Книга - Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte

a
A

Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte
Marie Ebner-Eschenbach




Marie von Ebner-Eschenbach

Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte





Der Kreisphysikus





I


Doktor Nathanael Rosenzweig hatte eine entbehrungsreiche Jugend durchlebt. Was genießen heißt, erfuhr er in der schönsten Zeit des Daseins nicht. Heute hungern und dabei gerade genug erwerben, um morgen weiter hungern zu können; nachts um zwei Uhr sich zusammenrollen wie ein Igel und in der Ecke der Kellerstube den harten, traumlosen Schlaf der Erschöpfung schlafen; erwachen bei dem Gewimmer der alten Großmutter, die sich entschuldigte, daß sie noch nicht gestorben sei, daß sie ihm noch zur Last fallen müsse; forteilen, um lehrend die Möglichkeit zu erringen, selbst zu lernen – so ging es jahraus, jahrein. Erwerben, der Inbegriff all seines Dichtens und Trachtens, Geld erwerben, Kenntnisse, Gunst, hauptsächlich die seiner Professoren (Nathanael studierte Medizin an der Universität in Krakau), erwerben um jeden Preis, den der Ehrlichkeit einzig ausgenommen, erwerben und nur ja nichts umsonst hergeben, nicht den kleinsten Teil der eigenen Kraft; keine mitleidige Regung kennen, keine hemmende Rücksicht.

Seine Großmutter und er, er und seine Großmutter machten für ihn die Welt aus, und wie wenn seine Welt klein war, so waren seine Ziele nahe. Das erste und am schwersten Errungene bestand in dem Ersparnisse so vieler Gulden, daß er und die alte Frau nicht sofort verhungern mußten, wenn ein unvorhergesehenes Unglück seine Tätigkeit für einige Zeit lähmen sollte. Als er es erreicht hatte, da fühlte er sich als Kapitalist und tröstete die Großmutter bei ihrer allmorgendlichen Klage mit den Worten:

„Lebe du nur ruhig fort, jetzt kann uns nicht so leicht mehr etwas geschehen.“

Sein rastloser Fleiß verminderte sich nach dem ersten Erfolge nicht, er wuchs vielmehr mit der Kraft dessen, der ihn anwandte.

Nathanael wurde ein starker Mann; seine kreuzspinnenartigen Extremitäten kräftigten sich zu muskulösen Armen und Beinen, die Brust wurde breit, die Gestalt bekam etwas Reckenhaftes trotz ihrer Magerkeit. Sein Auftreten war so sicher, sein Blick ruhig und klar, seine Rede so bestimmt, daß schon seine ersten Patienten – gar kleine Leute – meinten:

„Das ist ein gescheiter Herr Doktor!“

Seine grüne Jugend sah ihm niemand an; er hatte sich zu lange in Gesellschaft der Sorge befunden, und wenn er sie auch bändigte und unterwarf, – daß sie heimlich an ihm zu nagen fortfuhr, konnte er nicht verhindern.

Allmählich kam er in Besitz eines Rufes, eines bescheidenen, aber eines guten, und dem verdankte er es auch, daß er mit dreißig Jahren schon, von Amts wegen, als Physikus nach einem der westlichen Kreise versetzt wurde. Ein sicheres Brot von nun an, ein reichliches sogar nach Nathanaels Begriffen. Er hätte bei der Einrichtung seiner Wohnung auf dem Ring der Kreishauptstadt nicht so ängstlich zu knickern gebraucht, aber er fürchtete, übermütig zu werden, wie die meisten Armen, wenn sie plötzlich zu Geld kommen, und gab den Handwerkern wenig zu verdienen. Immer des Wortes eingedenk: „Die Axt im Hause erspart den Zimmermann“, schaffte er allerlei Werkzeuge an und ließ sich's nicht verdrießen, den Tischler und den Schlosser gleichfalls zu ersparen. Und wenn es auch wirklich ein Graus war, wie die Sachen aussahen, den Doktor beirrte das nicht; der Schönheitssinn war bei ihm entweder nicht vorhanden oder nicht ausgebildet.

Als die Großmutter, steinalt und unbeweglich, ihre Stube nicht mehr zu verlassen vermochte, sich aber doch noch herzlich sehnte nach dem Anblick einer grünen Staude, einer blühenden Blume, da wurde der Herr Doktor ein Gärtner, und bald sahen die Fenster seiner Wohnung aus wie die eines Treibhauses.

Die Greisin litt manchmal an Rückfällen in ihre ehemalige Schwachherzigkeit, doch äußerte sich diese jetzt in andrer Weise.

„Wenn ich nur nicht zu früh sterbe,“ sagte die Neunzigjährige. „Ein Begräbnis ist gar zu kostspielig!“

Nathanael tröstete sie liebreich:

„Stirb ja nicht, Großmutter, du würdest mich um den Lohn aller Mühen betrügen, die ich um deinetwillen gehabt habe.“

Der Besitz Nathanaels mehrte sich im Schranke, die Lust am Besitze stieg und stieg. Pläne, deren Verwirklichung dem klugen Manne in seiner Jugend als bare Unmöglichkeit erschienen wären, erwog er nun mit der Zuversicht bevorstehender Erfüllung. Seine ärztliche Praxis war ausgedehnt und einträglich. Nach allen Schlössern der Umgebung berief man ihn. Der trockene, wortkarge Doktor Rosenzweig, der keinen Widerspruch duldete, der nie eine Schmeichelei über die Lippen brachte, wurde der Vertrauensmann der Edelleute und, was viel merkwürdiger war, das Orakel ihrer liebenswürdigen und feinen Damen und der Freund ihrer Kinder.

„– Der Kleine ist schwer krank, aber – Rosenzweig behandelt ihn.“ – „Den ganzen Tag habe ich in Todesangst um mein Töchterlein zugebracht – aber jetzt ist Rosenzweig gekommen.“

Wenn nur Rosenzweig da war, so war Hilfe da, und blieb sie einmal aus, dann hatte Gott eben nicht gewollt, daß ein Mensch sie bringe.

Unter keinen Umständen erwies man sich karg gegen ihn, das hätte niemand gewagt. – Doktor Rosenzweig baut sich ein Haus, ein Haus aus gebrannten Ziegeln; dazu braucht er Geld. Er hat außerhalb der Stadt einen Baugrund gepachtet, und unter seiner eigenen Leitung ist auf dem ein viereckiger, einstöckiger Wohnkasten errichtet worden. Stolz ruht er auf tüchtigen Kellergewölben, hat eine steinerne Treppe und ein wetterfestes Ziegeldach. Die Fensterrahmen sind schneeweiß angestrichen, die Mauern schneeweiß getüncht. Als einzige Zierde der Fassade prangt neben der Glocke an der Tür das Schildchen der Feuerversicherungsgesellschaft.

Aus den Fenstern der vorderen Front – sie liegt gegen Osten, und ihr erstes Geschoß wird von dem Doktor und seiner Großmutter bewohnt – hat man eine weite, weite Aussicht: Himmel und Felder. Frei schweift der Blick ins Grenzenlose. Kein Hügel hemmt ihn, kein Wald bringt einen dunklen Fleck hervor auf der glatten, im Sommer goldig, im Winter silbern schimmernden Flur. Jede Handbreit Erde kann von der lieben Sonne durch und durch getränkt werden mit lebenweckenden Strahlen. Gibt es einen Schatten, so ist es ein solcher, der nicht kühlt, nicht ruht, der keinem Hälmchen die Wärme entzieht, deren es zu seinem wunderbar geheimnisvollen Reifen bedarf – der Schatten der fliehenden Wolken. Wie oft verfolgt ihn Nathanael aufmerksamen Auges, sieht ihn hingleiten über den wachsenden, schwellenden Reichtum, den sie zum Herbste einheimsen und zu Schiff auf der Weichsel nach Deutschland und nach Rußland bringen und teuer verkaufen werden. Wer sich doch beteiligen könnte an diesem großartigen Erwerb, ein Hundertstel, ach ein Tausendstel nur von dem Gewinn, den er abwirft, in die eigne Tasche fließen sähe! Der Doktor fängt an, auf der unermeßlichen Ebene Luftschlösser zu erbauen, so bunt und märchenhaft schön, daß er nicht umhin kann, während er sie baut, lächelnd zu denken: Mahnst du auch mich einmal, nie angetretenes Vätererbe – morgenländische Phantasie?

Er wendet sich ab von dem Anblick fremden Reichtums und will einen Strich gezogen haben zwischen diesem und seinem bescheidenen Eigentum. Das Doktorhaus wird in fünf Klafter breiter Entfernung von jedem Punkte seiner Mauern mit einem Zaun aus ordentlich zugehobelten Latten umgeben; nach je ihrer zwanzig kommt ein starker, spitz zulaufender Pfahl. Aus dem Raume zwischen Haus und Zaun wird nach und nach ein kleiner Garten werden; die Einteilung in Blumen- und Gemüsebeete ist bereits getroffen. Kein Schachbrett kann genauer quadriert sein.

„Im nächsten Jahre, liebe Großmutter, wirst du Rosen und Reseden unter deinen Fenstern blühen sehen,“ versprach Nathanael der Greisin, und sie erwiderte:

„Wenn ich es nur noch erlebe, mein Kind. Aufs Jahr werde ich fünfundneunzig.“

„Weit über hundert mußt du werden!“ rief er eifrig. „Das bist du mir schuldig, denke doch! Wie würde es das Vertrauen der Leute zu mir erhöhen, wenn es hieße: Seine Großmutter hat er auf mehr als hundert Jahre gebracht. Denn die Leute sind dumm, liebes Godele[1 - Großmütterchen.], sie schreiben meiner Kunst zu, was deine gute Natur getan hat. Bleibe du nur frohen Mutes, nimm dir nur recht fest vor, noch nicht zu sterben. Solange du es dir fest vornehmen kannst, wirst du munter weiter leben.“

Die Greisin nahm es sich vor, aber von einer rechten Munterkeit war nicht mehr die Rede.

„Mir ist jetzt so oft,“ sagte sie, „als ob dein Großvater vor mich träte und zu mir spräche wie in seiner Todesstunde: ‚Komm bald! Wir wohnen so friedlich beisammen im Garten Eden, wie wir gehaust haben auf Erden. Komm bald nach, Rebekka!‘ … Damals konnte ich nicht folgen dem Rufe meines Geliebten, weil du mich hast zurückgehalten, du armes Würmchen, du ganz verlassenes. Von Vater und Mutter zuerst, und vom Großvater bald darauf. Ja, es war eine schreckliche Seuche, die Gott geschickt hat über sein Volk im Kazimirz, und nicht gewußt hätte ich, wem sagen: Sei barmherzig meinem Enkelkind, wenn ich mich nun auch hinlege zu sterben. So habe ich damals nicht erfüllen dürfen den Wunsch meines Geliebten. Jetzt aber, Nathanael, mein Kind, jetzt aber ist mir, als sollte ich ihn nicht länger warten lassen.“

Solche Reden schnitten dem Doktor ins Herz. Nie hatte die zurückhaltende, schweigsame Großmutter ähnliche geführt. Ein bedenkliches Zeichen, wenn alte Leute etwas tun, das außerhalb ihrer Gewohnheiten liegt! Der kleinen Veränderung folgt oft nur gar zu bald die unwiderrufliche – die letzte nach. Und noch ein Symptom, das den Doktor beunruhigte. Die Greisin, die sonst nie genug Einsamkeit haben konnte, war jetzt nicht mehr gern allein. So oft Nathanael sich bei ihr verabschiedete, sprach sie:

„Geh denn in Gottes Namen, aber schicke mir den Goj[2 - Andersgläubiger.], daß er mir Gesellschaft leiste, und ich doch blicken könne in ein menschliches Angesicht und nicht immer und immer nur auf die Felder und den Himmel.“

Der „Goj“ war ein Jüngling von nun achtzehn Jahren, des Doktors Famulus, sein Diener, sein Sklave. Des Tages wußte er sich nicht zu erinnern, an dem der „Wohltäter“ ihm ein gutes Wort gegönnt oder ein gutes Kleidungsstück geschenkt hätte. Wenn die Röcke und Stiefel Rosenzweigs unbrauchbar wurden, erhielt der große Junge sie zur Benutzung und die Vermahnung dazu, ihnen all die Rücksicht zu erweisen, die man fremdem Eigentum schuldig ist. Der Doktor ging immer mehr in die Breite, und fast schien es, als ob er kleiner würde. Sein Famulus „verdünnte“ sich, wie Rosenzweig sagte, von Tag zu Tag und schoß spargelmäßig in die Höhe. Wie ihm die Gewänder des Wohltäters saßen, das kam dem selbst entweder erbärmlich oder lächerlich vor – beides mit einem Zusatze von Verachtung.

