sandalen mit hohen Absätzen. Cassie trottete in ihren ausgetragenen Turnschuhen hinter ihr her und hoffte, dass Jacqui recht hatte und es tatsächlich einen Fluchtweg gab.

„Hier entlang“, sagte Jacqui.

Sie öffnete die stählerne Tür und Cassie schreckte zurück, als sie die klapprige Feuerleiter sah. Die Metallstufen waren rostig und kaputt. Außerdem sicherte die Treppe nur die Hälfte des Gebäudes ab. Danach folgte in endloser, schwindelerregender Tiefe die Straße.

„Wir können nicht hier runter.“

„Doch. Und wir müssen.“

Jacquis Lachen war schrill und als Cassie sie entsetzt ansah, erkannte sie, dass ihr Gesicht sich verändert hatte. Das war überhaupt nicht ihre Schwester. Es war Elaine, die Freundin ihres Vaters, die sie am meisten gefürchtet und gehasst hatte.

„Wir gehen hier runter“, schrie die teuflische, blonde Frau. „Runter, du zuerst. Zeig mir, wie es geht. Du weißt, dass ich dich immer gehasst habe.“

Cassie fühlte, wie das rostige Metall unter ihrer Berührung bebte und begann, ebenfalls zu schreien.

„Nein! Bitte nicht. Hilf mir!“

Elaine lachte weiter, während die Feuerleiter nachgab und unter ihr zusammenbrach.

Und dann rüttelten andere Hände an ihr.

„Bitte, wach auf! Wach auf!“

Sie öffnete die Augen.

Das Licht im Schlafsaal war an und die Gesichter der dunkelhaarigen Zwillinge über ihr. In ihren Augen sah sie sowohl Sorge als auch Verärgerung.

„Du hast wohl schlecht geträumt und geschrien. Geht es dir gut?“

„Ja, alles okay. Tut mir leid, ich habe manchmal böse Träume.“

„Es ist sehr verstörend“, sagte die andere Schwester. „Kannst du etwas dagegen tun? Es ist uns gegenüber nicht fair, wir arbeiten tagsüber und haben heute eine Zwölf-Stunden-Schicht.“

Cassie litt unter Gewissensbissen. Sie hätte wissen müssen, dass ihre Albträume in dem Gemeinschaftszimmer für Störungen sorgen würden.

„Wie spät ist es?“

„Es ist halb fünf.“

„Dann bleibe ich wach“, entschied sich Cassie.

„Bist du sicher?“ Die Zwillinge sahen einander an.

„Ja. Tut mir leid, dass ich euch geweckt habe.“

Sie kletterte aus dem Bett. Aufgrund des Schlafmangels war sie desorientiert und wackelig auf den Beinen. Schnell zog sie sich im Dunkeln um. Dann nahm sie ihre Handtasche, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Die Lounge war leer und Cassie setzte sich auf eines der Sofas, wo sie sich einrollte. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun oder wohin sie gehen sollte.

Es wäre rücksichtlos, den Schlaf ihrer Zimmergenossen erneut zu riskieren, aber selbst, wenn ein Einzelzimmer frei werden sollte, würde sie es sich nicht leisten können.

Vielleicht, wenn sie sich Arbeit suchen würde? Sie hatte zwar kein Arbeitsvisum, aber laut den anderen Hostelgästen schien sich in Italien niemand an einem Touristenvisum zu stören, wenn die Arbeitsdauer drei Monate nicht überschritt.

Mit einem Job würde sie sich ihren Aufenthalt verdienen und etwas Zeit kaufen können. Selbst wenn Tim sich nicht an den Namen des Ortes erinnerte, würde Jacqui vielleicht erneut versuchen, sie zu kontaktieren.

Cassie ging zur Pinnwand, um sich die ausgeschriebenen Jobs anzusehen.

Sie hoffte, kellnern zu können, da sie Erfahrung darin hatte und sich selbstbewusst bewerben könnte. Doch verzweifelt musste sie feststellen, dass diese Branche gute Italienisch-Kenntnisse voraussetzte. Andere Sprachen waren zwar von Vorteil, aber nicht zwingend.

Frustriert seufzend verwarf sie die Idee, zu kellnern.

Vielleicht ein Job in einer Spülküche? Oder als Putzhilfe?

Sie durchsuchte die Aushänge, fand aber nichts Vergleichbares. Einige Ladenmitarbeiter-Jobs waren ausgeschrieben, aber wieder wurde Italienisch vorausgesetzt. Ein Fahrradkurier-Job klang interessant, aber sie besaß weder Fahrrad noch Helm.

Das waren die einzigen Angebote und sie qualifizierte sich für keines.

Entmutigt kehrte Cassie zur Couch zurück, um ihr Handy zu laden. Vielleicht konnte sie online nach anderen Jobs suchen. Es war immer noch sehr früh und nach ihrer kurzen Nacht waren ihre Augen schwer vor Müdigkeit. Auf der Couch fiel sie in einen leichten Schlaf und wurde einige Stunden später von den Zwillingen geweckt, die zur Arbeit aufbrachen.

Es war nun geschäftiger im Hostel und es roch nach frisch gekochtem Kaffee. Cassie steckte ihr Handy aus und kletterte von der Couch. Sie wollte nicht, dass jemand erfuhr, wo sie geschlafen hatte.

Sie folgte dem Aroma des Kaffees und fand Gretchen im Bademantel an der Pinnwand, wo sie zwei weitere Jobs anheftete.

„Die sind gerade reingekommen“, sagte sie lächelnd. „Und in der kleinen Küche im Flur kann man Kaffee kaufen.“

Cassie betrachtete die neuen Aushänge. Wieder wurde nach einer Kellnerin gesucht, wofür sie ebenfalls nicht infrage kam. Aber als sie den zweiten Zettel betrachtete, kribbelten ihre Hände vor Aufregung.

„Au Pair gesucht. Geschiedene Mutter braucht ab sofort bei der Erziehung ihrer beiden Töchter, Alter 8 und 9, Unterstützung. Englisch bevorzugt. Luxusunterkunft wird gestellt. Bitte melden Sie sich bei Ottavia Rossi.“

Cassie schloss die Augen, auf ihrem Rücken bildete sich eine Gänsehaut.

Sie dachte nicht, einen weiteren Au-Pair-Job bewältigen zu können. Nicht, nachdem ihre ersten beiden Anstellungen so furchtbar schiefgegangen waren.

Ihren ersten Job hatte sie bei einem reichen Landbesitzer in Frankreich bekommen. Erst nach ihrer Ankunft im Schloss hatte sie begriffen, wie dysfunktional die Beziehung zwischen ihm, seiner Verlobten und den drei traumatisierten Kindern gewesen war. Jedes der Kinder hatte auf seine eigene Art und Weise gegen seine brutale Autorität rebelliert und Cassie hatte die volle Wucht der Probleme abbekommen.

Der Job war zu einem Albtraum geworden und als seine Verlobte unter verdächtigen Umständen ums Leben kam, war Cassie nur knapp einer Verhaftung entkommen.

Der Gutsbesitzer – Pierre Dubois – war schließlich für das Verbrechen vor Gericht gebracht worden, ein Verfahren, das noch immer aktiv war. Zeitungsberichte machten Cassie jedes Mal nervös. Da die Verteidiger Pierres nicht ohne Kampf nachgaben, war vermutlich erst im Februar mit einer Entscheidung zu rechnen.

Cassie selbst war nach England geflohen, um sich bedeckt zu halten. Sie fürchtete, von den Verteidigern Pierres für eine Aussage vorgeladen zu werden. Oder noch schlimmer: Man hatte genug Beweise fabriziert, um sie als Schuldige vor Gericht zu bringen.

In England war sie direkt in die Arme eines charmanten und attraktiven Mannes gerannt, der sich selbst als geschiedenen Vater präsentiert hatte, der dringend Hilfe mit seinen Kindern brauchte. Cassie hatte sich sofort in Ryan Ellis verliebt und ihm jedes Wort geglaubt. Mit jeder aufgedeckten Lüge war ihre idyllische Welt ein bisschen mehr zerbrochen. Die Situation war fürchterlich ausgegangen.

Cassie konnte noch immer nicht an ihre Zeit in England denken, ohne panisch zu werden. Sie drehte sich weg und stieß fast mit Gretchen zusammen, die die Pinnwand aktualisierte und ältere Jobs entfernte.

„Sorry“, sagte Cassie.

„Hast du etwas Passendes gefunden?“, fragte Gretchen.

„Ich bin mir nicht sicher. Der Au-Pair-Job klingt interessant“, sagte Cassie aus Höflichkeitsgründen.

„Das liegt außerhalb von Mailand in einer wohlhabenden Gegend. Du würdest bei der Familie selbst leben, also eine Unterkunft gestellt bekommen.“

„Danke“, sagte Cassie. Sie fotografierte die Ausschreibung, obwohl sie keinerlei Absicht hatte, den Job anzunehmen.

Sie sah sich die Bücher an, die zum Verkauf standen. Es war ein eklektischer Mix aus Fiktion und Sachliteratur und zwei der Exemplare könnten ihr von Nutzen sein. Bei einem Buch handelte es sich um italienische Ausdrücke, beim anderen um eine Einführung in die Sprache. Die Bücher waren abgenutzt, aber billig. Froh, mit dem Lernen der Sprache beginnen zu können, ging Cassie ins Büro, um zu bezahlen.

Nachdem sie sowohl die Bücher als auch eine Tasse Kaffee erstanden hatte, ging sie los, um ihren Wagen zu finden. Obwohl die Stadt bei Tageslicht ganz anders aussah, schaffte sie es mit nur wenigen Umwegen zum Parkhaus.

Unterwegs konnte sie nicht aufhören, an den Au-Pair-Job zu denken.

In der Not frisst der Teufel Fliegen. Außerdem musste sie unbedingt eine Weile in der Stadt bleiben. Vielleicht würde sich Tim, der Bartender, ja an den Namen der Stadt erinnern, in der Jacqui arbeitete.

Bei der Familie unterzukommen, würde auch bedeuten, ihre Mitreisenden nicht weiter zu stören. Und sie hatte nicht vor, den erschreckenden Vorfall mit Vadim zu wiederholen.

Außerdem würde sie für eine Frau arbeiten. Eine geschiedene Frau. Cassie würde sich das bestätigen lassen, bevor sie eine finale Entscheidung traf. Sie wollte nicht wieder für einen Mann arbeiten. In dem Haushalt schien es keinen Mann zu geben – nur eine Frau und ihre zwei Mädchen.

Sie könnte fragen. Schließlich kostete es nichts, mehr herauszufinden, oder?

Doch die Erinnerung an ihre vergangenen Erfahrungen machte sie unruhig, während sie die Nummer wählte.

Der Anruf wurde verbunden, es klingelte und klingelte. Cassies Nervosität wuchs mit jeder vergehenden Sekunde.

Endlich wurde abgenommen.

„Buongiorno“, sagte eine Frau, die atemlos klang.

Cassie bereute es, die italienischen Wendungen noch nicht studiert zu haben und antwortete nervös.

„Guten Morgen.“

„Das ist Signora Rossis Telefon, Abigail am Apparat. Wie kann ich helfen?“, fuhr die Frau auf Englisch fort. Cassie glaubte sogar, einen britischen Akzent zu erkennen.

Sie versuchte, ihre Nervosität herunterzuschlucken und mit Selbstbewusstsein zu sprechen.

„Ich rufe wegen des Jobs an. Ist Ottavia Rossi verfügbar?“

„Der Job? Bitte warten Sie. Ms. Rossi ist in einem Meeting.“

Cassie hörte, wie die Frau sich mit jemandem besprach. Einen Moment später war sie zurück.

„Es tut mir leid, aber der Job wurde bereits vergeben.“

„Oh.“ Cassie war überrascht und ernüchtert. Sie war sich unsicher, was sie darauf antworten sollte, aber die Frau traf die Entscheidung für sie.

„Auf Wiederhören“, sagte sie und legte auf.




KAPITEL FÜNF


Cassie verstand nicht, warum der erst kürzlich ausgeschriebene Au-Pair-Job bereits vergeben worden war. Sie war enttäuscht, dass diese Gelegenheit gekommen und gegangen war, ohne dass sie sich überhaupt dafür hatte bewerben können.

Jetzt wusste sie nicht, was sie tun sollte. Die Versuchung war groß, in den Wagen zu steigen und wahllos für mehrere Stunden durch die Gegend zu fahren – in der Hoffnung, ihrer Schwester näher zu kommen oder vielleicht sogar wie durch ein Wunder in derselben Stadt zu landen.

Cassie wusste, dass das in diesem dicht besiedelten Land mit Städten und Dörfern jeder Form und Größe nicht nur unwahrscheinlich, sondern sogar unmöglich war.

Sie öffnete den Kofferraum, durchwühlte ihr Gepäck und nahm ihre Tabletten heraus – die versäumte Dosis der vergangenen Nacht sowie die Tabletten für den Morgen.

Im Wagen sitzend schluckte sie die Pillen mit Wasser herunter und rief dann ihre Freundin Jess an.

Cassie hatte Weihnachten und Neujahr gemeinsam mit Jess verbracht. Diese hatte über die Feiertage frei gehabt und Geld für einen Kurztrip bekommen, zu dem sie Cassie eingeladen hatte. Gemeinsam waren sie in Edinburgh gewesen.

Während Jess für die Unterkunft bezahlt hatte, war Cassie gefahren. Sie hatten ein Apartment außerhalb der Stadt gemietet, die Tage mit Sightseeing und die Nächte mit Feiern verbracht. In dieser Zeit hatten sie viele Gelegenheiten zum Reden gehabt, Jess kannte nun also die traurige Wahrheit und wusste genau, was Cassie bei ihren letzten Anstellungen mitgemacht hatte.

„Hey Fremde!“, antwortete Jess fast sofort. „Hast du deine Schwester schon gefunden?“

„Noch nicht, aber jemanden, der kürzlich mit ihr gesprochen hat. Er meinte, dass sie ein oder zwei Stunden außerhalb von Mailand lebt, konnte sich aber nicht an den Namen der Stadt erinnern.“

„Oh, nein!“ Jess klang entsetzt. „Das ist – so nah dran, aber gleichzeitig so weit weg. Was hast du jetzt vor?“

„Ich werde versuchen, einige Wochen hier zu bleiben. Er wird mich kontaktieren, falls er sich an mehr erinnern kann. Ich habe mich eben nach einem Au-Pair-Job erkundigt, der war aber bereits vergeben. Kennst du jemanden in Mailand oder Italien, der Hilfe braucht?“

Cassie hatte großen Respekt vor Jess‘ Kontaktnetzwerk. Die große, freundliche Blondine schien ein natürliches Talent dafür zu haben, strategische Kontakte zu knüpfen. So war Cassie auch zu ihrem letzten Job gekommen, auch wenn dieser sich als Desaster entpuppt hatte. Dank Jess‘ Kontakten waren sie auch in der Lage gewesen, eine günstige Ferienwohnung zu buchen.

„In Mailand?“, fragte Jess nachdenklich.

„Oder in der Nähe“, erinnerte Cassie sie mit der Hoffnung, die Suche auszuweiten.

Jess seufzte.

„Nicht auf Anhieb. Mailand liegt im Norden Italiens, oder?“

„Ja, genau.“

„Also wäre auch die Schweiz oder Süddeutschland eine Möglichkeit, nicht wahr? Vermutlich willst du momentan eher nicht nach Frankreich zurückkehren.“

Vermutlich niemals, dachte Cassie.

„Ich würde mich lieber von Frankreich fernhalten.“

„Lass mich rumfragen. Derzeit sind alle im Skiurlaub und mein Arbeitgeber kennt einige Leute, die Ski-Chalets besitzen. Du könntest als Chalet-Mädchen arbeiten. Die Bezahlung ist zwar nicht so gut, aber du könntest umsonst Ski fahren.“

„Bitte erkundige dich“, meinte Cassie.

„In der Zwischenzeit solltest du den Typen löchern, der mit deiner Schwester gesprochen hat“, meinte Jess. „Sei nicht schüchtern. Sag ihm, er soll sich mit einer Landkarte an den Tisch setzen und solange drauf starren, bis ihm der Name der Stadt wieder einfällt.“

Sie lachte und Cassie lachte mit.

„Ich muss los“, sagte Jess. „Zahnarzttermin. Für die Kinder, nicht für mich. Wir telefonieren später wieder, Cassie. Und viel Glück!“

Als Cassie auflegte, klingelte ihr Handy erneut. Am anderen Ende der Leitung war Abigail, die Frau, mit der sie bezüglich des Au-Pair-Jobs gesprochen hatte.

„Hallo, ich rufe im Auftrag von Ms. Rossi an. Sie haben vorhin wegen eines Jobs angerufen, ist das richtig?“

„Ja, das ist richtig.“

„Um welchen Job ging es? Sind Sie an der Position des Junior Fashion Designers oder der des Au-Pairs interessiert?“

„An der des Au-Pairs.“

„Bitte bleiben Sie einen Moment dran.“

Die Frau klang nervös und Cassie konnte hören, wie sie im Hintergrund flüsterte.

Einige Augenblicke später fuhr sie fort.

„Es tut mir so leid, bitte entschuldigen Sie. Ich wusste nichts von der Au-Pair-Position. Ms. Rossi hat bestätigt, dass der Job in der Tat noch verfügbar ist, lediglich die Position des Designers wurde bereits besetzt. Sie hat mich gebeten, herauszufinden, ob Sie noch immer Interesse haben.“

„Ja, das habe ich.“

„Ms. Rossi ist heute Nachmittag ab halb drei für Bewerbungsgespräche verfügbar. Die Interviews finden in ihrer Privatresidenz statt. Der erste erfolgreiche Kandidat wird eingestellt und muss bereit sein, sofort zu beginnen. Kann ich Ihnen die Adresse per Nachricht schicken?“

„Ja, bitte“, sagte Cassie und spürte, wie die Sorge zurückkam. Es klang so, als würde sie sofort eine Entscheidung treffen müssen, ob der Job für sie infrage kam oder nicht. Beim Gedanken an die Kinder wurde ihr schlecht vor Aufregung.

Sie entschied sich, den Job nicht anzunehmen, ohne zuerst die Kinder zu treffen. Schließlich würde sie ihren Alltag mit ihnen verbringen. Ihre Mutter schien eine wohlhabende Frau zu sein und Cassies begrenzter Erfahrung nach zu urteilen, bedeutete das, dass die Kinder entweder verwöhnt oder vernachlässigt waren.

Als ihr Handy mit der Wegbeschreibung vibrierte, entschied sie sich, sofort loszufahren.

Schließlich würde es überhaupt keine Entscheidung zu treffen geben, wenn sie nicht als Erste interviewt wurde.


*

Cassie erreichte die Wohngegend kurz vor Mittag. Die Straßen waren ruhig und makellos, große Häuser standen hinter baumbewachsenen Gärten ein gutes Stück von der Straße entfernt. Vermutlich waren die Häuser im Sommer, wenn die Bäume grün waren, von der Straße aus unsichtbar.

Die Sicherheitsvorkehrungen überraschten sie. Jedes Haus besaß entweder Zaun oder Mauer sowie hohe, automatisierte Tore. Cassie war sich nicht sicher, ob die wohlhabenden Hausbesitzer sich um Sicherheit und Privatsphäre sorgten oder ob es in der Gegend ein Kriminalitätsproblem gab. Vermutlich war es das erste.

Während sie mit ihrem kleinen, betagten Fahrzeug durch die Straßen fuhr, entdeckte Cassie einige der Nachbarn, die sie aus ihren glänzenden Sportswägen und dunklen SUVs heraus argwöhnisch betrachteten. Sowohl sie als auch ihr Auto passten nicht in die Gegend und das fiel auf.

Einige Häuserblocks weiter erblickte sie einen Coffee Shop. Sie war zu nervös, um Hunger zu haben, zwang sich aber dazu, ein Cornetto zu essen und eine Flasche Wasser zu trinken.

Da die Frau vermutlich in der Modeindustrie arbeitete und es sich um eine wohlhabende Wohngegend handelte, wollte Cassie unbedingt einen guten Eindruck machen. Sie suchte die Toilette auf, wo sie ihr Haar glättete und sämtliche Krümel des knusprigen, Mascarpone-gefüllten Gebäckteils von ihrem Oberteil entfernte.

Dann fuhr sie zum Haus und parkte genau zwei Minuten vor zwei vor dem verzierten, schmiedeeisernen Tor.

Sie zitterte nervös und wünschte, ihrer Fähigkeit, den Job zu beurteilen, mehr vertrauen zu können. Sie würde eine Kurzschlussentscheidung treffen müssen, obwohl es viele Variablen zu bedenken gab. Was, wenn sie etwas Wichtiges übersah?

Es fühlte sich wie ein großer Vertrauensvorschuss an, nach ihren bisherigen Erfahrungen überhaupt daran zu denken, erneut als Au-Pair zu arbeiten. Wäre sie nicht so entschlossen, um Jacquis Willen in der Gegend zu bleiben, hätte sie niemals in Erwägung gezogen, den Job anzunehmen.

Cassie zwang sich dazu, tief durchzuatmen und ruhig zu bleiben. Dann lehnte sie sich aus dem Autofenster und drückte den Buzzer am Tor.

Nach einem kurzen Augenblick öffnete sich das Tor und sie fuhr die gepflasterte Einfahrt hinauf, die sich durch den Garten schlängelte.

Sie parkte unter einem italienischen Olivenbaum neben einer Dreifachgarage und fühlte sich durch die Tatsache ermutigt, dass keine weiteren Autos zu sehen waren. Hoffentlich bedeutete das, dass sie die erste Anwärterin war, die das Anwesen erreicht hatte.

Cassie ging den Pfad zu einer riesigen Holztür entlang. Sie klingelte und hörte das Geräusch weit entfernt im Haus.

Sie hatte erwartet, von einem Hausmädchen oder einem Assistenten begrüßt zu werden, aber einige Augenblicke später hörte sie das Klackern von High-Heels und die Tür wurde von einer Frau um die vierzig geöffnet. Sie strahlte unmissverständliche Autorität aus.

Sie war mindestens einen halben Kopf größer als Cassie, was aber hauptsächlich an ihrem exquisiten Paar pfauenblauer Lederstiefel und deren hohen, abgerundeten Absätzen lag. Ihr dunkles Haar lag in kunstvollen Wellen auf ihren Schultern. Eine schwere Goldkette glitzerte an ihrem Hals und goldene Kettchen klingelten an ihren Armen, als sie die Tür weit öffnete.

„Buongiorno“, sagte sie. Auch ihre Stimme klang autoritär. „Sie müssen wegen des Au-Pair-Interviews hier sein?“

„Guten Tag. Ja, das bin ich. Mein Name ist Cassie Vale. Ich weiß, ich bin früh. Die Dame, mit der ich gesprochen habe, hat mich auf halb drei bestellt, aber ich hatte Angst, zu spät zu kommen.“

Cassie war sich bewusst, nervös vor sich hinzuplappern, also schloss sie schnell den Mund.

Doch die Frau schien an ihrer Pünktlichkeit Gefallen zu finden. Ihr perfekt geschminkter Mund verzog sich zu einem Lächeln.

„Pünktlichkeit ist Höflichkeit. Ich bestehe darauf – sowohl bei mir selbst als auch bei allen, mit denen ich arbeite. Vielen Dank also für Ihre Verbindlichkeit. Ich bin Ottavia Rossi. Bitte kommen Sie herein.“

Glücklich, bereits einen positiven Eindruck gemacht zu haben, folgte Cassie ihr schüchtern.

Beim Betreten des geräumigen Atriums entdeckte Cassie eine Reihe farbenfroher Kunst- und Dekorstücke. Helle Gemälde, Vasen und leuchtende Teppiche stachen heraus und ließen das Haus wie eine moderne und einladende Kunstgalerie wirken.

Vor ihr führte eine hohe Treppe aus weißem Marmor in die oberen Stockwerke.

Cassies Blick wurde auf das hüfthohe Modell eines hellroten Stiletto-Schuhs gezogen, der sich rechts neben der Treppe auf einem Sockel befand. Das Design des Schuhs war gewagt und auserlesen.

Ms. Rossi lächelte, als sie Cassies Blick sah.

„Das ist unser ‚Nina‘-Modell, das Rossi Shoes damals in den Siebzigern zu internationalem Ruhm verholfen hat. Das Design war seiner Zeit Jahrzehnte voraus. Die Farbe hat die Menschen war schockiert, aber nicht vom Kaufen abgehalten.“

„Er ist wunderschön“, sagte Cassie.

Sie vermutete, dass Ottavia Rossi die Eigentümerin der internationalen Firma war, bei der es sich offensichtlich um ein etabliertes Familienunternehmen handelte, wo es doch bereits in den Siebzigern erfolgreich Schuhe verkauft hatte.

Ms. Rossi führte sie um die Treppe herum und einen Korridor entlang. Cassie reckte den Hals und warf einen kurzen Blick in die Durchgänge, die in eine große, moderne Lounge und eine strahlende Küche führten, wo ein Koch beschäftigt war.