Den Jungen konnte er einmal nicht leiden, sein Widerwillen gegen ihn war unüberwindlich und entsprang aus dem Gedanken, daß der Findling seines Herrn Brot umsonst oder doch fast umsonst esse.

Vor vier Jahren hatte ihn Rosenzweig von der Straße aufgelesen, in einer eiskalten, herrlichen Winternacht. Mit dem Stolze eines Triumphators war er im Schlitten des Grafen W. pfeilgeschwind dahingesaust. Der Graf selbst hatte ihn bei der Abfahrt sorgsam in die Pelzdecke gehüllt, in der er sich so behaglich fühlte, und ihm immer wieder gedankt und immer von neuem Worte gesucht für das Unsagbare – die Glückseligkeit des Liebenden, dem sein Teuerstes, das er schon verloren gab, wiedergeschenkt ist. Gerettet die junge Gräfin, gerettet vom beinahe sicheren Tode durch das Genie, durch die erfinderische Sorgfalt des unvergleichlichen Arztes, der an ihrem Krankenlager gestanden hatte wie ein Held auf dem Schlachtfelde, fast besiegt noch den Sieg im Auge, kampfbereit noch im Erliegen, der nicht gewichen war, bevor er sagen konnte:

„Wir haben gewonnen, sie wird leben!“

Er hatte so viele Nächte durchwacht und sich auf den guten Schlaf gefreut während der Heimfahrt im bequemen Schlitten. Aber seine Müdigkeit mußte zu groß sein, sie verscheuchte die ersehnte Erquickung, statt sie herbeizurufen. So oft Nathanael die Augen schloß, unwillkürlich öffneten sie sich wieder und schwelgten im Anblick des sternenbesäeten, mondhellen Himmels und der schneebedeckten Ebene, die in wunderbarer Blankheit erglänzte, gleich einer ungeheuren, neugeprägten Silbermünze … Wieviel Gold ließe sich erwerben um solche Münze? Die Keller des viereckigen Doktorhauses hätten nicht Raum, sie zu fassen, die köstlichen Barren, die verehrungswürdigen! Berger und Träger allbezwingender Kräfte, gebundene Zauber, aufgespeicherte Macht. Was läßt sich nicht tauschen um Gold? Unschätzbares erkauft man damit, das weiß der Mann, der denen, die ihn bezahlen, die Gesundheit wiedergibt.

Der Doktor wurde in seinem Gedankengange plötzlich unterbrochen. Das Gefährt stand dicht am Straßengraben still, und der Kutscher rief:

„Herr Doktor! Herr Doktor!“ …

„Was gibt es, mein Sohn?“

„Herr Doktor, da liegen zwei Betrunkene.“

„Steig ab und prügele sie ein wenig durch, damit sie nicht erfrieren.“

Indes der Kutscher abstieg und die Zügel am Bocke verknotete, hatte Nathanael sich aufgerichtet und vorgebeugt und sah einer der auf dem Boden liegenden Gestalten mit gespannter Aufmerksamkeit in das vom Mondenlicht hell erleuchtete Gesicht. Kein Säufergesicht, wahrlich! sondern eines, das Zeugnis gab von ehrlichem Darben und Dulden bis an die Grenze der menschlichen Kraft.

Der arme Teufel hatte, in dem Augenblick wenigstens, kein Bewußtsein seines Elends, er schien fest zu schlafen. Als aber der Kutscher ihn packte und emporzerrte, fiel er sofort, steif wie ein Eisblock, in den Schnee zurück. Jener sprach:

„Der eine ist schon erfroren, Herr Doktor!“

Rosenzweig sprang mit beiden Füßen aus dem Schlitten und überzeugte sich bald, daß die Behauptung des Dieners richtig sei. Grimm erfüllte ihn. Da war ihm einmal wieder der Tod zuvorgekommen, den er am meisten haßte, der nicht durch Krankheit bedingte, durch das Alter herbeigeführte, der Tod, dem der Zufall in die Hand gearbeitet hat, der Tod, der seine Beute umsonst gewinnt, dem sie dumm und töricht zuteil wird, ohne triftigen Grund.

„Sehen mir nach dem andern,“ sagte der Doktor zwischen den Zähnen.

Der andre schlief auch, aber weniger tief.

Es war ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, dem Toten offenbar nahe verwandt, sein viel jüngerer Bruder oder sein Sohn.

Mit dem Feuereifer des Berufs begann der Doktor Wiederbelebungsversuche anzustellen, und nach langen Mühen krönte sie ein schwacher Erfolg. Ein kaum spürbares Rieseln war durch des Knaben starre Pulse geglitten, und wenn es auch sofort wieder staute, dennoch erklärte der Doktor voll Siegesgewißheit:

„Jetzt hab ich ihn!“

Und er hüllte ihn in seinen Pelz, hob ihn in den Schlitten, brachte ihn heim und legte ihn in sein eigenes Bett, an dem er das Kind des Elends mit derselben Hingebung bewachte, die er der Herrin im Grafenschloß gewidmet hatte. Am Morgen war der Patient außer Lebensgefahr, und Rosenzweig konnte nicht umhin, zu sich selbst zu sagen: Auch der gerettet, zwischen zweimaligem Sonnenaufgang zwei!

Schmunzelnd streichelte er seinen langen Mosesbart und freute sich seines mächtigen Vermögens.

Sein Patient aber erhielt noch am selben Tage die Weisung:

„Steh auf und geh.“

„Wohin? Gnädiger Herr Doktor, wohin? Wer nimmt mich ohne meinen Bruder?“ antwortete der Knabe verzweifelnd, und nun trat die Frage heran: Was mit ihm beginnen?

Die Papiere, die der Verstorbene bei sich gehabt hatte, wiesen ihn aus als den Maschinenschlosser Julian Mierski, der viele Jahre hindurch als Werkführer in einer Fabrik in Lemberg gedient hatte. In seinem Zeugnisse hieß es, der vorzügliche Arbeiter habe, zum Bedauern seines Dienstherrn, infolge schwerer Erkrankung entlassen werden müssen. Seitdem konnte er nichts mehr verdienen, sein Bruder aber, den er nach dem Tode der Eltern – arme Häusler in einem Dorfe bei Lemberg – zu sich genommen, nur gar wenig. So gingen, erzählte der Knabe, in Monaten die Ersparnisse von Jahren hin und wurden aufgezehrt bis auf einige Gulden, deren Anzahl er genau angab, und die sich auch richtig im Ranzen des Verunglückten vorgefunden hatten.

Die Großmutter hörte dem unter Tränen erstatteten Berichte aufmerksam zu.

„Horch, Nathanael, mein Kind,“ sagte sie. „Es ist nicht recht gewesen von dem Goj in Lemberg, zu verlassen den Mann in seiner Krankheit, der ihm in Gesundheit gedient hat viele Jahre.“

„Eine Fabrik ist keine Versorgungsanstalt,“ erwiderte Rosenzweig und befahl seinem Geretteten: „Sprich weiter.“

Dieser fuhr fort:

„Vor acht Tagen ist ein Bekannter von meinem Bruder gekommen und hat erzählt, daß es in Krakau eine Fabrik gibt, wie die unsre, und daß sie uns dort gewiß nehmen werden. Mein Bruder war sehr froh: ‚Komm, Joseph, wir wandern‘, hat er gesagt und hat auf der Reise immer gemeint, der lange Müßiggang ist es gewesen, der ihn nicht hat gesund werden lassen, beim Marschieren wird ihm besser. Auf einmal hat er aber nicht weiter gekonnt und hat sich in den Schnee gelegt, um ein wenig zu schlafen.“

„Und du hast das zugegeben?“ schrie der Doktor ihn an. „Weißt du nicht, was einem geschieht, wenn man sich bei solchem Frost in den Schnee legt?“

Der Knabe senkte seine großen Augen, aus denen unaufhörlich Tränen flossen, und schwieg.

„Was soll man anfangen mit einem solchen Chamer[3 - Esel.]?“ fragte Rosenzweig die Großmutter.

Die Greisin entgegnete:

„Laß ihn heute noch ruhen unter deinem Dache. Sei ihm barmherzig. Er ist eine Waise wie du.“

Am nächsten Tage lautete ihr Rat:

„Behalte ihn. Unsre Magd wird ohnehin alt und wackelig und kann eine Hilfe brauchen. Behalte ihn und richte ihn ab zu deinem Dienst. Wer wird es verargen einem großen Mann wie dir, wenn er tut sich halten einen Famulus?“

So wurde der Findling ein Genosse des Doktorhauses und zwar, obwohl Rosenzweig das nicht gelten ließ, ein ungemein nützlicher. In den Augen seines Herrn blieb Joseph ein „Chamer“, der aus Büchern nichts lernte, nichts zu lernen vermochte. Mit achtzehn Jahren noch las er nicht ohne Schwierigkeit die einfachsten Kindergeschichten. Ihn zur Schule zu zwingen, hatte der Doktor schon nach den ersten Monaten aufgegeben, weil er nur mit Schlägen dahin zu bringen war, und weil sein Wohltäter nicht immer Muße hatte, ihm die zu spenden. Seine mechanischen Fertigkeiten hingegen waren groß und groß der Fleiß, mit dem er sie ausübte. Auch er pfuschte in jedes Handwerk, aber mit besserem Erfolg als dereinst der Doktor.

In allem, was er unternahm, offenbarte sich ein Schick, eine Leichtigkeit, ja sogar ein Geschmack, der den Pillenschächtelchen des Doktors ebensosehr zugute kam, wie den Blumenbeeten im Gärtlein vor dem Hause. Immer nur mit Verdruß hörte Nathanael ihn loben, „den Tagedieb, der nichts kann und nie etwas andres können wird als spielen.“

Er hatte einmal wieder diesen Vorwurf ausgesprochen, da entgegnete Joseph:

„Wenn du dich entschließen könntest, deine Felder in deine eigene Verwaltung zu nehmen, würde ich dir beweisen, daß ich kein Tagedieb bin.“

Der Doktor fuhr fort:

„Was sprichst du von meinen Feldern? Weißt du nicht, daß ich ein Jude bin und als solcher Grundeigentum nicht besitzen darf? Weißt du nicht, daß sogar mein Haus auf fremdem Boden steht?“ –

Joseph wurde rot vor Verlegenheit, sah jedoch dem Doktor vertrauensvoll und offen ins Gesicht und erwiderte:

„Du hast die Felder auf den Namen des Theophil von Kamatzki gekauft, aber sie sind doch dein.“

„Sag einmal, mein Junge, woher hast du diese Nachricht?“ fragte Rosenzweig, und höchst verdächtig war die Gebärde, mit der er dabei sein spanisches Rohr zu schwenken begann.

Gelassen antwortete Joseph:

„Das ist kein Geheimnis. Alle Leute wissen es und gönnen dir die Felder.“

Während dieses Gespräches standen die beiden mitten auf dem Wege, der schnurgerade von der Haustür zum Gartenpförtlein führte, zwischen zwei säuberlich mit Reseden eingefaßten Rosenbeeten. An den Stachelbeerhecken, die Joseph längs des Lattenzaunes gezogen hatte, reiften die ersten Früchte. Was man überblicken konnte an zart entfalteten Salatstauden, an Rüben mit kühnen Federbüschen, an gelblich zwischen gekräuselten Blättern hervorleuchtendem Blumenkohl, an schier kriegerisch behelmtem Zwiebelnachwuchs, an zierlichem Majoran und – dulce cum utile – als Begrenzung jeglichen Gemüsekarrees an duftendem Lavendel, dessen kleine Knospen zu schwellen anfingen, das war alles so kraftstrotzend und kerngesund, daß bei dem Anblick jedem Menschen, besonders aber einem Arzte, das Herz im Leibe lachen mußte. Mit geheimem Wohlgefallen betrachtete Rosenzweig die freundlichen Himmelsgaben und sagte:

„Weil du ein leidlicher Gärtner bist, bildest du dir ein, auch ein Landwirt sein zu können.“ Damit wollte er abbrechen, besann sich aber und fügte hinzu, indem er die Spitze seines Stockes mit großer Hartnäckigkeit in die Erde bohrte und diese Operation scheinbar höchst aufmerksam verfolgte:

„Ich hätte die Felder nicht – eigentlich mit einem gewissen Unrecht – in meinen Besitz gebracht, wenn ich nicht hoffen dürfte, sie bald zu Recht besitzen zu dürfen. Du wirst wohl wissen, daß eine Veränderung der Landesgesetze bevorsteht, und daß an den größeren Freiheiten, die sie dem Volke Galiziens gewähren werden, auch die Juden teilnehmen sollen.“

Joseph wußte das und hoffte, der Doktor werde die Felder, wenn sie einmal vor Gott und der Welt sein Eigentum sein würden, nicht mehr in Pacht geben, sondern selbst bewirtschaften.