Weiter hinten im Gang befand sich eine geschlossene Tür, die Ms. Rossi öffnete und Cassie hineinbat.

Bei dem eleganten Raum dahinter handelte es sich um ihr Arbeitszimmer. Sie setzte sich hinter den geschwungenen, weißen Tisch und bat Cassie, auf der anderen Seite Platz zu nehmen.

Cassie bemerkte plötzlich, dass sie mit leeren Händen gekommen war. Sie hatte keinen Lebenslauf vorbereitet, ihre Personalien nicht ausgedruckt und weder von ihrem Pass noch von ihrem Führerschein eine Kopie angefertigt. Diese Frau war eine Geschäftsfrau und würde das sicherlich erwarten. Cassie fühlte sich furchtbar, das vergessen zu haben.

„Es tut mir so leid“, begann sie. „Ich bin erst kürzlich in Italien angekommen und habe meinen Lebenslauf noch nicht auf den neuesten Stand gebracht. Diese Gelegenheit kam so unerwartet, dass ich mich sofort auf den Weg gemacht habe, um mehr zu erfahren.“

Zu ihrer Erleichterung nickte Ms. Rossi.

„Das verstehe ich. Ich bin in meiner Jugend selbst viel gereist – Sie müssten Anfang zwanzig sein, nicht wahr?“

Cassie nickte. „Ja. Ich habe meinen Reisepass bei mir, wenn Sie einen Blick darauf werfen möchten.“

„Danke.“

Ms. Rossi nahm den Pass und blätterte kurz durch die Seiten, bevor sie ihn Cassie zurückgab.

„Nun, können Sie mit einen kurzen Umriss Ihrer bisherigen Arbeit geben?“, fragte sie.

Als Cassie das hörte, wurde ihr schlecht. Ihr war klar, dass sie keine Zeugnisse ihrer bisherigen Anstellungen in Europa vorzuweisen hatte. Ihr erster Arbeitgeber war Verdächtiger einer Mordverhandlung und hätte vermutlich nichts Gutes über sie zu sagen – Cassie war sich sogar sicher, dass er versuchen würde, ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben und darauf zu bestehen, unrechtmäßig beschuldigt worden zu sein.

Ihr zweiter Arbeitgeber war tot; während Cassies Anstellung ermordet worden. Niemand in dieser Familie würde ihr ein Zeugnis ausstellen. Ihre Situation war nicht nur desaströs, nein, es war eine Katastrophe.




KAPITEL SECHS


Cassie schwieg, ihr Verstand raste. Sie wusste, dass Ms. Rossi auf ihre Antwort wartete und dass ihr Zögern für Fragen sorgen würde. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.

Das Wort ‘Mord’ reichte, um jeden potentiellen Arbeitgeber zu verjagen. Die Umstände spielten keine Rolle, sie war das Risiko einfach nicht wert.

Und das nahm Cassie niemandem übel. Sie begann, sich zu fragen, ob sie möglicherweise Pech brachte – oder ob ihre eigenen Entscheidungen diese furchtbaren Vorfälle verursacht hatten.

Ihre einzige Möglichkeit war es, die aktuellen Erfahrungen auszublenden und sich stattdessen auf ihre Arbeit in den Staaten zu konzentrieren.

Sie räusperte sich und begann dann, zu sprechen.

„Ich bin mit sechzehn Jahren zuhause ausgezogen und habe mir als Kellnerin das College finanziert“, sagte sie.

Sie ging nicht auf die Gründe ihres Auszugs ein, aber hoffte, dass ihr unabhängiges und autarkes Leben auf Wohlwillen stoßen würde. Zu ihrer Erleichterung nickte Ms. Rossi anerkennend.

„Ich habe damals außerdem jüngeren Schülern bei ihren Aufgaben geholfen und in einer Kita Mutterschutzvertretung gemacht. Ich bin befugt, in der Kinderbetreuung zu arbeiten und kann Ihnen die notwendigen Bescheinigungen auf meinem Handy zeigen. Ich habe außerdem ein Zeugnis des Restaurants, für das ich zwei Jahre lang gearbeitet habe, das nicht nur meine Verlässlichkeit bestätigt, sondern auch, dass ich hart für die Zufriedenheit meiner Kunden arbeite.“

Glücklicherweise waren diese Dokumente die Basis ihrer ersten Au-Pair-Bewerbung gewesen und sie hatte sie online gespeichert. Und obwohl die Restaurantarbeit nicht relevant war, bildete sie ihre einzige richtige Referenz.

„Exzellent“, sagte Ms. Rossi.

„Seit meiner Ankunft in Europa bin ich viel gereist. Ich habe zuerst für eine Familie in Paris gearbeitet. Die Kinder sind dann nach Südfrankreich gezogen, deshalb habe ich den Dezember in Großbritannien verbracht.“

Cassie glühte. Ihre Geschichte war voller Lücken. Falls Ms. Rossi ihre Version hinterfragen sollte, würde sie schnell herausfinden, dass Cassie ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Doch zu ihrer Überraschung schien die Geschäftsfrau zufrieden zu sein und begann nun, selbst das Wort zu ergreifen.

„Ich werde Ihnen kurz den Hintergrund meiner persönlichen Situation erläutern. Meine Scheidung liegt nun mehrere Monate zurück und während ich eine Weile in der Lage war, von zu Hause aus zu arbeiten, ist es dafür im Büro nun zu geschäftig geworden. Wir haben unsere Präsenz auf weitere Märkte erweitert und mehrere Marken akquiriert. Dieses Wachstum war geplant, aber ist schneller verwirklich worden, als erwartet. Meine Mutter wird herziehen, um sich um die Kinder zu kümmern, aber sie benötigt Zeit für die Vorbereitung und den Umzug. Für die nächsten drei Monate brauche ich also Hilfe. Natürlich würden Sie im selben Haus wohnen. Die Kinder sind wohlerzogen und wir haben sowohl einen Koch als auch einen Fahrer. Die Aufgaben sind dadurch nicht allzu beschwerlich.“

Cassie schluckte.

„Können Sie mir mehr über die Kinder erzählen? Wie sind sie so?“

„Es sind zwei Mädchen im Alter von acht und neun Jahren. Nina ist die Ältere, Venetia die Jüngere. Sie sind gut erzogen.“

Da Ms. Rossi nicht weiter ins Detail ging, nahm Cassie ihren Mut zusammen.

„Könnte ich sie vielleicht kennenlernen? Um zu sehen, wie wir uns verstehen, bevor ich mich entscheide?“

Sie hatte keine Ahnung, ob Ms. Rossi diese Frage als unhöflich bewerten würde, wo sie doch selbst für das Verhalten ihrer Kinder gebürgt hatte.

Die Geschäftsfrau nickte.

„Natürlich. Sie müssten mittlerweile von der Schule zurück sein. Folgen Sie mir.“

Sie stand auf und glitt aus dem Zimmer. Cassie folgte ihr eilig.

Die autoritäre Ausstrahlung beeindruckte Cassie. Wenn diese Aura für die Leitung eines erfolgreichen, internationalen Unternehmens notwendig war, würde sie selbst vermutlich nie so weit kommen. Nicht in einer Million Jahren. Sie besaß weder die Persönlichkeit noch das kommandierende Auftreten von Ms. Rossi.

Doch sie hatte das Gefühl, dass Ms. Rossi sie mochte. Jedenfalls schien sie keine sofortige Abneigung ihr gegenüber zu empfinden, was bei ihren französischen Arbeitgebern der Fall gewesen war.

Cassie folgte ihr die Marmortreppe hinauf. Das Haus war in der Form eines Hufeisens konzipiert worden und besaß zwei Hauptflügel. Die Zimmer der Kinder befanden sich oben, im rechten Flügel des Hufeisens.

Ottavia Rossis klackernder Schritt auf dem Fliesenboden war laut genug, um den Kindern ihre Ankunft mitzuteilen. Cassie beobachtete beeindruckt, wie zwei dunkelhaarige Mädchen aus ihren Schlafzimmern kamen und nebeneinanderstehend auf ihre Mutter warteten.

Sie trugen elegante, langärmelige Kleider, die bis auf die Farbe identisch waren – das eine was gelb, das andere blau. Cassie betrachtete die bunten Mokassins der Mädchen und fragte sich, ob Rossi Shoes auch eine Kinderlinie hatte und diese Modelle dazugehörten.

„Kinder, ich möchte euch Cassie vorstellen“, sagte Ms. Rossi. „Sie ist im Rahmen eines Bewerbungsgesprächs hier und wird möglicherweise ein paar Wochen nach euch sehen. Vielleicht könnt ihr sie begrüßen und ihre Fragen beantworten?“

„Guten Tag, wir freuen uns, dich kennenzulernen“, sagten die Kinder im Chor. Cassie war von ihrem einwandfreien Englisch überrascht.

Das größere Mädchen machte einen Schritt nach vorne.

„Ich bin Nina.“

Sie streckte ihre Hand aus und Cassie, überrascht von der formellen Begrüßung, schüttelte sie.

„Ich bin Venetia“, sagte das jüngere Mädchen.

Cassie schüttelte auch ihre kleine, warme Hand. Und obwohl die Situation eher verlegen war und der formelle Korridor keine ideale Atmosphäre zum entspannten Reden bot, wusste sie, beweisen zu müssen, wie freundlich und liebenswert sie selbst war.

Sie lächelte die Kinder an.

„Ihr beide habt wunderschöne Namen.“

„Danke“, sagte Nina.

„Wart ihr heute in der Schule?“

Venetia antwortete eifrig.

„Ja. Nachmittags machen wir unsere Hausaufgaben. Damit waren wir eben auch beschäftigt.“

„Wow, ihr seid sehr fleißige Mädchen. Welches Schulfach gefällt euch am besten?“

Die beiden Mädchen sahen sich kurz an.

„Englisch“, antwortete Nina.

Venetia dachte kurz nach.

„Ich mag Mathematik.“

Cassie war beeindruckt. Deutlich erkannte sie, wo die Wurzel des Erfolgs lag – schon im jungen Alter Disziplin und eine Liebe zum Lernen zu entwickeln. Sie konnte bereits sehen, dass die Mädchen in die Fußstapfen ihrer Mutter treten wollten und eine goldene Zukunft vor sich hatten.

Diese Mädchen würden vermutlich Gelegenheiten haben, von denen sie selbst nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Kurz wunderte sich Cassie, wie es sich wohl anfühlte, als Erbe eines Modeimperiums und mit einer Liebe zum Lernen geboren worden zu sein.

„Was sind eure Hobbys? Was macht ihr außerhalb der Schule?“

Wieder wechselten die Mädchen einen Blick.

„Ich genieße meinen Gesangsunterricht“, sagte Nina.

„Ich reite gerne. Wir haben beide sonntags Unterricht“, fügte Venetia hinzu.

„Das klingt fantastisch“, sagte Cassie, die sich von dem Leben der Mädchen immer mehr begeistern ließ. Die beiden waren nicht nur motiviert, ehrgeizig und akademisch veranlagt, sondern außerdem in der Lage, Hobbys zu haben, die Cassie sich nie hätte leisten können.

Ihr wurde klar, dass diese Familie in ihrem modernen und gleichzeitig eleganten Haus denen ähnelte, die in den Glanzmagazinen beim Friseur ausgestellt waren. Die Rossis gehörten zur Elite der Gesellschaft und es war aufregend und fast schon überwältigend, mit ihnen verbunden zu sein.

Der einzige Makel ihres sonst so perfekten Lebens muss die Scheidung gewesen sein und Cassie fragte sich, wie Ms. Rossis Ehemann wohl war. Da das Rossi-Imperium von ihrer Seite der Familie begründet worden war, hatte sie nach der Scheidung wohl entweder ihren Mädchennamen zurückgenommen oder seinen Namen gar nie benutzt. Cassie fragte sich, ob die Scheidung die Kinder traumatisiert hatte und ob sie Zeit mit ihrem Vater verbrachten. Es waren Fragen, die sie Ms. Rossi stellen müssen würde – oder vielleicht sogar den Kindern selbst – aber nicht jetzt.

Erschrocken bemerkte Cassie, dass sie bereits einen Schritt übersprungen hatte, als hätte sie schon entschieden, den Job anzunehmen.

Die Kinder sahen sie gespannt an. Sie hatten sich nicht bewegt, als warteten sie auf die Erlaubnis, sich zu verabschieden. Ihre Selbstkontrolle war beeindruckend.

„Danke für das Gespräch“, sagte sie. „Es hat mich sehr gefreut, euch kennenzulernen. Ich möchte euch nicht länger von den Hausaufgaben abhalten.“

„Geht, Kinder“, sagte Ms. Rossi und die Mädchen verschwanden in ihren Zimmern.