„Dann wirst du Ställe und Scheuern bauen müssen,“ schloß der Jüngling. „Ich habe dem Architekten in der Stadt etwas abgesehen und die Pläne schon fertig.“

„Bist ein Narr,“ sprach der Doktor, verlangte aber nach einigen Tagen doch die Pläne zu sehen.

Nun, brauchbar waren sie gewiß nicht, doch als merkwürdig mußte man es gelten lassen, daß der Findling, dessen Schrift die eines siebenjährigen Kindes war, doch so nett und ordentlich und vielleicht auch in den Maßen richtig, einen Plan zu zeichnen vermochte. Das ist eben einer von denen, die tanzen können, bevor sie das Gehen erlernt haben. Es gibt solche Käuze. Sie setzen uns allerdings manchmal in Erstaunen; gewöhnlich wird aber nichts aus ihnen.

Nathanael, der einen Gedanken, der sein eigenes Wohl und Weh betraf, nie lange verfolgte, ohne die Großmutter zu seiner Vertrauten zu machen, fragte bald darauf bei ihr an, was sie zu einer Selbstverwaltung seiner Gründe sagen würde. Da zeigte es sich, daß dieser Gegenstand zwischen der Greisin und dem Findling schon erörtert worden war.

„Du wirst reich werden wie Laban,“ prophezeite die alte Frau. „Über dir ist des Herrn sichtbarer Segen.“

In diesem Frühjahr hatte es sich erwiesen, in diesem für Tausende unseligen Frühjahr 1845, als die Weichsel aus ihren Ufern trat und in einen schlammigen See verwandelte, was üppig und verheißungsvoll grünende Saat gewesen war. Unaufhaltsam wie ein Gottesgericht waren die Fluten hereingebrochen, hatten die ernährende Scholle hinweggespült und mit ihr das Hab und Gut und die Hoffnung derer, die sie bebauten.

Bis dicht an die Grenze der Felder Nathanaels erstreckte sich die Verheerung – vor ihnen zerrannen die Wellen. Vor ihnen waren die Wasser hinweggefahren und hatten sich auseinander geteilt, wie einstens die Wasser des Roten Meeres, als Moses gegen sie den Stab erhob und die Hand reckte auf Gottes Gebot.

Und als der Herbst kam, herrschte ringsum Hungersnot. Hunderte verließen mit ihren Weibern und Kindern die Heimat und wanderten als Bettler, als Tagelöhner, Brot und Arbeit suchend, aus.

Die Großmutter aber fragte täglich:

„Wann beginnt die Ernte? In diesem Jahre hat der Weizen hundertfachen Wert. Wann kommen die Schnitter?“

Nathanael erwiderte lächelnd:

„Bald, sehr bald. Sie wetzen schon die Sensen!“

Indessen erlebte die Greisin die Zeit der Ernte nicht mehr. Sie fiel selbst als überreifes Körnlein in den Mutterschoß der Erde zurück, bevor ihr Enkel zu ihr hatte sprechen können:

„Die Schnitter kommen!“

Unerhört spät und doch zu früh war plötzlich ihr Leben erloschen.

Da lag sie nun in ihrem schmalen Sarge, die alte Rebekka, ein wundersam ergreifender Anblick. Der Tod hatte ihre gekrümmte Gestalt gestreckt, und weinend und staunend fragte Joseph:

„So groß war sie?“

Er fragte aber auch:

„So schön war sie?“

Erlöst von allen Gebresten, befreit von der Hilflosigkeit des Alters, wie majestätisch erschien sie nun, in ihrer unendlichen Ruhe, in ihrem untrübbaren Frieden! Das Lächeln auf dem Angesicht so vieler, die überwunden haben, umschwebte diese Lippen nicht. Steinerne Kälte sprach aus den Zügen, die ein Schimmer der begeisterten Liebe und Bewunderung, welche die Gegenwart des Enkels stets auf ihnen hervorgezaubert, noch in der Sterbestunde erhellt hatte.

Du bist es nicht mehr! dachte Nathanael, und mit grauser Gewalt ergriff ihn das Bewußtsein des erlittenen Verlustes.

Er winkte Joseph hinweg, er wollte ungestört bei seiner Toten bleiben. Am Fußende des Sarges stehend, suchte er in dem fremden, veränderten Antlitz der Großmutter das lang bekannte, teure und – fand es nicht. Das einzige ideale Gut, das er besessen hatte, die Zuneigung dieser alten Frau, war für immer dahin und er, als ein bejahrter Mann – allein. Mit jähem Schreck fiel es ihn an: Zwischen dieser Greisin und dir liegt eine Generation. Du solltest jetzt hingehen können und an der Brust deines Weibes um sie weinen, und dir Trost schöpfen aus dem Anblick deiner Kinder.

Der rastlos Strebende, der nie zurück, der nur vorwärts geschaut hatte, nach Zielen, die mit seinen Erfolgen wuchsen, hielt einmal still in seinem Laufe, wandte sich und durchmaß im Geiste seinen ganzen Lebensweg. Viel erreicht! durfte er sich gestehen, doch niemals das geringste ohne einen Gedanken an dich – Großmutter. So freudig ihr Dasein ihn erfüllt und beglückt hatte, so schmerzlich klaffte jetzt der Riß, den ihr Scheiden verursachte.

Sie hätte ihn nicht verlassen sollen, sie, deren Nähe ihn über das Schwinden der Zeit – eines Begriffes, der dem hohen Alter verloren geht, getäuscht hatte.

„Weiche ab von dem Brauche unsres Volkes,“ hatte die Greisin oft gesprochen. „Heirate nicht zu früh, setze nicht Bettler in die Welt. Du kannst warten, mein Kind, du bist jung.“

Immer hatte er zu dieser Ermahnung geschwiegen; heute antwortete er ihr, die ihn nicht mehr hören konnte:

„Ich war dir so lange zu jung zum Freien, bis ich mir zu alt dazu geworden bin.“

Alsbald jedoch empfand er den Widerspruch, den er ihr ins Grab nachgerufen, als einen Frevel. Er trat zu ihr, beugte sich über sie, und, was nie geschehen war, so lange sie gelebt hatte, er küßte ihre Hand, küßte ihre Stirn und den für ewig verstummten Mund, den einzigen auf Erden, von dem er sich „mein Kind“ hatte nennen gehört.




II


Joseph beteiligte sich als Freiwilliger an den Erntearbeiten, und eines Nachmittags sah ihn Rosenzweig, der gleichgültig, als ob die Sache ihn nichts anginge, vorbeischritt, hoch oben stehen auf einem beinahe völlig beladenen Leiterwagen. Behend und kräftig schichtete er die Garben, und dem Doktor fiel es auf, daß der Bursche in der drollig weiten Jacke, die seinem Wohltäter als Rock gedient hatte, und in den viel zu kurzen Hosen doch ein bildschönes Menschenkind sei. Groß, schlank und stark, weiß und rot im Gesicht, den wohlgeformten Kopf umwallt von leicht gelocktem blonden Haar, sein ganzes Wesen Freudigkeit atmend an der Arbeit, an der Mühe, nahm er sich auf seiner stolzen Höhe ganz merkwürdig gut aus.

Unter den auf dem Felde beschäftigten Weibern und Mädchen befand sich auch die Tochter des Pächters, dem Rosenzweig die Gründe des Pan Theophil von Kamatzki anvertraut hatte. Ein hübsches, lebhaftes Ding, die echte Masurentochter. Rosenzweig bemerkte, daß die braunen, funkelnden Augen des Mädchens und die blauen des Burschen einander gar oft begegneten, und wenn sich dann die braunen verlegen senkten, wurden sie von den blauen hartnäckig verfolgt, so hartnäckig, so kühn, daß sie sich endlich wieder erheben mußten, mit oder ohne ihren Willen.

Die Geringschätzung, die Rosenzweig für Joseph hegte, erhielt durch diesen kleinen Vorgang neue Nahrung. Ein Mensch, zu ewiger Dienstbarkeit verurteilt durch die elende Beschaffenheit seines Kopfes, befaßt sich damit, den eines Mädchens zu verdrehen? Und in welchem Alter? In dem eines Knaben, in den Jahren, in denen der Sohn des Doktors stände, wenn der Doktor zur rechten Zeit geheiratet hätte. Was er in heroischer Selbstverleugnung so lange zu erringen säumte, bis er die Hoffnung, es zu erringen, versäumte, das Glück der Liebe, danach haschte in gedankenlosem Leichtsinn ein von fremden Gnaden lebender, unreifer Habenichts!

Am Abend berief ihn Rosenzweig auf sein Zimmer. Das war ein so kahles und ungemütliches Gelaß, daß jeden, der es betrat, fröstelte – sogar in den Hundstagen. Die Einrichtung bestand aus einigen an die Wände gereihten Sesseln, einem riesigen, mit weißer Ölfarbe angestrichenen Schreibtisch und einem gleichfalls weiß angestrichenen, langen und niederen Büchergestell, das, einer Gewölbbudel ähnlich, das Gemach in zwei Teile schied. In dem kleineren, zunächst den Fenstern, hielt sich der Doktor auf, in dem größeren, nächst der Tür, hatten die Patienten, die ihn besuchten, zu warten, bis er zu ihnen trat durch einen schmalen Raum, der zwischen der Wand und dem Büchergestell frei geblieben war. Auf dessen oberstem Brette lagen oder standen allerlei Dinge, mit deren gruselnder Betrachtung die Leute sich die Zeit des Wartens vertrieben. Sonderbare Instrumente, Messer und Zangen und fest verschlossene Gläser, gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, in der der galizische Instinkt sofort Weingeist witterte. Nur war leider das gute Getränk verdorben durch höchst unappetitliche Gebilde, die darin schwammen.

Über all diese Sachen hinweg rief Rosenzweig jetzt dem eintretenden Joseph zu:

„Sag einmal, was hast du mit der kleinen Lubienka des Pächters?“

Wie gewöhnlich, wenn sein Wohltäter ihn scharf anredete, wurde der Bursche feuerrot, fand auch nicht gleich eine Antwort. Erst nachdem Rosenzweig seine Frage wiederholt hatte, nahm Joseph sich zusammen und entgegnete halblaut, aber bestimmt:

„Ich hab sie lieb.“

„Und – sie?“

„– Sie hat mich auch lieb.“

Der Doktor lachte bitter und höhnisch:

„Das bildest du dir ein?“

„Das weiß ich, gnädiger Herr –“

„Wohin soll dieses Liebhaben führen?“

Nun meinte Joseph, der Doktor habe ihn zum besten, wolle ihn nur ein wenig aufziehen, und erwiderte ganz munter:

„Zu einer Heirat, Herr.“

„Einer Heirat! Du denkst ans Heiraten?“

„Ja, Herr! und Lubienka denkt auch daran.“

„Sie auch!.. Was sagt denn ihr Vater dazu?“

„Dem ist es recht, Panie Kochanku!“[4 - Lieber Herr!] rief Joseph mit einem Ausbruch überwallender Empfindung und machte Miene, auf dem jedem andern als dem Doktor verbotenen Weg in das Bereich seines Wohltäters zu stürzen …

Der aber erhob sich gebieterisch von seinem Stuhle und bannte den Jüngling mit einem strengen:

„Bleib, wo du bist!“ an seinen Platz.

In grausamen Worten hielt er ihm seine Armut und seine Aussichtslosigkeit vor. Ihn empörte der Gedanke, daß dieser Mensch vielleicht auf ihn gerechnet habe, respektive auf seinen Geldbeutel, und er faßte den Entschluß, dem interessierten Schlingel nach beendeter Erntearbeit die Tür zu weisen. Vorläufig wies er ihn aus dem Zimmer und legte sich mit dem Vorsatz zu Bett, den Pächter am folgenden Tage ernstlich zu ermahnen, der Löffelei zwischen seiner Tochter und Joseph ein Ende zu machen.

Gerade an diesem Tage jedoch ereignete sich etwas, das ihn von jedem unwesentlichen und nebensächlichen Gegenstand ein für allemal abzog.

Er wurde am frühen Morgen zu dem plötzlich erkrankten Sohn einer benachbarten Gutsfrau berufen, konnte die besorgte Mutter über den Zustand des Patienten beruhigen und wäre am liebsten sogleich wieder nach Hause gefahren. Das gestattete jedoch die landesübliche Gastfreundschaft nicht. Gern oder ungern hieß es an einem reichlichen Frühstück teilnehmen, das im Salon aufgetragen war. Dort hatte sich eine große Anzahl Schloßgäste versammelt, eine Gesellschaft, dem Doktor wohlbekannt und so widerwärtig, als ob sie aus lauter Kurpfuschern bestanden hätte. Anhänger und Anhängerinnen „König“ Adam Czartoryskis, Konspiranten gegen die bestehende gute Ordnung, Schwärmer für die Wiedereinführung der alten polnischen Wirtschaft. Die Frau des Hauses, noch jung, schön, enthusiastisch, seit dem Tode ihres Mannes unumschränkte Herrin der großen Güter, die sie ihm zugebracht hatte, war die Seele der ganzen Partei und ihre mächtige Stütze. Sie unterhielt eine lebhafte Korrespondenz mit der Nationalregierung in Paris, empfing und beherbergte deren Emissäre und verwendete jährlich große Summen für Revolutionszwecke.

Dieses fanatische Treiben mißfiel dem Doktor und entstellte ihm das Bild der in jeder andern Hinsicht, als gute Mutter, als kluge Verwalterin ihres Vermögens und als humane Herrin ihrer Untertanen verehrungswürdigen Frau.

Mit verdrießlicher Miene nahm er am Teetische Platz, aß und trank und sprach kein Wort, indes Herren und Damen eifrig politisierten. Ihm war, als sei er von Kindern umgeben, die, statt Soldaten zu spielen, zur Abwechselung einmal Verschwörer spielten.

Da legte eine weiße Hand sich plötzlich auf die Lehne seines Sessels.

„Warum so verstimmt, angesichts des schönsten Wunders, mein lieber Doktor?“ sprach Gräfin Aniela W. zu ihrem Lebensretter.

Rosenzweig erhob und verneigte sich:

„Welches Wunder meinen Euer Hochgeboren?“

„Das der Wiedererweckung des polnischen Reiches!“ versetzte die reizende Frau, und aus ihren Taubenaugen schoß ein Adlerblick, und ihre zierliche Gestalt richtete sich heroisch auf.

Der Doktor verbiß ein Lächeln, und sogleich riefen mehrere Patriotinnen in schmerzlicher Enttäuschung:

„Sie zweifeln? O Doktor, – ist das möglich? Ein so gescheiter Mann!“

„Ich zweifle nicht, meine Damen! Wer sagt, daß ich zweifle?“

„Ihr Lächeln sagt es, das ganz unmotiviert ist, da wir Ernst machen,“ sprach die Gräfin und kreuzte die Arme wie Napoleon.

„Der Augenblick, das fremde Joch abzuschütteln, ist gekommen … Sie dürfen es erfahren, weil Sie ein guter Pole und unser Vertrauter sind! Das Zeichen zum Ausbruch der Revolution wird in Lemberg auf dem ersten Balle des Erzherzogs gegeben werden!“

Allgemeines Schweigen folgte dieser freimütigen Erklärung. Die Verschworenen waren betroffen über die Eigenmächtigkeit, mit der Aniela über das gemeinsame Eigentum – den Plan der Partei – verfügte.

Doch war sie viel zu liebenswürdig und sah auch viel zu reizend aus, als daß man ihr hätte zürnen können. Sie trug ein Pariser Häubchen mit einer Kaskade aus gesinnungstüchtigen rot und weißen Bändern. Den köstlichen Stoff des Morgenkleides hatte ihr Gemahl von seiner letzten Missionsreise nach Rußland, aus Nishnij Nowgorod mitgebracht, – unter welchen Gefahren!

Ach, es war eine ganze Geschichte … Heute wurde sie aber nicht erzählt, am wenigsten in diesem Augenblick, in dem es vor allem galt, den üblen Eindruck zu verwischen, den die Politikerin auf ihre Umgebung hervorgebracht hatte.

„Ihr Kleingläubigen!“ rief sie, „zweifelt ihr an der Treue und Zuverlässigkeit eines Mannes, der dem Vaterlande mein Leben erhalten hat?“

Einige junge Herren beeilten sich zu protestieren, und ein alter Schlachziz mit langem, herabhängendem Schnurrbart erhob sein Madeiragläschen, leerte es auf einen Zug und sprach:

„Vivat, Doktor Rosenzweig!“

Die Frau vom Hause wiederholte:

„Vivat, Doktor Rosenzweig, dem so viele von uns ihre eigene Gesundheit und die ihrer Kinder verdanken!“

Sie stürzte nach diesem Toast den Rest ihrer sechsten Tasse Tee hinunter, und statt sich erkenntlich zu zeigen, brummte der Arzt:

„Wie oft habe ich Euer Hochgeboren ersucht, nicht so viel Tee zu trinken. Sie ruinieren Ihre Nerven!“

Die schöne Festgeberin lächelte überlegen:

„Guter Gott, meine Nerven! An die werden bald ganz andre Zumutungen gestellt werden!“

„Ich verstehe – auf jenem Revolutionsballe!“

„Ja, Doktor! Ja!“ rief Gräfin Aniela dazwischen, – „dem Ball, auf dem wir ein welthistorisches Ereignis inaugurieren!“

„Bei der Mazurka oder bei der Française?“

„Beim Kotillon. Die Damen wählen zugleich alle anwesenden Offiziere. Die Offiziere legen zum Tanz ihre Säbel ab. Die Säbel werden fortgeschafft. Kaum ist das geschehen, so werfen sich die Polen auf die waffenlosen Feinde und machen sie nieder!“

„Vivat!“ rief der Schlachziz, „alle nieder, ohne Pardon!“

Einige Damen widersprachen und schlugen vor, den Offizieren Pardon zu geben, die ihn verlangen würden. Sie zogen jedoch ihren Antrag zurück, als sie bemerkten, daß er Zweifel an der Echtheit ihres Patriotismus erregte.

„Meine Herrschaften,“ sagte Rosenzweig, „dieser Plan ist wundersam ausgedacht, aber ausführen werden Sie ihn nicht.“

„Warum?“ rief's von allen Seiten, „was soll uns hindern?“

„Ihre eigene Hochherzigkeit, Ihr eigener loyaler Charakter. Edle Damen und edle Herren, wie Sie, können hassen, können befehden, aber sie verraten nicht, und sie morden nicht.“

„Monsieur!“ entgegnete ein neunzehnjähriges Bürschlein, das eben aus einer Pariser Erziehungsanstalt heimgekehrt war. „Ihr Argument würde im Kriege gelten, aber es gilt nicht in einer Konspiration.“

„Ganz richtig – weil ja …“ Dem alten Schlachziz war plötzlich eingefallen, daß er jetzt eine Rede halten sollte; er sprang auf, schlug die Fersen aneinander und rief nach langer Überlegung:

„Vivat, Polonia! Vivat, König Adam!“

Nun erhob sich in der Ecke des Zimmers eine zitternde, klanglose Stimme. Wie aus der Tiefe eines Berges kam sie hervor, einem Berge von Seiden- und Schalstoffen, von Spitzen, Rüschen und Bändern. Die Stimme gehörte der Starostin Sulpicia, Großtante der Hausfrau, bei der die hochbejahrte Dame ein sehr reich mit Butter bestrichenes Gnadenbrot genoß.

„Olga, Duschenka moja,“[5 - Mein Seelchen.] sprach sie, „denke vor allem an dein ewiges Heil!“

Mit Schrecken hatte die Schloßdame das leise Sinken des Enthusiasmus ihrer Gäste wahrgenommen, indessen sie selbst nach der siebenten Tasse Tee auf dem Gipfel der Begeisterung angelangt war. Die Greisin goß mit ihrer Ermahnung Öl ins Feuer. Es schlug auch sogleich lichterloh empor in dem lauten, feierlichen Ausrufe:

„Alles für Polen! Mein zeitliches und mein ewiges Heil!“

Gräfin Aniela warf sich, ganz entzückt von dieser Größe, ihrer Freundin in die Arme, die Herren küßten die Hände der Patriotinnen. Einer von ihnen erbat sich die Ehre, aus dem Schuh der Hausfrau trinken zu dürfen. Sie gestattete es aber nicht, aus Rücksicht für den erhabenen Ernst dieser Stunde, und der Abgewiesene setzte sich ans Klavier und intonierte ein melancholisches Nationallied.

Alle schwiegen, alle horchten gerührt; in manches Auge traten Tränen.

Die unwiderstehliche Macht dieses Gesanges ergriff sogar einen, der bisher unbeweglich in einer Fensterecke gestanden und am Gespräch nicht teilgenommen hatte.

Rosenzweig kannte ihn nicht und war in angestammtem Mißtrauen geneigt gewesen, ihn, seiner auffallenden Blässe wegen, für einen der verschämten Patienten zu halten, die sich berühmten Ärzten so gern auf neutralem Gebiet in den Weg stellen, um im Vorübergehen eine Konsultation abzuhalten, für die sie später das Honorar schuldig bleiben.

Indessen hatte Rosenzweig sich geirrt. Der Fremde machte keinen Versuch, in seine Nähe zu gelangen, während er selbst nicht mehr vermochte, seine Aufmerksamkeit von ihm abzulenken.

Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann mit blondem, dünnem Bart, mit blauen, offenbar sehr kurzsichtigen Augen. Der Eindruck eines ungemein regen Geisteslebens, den seine Züge hervorbrachten, wurde durch die Blässe erhöht, die den Doktor anfangs verleitet hatte, ihn für einen Kranken zu halten. Doch auch von dieser Meinung war er bald abgekommen. Krankheit vergeistigt nicht, wie die Poeten oft behaupten, sie zeichnet vielmehr die Kinder des Staubes mit deutlichen Merkmalen ihrer Abkunft.

In dem Wesen dieses Mannes aber gab sich kein Zeichen von körperlicher Mühsal kund. Die Leidensspuren auf seiner marmorgleichen Stirn waren durch rastlos arbeitende Gedanken ausgeprägt worden und der Schmerzenszug um den jungen Mund durch frühe, schwere Seelenkämpfe. Die Geringschätzung, mit der das Treiben der Gesellschaft ihn zu erfüllen schien, wurde allmählich besiegt. Die Klänge des schönen Volksliedes ergriffen und bewegten auch ihn. Eine Empfindung verband ihn mit seinen Brüdern: Sehnsucht, leidenschaftlich heiße Sehnsucht nach dem verlorenen Vaterland.

An diesem Leidensborn hat kein Volk sich so übersatt getrunken wie das, aus dessen Herzen solch ein Lied geströmt. Es singt von dem verirrten Sohne, der heimkehrt zum Elternhaus, voll Reue und glühender Liebe. Zagend steht er an der verschlossenen Tür und hört die Stimme seines Vaters, die nach ihm ruft, und hört das Weinen seiner Mutter … Vater! Mutter! stöhnt er. Sie antworten: Komm! Erlöse uns, wir liegen in Banden … Er rüttelt an der eisernen Pforte, zerpocht sich die Hände, zerschlägt sich die Stirn, schon fließt sein Blut. Vergeblich. Nie wird diese Pforte weichen, nie vermag er sie aus den Angeln zu heben. – Er wird auf der Schwelle verschmachten.

Der Gesang war verstummt, und die Stille, die ihm folgte, wurde erst nach einer Weile durch die Wirtin unterbrochen, die sich erhob, auf den Fremden zuschritt und leise mit ihm zu parlamentieren begann.

Die stattliche Dame machte sich förmlich klein vor ihrem Gast; jede ihrer Mienen bezeugte Ehrfurcht, jede ihrer Gebärden war Huldigung.

Sie faltete die Hände und flehte:

„Sprechen Sie, o sprechen Sie zu der Versammlung!“

Die Aufforderung der Hausfrau fand lebhafte Unterstützung.

„Ach ja, sprechen Sie!“ riefen viele Stimmen durcheinander. – „Es würde uns beseligen.“ – „Wir wagten nur noch nicht, Sie darum zu bitten.“ – „Aus Bescheidenheit.“

Alle kamen heran, sehr freundlich, mit auserlesener Höflichkeit – keiner ohne eine gewisse Scheu. Sogar die siegessichere Gräfin Aniela war befangen, und ihre anmutigen Lippen zitterten ein wenig, als sie sprach:

„Geben Sie uns eine Probe Ihrer wunderbaren Beredsamkeit, von der wir schon so viel gehört haben. Man sagt, daß Sie steinerne Herzen zu rühren und moralisch Tote zu den größten Taten zu wecken vermögen.“

Der Fremde lachte, und dieses Lachen war hell und frisch, wie das eines Kindes. Unwillkürlich mußte Rosenzweig denken: Du hast eine unschuldige Seele.

„Wie heißt der Mann?“ fragte er die Hausfrau.

Sie errötete und gab mit nicht sehr glücklich gespielter Unbefangenheit zur Antwort:

„Es ist mein Cousin Roswadowski aus dem Königreich.“

Niemals hatte der Doktor von einem berühmten Redner Roswadowski auch nur das geringste gehört; aber was lag daran? In Zeiten nationaler Erhebung pflegen ja von heut auf morgen nationale Größen aus dem Boden zu wachsen.