Auf dem Rückweg durchs Haus konnte Cassie nicht anders, als die beiden zu loben.

„Sie sind fantastisch. Ich kenne keine anderen Kinder, die so diszipliniert und gehorsam sind. Und mit ihrer Liebe für die Schule müssen Sie sehr stolz auf sie sein.“

Ms. Rossi klang erfreut, als sie antwortete.

„Sie sind nicht perfekt, aber das ist kein Kind“, sagte sie. „Doch sie werden eines Tages ein Unternehmen erben, ich strebe also danach, ihnen die richtigen Werte zu vermitteln.“

Sie traten die große Treppe hinunter und kehrten ins Arbeitszimmer zurück.

„Nun, da Sie die Familie kennengelernt haben, werden wir über die Stelle sprechen“, sagte sie. „Sie sind die erste Kandidatin, die zum Gespräch gekommen ist – nach Abigails Versäumnis waren wir nicht in der Lage, alle Bewerber zu kontaktieren. Sie scheinen kompetent zu sein und auch die Kinder interagieren gut mit Ihnen. Wenn Sie interessiert sind, würde ich Ihnen die Stelle gerne anbieten. Sie müssten mit den Kindern nach der Schule und auch sonntags Zeit verbringen. Unterricht ist von acht Uhr bis halb zwei, wenn keine Nachmittagsaktivitäten geplant sind.“

Cassie atmete tief durch. Sie fühlte sich geehrt, von Ms. Rossi als kompetent genug eingestuft zu werden, ihre zwei außergewöhnlichen Kinder zu beaufsichtigen. Sie hatte nicht einmal um Telefonnummern gebeten, um Cassies Referenzen zu überprüfen.

„Ich glaube daran, dass jede Gelegenheit eine Tür öffnet“, fuhr Ms. Rossi fort. „Wenn Sie Ihre Arbeit gut machen, wird es vielleicht auch in der Zukunft Möglichkeiten für Sie geben. Wir haben regelmäßig Praktikumsstellen; wenn Sie also auch nach dieser Anstellung in Italien bleiben und in der Modeindustrie arbeiten möchten, könnte das vermutlich arrangiert werden.“

Cassies Herz machte einen Sprung. Dieser Job war mehr als nur eine kurzzeitige Anstellung und würde vielleicht sogar ihre zukünftige Karriere beeinflussen. Außerdem würden ihre Chancen steigen, Jacqui zu finden.

Sie malte sich aus, gemeinsam mit ihrer Schwester in der Modeindustrie erfolgreich zu sein und ein umwerfendes Apartment in einer malerischen und exklusiven Nachbarschaft zu besitzen. Abends würden sie über ihre Arbeit plaudern, sich beim Kochen abwechseln und dann gemeinsam zum Feiern in die Stadt zu gehen.

Je mehr Cassie darüber nachdachte, desto aufgeregter war sie, diese Gelegenheit gefunden zu haben. Da es sich um so viel mehr als einen einfachen Au-Pair-Job handelte, konnte sie das Angebot unmöglich ablehnen. Sie musste ihre Aufgaben mit Leib und Seele ausführen, denn sie repräsentierten eine lebensverändernde Gelegenheit.

„Ein Praktikum klingt sehr aufregend, das könnte ich mir für die Zukunft sehr gut vorstellen. Ich freue mich, die Anstellung als Au-Pair anzunehmen. Vielen Dank“, sagte sie.

Ms. Rossi lächelte.

„Dann sind Sie hiermit eingestellt. Haben Sie Gepäck?“

„Ja, im Wagen.“

„Eines der Dienstmädchen wird Ihnen dabei helfen, Ihre Habseligkeiten auf Ihr Zimmer zu bringen. Heute Abend werden die Kinder und ich meine Mutter besuchen und dort zu Abend essen. Unser Koch hat frei, aber es gibt einen Lieferservice. Die Speisekarten liegen in der Küchenschublade. Bestellen Sie sich, was Sie möchten und rufen Sie von unserem Festnetztelefon an. Das Essen wird dann innerhalb von dreißig Minuten geliefert und von unserem Konto abgezogen.“

„Vielen Dank“, sagte Cassie.

„Es gibt eine wichtige Regel, die ich mit Ihnen teilen muss.“

Sie beugte sich nach vorne und Cassie folgte ihrem Beispiel.

„Bitte lassen Sie niemanden ins Haus, bevor Sie deren Identität nicht bestätigt haben. Wir leben in einer wohlhabenden Gegend, die Verbrecher anzieht. Wir wurden schon zuvor von Einbrechern ins Visier genommen. Mit zwei kleinen Kindern ist auch Kidnapping stets eine Bedrohung, bitte seien Sie sich dessen bewusst. Lassen Sie keinen Fremden ins Haus, wenn Sie keine Lieferung erwarten. Verstanden?“

Cassie nickte und der Gedanke, jemand könnte auf die Kinder abzielen, machte sie nervös. Dank ihrer eigenen Erfahrung in Mailand wusste sie, dass diese Art von Verbrechen ein tatsächliches Risiko darstellte.

„Ich verstehe. Ich werde sehr vorsichtig sein“, sagte sie.

„Gut, dann sehen wir uns morgen“, bestätige Ms. Rossi.

Sie nahm den Hörer des Haustelefons, drückte einen Knopf und sprach schnell auf Italienisch hinein.

„Das Dienstmädchen ist auf dem Weg“, erklärte sie Cassie.

In diesem Moment klingelte Ms. Rossis Handy.

„Ciao“, antwortete sie ungeduldig.

Da es unhöflich wäre, der Unterhaltung zuzuhören, stand Cassie eilig auf und ging zur Tür, um draußen auf das Dienstmädchen zu warten.

Als sie das Zimmer verließ, hörte sie, wie Ms. Rossi streng ins Telefon sprach. „Abigail?“

Cassie erinnerte sich, dass Abigail die Frau war, die ihr fälschlicherweise mitgeteilt hatte, die Au-Pair-Position wäre bereits vergeben.

Kurz war es still, dann sprach Ms. Rossi weiter. Ihre Stimme war laut und wütend.

„Sie haben es vermasselt, Abigail. Das ist nicht akzeptabel, genau wie Ihre Entschuldigung. Sie werden morgen nicht zu Arbeit kommen. Sie sind gefeuert!“




KAPITEL SIEBEN


Cassie rutschte von der Tür des Arbeitszimmers weg und hoffte, dass Ms. Rossi ihr Lauschen nicht bemerkt hatte. Sie war zutiefst erschrocken. War die junge Angestellte tatsächlich wegen eines Missverständnisses bei einer Stellenanzeige gefeuert worden?

Das konnte nicht die ganze Geschichte sein, vermutlich hatte sie bereits andere Fehler gemacht. Zumindest hoffte Cassie das. Sie begriff bestürzt, dass das möglicherweise zur Leitung eines Imperiums dazugehörte – und dass deshalb so wenige Leute von Erfolg gekrönt waren. Fehler und Ausreden waren inakzeptabel. Das bedeutete für sie, pausenlos auf Zack zu sein und sich größte Mühe zu geben, keine Fehler zu machen.

Sie wollte sich gar nicht ausmalen, etwas falsch zu machen und dann von Ms. Rossi so beschimpft und sogar rausgeschmissen zu werden. Sie klang so wütend, wie ein vollkommen anderer Mensch. Cassie konnte nicht anders, als Mitleid mit der von Pech verfolgten Abigail zu haben. Aber sie erinnerte sich daran, dass sie nicht in der Position war, die Situation zu beurteilen, wo sie doch nichts über die Hintergründe wusste.

Cassie war froh über die Ankunft des Dienstmädchens, um der wütenden, einseitigen Unterhaltung entfliehen zu können, die sich noch immer im Inneren des Büros abzuspielen schien. Die Frau trug Arbeitskleidung und sprach lediglich Italienisch, war aber in der Lage, sich mit ihrer Gestik verständlich zu machen.

Zusammen gingen sie auf den Hof, wo die Frau Cassie ihren Parkplatz zeigte – eine überdachte Parknische hinter dem Haus. Sie gab ihr außerdem den Schlüssel für die Tür samt Fernbedienung, die das Tor steuerte, und half ihr dann, ihr Gepäck nach oben zu bringen.

Cassie war automatisch nach rechts in Richtung der Zimmer der Kinder gegangen, doch das Dienstmädchen rief sie zurück.

„No!“, rief sie auf Italienisch.

Das Mädchen deutete den Korridor entlang in Richtung des anderen Endes des Hufeisens.

Cassie drehte sich verwirrt um. Sie hatte angenommen, in der Nähe der Kinder zu schlafen, sodass sie auch nachts für sie erreichbar war. Am anderen Ende des riesigen Hauses würde sie nicht in der Lage sein, sie zu hören, sollten sie weinen. Ms. Rossis Zimmer, das in der Mitte des Hufeisens lag, war sogar näher.

Doch sie hatte bereits gesehen, wie unabhängig die Mädchen für ihr Alter waren und möglicherweise nachts keine Hilfe mehr benötigten – oder selbstsicher genug waren, auch nachts durch das Haus zu gehen, um sie aufzusuchen.

Ihr großes Schlafzimmer samt eigenem Badezimmer lag am anderen Ende des Hufeisens. Cassie blickte aus dem Fenster und sah, dass ihr Zimmer den Garten und Innenhof überblickte, wo ein kunstvoller Brunnen den Mittelpunkt bildete.

Auf der anderen Seite konnte sie die Schlafzimmerfenster der Kinder sehen und im Licht der spätnachmittäglichen Sonne sogar den dunklen Kopf eines der Mädchen ausmachen, das am Schreibtisch saß und mit den Hausaufgaben beschäftigt zu sein schien. Da die beiden Mädchen identische Pferdeschwänze trugen und auch fast gleich groß waren, konnte sie nicht herausfinden, um welches der Mädchen es sich handelte. Die Stuhllehne blockierte den Blick auf das Kleid, dessen Farbe ihr Aufschluss darüber hätte geben können. Dennoch war es gut zu wissen, sie sehen zu können.

Cassie würde am liebsten durch den Hufeisen-Korridor laufen und die Kinder besser kennenlernen, um einen guten Start mit ihnen zu garantieren.

Doch sie waren mit ihren Hausaufgaben beschäftigt und würden bald mit ihrer Mutter aufbrechen. Sie würde also warten müssen.

Stattdessen packte Cassie aus und stellte sicher, dass sowohl Zimmer als auch Schrank tadellos aufgeräumt waren.

Ms. Rossi hatte sie nicht gefragt, ob sie Medikamente einnahm, also war Cassie nicht gezwungen gewesen, ihr von den Tabletten zu erzählen, die ihre mentale Stabilität förderten.

Sie verstaute die Pillenflaschen außer Sichtweite ganz hinten in ihrer Nachttischschublade.

Cassie hatte nicht damit gerechnet, den ersten Abend im Haus alleine zu verbringen. Sie ging nach unten in die leere Küche und durchsuche die Schubladen, bis sie die Menüs der Lieferunternehmen gefunden hatte.

Der Kühlschrank war voll, aber Cassie hatte keine Ahnung, was für zukünftige Mahlzeiten reserviert war. Fragen konnte sie auch niemanden. Das Personal, inklusive des Mädchens, das ihr geholfen hatte, schien bereits Feierabend zu haben. Es war ihr unangenehm, am ersten Abend etwas zu essen zu bestellen und die Familie dafür bezahlen zu lassen, aber sie entschied, den Anweisungen ihrer Arbeitgeberin zu folgen.

Das Telefon befand sich in der Küche, also rief sie eines der örtlichen Restaurants an, um eine Lasagne und eine Cola Light zu bestellen. Eine halbe Stunde später kam der Lieferdienst. Da sie nicht im formellen Esszimmer speisen wollte, ging Cassie auf Erkundungstour. Im unteren Bereich befanden sich mehrere kleine Räume. Sie vermutete, das Esszimmer der Kinder gefunden zu haben, in dem ein kleiner Tisch sowie vier Stühle standen.

Sie setzte sich und aß ihre Lasagne, während sie das Buch mit den italienischen Redewendungen studierte. Von den Ereignissen des Tages erschöpft ging sie zu Bett.

Kurz bevor sie einschlief, vibrierte ihr Handy.

Es war der freundliche Bartender aus dem Hostel.

„Hey Cassie! Ich glaube, mich daran zu erinnern, wo Jax arbeitet. Die Stadt heißt Bellagio. Ich drück die Daumen, dass das weiterhilft!“

Hoffnung durchflutete Cassie. Sie kannte nun die Stadt – den Namen der Stadt – wo ihre Schwester gewesen war. Hatte sie dort gearbeitet? Cassie hoffte, dass Jacqui dort in einem Hostel oder Gästehaus untergekommen war und dadurch eine Spur hinterlassen hatte. Sobald ihre Zeit es erlaubte, würde sie mit ihren Nachforschungen beginnen. Sie hatte ein gutes Gefühl.

Wie die Stadt wohl war? Der Name klang sehr anmutig. Warum hatte sich Jacqui für einen Aufenthalt dort entschieden?

In Cassies Kopf tummelten sich so viele unbeantwortete Fragen, dass sie viel länger brauchte als erwartet, um einzuschlafen.

Als sie schließlich schlief, träumte sie von der Stadt. Sie war malerisch und klein, mit geschwungenen Häuserreihen und Gebäuden aus honigsüßem Stein. Sie ging die Straße hinunter und fragte einen Passanten: „Wo kann ich meine Schwester finden?“

„Sie ist dort drüben.“ Er zeigte Richtung Hügel.

Unterwegs begann Cassie, sich zu fragen, was sie auf dem Hügel erwartete. Er schien unglaublich weit weg zu sein. Was tat Jacqui dort? Warum war sie nicht nach unten gekommen, um Cassie zu begrüßen, wo sie doch von ihrem Besuch in der Stadt wusste?

Endlich erreichte sie atemlos die Spitze des Hügels, doch der Turm war verschwunden und vor ihr lag lediglich ein riesiger, dunkler See. Das trübe Wasser schlug gegen die dunklen, abbröckelnden Steinufer, die den See umgaben.

„Ich bin hier.“

„Wo?“

Die Stimme schien von weit weg zu kommen.

„Du bist du spät“, flüsterte Jacqui mit heiserer und trauriger Stimme. „Dad hat mich zuerst erwischt.“

Entsetzt beugte Cassie sich über das Steilufer und sah nach unten.

Dort lag Jacqui am Boden des dunklen, kalten Wassers.

Ihr Haar schlängelte sich um sie herum und ihre Arme und Beine lagen weiß und leblos wie Seetang auf den scharfen Felsen. Ihre starren Augen waren nach oben gerichtet.

„Nein!“, schrie Cassie.

Sie realisierte, dass es sich überhaupt nicht um Jacqui handelte und sie gar nicht in Italien war. Sie war wieder in Frankreich, wo sie vom steinernen Balkon aus auf den gespreizten Körper am Boden starrte. Es war kein Traum, sondern eine Erinnerung. Ihr wurde schwindelig und sie krallte sich am Stein fest. Sie fürchtete, selbst zu fallen, weil sie sich so schwach und hilflos fühlte.

„Dafür sind Väter da. Darum geht es.“

Die höhnische Stimme erklang hinter ihr und sie drehte sich um.

Da stand er, der Mann, der sie belogen und in die Irre geführt hatte. Der Mann, der ihr Vertrauen gebrochen hatte. Aber es war nicht ihr Vater, es war Ryan Ellis, ihr Arbeitgeber aus England. Sein Gesicht wirkte zufrieden.

„Dafür sind Väter da“, flüsterte er. „Sie verletzen. Sie zerstören. Du warst nicht gut genug und jetzt bist du an der Reihe. Dafür sind Väter da.“

Seine ausgestreckte Hand erwischte ihr Shirt und er stieß sie mit aller Kraft nach hinten.

Cassie schrie vor Angst, als sie ihren Halt verlor und der Stein unter ihr wegrutschte.

Sie fiel und fiel.

Und dann landete sie. Keuchend saß sie in kaltem Schweiß gebadet in ihrem Bett, obwohl es im geräumigen Zimmer angenehm warm war.

Das Layout des Zimmers war ihr fremd und sie verbrachte einige Zeit damit, ihre Umgebung abzutasten, bis sie endlich ihren Nachttisch und damit den Lichtschalter gefunden hatte.

Sie schaltete das Licht an, um sich zu vergewissern, dass sie ihrem Albtraum entkommen war.

Um sich herum befand sich das große Doppelbett mit seinem verzierten Kopfstück aus Metall. Auf der anderen Seite des Zimmers war das große Fenster, die goldbraunen Vorhänge geschlossen.

Rechts war die Tür zum Flur, links die zum Badezimmer. Der Schreibtisch, der Stuhl, der kleine Kühlschrank, die Garderobe. Alles war so, wie sie es in Erinnerung hatte.

Cassie atmete tief aus und war sich nun sicher, nicht mehr in ihrem Traum gefangen zu sein.

Trotz der Dunkelheit war es bereits viertel nach sieben Uhr. Erschrocken fiel ihr ein, dass sie keine Anweisungen erhalten hatte, wie der Tag der Kinder aussehen würde. Oder hatte Ms. Rossi sie instruiert, möglicherweise sogar die Schule erwähnt, und es war ihr entwichen?

Cassie schüttelte den Kopf. Sie konnte sich an nichts erinnern und glaubte nicht, dass Ms. Rossi ihr Informationen zum Schulbeginn der Kinder gegeben hatte.

Sie kletterte aus dem Bett und zog sich schnell an. Im Badezimmer zähmte sie ihre kastanienbraunen Wellen zu einem sauberen Look, der in dem modeorientierten Haus hoffentlich akzeptabel war.

Während sie sich im Spiegel ansah, hörte sie draußen etwas.

Cassie erstarrte und lauschte.

Sie erkannte das Geräusch leiser Schritte auf dem Kies. Das matte Glasfenster des Badezimmers überblickte das Tor.

War das ein Angestellter der Küche?

Sie öffnete das Fenster und schielte nach draußen.

Im tiefen Grau des frühen Morgens sah Cassie eine dunkel gekleidete Figur, die ums Haus herumschlich. Als sie die Person erstaunt beobachtete, erkannte sie die Form eines Mannes, der eine dunkle Mütze und einen kleinen, dunklen Rucksack trug. Sie sah ihn nur kurz, aber erkannte, dass er Richtung Hintertür unterwegs war.

Ihr Herz beschleunigte sich, als sie an Eindringlinge, das automatische Tor und die Sicherheitskameras dachte.

Sie erinnerte sich an Ms. Rossis Worte und ihre klare Warnung. Dies war das Haus einer wohlhabenden Familie. Zweifellos waren die Rossis im Visier von Einbrechern oder sogar Kidnappern.

Sie musste der Sache auf den Grund gehen. Wenn sie den Mann für gefährlich hielt, könnte sie den Alarm auslösen, schreien und den ganzen Haushalt wecken.

Als sie nach unten eilte, entschied sie sich für einen Plan.

Der Mann war um den hinteren Bereich des Hauses geschlichen, also würde sie die vordere Haustür nehmen. Es war nun hell genug, um etwas zu sehen und die kalte Nacht hatte das Gras mit Frost bedeckt. Sie wäre problemlos in der Lage, seine Fußspuren zu verfolgen.

Cassie ging nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Der Morgen war ruhig und eiskalt, aber sie war so nervös, dass sie die Temperatur kaum bemerkte.

Sie entdeckte die Fußspuren, die im Frost gut sichtbar waren. Sie führten über das sauber geschnittene Gras ums Haus herum und in Richtung Innenhof.

Cassie folgte den Spuren und sah, dass sie zur Hintertür führten, die weit offenstand.

Sie schlich die Stufen hinauf und sah die distinktiven Schuhabdrücke auf dem Stein.

Im Türrahmen blieb sie stehen, um zu warten und neben dem Hämmern ihres eigenen Herzens verdächtige Geräusche wahrzunehmen.

Aus dem Inneren des Hauses hörte sie nichts, obwohl die Lichter an waren. Der schwache Geruch von Kaffee wehte zu ihr herüber. Vielleicht war der Mann ein Fahrer, der eine Lieferung vorbeigebracht hatte und vom Koch ins Haus gelassen worden war. Aber wo war er und warum hörte sie keine Stimmen?

Auf Zehenspitzen ging Cassie in die Küche, fand dort aber niemanden vor.

Sie entschied sich, nach den Kindern zu sehen und sicherzugehen, dass es ihnen gutging. Dann würde sie Ms. Rossi wecken und ihr erklären, was sie gesehen hatte. Möglicherweise war es falscher Alarm, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht. Vor allem da der Mann einfach so verschwunden war.

Ohne die Schuhabdrücke hätte Cassie geglaubt, sich den hinterhältigen Mann eingebildet zu haben, so flüchtig war ihr Blick auf ihn gewesen.

Sie joggte die Stufen hinauf und ging dann in Richtung der Schlafzimmer der Kinder.

Doch bevor sie dort ankam, blieb sie abrupt stehen und schlug sich die Hand über den Mund, um ihren Aufschrei zu ersticken.

Dort war der Mann – eine schmale, schwarz gekleidete Figur.

Er stand vor Ms. Rossis Schlafzimmer und griff mit der linken Hand nach dem Türgriff.

Sie konnte seine rechte Hand nicht sehen, weil er sie vor dem Körper hielt. Aber von ihrem Blickwinkel aus schien er offensichtlich etwas in der Hand zu halten.




KAPITEL ACHT


Cassie, die eine Waffe brauchte, griff nach dem erstbesten Gegenstand, den ihre panischen Augen erblickten – eine Bronze-Statuette, die auf dem Beistelltisch neben den Treppen gestanden hatte.

Dann rannte sie auf ihn zu. Sie hatte das Element der Überraschung auf ihrer Seite; er würde nicht in der Lage sein, sich rechtzeitig umzudrehen. Sie würde ihm die Statuette gegen den Kopf schlagen – und dann auf seine rechte Hand, um ihn zu entwaffnen.

Cassie stürzte nach vorne. Er drehte sich, das war ihre Chance. Sie hob ihre provisorische Waffe nach oben.

Dann, als er sich zu ihr umdrehte, kam sie schleudernd zum Stehen. Ihr überraschter Aufschrei wurde von seinem wütenden Ausruf überdeckt.

Der kleine, schmale Mann trug einen großen Kaffeebecher in der Hand.

„Was zum Teufel?“, rief er.

Cassie ließ die Statue sinken und starrte ihn ungläubig an.

„Hattest du vor, mich anzugreifen?“, tobte der Mann. „Bist du von Sinnen? Ich habe fast den Becher fallen lassen.“

Er betrachtete den Kaffeebecher in seiner Hand, dessen Inhalt durch die Öffnung im Deckel und auf seine Hand gespritzt war. Einige Tropfen waren auf dem Boden gelandet. Er zog ein Taschentuch aus seiner Tasche und beugte sich nach vorne, um sie aufzuwischen.

Cassie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er sah makellos zurechtgemacht aus. Sein braunes Haar war perfekt gestuft und sein Bart kurz geschnitten. Sie glaubte, einen australischen Akzent in seiner Stimme zu hören.

Er richtete sich wieder auf und starrte sie an.

„Wer bist du?“

„Cassie Vale, das Au-Pair. Wer bist du?“

Er zog die Augenbrauen hoch.

„Seit wann? Du warst doch gestern noch nicht hier.“

„Ich wurde gestern Nachmittag eingestellt.“

„Signora hat dich eingestellt?“

Die Betonung lag auf dem ‚dich‘ und er betrachtete sie mehrere Augenblicke lang, in denen Cassie sich immer unangenehmer fühlte. Sie nickte wortlos.

„Verstehe. Nun, mein Name ist Maurice Smithers und ich bin Ms. Rossis persönlicher Assistent.“

Cassie öffnete den Mund. Er passte nicht in ihr Bild eines persönlichen Assistenten.

„Warum hast du dich ins Haus geschlichen?“

Maurice seufzte.

Das Schloss der Eingangstür ist bei kaltem Wetter nur schwer zu öffnen. Es macht unglaublichen Lärm und ich möchte niemanden stören, wenn ich frühzeitig ankomme. Also komme ich durch die Hintertür, die leiser ist.“

„Und der Kaffee?“

Cassie betrachtete den Becher und war von der seltsamen Erscheinung des Mannes und seiner angeblichen Rolle noch immer wie geblendet.

„Der stammt aus einer kleinen Kaffeerösterei in der Nachbarschaft. Signora trinkt ihn am liebsten. Ich bringe ihr immer einen Becher mit, wenn wir Morgenmeetings haben.“

„So früh?“

Obwohl ihr Ton anschuldigend war, fühlte sich Cassie beschämt. Sie hatte sich als Heldin geglaubt, die in den besten Interessen ihrer Arbeitgeberin und deren Kinder handelte. Jetzt begriff sie, einen ernsthaften Fehler gemacht und es sich mit Maurice verdorben zu haben. Als ihr persönlicher Assistent war dieser offensichtlich eine einflussreiche Person in Ms. Rossis Leben.