Roswadowski erwiderte den Blick, den der Arzt auf ihm ruhen ließ, mit einem ebenso forschend gespannten, und sich leicht gegen ihn verneigend, sagte er:

„Bitten Sie doch Herrn Doktor Rosenzweig zu sprechen. Er möge Ihnen sagen, was er von der Revolution erwartet.“

„Das wissen wir im voraus,“ entgegnete Aniela, „wie jeder gute Pole, die Wiederherstellung des Reiches, das allgemeine Wohl!“

„Olga, Duschenka moja,“ ließ wieder die Großtante sich vernehmen, „sage deiner Freundin, daß keiner ein guter Pole ist, der nicht ein guter Katholik ist.“

Ohne auf die Unterbrechung zu achten, fuhr Roswadowski fort:

„Das allgemeine Wohl soll jedes besondere in sich begreifen, also auch das dieses Mannes und seiner Glaubensgenossen. Warum höre ich keinen von euch, die ihr seines Lobes voll seid, davon sprechen, daß ihr die Schuld abzutragen gedenkt, in der wir alle ihm gegenüberstehen und seinem Volke?“

„Ce cher Édouard!“ rief Graf W. und fügte, sich in den Hüften wiegend, mit süßlichem Lächeln, nur vernehmbar für seine Frau und für den neben ihr stehenden Rosenzweig hinzu: „Er wird immer verrückter.“

Auch die Schloßdame war unzufrieden mit dem unerwarteten Ausfall ihres Cousins und erklärte sehr scharf, „in einer Schuld der Dankbarkeit und Verehrung fühle sie wenigstens sich dem vortrefflichen Doktor gegenüber nicht.“

„Und was die Gleichberechtigung aller Konfessionen im Königreiche Polen betrifft,“ sagte Aniela, „so ist sie bereits im Prinzip festgestellt. Mit den Modalitäten wird man sich beschäftigen. Bis jetzt hatte man aber noch nicht Zeit, auf Details einzugehen.“

„Ich falle Ihnen zu Füßen!“ sprach Rosenzweig. „Um die Sache der Juden ist mir nicht mehr bang.“

„Ihre Verheißung macht ihn lachen, so groß ist sein Vertrauen –,“ nahm Roswadowski wieder das Wort. „Er, dessen ganzes Leben nur eine Übung im Dienste der Pflicht gegen uns ist, erwartet von uns – nichts.“

„Herr, wenn ich meine Pflicht nicht täte, käm ich um mein Amt,“ fiel der Doktor ein, im Tone eines Menschen, der einer unangenehmen Erörterung ein Ende machen will.

Sein unberufener Parteigänger jedoch entgegnete:

„Wenn ich von Pflicht sprach, so hatte ich eine höhere im Auge, als die, die Ihr Amt Ihnen auferlegt. Von Amts wegen sind Sie ein tüchtiger Kreisphysikus, zum Samariter macht Sie Ihr eigenes Herz.“

„Samariter!.. Ich?“

„Jawohl, Sie! Der des Evangeliums pflegte des Sterbenden an der Heerstraße und übergab ihn dann fremder Hut. Sie haben den Sterbenden, den Sie auf Ihrem Wege fanden, in Ihr Haus aufgenommen, das dem verwaisten Christenknaben ein Vaterhaus geworden ist.“

Der Doktor deprezierte:

„– Wie man's nimmt,“ und dachte im stillen ganz grimmig: „Du bist gut unterrichtet, Lobhudler! Mein Haus ein Vaterhaus für einen solchen Chamer!“

Und in dem Augenblick beantwortete sich ihm eine Frage, die er oft erwogen hatte, die Frage: ob man wohl zwei Gedanken auf einmal haben könne, denn wahrhaftig, er hatte zugleich auch den: ich will dem Chamer, bevor ich ihn wegschicke, doch einen neuen Anzug machen lassen.

„So hat ein Jude getan,“ wandte der Redner sich an die Gesellschaft, „aus freiem Willen für einen Andersgläubigen, und was haben wir Andersgläubigen jemals aus freiem Willen für einen seines Volkes getan? Leset eure Geschichte und fragt euch selbst, ob ein Jude die Tage herbeiwünschen kann, in denen in Polen wieder Polen herrschen?“

Olga und Aniela erhoben Einwendungen; was die Herren betraf, so waren die meisten von ihnen dem Grafen W. in das Nebenzimmer gefolgt und hatten dort an Spieltischen Platz genommen. Nur der ehrwürdige Schlachziz und der Ankömmling aus Paris hielten ritterlich bei den Damen aus, und der erste versicherte, er habe sich in seiner Jugend auch mit der Geschichte seines Landes beschäftigt, darin jedoch niemals andre als glorreiche Dinge gelesen.

Jetzt wurde die Tür aufgerissen, ein Diener stürzte herein und meldete:

„Der Herr Kreishauptmann. Er wird gleich in den Hof fahren.“

Die mutigen Damen stießen einen Schrei des Entsetzens aus:

„Um Gottes willen, der Kreishauptmann!“

Voll Todesangst ergriff die Hausfrau die Hand ihres Vetters: „Fort! fort! verbergen Sie sich!“

„Ich denke nicht daran,“ erwiderte er ganz ruhig, „ich bleibe; ich freue mich sehr, die Bekanntschaft eines liebenswürdigen Mannes zu machen.“

„Sie bleiben nicht! Sie gehen – weil Ihre Gegenwart uns kompromittiert,“ rief Graf W., der mit bestürzter Miene in den Salon zurückgekehrt war.

Ein Wortwechsel entspann sich …

„Doktor, ich beschwöre Sie, eilen Sie dem Kreishauptmann entgegen, suchen Sie ihn so lange als möglich auf der Treppe aufzuhalten,“ flehte die Herrin des Schlosses und drängte Rosenzweig zur Tür.

„Ich werde tun, was ich kann; ich empfehle mich, meine Herrschaften!“ antwortete er und verließ den Salon, im Grund der Seele höchlich ergötzt über das Ende, das die Versammlung der Verschwörer genommen hatte.

Vom Gange aus sah er den Kreishauptmann soeben in das Haus treten. Ein behäbiger, feiner, mit äußerster Sorgfalt gekleideter Herr. Der Deckel seines Zylinders glänzte in der Vogelperspektive, in der er sich zuerst dem Doktor zeigte, wie die Mondesscheibe. Nicht minder glänzte der Lackstiefel an dem kleinen Fuße, den der Beamte auf die erste Stufe der niederen Treppe setzte, als Rosenzweig bei ihm anlangte.

„Ich habe die Ehre, Euer Hochwohlgeboren zu begrüßen!“ sprach der Doktor, seinen Hut feierlich schwenkend.

„Wie, mein lieber Doktor? Sind Sie es wirklich? Was?“ sprach der Beamte mit dem gnädigsten Lächeln, „auch Sie im Neste der Verschwörer?“

„– Herausgefallen, als ein noch nicht flügges Vöglein! – Wie befinden sich Euer Gnaden?“

„Gut. Dank Ihren Ordonnanzen.“

„Und der Pünktlichkeit, mit der Euer Gnaden ihnen nachkommen. Sie sind ein so vortrefflicher Patient, daß Sie verdienen würden, immer krank zu sein.“

„Sehr verbunden für den christlichen Wunsch … Entschuldigen Sie – da habe ich mich versprochen.“ Und nun kam die Frage, die der Kreishauptmann dem Doktor auch bei der flüchtigsten Begegnung nicht erließ. „Aber, mein lieber Doktor, wann werden Sie sich denn endlich taufen lassen?“

Auf die stehende Frage erfolgte die stehende Antwort:

„Ich weiß es noch nicht genau.“

„Entschließen Sie sich! Sie sind ja ohnehin nur ein halber Jude.“

„Ich würde vermutlich auch nur ein halber Christ sein.“

„Oho! das ist etwas andres!“ entgegnete der Beamte streng. „Wir sprechen noch davon; jetzt sagen Sie mir –“ seine Miene blieb unverändert, aber seine kleinen klugen Augen blickten den Doktor durchdringend an: „Ist er oben, der Sendbote? Haben Sie ihn gesehen?“

„Welchen Sendboten?“

„Hier im Hause wird er als Herr von Roswadowski vorgestellt.“

Auf dem Gesichte Rosenzweigs malte sich ein so aufrichtiges Erstaunen, daß der Beamte ausrief:

„Sie sind nicht eingeweiht! – Nun, ich will Ihnen Ihre politische Unschuld nicht rauben … Ganz scharmant, diese Konspiranten! besonders die Damen. Übrigens haben wir uns weniger in acht vor ihnen zu nehmen, als sie sich selbst vor – andern. Es ballt sich ein Gewitter über ihren Häuptern zusammen, von dessen Aufsteigen sie keine Ahnung haben. Diese harmlosen Unzufriedenen, die sich für bedrohlich halten, sind selbst von ganz anders Unzufriedenen, in ganz anders gefährlicher Weise bedroht.“

Rosenzweig konnte eine Erklärung dieser Worte nicht mehr erbitten. Auf der Höhe der Treppe erschien soeben die Hausfrau, strahlend vor Freundlichkeit, und der Kreishauptmann schwebte ihr in zierlichen Schritten eiligst entgegen.




III


Rosenzweig ließ seinem Kutscher den Befehl erteilen, anzuspannen und ihm auf der Straße nachzufahren. Er selbst ging zu Fuße voraus und schlug bald einen schmalen Weg ein, der, die Felder quer durchschneidend, in der Nähe eines steinernen Kreuzes in die Landstraße ausmündete. Dort wollte er seinen Wagen erwarten.

Er sehnte sich danach, tüchtig auszuschreiten, frische, freie Luft zu atmen und den gesunden Erdgeruch einzuziehen, der aus den aufgerissenen Schollen emporstieg. Nur Wunder nahm es ihn, daß er die Wonne und Wohltat, der parfümierten Salonluft und Gesellschaft entronnen zu sein, nicht so recht zu empfinden vermochte.

Ein tiefinnerliches Unbehagen erfüllte ihn; ein unbestimmtes Etwas ging ihm nach, von dem er sich keine andre Rechenschaft zu geben wußte, als daß es sehr quälend sei.

Plötzlich rief er mehrmals hintereinander laut aus: „Narr! Narr!“

Die Apostrophe galt dem, den der Kreishauptmann soeben einen Sendboten genannt, und die Erinnerung an das unverdiente Lob, das dieser Mensch ihm gespendet hatte, das war's, was dem Doktor die Laune verdarb. Jedes Wort, das der „Narr“ gesprochen, jeder Zug seines durchgeistigten Apostelgesichts, der Ausdruck der schwärmerischen Ehrfurcht, mit dem seine tiefblauen Augen auf ihm geruht – alles hörte, alles sah er wieder, und eine zornige Beschämung erfüllte ihn.

Er, der trockene, auf seinen Vorteil bedachte Nathanael Rosenzweig – ein Menschenfreund und Samariter? – So einsam er da wandelte auf dem Felde, ihm schoß das Blut in die Wangen, daß sie glühten. Er gedachte all der Hände, die sich im Verlauf seines langen Lebens flehend zu ihm ausgestreckt, und sagte sich: „Nie hast du geholfen außer im Beruf. Und was wir dem zuliebe tun, tun wir uns selbst zuliebe.“ Seine Schuldigkeit hatte er in ihrem ganzen Umfang erfüllt; aber Schuldigkeit – es liegt schon im Worte – ist nur ein Tausch. Mehr als getauscht hatte er nie. Seine Kraft, sein Talent, die Früchte seines rastlos vermehrten Wissens gegen den Wohlstand, den er durch sie erwarb, und gegen die Achtung der Menschen. So hatte er bisher gehalten und – Nathanael warf den Kopf zurück in seinen breiten Nacken – so wollte er es auch ferner halten. Möge erst jeder seinem Beispiel folgen! Möge diese, im Grunde niedere Stufe der Moral erst von der Mehrzahl erreicht sein, dann werden sie zu Worte kommen, die Idealisten, die Träumer von einem goldenen Zeitalter allgemeiner Nächstenliebe. Früher – nicht!

Jetzt hatte er sich wieder zurechtgefunden und schritt rüstig und sorglos weiter in gewohnter Seelenruhe.

Lange vor seinem Wagen, von dem trotz allen Ausblickens keine Spur zu entdecken war, erreichte er das steinerne Kreuz. An dessen Fuße kauerte eine klägliche Gestalt. Ein alter Mann, die Knie heraufgezogen bis ans Kinn, eine hohe Schafspelzmütze auf dem Kopfe, um die Schultern die Reste eines blauen Fracks, den vermutlich dereinst in Tagen schlummernden Nationalgefühls der verewigte Gutsherr getragen. Die mageren Beine des Greises wurden von einer ausgefransten Leinwandhose umschlottert und befanden sich, wie sein ganzer kleiner Körper, in einer unaufhörlich zitternden Bewegung.

Als der Doktor sich ihm näherte und ihn ansprach, erhob er langsam, mühsam das juchtenfarbige, faltige Gesicht und blickte aus halberloschenen, rotumränderten Augen mit dem demütigen Leidensausdrucke eines alten Jagdhundes zu ihm empor.

„Was tust du hier?“ fragte Rosenzweig.

„Ich warte, mein gnädiger Herr, ich bete und warte,“ antwortete der Angeredete und streckte seine knöcherne Rechte aus, an deren Fingern ein vielgebrauchter Rosenkranz hing, „ich warte immer auf einen Brief von unserm lieben Herrgott.“

„Was soll denn unser lieber Herrgott dir schreiben?“

„Daß ich zu ihm kommen darf, ist ja hohe, hohe Zeit.“

„Wie alt bist du?“

„Siebzig, nicht mehr. Aber wie ich aussehe, und wenn Euer Gnaden wüßten, wie mir ist. Da –“ er klopfte auf seine eingefallene, pfeifende Brust – „kein Atem. Jeden Tag meine ich, ich sterbe auf dem Wege, ich erreiche das Kreuz nicht mehr.“

„Warum bleibst du nicht zu Hause?“

Der Alte öffnete die Arme mit einer unbeschreiblich hilflosen Gebärde: „Sie jagen mich ja hinaus, die Tochter, der Schwiegersohn, die Kinder. Nun ja – sie haben selbst keinen Platz in der kleinen Schaluppe.“

„Wem gehört die Schaluppe?“

„Der Tochter. Ja, der Tochter. Ich habe sie ihr zur Aussteuer geschenkt.“

„Ein Schürzenvermögen also!“ spöttelte der Doktor. „Und jetzt jagt sie dich aus dem Haus, das du ihr geschenkt hast?“

„Mein Gott, was soll sie tun? Der Schwiegersohn prügelt sie ohnehin, weil ich so lange lebe. Der Schwiegersohn sagt zu den Kindern: ‚Kinder, betet, daß der Großvater bald stirbt.‘ – Ja!“

„Du hast da einen saubern Schwiegersohn.“

„Mein Gott, Herr, die Leute sind schon so. Solche Herren, wie du, wissen nicht, wie die Leute sind. Es gibt noch viel, viel ärgere im Dorf. Besonders jetzt in dieser Zeit.“ Er senkte die keuchende Stimme. „Weh allen Panowies und Panies, die das nächste Jahr erleben!“

„Warum denn? Was meinst du damit?“

„O, die armen Herrschaften! Die Armen, Armen!“ wimmerte der Greis und begann bitterlich zu weinen. „Alles wird man ihnen wegnehmen, und erschlagen wird man sie auch.“

Der Doktor fuhr auf: „Du bist nicht bei Trost!“

Nun begann der andre die Hände zu ringen!

„Auch du antwortest mir so? Das ist ein Unglück! Ach, das ist ein Unglück!.. So hat der Herr Pfarrer mir geantwortet, wie ich in der Beichte ausgesagt habe, was ich weiß; so hat der Herr Mandatar mir geantwortet, und der Herr Verwalter hat gar gedroht, mich auf die Bank legen zu lassen, wenn ich solche Sachen rede …“ Er richtete seinen unsicher suchenden Blick auf den Doktor: „Bist auch du mit ihnen einverstanden?“

„Einverstanden – ich? mit wem?.. Sag alles!“ befahl Rosenzweig. „Was wird ums neue Jahr geschehen?“

„Männer von jenseits des Meeres werden kommen und werden alle adeligen Besitzungen unter die Bauern verteilen.“

– Auch die des Pan Theophil Kamatzki. – Wartet, Kanaillen! dachte der Doktor und sprach: „Was wird denn die Regierung dazu sagen?“

„Die Regierung? Ach! Jesus! Von der Regierung aus ist im vorigen Frühjahr schon alles Land vermessen worden, damit die fremden Männer wissen, wie geteilt werden soll.“

Rosenzweig brach in ein schallendes Gelächter aus:

„O! dieses Volk!.. Seit fünfzig Jahren verkehre ich mit diesem Volk, aber die Wege seiner Dummheit habe ich noch nicht erforscht … Alter! die Vermessungen hat der Kaiser vornehmen lassen, weil er wissen will, wie groß sein Galizien ist, und wie viel Steuern es ihm zahlen kann.“

Ungläubig wackelte der Greis mit dem Kopfe:

„Das wissen wir besser, verzeih. Der Kaiser nimmt den Herren, die gegen ihn sind, das Land und schenkt es den Bauern, die für ihn sind. Dann wird es gut sein, glauben die meisten … Ich glaube, daß es schlecht sein wird. Jeden Tag wird Sonntag sein, und was tun die Bauern am Sonntag, als raufen und sich betrinken?.. O, mein gnädiger Herr, könnt man's doch verhüten.“

„Sei du ganz ruhig, das wird gewiß verhütet werden,“ entgegnete Rosenzweig und lachte wieder.

Da wurde der Alte plötzlich aufgebracht:

„Wenn du gestern abend im Wirtshaus gewesen wärest und den Kommissär hättest predigen gehört, du würdest nicht lachen.“

„Den Kommissär? Den Emissär, willst du wohl sagen! Ein Emissär, wie sie jetzt zu Dutzenden herumziehen.“

„Nein, nein, kein solcher. Einer, der einmal ein Herr war und jetzt sagt, daß es keine Herren mehr geben soll. Er weiß so gut, was für Zeiten kommen werden, daß er lieber gleich von selbst ein Bauer geworden ist und hat alles verschenkt.“

Diese Worte erweckten Nathanaels ganze Aufmerksamkeit und erhoben es ihm zur Überzeugung, daß der Alte von demselben Manne sprach, den der Kreishauptmann den Sendboten genannt, und vor dem er selbst eben erst Aug in Auge gestanden hatte.

Derselbe! er war es – er gewiß, der Rätselhafte, dessen Lebensgeschichte die Vernünftigen einander mit Hohn und Spott erzählten, die Furchtsamen mit Haß, die Phantasten mit Begeisterung, es war – Eduard Dembowski.

Oft hatte er sagen gehört, daß von diesem Menschen ein Zauber ausgehe, dem sich niemand zu entziehen vermöge, und dieser geheimnisvollen Einwirkung den größten Unglauben entgegengebracht, und nun gestand er sich, daß er doch etwas ihr Ähnliches erfahre.

Ja! der bleiche Schwärmer schritt wie ein Gespenst neben ihm her. Ja! sein Bild verfolgte ihn mit unleidlicher Hartnäckigkeit. Vergeblich suchte er seine Gedanken von ihm abzulenken, immer wieder tauchte es auf und trotzte dem Willen, es zu verscheuchen.

Das Gefährt des Doktors stand schon seit geraumer Weile auf der Straße. Eine bequeme Britzschka, bespannt mit einem Paar kugelrunder Falbenstuten, in zierlichen Krakauergeschirren, mit glockenbehangenen Kummeten. Der Kutscher war ein schlanker Bursche im saubern, einfach verschnürten Leibrock, und das Ganze bildete eine hübsche Equipage, um die so mancher Edelmann den Doktor beneidete.

Dieser klopfte den Falben die starken Hälse und legte ihnen die Zöpflein der schwarzen, eingeflochtenen Mähnen zurecht. Schon war er im Begriff, in den Wagen zu steigen, da wandte er sich zu dem Alten am Fuße des Kreuzes zurück:

„Du! wie heißt du?“

„Semen Plachta, Herr.“

„Hör an, Semen! Krieche heim und sage deinem Schwiegersohn, daß Doktor Rosenzweig morgen kommen wird, dich zu besuchen. Er soll dich zu Hause lassen. Verstehst du mich? Wenn ich komme und dich nicht zu Hause finde, werde ich dafür sorgen, daß dein Schwiegersohn noch vor der allgemeinen Verteilung als erste Abschlagzahlung auf das Künftige eine Tracht Prügel erhält.“ Rosenzweig hatte seine Brieftasche gezogen und ihr eine Fünfguldenbanknote entnommen. Sein Gesicht wurde sehr ernst, während er sie betrachtete. Ein kurzes Zögern noch – dann reichte er sie dem Greise hin.

„Das aber gehört dir. Ich will morgen hören, ob das Geld für dich verwendet worden ist.“

Semen streckte die Hand nach dem fabelhaften Reichtum aus; – zu sprechen, zu danken vermochte er nicht. Auch der Kutscher auf dem Bocke blieb starr, riß die Augen auf, ließ vor Erstaunen beinah die Zügel fallen. Was sollte das heißen, um Gottes willen? Sein Herr verschenkte fünf Gulden an einen Straßenbettler?!

„Herr,“ sagte er, als der Doktor in den Wagen stieg, „du hast ihm fünf Gulden gegeben. Hast du dich nicht geirrt?“

„Schweig und fahr zu!“ befahl Rosenzweig, und die Peitsche knallte, und die Falben griffen aus.

Bald kam auf der weiten Ebene das Doktorhaus in Sicht. Es stand jetzt nicht mehr so allein da wie ein Grenzstein; sehr nette Stallungen und Schuppen erhoben sich hufeisenförmig im Hintergrund, und eine wohlgepflegte Baumschule füllte den Raum zwischen den Wohn- und Wirtschaftsgebäuden.

Die letzteren waren wirklich nach einem Plane des Chamers, dem der Architekt seine Sanktion gegeben hatte, ausgeführt worden und gut ausgefallen, das mußte man gelten lassen.

Ob Rosenzweig zu seinem Daheim zurückkehrte aus dem Gehöft eines Schlachziz, aus dem Hause eines Grundherrn oder aus dem Schlosse eines Magnaten – sein geliebtes Besitztum begrüßte er stets mit der gleichen Freude. „Den andern das ihre, das meine mir!“ – Aufrichtig gesagt, getauscht hätte er, wenn auch noch so gewinnreich, mit keinem. Er hatte ja nie ein lebendes Wesen (seine Großmutter ausgenommen) so geliebt, wie er sein kleines Gut liebte. Und wie es da so schmuck vor ihm lag, das langsam und mühsam Erworbene, die Verkörperung seiner Kraft und Tüchtigkeit, ein so wahrhaft zu Recht bestehendes Eigentum, wie es wenige gab, da ballten sich seine Fäuste, und er vollzog einen imaginären Totschlag an dem imaginären ersten, der es wagen würde, ihm seinen Besitz anzutasten.

Am Abend noch besuchte er den Kreishauptmann und berichtete ihm Wort für Wort sein Gespräch mit Semen Plachta.

Der Beamte ließ sich in eine ausführliche Erörterung der kommunistischen Umtriebe im Lande ein; die eigentlichen Absichten ihres Urhebers jedoch, das Wesen des seltsamen Mannes überhaupt, wußte er nicht zu erklären, so genaue Kenntnis er auch von dessen ganzem Lebenslaufe besaß.

Der Sendbote, der das Land rastlos durchpilgerte und in den Palästen und den Hütten das Evangelium der Gleichberechtigung aller Menschen und der Gleichteilung allen Grund und Bodens verkündete, gehörte, als Sohn des Senatorkastellans von Polen und Herrn der Herrschaft Rudy im Warschauer Gouvernement, dem hohen Adel an. Auch er war wie seine Standesgenossen aufgewachsen und erzogen worden im Bewußtsein überkommener Rechte, ererbter Macht und der Pflicht, sie zu wahren und sie auszuüben.

Kaum jedoch in ihren Besitz gelangt, hatte er sich ihrer freiwillig entäußert. Die Erträgnisse seiner Güter flossen in die Bettelsäcke der Güterlosen oder wurden zu Revolutionszwecken verwendet. Er aber zog umher und warb Jünger für seine Lehre und fand ihrer in den Reihen seiner eigenen Standesgenossen. An die eindrucksfähigen Herzen der Jugend wandte er sich, und je reiner und unschuldiger diese Herzen waren, desto feuriger erglühten sie in Verehrung für ihn, und in Sehnsucht, seinem opfermutigen Beispiel zu folgen. Boten des Sendboten tauchten auf im Königreiche Polen, im westlichen Rußland, in Posen, in Galizien. Die Worte ihres Abgottes auf den Lippen, riefen sie dem Adel zu: – Wirf deine Reichtümer und deine zu lang genossenen Vorrechte von dir. Vorrecht ist Unrecht. Und dem Volke: – Kommt, ihr Armen! Nehmt euern Anteil an dem Boden, den seit Jahrhunderten euer Schweiß, und wie oft! auch euer Blut gedüngt hat. – Zu allen aber sprachen sie: Erhebt euch, schüttelt das Joch der Fremden ab! Wir wollen ein Reich gründen, darin es weder Überfluß noch Armut, nicht Herrschaft noch Knechtschaft gibt, das Reich – das Christus gepredigt hat.