Ihre Visionen eines zukünftigen Praktikums kamen ihr plötzlich viel unsicherer vor. Cassie wollte nicht einmal daran denken, dass ihr eigenes törichtes Handeln bereits ihren Traum komprimiert haben könnte.

„Wir haben einen vollen Tag vor uns und Ms. Rossi beginnt gerne früh. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich ihr nun gerne den Kaffee geben, bevor er kalt wird.“

Er klopfte respektvoll an der Tür, die einen Augenblick später geöffnet wurde.

„Buongiorno, Signora. Wie geht es Ihnen heute Morgen?“

Ms. Rossi war angezogen und perfekt zurechtgemacht. Sie trug heute ein anderes Paar Stiefel; sie waren kirschrot und mit großen, silbernen Schnallen besetzt.

„Molto bene, grazie, Maurice.“ Sie nahm ihm den Kaffee ab.

Italienische Höflichkeiten schienen zu jeder Unterhaltung dazuzugehören, bevor diese ins Englische überging, bemerkte Cassie, als Maurice weitersprach.

„Es ist kühl draußen. Soll ich die Heizung im Arbeitszimmer andrehen?“

Bisher hatte Cassie nicht gewusst, dass Maurice lächeln konnte, aber sein Gesicht verzog sich nun zu einem unterwürfigen Grinsen, als sprudele er über vor Verlangen, ihr zu gefallen.

„Wir werden nicht lange dort sein, ich bin mir sicher, dass die Temperatur angemessen ist. Bringen Sie meinen Mantel, ja?“

„Natürlich.“

Maurice nahm den fellbesetzten Mantel vom Holzständer neben der Schlafzimmertür. Er folgte ihr dicht und begann, angeregt zu plaudern.

„Warten Sie nur, bis Sie hören, was wir für die Fashion Week in der Pipeline haben. Wir hatten gestern ein fantastisches Meeting mit dem Team in Frankreich. Ich habe die Sitzung selbstverständlich aufgenommen, aber ich habe außerdem eine Zusammenfassung vorbereitet.“

Cassie realisierte, dass Ms. Rossi kein einziges Wort zu ihr gesagt hatte. Sie musste ihre Anwesenheit registriert haben, doch ihre ganze Aufmerksamkeit hatte Maurice gegolten. Nun waren die beiden auf dem Weg ins Büro, wo Cassie am Tag zuvor interviewt worden war.

Sie glaubte nicht, dass Ms. Rossi sie absichtlich ignorierte – zumindest hoffte sie das. Sie schien vielmehr von ihrer Arbeit abgelenkt zu sein und hatte ihren Fokus auf den bevorstehenden Arbeitstag gerichtet.

„Ich habe die Verkaufszahlen der letzten Woche und die Antwort der indonesischen Zulieferer.“

„Ich hoffe, es sind gute Nachrichten“, sagte Ms. Rossi.

„Ich denke, ja. Sie wollen mehr Informationen, aber es klang positiv.“

Maurice schien geradewegs um Ms. Rossi herumzuschwänzeln und Cassie hatte keine Ahnung, ob er sie unabsichtlich oder bewusst ignorierte. Vielleicht wollte er ihr zeigen, wie viel wichtiger er in ihrem Leben war als Cassie.

Sie folgte ihnen mit einigen Schritten Abstand ins Büro und wartete auf eine Lücke in der Unterhaltung, um nach dem Tagesablauf der Kinder zu fragen.

Doch bald wurde ihr klar, dass es keine Lücke geben würde. Sie hatten die Köpfe über Maurices Laptop zusammengesteckt und beachteten Cassie nicht. Sie war sich immer sicherer, dass Maurice sie absichtlich ignorierte. Schließlich wusste er von ihrer Anwesenheit.

Sie überlegte, das Gespräch zu unterbrechen, war aber zu nervös. Die beiden schienen so konzentriert zu arbeiten und Cassie wollte Ms. Rossi nicht wütend machen. Vor allem nachdem die Unterhaltung, die sie am Vortag belauscht hatte, bewiesen hatte, wie schnell die Geschäftsfrau überkochen konnte.

Sie war überschwänglicher Freude gewesen, von der einflussreichen Frau eingestellt und gelobt worden zu sein. Heute fühlte es sich an, als existiere sie in ihren Augen gar nicht.

Als sie sich wegdrehte, fühlte sich Cassie entmutigt und unsicher. Sie versuchte, die negativen Gedanken von sich wegzuschieben und erinnerte sich ausdrücklich daran, welche Rolle sie hatte. Sie war hier, um nach den Kindern zu sehen, nicht, um die Aufmerksamkeit Ms. Rossis an sich zu reißen, wo diese doch offensichtlich beschäftigt war. Hoffentlich kannten Nina und Venetia ihre Pläne für den Tag.

Doch als Cassie die Zimmer der Mädchen aufsuchte, waren diese leer. Beide Betten waren tadellos gemacht und die Zimmer aufgeräumt. Mit der Vermutung, die beiden beim Frühstück anzutreffen, ging Cassie in die Küche und war erleichtert, sie tatsächlich dort vorzufinden.

„Guten Morgen, Nina und Venetia“, sagte sie.

„Guten Morgen“, antworteten die Mädchen höflich.

Nina saß auf einem Stuhl, während Venetia ihr gerade einen Pferdeschwanz band. Cassie vermutete, dass Nina zuvor dasselbe für ihre Schwester getan hatte, denn deren Haar war bereits ordentlich nach hinten gebunden.

Beide Mädchen trugen weiß-pinke Schuluniformen. Auf dem Tresen standen Toast und Orangensaft.

Cassie war beeindruckt, wie die beiden als Team zu funktionieren schienen. Bisher hatte sie eine harmonische Beziehung erlebt, in der es weder Neckereien noch Streitereien zu geben schien. Da die Mädchen fast gleichalt waren, schienen sie sich mehr wie Zwillinge zu verhalten.

„Ihr beide seid prima organisiert“, sagte Cassie bewundernd. „Ihr scheint gut darin zu sein, nach euch selbst zu sehen. Kann ich euch etwas für euren Toast bringen? Was esst ihr normalerweise? Marmelade, Käse, Erdnussbutter?“

Cassie war sich nicht sicher, was die Küche hergab, vermutete aber, dass die Grundnahrungsmittel vorhanden waren.

„Ich mag meinen Toast einfach mit Butter“, sagte Nina.

Cassie nahm an, dass Venetia ihrer Schwester zustimmen würde. Doch das jüngere Mädchen betrachtete sie interessiert, als zöge sie die Vorschläge in Erwägung. Dann sagte sie: „Marmelade, bitte.“

„Marmelade? Kein Problem.“

Cassie öffnete mehrere Schränke, bis sie die Aufstriche fand. Sie standen weit oben – zu hoch für die Kinder.

„Es gibt Erdbeer- und Feigenmarmeladen. Was hättest du gerne? Ansonsten gibt es noch Nutella.“

„Erdbeere, bitte“, sagte Venetia höflich.

„Wir dürfen kein Nutella essen“, erklärte Nina. „Das ist nur für besondere Gelegenheiten.“

Cassie nickte. „Das macht Sinn, wo es doch so köstlich ist.“

Sie gab Venetia die Marmelade und setzte sich.

„Was habt ihr heute vor? Ihr scheint bereit für die Schule zu sein. Muss ich euch dort hinbringen? Wann beginnt der Unterricht und kennt ihr den Weg?“

Nina schluckte ihren Toast herunter.

„Unterricht beginnt um acht und endet heute um halb drei, da wir noch Gesangsunterricht haben. Aber wir haben einen Fahrer, Giuseppe, der uns hinbringt und abholt.“

„Oh.“

Cassie konnte ihre Überraschung nicht verstecken. Der Tagesablauf der Kinder war organisierter, als sie es erwartet hatte. Sie fühlte sich überflüssig und machte sich Sorgen, Ms. Rossi könnte realisieren, ohne sie klarzukommen und sie gar nicht für drei Monate zu brauchen. Sie musste sich nützlich machen. Hoffentlich würde sie den Mädchen nach der Schule bei ihren Hausaufgaben helfen können.

Während sie über diese Strategie nachdachte, stand Cassie auf, um sich Kaffee zu machen.

Als sie sich wieder umdrehte, sah sie, dass die Mädchen ihr Frühstück beendet hatten.

Nina stellte die Teller und Gläser in die Spülmaschine, während Venetia einen der Hocker zum Schrank gezogen hatte. Sie kletterte darauf und streckte ihren Arm aus, um das Marmeladenglas zurück zu stellen.

„Keine Sorge, ich mach das.“

Venetia wirkte wackelig auf dem Hocker und Cassie eilte zu ihr, um ein Desaster zu verhindern.

„Ich kann das.“

Venetia hielt das Glas fest in den Händen und weigerte sich, Cassies Hilfe anzunehmen.

„Es ist kein Problem, Venetia. Ich bin größer.“

„Ich muss das machen.“ Das kleine Mädchen klang angespannt, fast schon verzweifelt, es selbst zu tun.

Während Cassie nervös hinter ihr stand, um sie im Notfall aufzufangen, stellte Venetia auf Zehenspitzen das Marmeladenglas zurück ins Regal. Sie schob es genau dorthin, wo es sich auch zuvor befunden hatte.

„Gut gemacht“, lobte Cassie sie.

Sie nahm an, dass die erbitterte Unabhängigkeit ein Teil des Charakters und der Erziehung des Mädchens sein musste. Es kam ihr ungewöhnlich vor, aber sie hatte auch noch nie für eine derartige Familie gearbeitet.

Sie sah zu, wie Venetia den Stuhl zurück an seinen Platz manövrierte. Mittlerweile hatte Nina die Butter zurück in den Kühlschrank und das Brot in seine Box gelegt. Die Küche sah makellos aus, als wäre darin kein Frühstück gegessen worden.

„Giuseppe wird bald hier sein“, erinnerte Nina ihre Schwester. „Wir müssen unsere Zähne putzen.“

Sie verließen die Küche und gingen nach oben in ihre Zimmer. Cassie sah ihnen begeistert nach. Fünf Minuten später kehrten die Mädchen samt Schultaschen und Mänteln zurück und gingen nach draußen.

Cassie folgte ihnen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, doch ein weißer Mercedes fuhr bereits vor. Einige Augenblicke später hielt er in der kreisrunden Einfahrt und die Mädchen kletterten in den Wagen.

„Auf Wiedersehen“, rief Cassie winkend. Doch die Mädchen konnten sie nicht gehört haben, da sie nicht zu reagieren schienen.

Im Haus entdeckte Cassie, dass Ms. Rossi und Maurice ebenfalls gegangen waren. Die anderen Hausangestellten schienen auch nicht im Dienst zu sein.

Cassie war ganz alleine.

„Das ist nicht, was ich erwartet habe“, sagte sie zu sich selbst.

Das Haus war sehr still und darin allein zu sein, fühlte sich seltsam an. Sie hatte angenommen, weit mehr zu tun zu haben und mehr in das Leben der Kinder involviert zu werden. Es fühlte sich an, als würde sie wahrhaftig nicht gebraucht werden.

Sie versuchte, sich zu versichern, dass es noch früh war und sie für die Zeit dankbar sein sollte. Vermutlich war dies nur die Ruhe vor dem Sturm; sobald die Kinder wieder zuhause waren, hätte sie bestimmt genug zu tun.

Cassie entschied sich, den Hinweis weiterzuverfolgen, den sie am Vortag erhalten hatte. Der unerwartet freie Morgen war möglicherweise ihre einzige Chance, Jacquis Aufenthaltsort herauszufinden.

Sie hatte nicht viel, lediglich den Namen einer Stadt.

Aber sie war entschlossen, damit klarzukommen.


*

Im W-LAN des Hauses verbrachte Cassie eine Stunde damit, die Stadt kennenzulernen, in der Jacqui gelebt hatte – oder zumindest hatte sie das dem Bartender Tim vor einigen Wochen erzählt.

Bellagio war eine kleine Stadt, was ihr zugunsten kam. In einem kleinen Ort gab es weniger Hostels und Hotels und die Menschen kannten einander besser. Eine hübsche, amerikanische Frau würde auffallen.

Ein weiterer Vorteil war, dass es sich um ein beliebtes Reiseziel handelte. Bellagio war ein malerischer Ort am Comer See, der fantastische Aussichten, Shops und Restaurants zu bieten hatte.

Während ihrer Recherche versuchte sie, sich auszumalen, wie das Leben in dieser Stadt wohl sein mochte. Ruhig, malerisch, im Hochsommer voller Touristen. Sie stellte sich Jacqui vor, wie sie möglicherweise in einem kleinen Hotel oder einer Mietswohnung lebte. Vermutlich ein kleines Zuhause mit Blick über die Pflastersteinstraßen, von einer steilen Steintreppe aus zu erreichen. Mit einem Fensterkasten voller bunter Blumen.