Der geistige Leiter dieser Missionen hatte sich inzwischen an dem gegen Rußland geplanten und fast im Augenblick des Losbruchs gescheiterten Aufstande des Jahres 1843 beteiligt. Als Flüchtling entkam er nach Posen, wurde dort binnen kurzem wegen Verbreitung kommunistischer Grundsätze zur Rechenschaft gezogen, in Haft genommen, endlich verbannt. Er begab sich nach Brüssel, wo Lelewel die Verirrungen seiner allzuheißen Freiheits- und Vaterlandsliebe in den Qualen bittersten Heimwehs verbüßte. Der Umgang mit diesem „Großmeister der Revolutionäre“ steigerte die Begeisterung Dembowskis zum Fanatismus. Was seine Seele fortan erfüllte, war nicht mehr Mitleid allein mit den Elenden und Armen, es war auch Haß gegen die Starken und Reichen, hießen sie nun die Beherrscher der Teilungsmächte oder die Inhaber der polnischen Zentralgewalt in Paris und Usurpatoren des Königreichs, das sie wiederherstellen wollten.

Der Apostel der Nächstenliebe kehrte als ein politischer Agitator nach der Heimat zurück. Er, den bisher nur seine eigenen Eingebungen geleitet hatten, übernahm die Ausführung fremder Pläne und die Aufgabe, Galizien zur Empörung reif zu machen. In dieser Aufgabe wirkte er nun. Wußten die, die ihn mit ihr betrauten, was sie taten? Sahen sie ihn und seine Lehre nur als das Ferment an, das die stumpfsinnige Menge in Gärung bringen, in eine Bewegung setzen sollte, der die Richtung vorzuschreiben sie sich anmaßten? –

Die Sympathie und Bewunderung, die jeder echte Pole für den empfindet, der im Kampfe gegen die Fremdherrschaft gelitten hat, bewährte sich von neuem. Der Adel nahm den Geächteten in Schutz, obwohl er einen Gegner seiner Interessen in ihm erkannte. Mochte er welcher Partei immer angehören, die Befreiung Polens war auch sein Ziel, auf dem Wege traf man zusammen und drückte einander die Hand.

„Und sehen Sie,“ schloß der Kreishauptmann, „so sehr ist der Mensch in mir im Beamten doch nicht aufgegangen, daß ich diese Polen um solcher Züge ihres oft unbesonnenen, blinden, stets aber hochherzigen Patriotismus willen nicht lieben und zugleich – beneiden müßte.“

„Euer Gnaden!“ rief Nathanael mißbilligend aus, und beide Männer schwiegen. Nach geraumer Zeit erst nahm der Doktor wieder das Wort:

„Ich glaube, Euer Gnaden, es wäre Sache der Regierung, vor allem sich und den Adel vor dem verderblichen Einfluß des kommunistischen großen Herrn zu schützen.“ Hier flocht er das ruthenische Sprichwort ein: ‚Ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt.‘ – „Ich begreife nicht, warum man so lange untätig zusieht. Warum man ihn nicht hindert gleichsam unter den Augen der gesetzlichen Macht sein tödliches Gift auszustreuen.“

Unangenehm berührt durch die Entschiedenheit, mit der Rosenzweig sprach, entgegnete der Kreishauptmann mit kühler Überlegenheit:

„Es geschieht schwerlich ohne Grund. Übrigens – unter uns! – wir haben Weisung, auf ihn zu fahnden – in unauffälliger Weise.“

„O – dann!“ rief Nathanael übereifrig – „dann beschwöre ich Euer Gnaden, meine Dienste in Anspruch zu nehmen. Unauffälliger wäre nichts, als einen Kranken dem Arzte anzuvertrauen. Und daß Ihr ‚Sendbote‘ krank ist – hier,“ er deutete auf die Stirn, „und in das Beobachtungszimmer des Kreisphysikus gehört, darauf schwöre ich!“

Der Ausdruck im Gesichte des Beamten wurde immer kälter; er richtete plötzlich eine gleichgültige Frage an den Doktor und entließ ihn, indem er beim Abschied warnend Talleyrands berühmtes „Surtout pas trop de zèle!“ zitierte.

Die Warnung blieb fruchtlos. Des Doktors ein mal entfesselter Eifer für die Sache der Ordnung und des Gesetzes war nicht mehr zu bändigen. Er hätte die Friedlosigkeit, die ihn umherjagte, auch den andern mitteilen mögen, legte einen Abscheu ohnegleichen gegen die zuwartende Geduld an den Tag, deren man sich in maßgebenden Kreisen befliß, und nannte sie verbrecherischen Leichtsinn und unverzeihliche Lauheit.

Sein politisches Glaubensbekenntnis hatte sich bisher in dem Satze zusammenfassen lassen:

„Unsre Regierung wird die denkbar beste sein, sobald sie sich nur noch herbeiläßt, den Juden das Recht zu geben, Grund und Boden zu besitzen.“ Jetzt aber war ihm der Glaube an die Weisheit dieser Regierung erschüttert, und er begann sich als ihr Belehrer und Ratgeber zu gebärden. Auf dem Kreisamt hatte man wenig Ruhe vor ihm, er brachte täglich neue, immer bedenklicher lautende Nachrichten von dem Umsichgreifen der kommunistischen Propaganda, und riet immer dringender, man möge sich doch entschließen, energische Sicherheitsmaßregeln zu ergreifen.

Die genaue Bekanntschaft des Schwiegersohnes Semen Plachtas, die er gemacht hatte, gab ihm viel zu denken. Er hatte sich bisher niemals mit dem Studium einer Bauernseele beschäftigt. Ein Bauer war in seinen Augen der uninteressanteste von allen mit einer Menschenhaut überzogenen Bipedes. Jetzt nahm er einen von der Sorte aufs Korn, beobachtete ihn genau, ging sogar mit ihm ins Wirtshaus, ließ sich mit ihm in Gespräche ein und wußte am dritten Tage, was er schon im ersten Augenblick gewußt hatte, daß der Mann faul, trunksüchtig und einfältig war. Wie einfältig, das kam erst zum Vorschein, wenn ihm der Branntwein die schwere Zunge löste und es nur weniger Fragen bedurfte, um sich zu überzeugen, daß ihm sogar die Kardinalerkenntnis der Unterscheidung zwischen mein und dein fehlte.

Der Doktor fuhr zur Gräfin Aniela und hielt ihr einen Vortrag über den Zustand der Landbevölkerung. „Ja,“ schloß er, „der Bauer ist dumm, aber wodurch soll er denn gescheit werden, wenn er es nicht zufällig von Natur ist? Ja, der Bauer ist faul, aber was würde die Arbeitsamkeit ihm nützen, sie brächte ihn doch nimmer auf einen grünen Zweig. Seine Arbeitsamkeit käme mehr dem Herrn zugute als ihm. Ja, der Bauer trägt den heute verdienten Groschen heute noch in die Schenke, aber diese Verschwendung kommt von seinem Elend. Das Elend ist nicht sparsam, das Elend vermag einen so gesunden und fruchtbringenden Gedanken, wie den der Sparsamkeit, gar nicht zu fassen.“

Gräfin Aniela streckte das zierliche Hälschen in die Höhe, ihre lieblichen Lippen verzogen sich spöttisch.

„Verehrter Lebensretter, Sie sprechen ja ganz wie der ‚Sendbote‘,“ sagte sie, „man glaubt ihn zu hören.“

Der Doktor schwieg; der scherzhaft gemeinte Vorwurf traf ihn tief.

Eine Stunde später stand er in seiner Baumschule vor einem Stämmchen, nicht viel dicker als ein Finger, und doch trug es schon unter seiner kleinen Blätterkrone drei herrliche Äpfel, völlig reif beinah, mit gelblich glänzender Schale. Zu jeder andern Zeit hätte der Doktor an dem Anblick seine Freude gehabt, heute vermehrte sich durch ihn nur sein Mißmut. Joseph kam aus dem Hause, sein Arbeitsgerät auf der Schulter, und wollte den Wohltäter noch zu andern Bäumchen führen, die ein ebenso kräftiges Streben, brave Bäume zu werden, an den Tag legten, wie das, welches er staunend betrachtete.

Er erhielt keine Antwort. Mit finsterer Strenge funkelten die schwarzen Augen Rosenzweigs unter ihren buschigen Brauen den Jüngling an, und plötzlich sprach er:

„Sag einmal, hast du nie etwas von einem Freiheitshelden, so eine Art Narren gehört, der sich hier in der Gegend aufhält, und, wie man behauptet, den Bauern in den Wirtshäusern Revolution predigt?“

Joseph sah offenbar betroffen aus und schwieg.

„Gesteh! Gesteh!“ befahl Rosenzweig, und sein drohendes, zornrotes Gesicht näherte sich dem des Jünglings.

„Ich weiß nicht, Herr,“ stammelte dieser, „ob du den meinst, den sie den Sendboten nennen.“

„Den eben meine ich!“

„Der predigt aber nicht Revolution, der predigt Fleiß und Nüchternheit.“

„Fleiß im Stehlen, Nüchternheit beim Totschlagen – was?“ höhnte der Doktor.

Ungewohnterweise ließ sich Joseph nicht aus der Fassung bringen. Noch mehr! Er erlaubte sich einen Widerspruch:

„Du bist im Irrtum. Ich kenne ihn.“

Rosenzweig prallte mit einem unartikulierten Ausruf zurück, und Joseph fuhr fort:

„Ich habe lange mit ihm gesprochen.“

„Wo? und wann? und was?“

„Auf dem Felde, in der vorigen Woche; und von dir ist die Rede gewesen.“

„– Von mir?“

Aus dem Munde des Chamers hat er seine Nachrichten über mich? dachte der Doktor. – Nun, sie sind danach!

„Ich habe ihn nie predigen gehört,“ nahm Joseph wieder das Wort.

„Möchtest aber wohl?“

„O ja! – ich möchte wohl. Kein Pfarrer kann es ihm gleichtun, heißt es. Es heißt auch, daß er heute nacht zum letztenmal in unsrer Gegend sprechen wird, in der Schenke des Abraham Dornenkron, eine Meile von hier, auf der Straße nach Dolego.“

Eine lange Pause entstand, der der Doktor ein Ende machte, indem er Joseph befahl, an die Arbeit zu gehen; er selbst begab sich zum Kreishauptmann, meldete, was er soeben in bezug auf den Emissär in Erfahrung gebracht hatte, und fragte an, ob es nicht geraten wäre, ein Pikett Husaren nach der Schenke zu schicken und den Aufwiegler gefangen nehmen zu lassen.

„Was nötig ist, wird geschehen, mein lieber Rosenzweig!“ antwortete der Beamte. „Wir sind von allem, was vorgeht, auf das genaueste unterrichtet und finden darin keinen Grund zur Sorge. Wovor fürchten denn Sie sich? Sie gehören zu uns. Ich wollte, ich könnte etwas von Ihrer Vorsicht denen einflößen, die ihrer bedürftiger wären als Sie und wir.“

Rosenzweig machte noch einige Krankenbesuche und kam erst spät am Abend heim. Vor dem Gartentor fand er Joseph, der ihn erwartete.

„Was hast du dazustehen? Geh schlafen!“ herrschte er ihm zu.

Auch er hätte gern Ruhe gefunden, aber sie floh ihn in dieser Nacht, wie in den vorhergehenden Nächten.

Auf einmal fiel es ihm ein, ob es nicht möglich wäre, daß Joseph sich jetzt aus dem Hause schliche, um nach der Schenke zu rennen und die Abschiedsrede des Agitators zu hören. Der Weg ist freilich weit, und die Nacht schon vorgeschritten, aber der Bursch hat junge Beine … Übrigens – wer weiß? Wenn er fürchtet, zu spät zu kommen, nimmt er am Ende gar ein Pferd aus dem Stall …

Nun, der Zweifel wenigstens sollte ihn nicht lange quälen. Rasch nahm er den Leuchter vom Tisch und eilte über die Treppe, den Gang, nach der von Joseph bewohnten Stube.

In Jahren hatte er sie nicht betreten; sie war die einzige schlechte im Hause und ärgerte ihn, so oft er sie sah. Ein länglicher, schmaler Raum, einfenstrig, mit Ziegeln gepflastert. Wäre Rosenzweig nicht der Wohltäter, sondern der Arzt Josephs gewesen, er hätte ihm verboten, da zu schlafen auf dem Strohsack, im Winkel zwischen der Drehbank und der Mauer, die förmlich troff von Feuchtigkeit.

Er sagte sich das, als er eintretend den Menschen, den er auf dem Wege nach Dolego vermutete, lang ausgestreckt fand auf seiner mehr als bescheidenen Lagerstätte, tief und selig schlafend.

Als Rosenzweig sich über ihn beugte und ihm ins Gesicht leuchtete, zuckten seine Augenlider, sein roter, frischer Mund zog sich trotzig zusammen, aber nur um gleich wieder mit leicht aufeinander ruhenden Lippen ungestört weiter zu atmen. Hätte er tausend Zungen gehabt, sie würden nicht vermocht haben, kräftigere Fürsprache für die Lauterkeit seines Herzens einzulegen, als es der Ausdruck des bewußtlosen, schweigenden Friedens auf seinem Antlitz tat.

Der Doktor stellte den Leuchter auf die Drehbank und begann sich in der Kammer umzusehen. Was es da gab an begonnenen, an halb und fast beendeten Arbeiten, das alles war die Frucht des Fleißes emsig schaffender und geschickter Hände. Und es mußte doch kein so übler Verstand sein, der ihr Tun leitete, denn nirgend fand sich die Spur verwüsteten Materials oder kindischer Spielerei. Und worauf sich das ganze Sinnen und Denken dieses Verstandes richtete, das war das Wohl und Gedeihen des Doktorhauses, ihm kam all sein Streben zugute, das förderte er nach bester Kraft und Einsicht. Ein Beispiel für hundert fiel dem Doktor auf und – fast rührte es ihn.

Er hatte unlängst das hölzerne Gartenpförtlein durch ein eisernes ersetzen lassen und war zufrieden gewesen mit der vom Stadtschlosser gelieferten Arbeit, aber Joseph meinte: „Sie ist nicht schön genug, ich will eine Verzierung anbringen.“ Rosenzweig verhöhnte ihn damals, und nun war das Werk schon unternommen, war schon mit unsäglicher Mühe aus starkem Eisenblech herausgesägt und gefeilt, und inmitten schmucker Arabesken zeichnete sich, gar künstlich verschlungen, der Namenszug Rosenzweigs.

Dieser lächelte, kreuzte die Hände und versank in eine, zum erstenmal wohlwollende und mitleidige Betrachtung des bescheidenen Tausendkünstlers. Zu Häupten seines Lagers bemerkte er ein Bild des heiligen Joseph, mit vier Nägeln an der Wand befestigt, und darunter stand in ungefügiger Schrift:

„Von meiner Lubienka.“

– Die deine, du armer Junge, der auf der weiten Erde nichts besitzt? Hab erst festen Boden unter deinen eigenen Füßen, eh du es wagst, einem schwächeren Menschenkinde zuzurufen: Tritt zu mir! Du hast dir noch nichts erworben, noch nichts verdient trotz deiner Arbeitsfreudigkeit und Treue, nichts – keinen Lohn, keinen Dank, kein Recht. Was du mir leistest und nützest, gilt nur als Zahlung einer dereinst – unfreiwillig eingegangenen Schuld.

Wann wird diese Schuld endlich getilgt sein, armer Geselle?.. Ist sie es denn im Grunde nicht längst? Besäßest du Klugheit genug, um abzurechnen und abzuwägen, vor Jahren schon hättest du gesagt: Wir sind quitt! Von nun an bezahle mich, Herr! Ich will auch für mich erwerben. – Ich sei ein harter Mann, heißt es, aber ungerecht darf mich niemand schelten. Wenn du gefordert hättest, ich hätte dir gegeben, ich hätte dich gelten lassen, wenn du dich geltend gemacht hättest … Du hast es aber nicht getan; du bist schweigend unter deinem Joche weitergeschritten und wirst so weiterschreiten, bis du zusammenbrichst, und am Ausgang deines Lebens so hilflos dastehst, wie du an seinem Eingang gestanden hast.. Wessen Schuld? – Warum denkst du nicht? Warum sprichst du nicht? Warum verschwendest du die kostbaren Kräfte deiner Jugend?.. Aber es geschieht, und ich verbrauche sie – und so wie ich tun Tausende, und so wie du Hunderttausende …

Noch einen Blick auf den sanft Schlafenden, und Nathanael schloß die Augen und preßte die Hände an seine Stirn. Grell und blendend drang es auf ihn ein, wie ein im Dunkel aufflammendes Licht. Mit Grauen und Entsetzen erfüllte ihn das Bewußtsein: Da schläft er noch still und harmlos, und die Hunderttausende seinesgleichen schlafen wie er. Doch werden sie erwachen – schon weckt man sie. Zu welchen Taten? Wie werden sie hausen, die plötzlich entfesselten Knechte?

Ein Schwindel ergriff ihn, ihm war, als wanke sein Haus.

„Noch nicht!“ rief er und stieß den Fuß heftig gegen den Boden.

Joseph erwachte, sprang auf: „Was befiehlst du, Herr?“ Das Bewußtsein kehrte ihm nicht schneller zurück, als diese Frage auf seine Lippen trat.

„Wissen will ich, was vorgeht, hören, was euch gepredigt wird. Ich will den Sendboten hören. Spann die Falben vor den Wagen, du wirst mich nach der Schenke des Dornenkron fahren. Spann ein!“




IV


Die Nacht war dunkel. Ein feiner, dichter Regen strömte unablässig, emsig auf die Erde nieder, und ein andrer, ein kompakter Regen spritzte von ihr auf beim energischen Gestampfe der wackeren Rößlein. „Polens fünftes Element“ umwirbelte und übersprühte das von Joseph gelenkte Gefährt, das zwischen einer doppelten Reihe riesiger Pappeln auf der Kaiserstraße dahinrollte.

Der Doktor saß lange Zeit schweigend in seinen Mantel gehüllt. Ungeduld verzehrte ihn.

„Wir kommen zu spät,“ sagte er endlich. „Treib die Falben an.“

„Sie laufen ja, was sie können,“ antwortete Joseph. „Wir sind schon weit.“ Er deutete nach einem großen, weißlichen Fleck im Nordwesten des bleigrauen Horizonts, „die Weichsel und der Dunajec stecken schon ihre Fahnen aus.“

Eine Viertelstunde später war das Ziel erreicht: ein niedriges, weitläufiges Gebäude. Vor dem standen allerlei Fuhrwerke und hinderten Joseph, sich mit dem seinen zu nähern.

Rosenzweig hieß ihn halten, stieg ab und suchte sich einen Weg durch das Gewirr der Wagen und Pferde zu bahnen. Es war keine leichte Aufgabe für einen, der möglichst unbemerkt in das Haus gelangen wollte.

Die meisten Kutscher hatten ihr Gespann verlassen, die andern schliefen auf dem Bocke oder taten so und leisteten dem Befehl des Doktors, ein wenig Raum zu geben, keine Folge. Er hob eben den Stock, um sich ihnen deutlicher verständlich zu machen, als Abraham Dornenkron auf der Schwelle des Hauses erschien, einen brennenden Span in der Hand.

„Schaff mir Platz, Abraham,“ sprach der Doktor, „ich bin's, ich, Doktor Rosenzweig.“

„Gott der Gerechte!“ stieß der Wirt erschrocken hervor, faßte sich aber sogleich und patschte dienstwillig in den Sumpf, der die Zufahrt zu seinem Gasthof bildete. Er schob die künstlich aufgestellte Wagenburg auseinander und rief dabei fortwährend mit überflüssigem Stimmaufwand:

„Der Herr Doktor Rosenzweig! – Is wer krank? Wohin belieben zu reisen der Herr Doktor?“

Sobald die Möglichkeit vorhanden war, sich ihm zu nähern, sprang Nathanael auf ihn los und packte ihn beim Ohr:

„Sei still, Spitzbube! Du brauchst mich bei deinen Gästen nicht anzumelden. Ich will das schon selbst besorgen.“

Und als das Männlein trotzdem nicht aufhörte, seine Verwunderung über die Ankunft des Doktors laut auszuschreien, drückte der ihn gegen den Türpfosten, daß ihm der Atem verging, und drang an ihm vorbei in den Flur.

„Ein Gibor![6 - Ein Riese.] Schema Isroel, ein Gibor der gewaltige Doktor!“ raunte Abraham einem mißgestalteten Wesen zu, das plötzlich im Dunkel geräuschlos wie eine Eidechse, krummbeinig wie ein Kobold, neben ihm aufgetaucht war.

Es wiegte den unförmigen Kopf; seine nachtschwarzen Augen funkelten klug und feurig.

„Er ist eingezogen, zu spionieren, Tateleben. Wir wollen ihm kommen zuvor, daß uns nicht kann begegnen ein Unglück,“ flüsterte der Kleine.

„Elend über Elend! Wie heißt ihm kommen zuvor?“

„Ich will nehmen ein Pferd, Tateleben, und reiten nach Tarnow wie ein Windstoß, zu melden bei der Polizei, daß bei uns Versammlung halten die rebellischen Gojim, und daß die kaiserliche Regierung soll ausschicken gegen sie Soldaten, wenn es is gefällig der kaiserlichen Regierung.“

Abraham betrachtete seinen Sprößling mit Blicken bewundernder Liebe:

„Reit wie ein Windstoß, mein Sohnleben, daß du mit Gott bald kommst ans Ziel. Reit,“ wiederholte er und setzte in naiver Fürsorge hinzu: „Tu dich nur nehmen in acht, daß du nicht kommst um deine graden Glieder.“

Rosenzweig war inzwischen in die Wirtsstube getreten oder hatte sich vielmehr hineingezwängt.

Es herrschte darinnen eine dicke, dumpfe Atmosphäre, das Produkt von mehr als hundert, dicht aneinandergepferchten Menschen, in nassen Pelzen, Kleidern und Stiefeln. Fuseldünste und der Qualm einer an der Decke hängenden Naphthalampe trugen dazu bei, das Atmen in diesem Raume zu erschweren. Die Anwesenden jedoch erfuhren unbewußt den beklemmenden Einfluß, der die Gesichter der einen glühen machte und die andrer bis zur Todesblässe entfärbte. Es waren Männer, den verschiedensten Altersstufen und Ständen angehörig, in ärmlicher Kleidung, im reichen Nationalkostüm, im Priestertalar, im Studentenrock, im schäbigen, schwarzen Gewand des Winkelschreibers. Die keinen andern Platz mehr gefunden hatten, waren auf die Bänke gestiegen und, zwischen die Mauern und die Menge geklemmt, bezahlten sie bei jedem neuen Andrang den Vorteil ihrer erhöhten Stellung mit der Gefahr, erdrückt zu werden.

In der vordersten Reihe, seine Umgebung überragend, stand ein grauhaariger, graubärtiger, breitschultriger Herr, in kostbarer Magnatentracht. Wenn er den Kopf wandte, zeigte sich dem beobachtenden Nathanael das ausdrucksvolle asiatische Profil eines der mächtigsten Fürsten des Landes.

– Auch du, Starosta princeps nobilitatis? dachte Rosenzweig. Aber eine noch größere Überraschung erwartete ihn.





Конец ознакомительного фрагмента. Получить полную версию книги.


Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию (https://www.litres.ru/marie-von-ebner-eschenbach/ein-buch-das-gern-ein-volksbuch-werden-mochte/) на ЛитРес.

Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.



notes



1


Großmütterchen.




2


Andersgläubiger.




3


Esel.




4


Lieber Herr!




5


Mein Seelchen.




6


Ein Riese.



Как скачать книгу - "Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte" в fb2, ePub, txt и других форматах?

  1. Нажмите на кнопку "полная версия" справа от обложки книги на версии сайта для ПК или под обложкой на мобюильной версии сайта
    Полная версия книги
  2. Купите книгу на литресе по кнопке со скриншота
    Пример кнопки для покупки книги
    Если книга "Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte" доступна в бесплатно то будет вот такая кнопка
    Пример кнопки, если книга бесплатная
  3. Выполните вход в личный кабинет на сайте ЛитРес с вашим логином и паролем.
  4. В правом верхнем углу сайта нажмите «Мои книги» и перейдите в подраздел «Мои».
  5. Нажмите на обложку книги -"Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte", чтобы скачать книгу для телефона или на ПК.
    Аудиокнига - «Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte»
  6. В разделе «Скачать в виде файла» нажмите на нужный вам формат файла:

    Для чтения на телефоне подойдут следующие форматы (при клике на формат вы можете сразу скачать бесплатно фрагмент книги "Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte" для ознакомления):

    • FB2 - Для телефонов, планшетов на Android, электронных книг (кроме Kindle) и других программ
    • EPUB - подходит для устройств на ios (iPhone, iPad, Mac) и большинства приложений для чтения

    Для чтения на компьютере подходят форматы:

    • TXT - можно открыть на любом компьютере в текстовом редакторе
    • RTF - также можно открыть на любом ПК
    • A4 PDF - открывается в программе Adobe Reader

    Другие форматы:

    • MOBI - подходит для электронных книг Kindle и Android-приложений
    • IOS.EPUB - идеально подойдет для iPhone и iPad
    • A6 PDF - оптимизирован и подойдет для смартфонов
    • FB3 - более развитый формат FB2

  7. Сохраните файл на свой компьютер или телефоне.

Книги автора

Рекомендуем

Последние отзывы
Оставьте отзыв к любой книге и его увидят десятки тысяч людей!
  • константин александрович обрезанов:
    3★
    21.08.2023
  • константин александрович обрезанов:
    3.1★
    11.08.2023
  • Добавить комментарий

    Ваш e-mail не будет опубликован. Обязательные поля помечены *