Cassie verbrachte zwei Stunden damit, sich mit dem Ort vertraut zu machen. Sie erstellte eine umfangreiche Liste der Backpacker Lodges und Hostels, inklusive zahlreichen Airbnbs sowie den Agenturen für Mietwohnungen. Sie wusste, dass sie vermutlich einige Unterkünfte übersehen hatte, hoffte aber, gute Chancen zu haben.

Dann war es Zeit, die Anrufe zu tätigen.

Ihr Mund war trocken. Die Liste zusammenzustellen, hatte ihr Hoffnung gemacht. Jeder Name und jede Nummer präsentierten eine neue Chance. Jetzt würden ihre Hoffnungen nacheinander wieder zerschlagen werden, während die Liste der Unterkünfte immer kleiner wurde.

Cassie wählte die erste Nummer, ein Gästehaus im Stadtzentrum.

„Hallo“, sagte sie. „Ich bin auf der Suche nach einer Frau mit dem Namen Jacqui Vale. Sie ist meine Schwester. Ich habe mein Handy verloren und kann mich nicht daran erinnern, wo sie unterkommen wollte. Ich bin jetzt selbst in Italien und würde mich gerne mit ihr treffen.“

Obwohl das nicht der Wahrheit entsprach, hatte Cassie sich für diesen plausiblen Grund für ihren Anruf entschieden. Sie wollte nicht ihre lange und komplizierte Geschichte erzählen, da sie fürchtete, Ungeduld oder gar Argwohn zu verursachen.

„Sie hat möglicherweise unter dem Namen Jacqueline gebucht. Das müsste innerhalb der letzten zwei Monate gewesen sein.“

„Jaqueline?“ Kurz war es still und Cassies Herzschlag beschleunigte sich.

Dann zerbarsten ihre Hoffnungen, als die Frau antwortete: „Wir hatten keine Gäste mit diesem Namen.“

Cassie bemerkte schnell, wie aufwendig und frustrierend ihr Vorhaben war. Einige der Gästehäuser weigerten sich, ihr aufgrund von Datenschutzgründen weiterzuhelfen. Andere waren beschäftigt und wollten zu einem anderen Zeitpunkt kontaktiert werden.

Sie arbeitete ihre Liste ab, bis sie fast das Ende erreicht hatte. Nur drei Nummern verblieben, danach würde sie aufgeben müssen.

Sie wählte die drittletzte Nummer, frustriert, als verspotte Jacqui sie mit ihrer Ausweichlichkeit.

„Posso aiutarti?“, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung.

Cassie hatte gelernt, dass dieser Ausdruck ‚Kann ich Ihnen helfen?‘ bedeutete, doch der Mann klang überhaupt nicht, als wolle er das tun. Sein Ton war ungeduldig und gestresst, als hätte er einen schlechten Tag hinter sich. Cassie vermutete, dass er ihr aufgrund von Datenschutzgründen nicht weiterhelfen würde. Das würde er sagen, um sie aus der Leitung zu werfen, weil er Gäste hatte, die warteten oder selbst das Haus verlassen wollte.

„Ich suche nach Jacqui Vale. Sie ist meine Schwester. Ich hatte vor, mich mit ihr hier in Italien zu treffen, aber mir wurde gestern das Handy gestohlen und ich kann mich nicht daran erinnern, wo sie untergekommen ist.“

Cassie hatte das Drama-Level ihrer Story erhöht und hoffte auf mehr Sympathie.

„Ich telefoniere herum, um sie ausfindig zu machen.“

Sie hörte, wie der Mann auf der Tastatur tippte.

Dann fiel sie fast von Stuhl, als er antwortete. „Ja, eine Jacqui Vale hat bei uns gewohnt. Sie war etwa zwei Wochen lang hier und ist dann in eine Wohngemeinschaft gezogen. Ich glaube, sie hat in der Nähe gearbeitet.“

Cassies Herz hüpfte. Dieser Mann kannte sie – hatte sie gesehen, mit ihr gesprochen. Das war ein großer Fortschritt in ihrer Suche.

„Ich erinnere mich nun, dass sie Teilzeit in einer Boutique um die Ecke gearbeitet hatte. Mirabella’s. Hätten Sie gerne die Nummer?“

„Das ist fantastisch. Ich kann nicht glauben, dass ich sie ausfindig machen kann“, sprudelte Cassie. „Vielen Dank. Bitte geben Sie mir die Nummer.“

Er suchte ihr die Nummer heraus und sie schrieb sie auf. Ihr war schwindelig vor Aufregung. Ihre Suche war von Erfolg gekrönt gewesen: Sie hatten den Arbeitsplatz ihrer Schwester gefunden. Die Chancen standen gut, dass sie noch immer dort arbeitete.

Mit zitternden Händen und stockendem Atem wählte sie die Nummer, die der Mann ihr gegeben hatte.

Eine ältere, italienische Frau nahm ab und Cassie war kurz enttäuscht, nicht direkt mit Jacqui zu sprechen – denn genau das hatte sie sich ausgemalt.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte die Frau mit stark akzentuiertem Englisch, sobald sie etabliert hatte, dass Cassie kein Italienisch sprach.

„Spreche ich mit Mirabella?“

„Das tun Sie.“

„Mirabella, mein Name ist Cassie Vale. Ich versuche meine Schwester, Jacqui, ausfindig zu machen. Ich habe vor geraumer Zeit den Kontakt zu ihr verloren, habe aber herausgefunden, dass sie für Sie gearbeitet hat. Ist sie zufällig noch immer dort? Oder könnten Sie ihr meine Nummer geben?“

Es wurde still.

Cassie malte sich aus, wie Mirabella Jacqui zum Telefon herüberwinkte und war enttäuscht, als die Frau selbst erneut das Wort ergriff.

Sie sprach mit kurzem und geschäftsmäßigem Bedauern.

„Tut mir leid, aber Jacqui Vale ist tot.“

Dann klickte es in der Leitung und der Anruf wurde beendet.




KAPITEL NEUN


Cassie ließ das Telefon fallen. Das Handy glitt ihr aus der Hand und landete auf dem Schreibtisch. Sie bemerkte es nicht einmal. Die schockierende Botschaft hatte sie gelähmt.

Sie hatte gerade erfahren, dass Jacqui tot war.

Die Boutique-Besitzerin hatte diese Worte mit harscher und nackter Gewissheit ausgesprochen. Da war kein Raum für Zweifel oder Missverständnis, für Details oder Erklärungen. Nur die kalten, harten Fakten – gefolgt von einem abrupten Verbindungsabbruch.

Cassie spürte, wie die Schluchzer in ihr aufstiegen. Sie kamen von so tief unten, dass sie sich davor fürchtete, sie hinauszulassen. Denn sie wusste, dass Trauer, Schuld und Selbstvorwürfe nicht aufgehalten werden konnten.

Ihre Schwester war nicht mehr am Leben.

Was war geschehen? Verwirrung erfüllte sie, als sie sich daran erinnerte, dass sie vor einigen Wochen noch am Leben gewesen sein musste. Sowohl Tim, der freundliche Bartender, als auch der Hostelbesitzer in Bellagio hatten das bestätigt.

War sie krank gewesen? Hatte sie an einer tödlichen Krankheit gelitten? Oder war ihr Tod ein Unfall gewesen? Eine schnelle, unvermeidliche Tragödie – ihre Schwester Opfer eines Verkehrsunfalls, eines Gaslecks, eines Einbruchs oder Überfalls?

Cassie hob sich die Stirn. Ihre Schläfen pochten laut. Sie war so nah dran gewesen, hatte ihre Schwester um Haaresbreite verpasst und nun entdeckt, dass sie sie nie wiedersehen würde.

„Oh, Jacqui“, flüsterte sie. „Es tut mir leid. Ich habe es versucht, das habe ich wirklich.“

Als sie langsam die Tragweite ihrer Worte begriff, folgte die Trauer und Cassie begann, unkontrolliert zu weinen.

Sie vergrub den Kopf in ihren Händen und konnte nichts anderes tun, als den Schmerz zu ertragen und zu weinen. Der Verlust schien unaushaltbar zu sein, die Qual so stechend wie eine Messerwunde. Die Worte der Frau hatten Wunden der Trauer in ihr geöffnet und sie fürchtete, nie wieder heilen zu können.

Eine gefühlte Ewigkeit später hob Cassie den Kopf. Sie fühlte sich schwach und erschöpft, hatte aber keine Tränen mehr übrig.

Sie ging ins Badezimmer, spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und rieb sich die Augen. Als sie ihre geschwollenen Augen im Spiegel betrachtete, realisierte sie, dass sie die Stufe des Schocks und der Akzeptanz bereits überwunden hatte. Nun war ihr Kopf voller Fragen.

Wann war sie gestorben? Hatte es eine Beerdigung gegeben, war Jacqui beigesetzt worden? Wer hatte das tragische Ereignis organisiert?

Und eine weitere wichtige Frage drängte sich an die Oberfläche: Warum hatte Mirabella aufgelegt, nachdem sie ihr diese zerstörenden Nachrichten überbracht hatte? Warum war sie nicht in der Leitung geblieben, um mit Cassie zu sprechen und die Geschehnisse zu erklären? Schließlich hatte Cassie sich als Jacquis Schwester vorgestellt. Mirabella hatte gewusst, mit einer Familienangehörigen zu sprechen.

Jetzt, wo Cassie wieder klarer denken konnte, konnte sie keinen gültigen Grund für Mirabellas Verhalten finden. Es war unlogisch, verwirrend und außerdem unglaublich grausam.

Erschrocken fragte sich Cassie, ob sie sich nicht korrekt an die Unterhaltung erinnerte.

Was, wenn die Frau ihr tatsächlich erklärt hatte, was mit ihrer Schwester geschehen war? Was, wenn Cassie – im Schrecken des Augenblicks – eine Erinnerungslücke erlitten und das eigentliche Gespräch vergessen hatte?

Ihre Handflächen wurden feucht, denn sie wusste, dass es möglich war. Es war ihr schon zuvor wiederfahren und wurde gewöhnlich von extremen Stresssituationen ausgelöst.

Die Art von Stress, der eine Person ausgesetzt wurde, wenn sie vom Tod ihrer Schwester erfahren hatte.

Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Sie musste Mirabella erneut anrufen und nach den Details des Todes ihrer Schwester fragen.

Sie nahm erneut das Telefon in der Hand und wählte mit angstvoller Übelkeit die Nummer.

Zu ihrer Verwirrung nahm Mirabella nicht ab. Der Anruf wurde nicht einmal zur Mailbox weitergeleitet, sondern klingelte lediglich durch.

Sie legte auf und fragte sich, ob die Verbindung gescheitert war. Während sie erneut wählte, gab sie sich Mühe, ihre Gedanken zu sortieren.

Sie war nicht verrückt. Sie war sich sicher, die Unterhaltung richtig in Erinnerung zu haben. Und sie war überzeugt, dass ihre Schwester nicht tot sein konnte. Nicht innerhalb so kurzer Zeit, nachdem sie erst kürzlich gesund und am Leben gewesen war.

Vielleicht hatte Mirabella genug von Leuten, die sich nach Jacqui erkundigten. Vielleicht hatte Jacqui einen hartnäckigen Ex-Freund, der jeden verrückt machte. Vielleicht hatte sie die Boutique im Streit verlassen und Mirabella hatte im Jähzorn entschieden, diese furchtbare Geschichte zu erzählen.

Für Cassie war dies ein Hoffnungsschimmer, den sie allerdings nicht bestätigen konnte. Erneut ging der Anruf ins Leere. Dann verrieten ihr das Klicken und Kratzen der Haustüre, dass die Kinder zurück waren.

Nach ihrem einsamen Morgen und der schockierenden Entdeckung, war sie froh, Nina und Venetia zu sehen. Sie war dankbar für ihre Gesellschaft, die sie von ihren verzweifelten Gedanken ablenkte.

„Wie war die Schule?“, fragte sie.

Die Mädchen sahen genauso ordentlich und zurechtgemacht aus wie am Morgen. Cassie erinnerte sich vage an ihre eigene Schulzeit, in der sie stets zerzaust und unordentlich nach Hause gekommen war. Entweder hatte sie ein Haarband verloren, ihre Tasche kaputt gemacht oder eine Jacke verlegt.

„Mein Tag war gut, danke“, sagte Nina höflich.

Venetia war gesprächiger.

„Ich hatte einen Mathetest und war Klassenbeste“, sagte sie, was Nina ebenfalls dazu brachte, etwas hinzuzufügen.

„Bei uns findet morgen ein Buchstabier-Wettbewerb statt. Darauf freue ich mich, denn letztes Mal hat mein Team gewonnen.“

„Gut gemacht, Venetia. Und Nina, ich bin mir sicher, dass dein Team ganz hervorragend abschneiden wird. Ich kann dir später beim Üben helfen, wenn du möchtest. Habt ihr beide schon zu Mittag gegessen?“

„Ja, haben wir“, antwortete Nina.

„Dann zieht euch euere Schuluniformen aus. Und dann können wir uns überlegen, was wir tun können, bevor es dunkel wird.“

Die Mädchen sahen sich an, wie sie es oft zu tun schienen, als würden sie sich miteinander absprechen.

„In Ordnung“, sagte Nina.

Als die Mädchen gehorsam nach oben gingen, um sich umzuziehen, verblüffte ihr übermäßig formelles Verhalten Cassie. Sie hatte erwartet, im Laufe der Zeit ein entspannteres Auftreten und normalisierte Persönlichkeiten vorzufinden. Es kam ihr vor, als hielten die Mädchen sie bewusst auf Abstand und sie machte sich Sorgen, von ihnen abgelehnt zu werden. Sie wusste nicht, warum ihre Anwesenheit den Mädchen missfallen könnte.

Dadurch wurde es auch schwer, mit ihnen zu interagieren. Sie benahmen sich wie zwei kleine, perfekt trainierte Roboter. Bisher hatten sie lediglich über ihre Hausaufgaben gesprochen.

Es gab nur eine Person, die daran etwas ändern konnte: sie. Zweifellos waren die Kinder nicht daran gewohnt, von normalen Menschen beaufsichtig zu werden, die weder hochintelligente Spezialisten noch Geschäftsführer waren. Aber sie konnte nichts daran ändern, wer sie war.

Ihr kam der Gedanke, ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen, aber Schularbeiten waren eine langweilige Beschäftigung. Und die Mädchen schienen es zu bevorzugen, ihre Verantwortlichkeiten unabhängig und ohne Hilfe auszuführen.

Warum nicht ein richtiges Spiel spielen? Das schien den ernsten und leistungsstarken Leben zu fehlen. Die Kinder waren vielleicht brillant und auf Erfolg getrimmt – aber sie waren erst acht und neun Jahre alt und brauchten Zeit zum Spielen.

Cassie freute sich, eine Aktivität gefunden zu haben, die ihnen gefallen könnte und zu der sie mit ihrer eigenen Energie und Vorstellungskraft beitragen konnte. Sie ging nach oben, um ihre Jacke zu holen.

„Es sieht nach Regen aus, aber noch ist es trocken. Sollen wir im Garten spielen?“, fragte sie Nina.

Nina sah sie höflich an.

„Das tun wir für gewöhnlich nicht“, sagte sie.

Cassies Herz wurde schwer. Die Kinder schoben sie von sich.

Venetia tauchte im Türrahmen auf.

„Ich würde gerne spielen“, sagte sie.

Cassie sah, dass sich im Regal über Ninas Büchern auch einige Spielsachen befanden. Sie standen so weit oben, dass die Kinder sie nicht erreichen konnten. Die wunderschöne Puppe wirkte vielmehr wie ein teures Sammlerstück als ein Spielzeug, ein Puzzle war ungeöffnet. Daneben lag ein weicher, bunter Ball.

„Sollen wir draußen mit dem Ball spielen?“, schlug sie vor und griff nach dem Ball.

Wieder sahen die Mädchen einander an, als träfen sie eine Entscheidung.

„Wir dürfen nicht mit den Spielsachen spielen“, sagte Nina.

Frustriert verlor Cassie fast die Geduld. Sie hätte die Kinder am liebsten angeschrien. Der Tod Jacquis hatte sie emotional zerbrochen und sie nahm die Blockade der Kinder immer mehr als persönlichen Angriff wahr.

Doch bevor sie explodierte, gelang es ihr, ihre verbleibende Selbstkontrolle zu aktivieren.

„Okay“, sagte sie mit so viel falscher Heiterkeit wie es ihr möglich war. „Ihr dürft nicht mit den Spielsachen spielen – aber habt ihr dennoch Lust auf ein Spiel?“

„Ja.“ Nina nickte und zeigte zum ersten Mal etwas Enthusiasmus. Venetia sprang auf und ab und strahlte vor Begeisterung.

Cassie war erleichtert, nicht wütend geworden zu sein. Vermutlich hatten sie nichts gegen sie persönlich, sondern waren lediglich schüchtern und folgten gehorsam den Hausregeln.

„Gibt es andere Spielsachen? Ansonsten können wir auch ein Spiel ohne Spielzeug spielen.“

„Lass uns ohne spielen“, sagte Nina.

Cassie zerbrach sich den Kopf nach einer guten Idee, während sie nach unten gingen. Was würde Spaß machen und gleichzeitig sie und die Kinder näher zusammenbringen?

„Wie wäre es mit Fangen?“

Cassie hatte sich für ein einfaches Spiel entschieden, da die Wolken immer dichter wurden und sie vermutlich nicht lange draußen bleiben konnten, bevor es schließlich regnen würde.

„Was ist das?“, fragte Nina neugierig.

Cassie kannte das italienische Wort nicht, also entschied sie sich für eine schnelle Erklärung.

„Wir rennen voreinander weg, müssen aber im Garten bleiben. Die Grenzen sind die Mauer dort drüben und das Blumenbeet auf dieser Seite. Ich werde beginnen und versuchen, euch zu fangen. Ich zähle auf fünf, während ihr wegrennt.“

Die Kinder nickten. Venetia wirkte begeistert, während Nina gleichzeitig verwirrt aber auch fasziniert zu sein schien.

„Okay, dann los.“ Cassie drehte sich weg und zählte dramatisch auf fünf.

„Eins, zwei, drei, vier, fünf!“

Sie drehte sich um und rannte los.

Nina war davongesprintet, doch Venetia, die das Spiel nicht zu verstehen schien, war langsamer. Als Cassie in ihre Richtung rannte, schien sie zu begreifen, in Gefahr zu sein und machte einen Schritt zurück.

Cassie hatte gerade noch Zeit, zu sehen, dass sie ehrlich verängstigt aussah, bevor sie bereits einen Hechtsprung machte.

„Hab dich – du bist!“

Statt dem erwarteten Gekreische und Gelächter zuckte Venetia zurück und Cassie sah, dass sie mit den Tränen kämpfte.

Sie blieb stehen, bestürzt über die unerwartete Reaktion des Kindes. Keine ihrer Ideen schien zu funktionieren.

„Bist du verärgert? Jeder muss mal fangen. Du musst einfach jemand anderen erwischen.“

Als Venetia die Lippen aufeinanderdrückte und den Kopf schüttelte, kam Cassie ein weiterer Gedanke.

„Habe ich dir wehgetan? Das tut mir so leid. Ich glaube, ich habe dich härter erwischt als geplant. Kann ich mal sehen?“

Als sie nach Venetias Hand griff, bemerkte sie, dass das Mädchen ihre Nägel bis aufs Fleisch abgekaut hatte. Sie trug ein pinkes, langärmeliges Samtoberteil und Cassie schob den weichen Stoff nach oben.

„Ich kann einen Flecken sehen, der scheint schon etwas blau zu werden. Das tut mir wirklich leid.“

Cassie betrachtete die Schwiele auf Venetias Arm. Sie fühlte sich furchtbar, das Mädchen bei ihrer ersten gemeinsamen Aktivität verletzt zu haben.

„Es beginnt, zu regnen“, sagte Nina, als sich das feuchte Nieseln in einen kühlen Regenschauer verwandelte.

„Lasst uns nach drinnen gehen und etwas anderes spielen“, sagte Cassie, verzweifelt, ihre Tollpatschigkeit wieder gut zu machen. Sie hatte Venetia nicht hart abgeschlagen, aber andererseits auch mit einer Flucht gerechnet – nicht mit einem angstvollen Zusammenzucken.

Sie begriff, dass Venetia unter ihrem gebildeten Äußeren ein sensibles Kind war, sowohl körperlich als auch mental.

„Habt ihr schon mal Verstecken gespielt?“, fragte sie die Kinder, als sie sicher im Flur waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten.

Die beiden schüttelten den Kopf, wirkten aber eher neugierig statt zweifelhaft.

„Dann erkläre ich es euch. Ihr könnt euch irgendwo im Haus verstecken, egal wo. Ich werde die Augen schließen und auf fünfzig zählen, während ihr ein Versteck sucht. Dann werde ich rufen ‚Fertig oder nicht, ich komme!‘ Sobald ich jemanden gefunden habe, ist das Spiel vorbei und die gefundene Person muss suchen. Habt ihr verstanden?“

Nina nickte. Venetia schien sich von dem vorherigen Trauma erholt zu haben und lächelte aufgeregt.

„Gut, dann schließe ich jetzt die Augen.“ Cassie legte eine Hand über die Augen, um zu zeigen, dass sie bereits geschlossen waren. „Und jetzt zähle ich runter.“

Als sie bei null angekommen war, rief sie: ‚Fertig oder nicht, ich komme!‘

Während Cassie über den Fliesenboden lief, sprach sie laut mit sich selbst. „Ich frage mich, wo diese Mädchen sich versteckt haben. Gute Güte, sind die gut versteckt. Ich kann sie nirgendwo finden. Vielleicht haben sie sich unsichtbar gemacht. Ich hätte wirklich gedacht, Nina mittlerweile gefunden zu haben. Schließlich ist sie größer.“

Sie sah unter dem Esszimmertisch nach und ging dann weiter in die Lounge. Ihr Blick wanderte sofort zu der großen Samtottomane am anderen Ende. Es war ein fantastisches Versteck und sie war sich sicher, eines der Kinder dort zu finden.

Cassie ging darauf zu und zögerte die Spannung hinaus.

„Ich glaube, ich gebe auf. Diese schlauen Mädchen haben sich so gut versteckt. Aber ich glaube, an einem Ort werde ich noch nachsehen!“

Sie öffnete den Deckel der Ottomane.

Darin hatte sich Nina zu einem winzigen Ball zusammengerollt.

Sie streckte sich aus, während sie vor Aufregung quietschte. Venetia sprang hinter einem der eleganten, dunkelblauen Vorhänge hervor.

„Du wurdest gefunden, du wurdest gefunden!“, rief Venetia.

Beide lachten und Cassie bemerkte, dass es das erste Mal war.

„Du bist dran, Nina. Zähl nach unten!“

Sobald Nina zu zählen begonnen hatte, eilten Cassie und Venetia nach oben. Venetia kicherte atemlos und plapperte unaufhörlich, während sie ihr nächstes Versteck ausfindig machte. Cassie freute sich über das glückliche Geräusch.

Sie krabbelte unter Ninas Bett und vermutete, zuerst gefunden zu werden. Doch Nina entdeckte Venetia zuerst, die sich hinter dem Wäschekorb im Badezimmer versteckt hatte. Alle lachten sie laut.

Cassie hatte vor, beim ersten Zeichen von Langeweile aufzuhören. Doch die Mädchen schienen weit davon entfernt zu sein. Das Spiel schien sie ganz in seinen Bann zu ziehen. Gelächter und Gekreische echoten durchs Haus, wann immer jemand gefunden wurde. Und während sie Runde um Runde spielten, war Cassie überzeugt, dass sie alle so viel Spaß hatten wie schon lange nicht mehr.





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SO GUT WIE TOT (DAS AU-PAIR—BUCH #3) ist der dritte Band der neuen Psycho-Thriller-Reihe der Nr. 1 Bestseller-Autorin Blake Pierce.

Nach ihrer desaströsen Anstellung in England will die 23-jährige Cassandra Vale ihr Leben normalisieren. Eine geschiedene Mutter aus gehobenen Kreisen im sonnigen Italien scheint die Lösung zu sein. Aber ist sie das wirklich?

Neue Familie, neue Kinder, neue Regeln und neue Erwartungen: Cassandra ist entschlossen, ihre neue Anstellung durchzuziehen – bis eine schreckliche Entdeckung sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt.

Als das Unvorstellbare geschieht, stellen sich zwei Fragen. Ist es zu spät für Cassie? Und was ist aus ihr geworden?

Eine fesselnde Mystery-Geschichte mit komplexen Figuren, verdeckten Geheimnissen, dramatischen Wendungen und einer unglaublichen Spannung: SO GUT WIE TOT ist das dritte Buch der spannungsgeladenen Psycho-Thriller-Serie, die man gar nicht aus der Hand legen möchte.

Buch #4 der Serie wird ebenfalls bald erhältlich sein.

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