Книга - Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie.

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Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie.
Wilhelm Bölsche




Wilhelm Bölsche

Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. / Prolegomena einer realistischen Aesthetik





Vorwort


Die nachfolgenden wissenschaftlichen Studien behandeln in selbstständiger Abrundung das, was nach meiner Ueberzeugung im ersten Buche jeder neuen, unserm modernen Streben gerecht werdenden Aesthetik seine Stelle finden müsste. Realistisch nenne ich diese Aesthetik, weil sie unserm gegenwärtigen Denken entsprechend nicht vom metaphysischen Standpuncte, sondern vom realen, durch vorurtheilsfreie Forschung bezeichneten ausgehen soll. Wie ich mir die Rolle des besonnenen Realismus in unserer Literatur denke, ist im ersten Capitel ausführlich entwickelt; die übrigen behandeln einzelne Probleme, an denen der Naturforscher und der Dichter gleich grossen Antheil nehmen. Zurückweisen muss ich im Voraus alle Uebertreibungen, die man von unberufener Seite an das Wort Realismus geknüpft hat. Der Realismus ist nicht gekommen, die bestehende Literatur in wüster Revolution zu zerstören, sondern er bedeutet das einfache Resultat einer langsamen Fortentwickelung, wie die gewaltige Machtstellung der modernen Naturwissenschaften es nicht mehr und nicht minder ist. Jene Utopien von einer Literatur der Kraft und der Leidenschaft, die in jähem Anprall unsere Literatur der Convenienz und der sanften Bemäntelung wegfegen soll, bedeuten mir gar nichts; was ich von dem aufwachsenden Dichtergeschlecht fordere und hoffe, ist eine geschickte Bethätigung besseren Wissens auf psychologischem Gebiete, besserer Beobachtung, gesunderen Empfindens, und die Grundlage dazu ist Fühlung mit den Naturwissenschaften. Leichte Plaudereien, wie sie der Spalte eines Feuilletons ziemen, wird der Leser vergebens auf diesen Blättern suchen, weder unfeines Schmähen noch kritiklose Verhimmelung rechne ich unter die nothwendigen Requisiten der neuen Sache. Die jungen Kräfte, die jetzt so viel Lärm machen, werden schon allein ihren Weg gehen; ich aber möchte durch eine anständige Polemik sowohl wie durch einen anständigen Vortrag überhaupt auch zu denen reden, die im Banne älterer Anschauungen jede Form realistischen Fortschritts mit zweifelndem Auge betrachten.

Berlin, im Winter 1886.



    Wilhelm Bölsche.




Erstes Capitel.

Die versöhnende Tendenz des Realismus


Durch die gesammte – und nicht zum Wenigsten die deutsche – Literatur geht seit einiger Zeit eine lebhafte Bewegung. Die Schaufenster der Buchhandlungen wie die Spalten der Journale sind überfüllt mit Streitschriften und Streitartikeln, die bereits durch die Kühnheit der Titel von der Hitze der Kämpfenden Zeugniss ablegen. Aber auch abgesehen von diesen Kundgebungen der eigentlichen Ritter des Tourniers fühlt sich jeder Einzelne im grossen Publicum mehr oder weniger berufen, seinen Wahlzettel in die Urne zu werfen. Denn das Wort ist gefunden, welches in neun Buchstaben die Loosung des Ganzen enthüllen soll. Dieses schicksalsschwere Wort heisst Realismus.

Für die eine Partei ein goldenes Wort, eins aus jener Reihe unvergänglicher Schlagwörter, die mit ihrer prächtigen Kürze gleichsam die Stenographie der Culturgeschichte darstellen, – ist es der andern ein Gräuel, ein Hemmniss aller Fortentwicklung, der Name einer bösen, wenn auch glücklicherweise vergänglichen Krankheit.

Revolution der Literatur für jene, Aufdämmern eines neuen Tages, weit heller und strahlender noch als der junge Morgen, der sich einst in dem klaren Auge Lessing's spiegelte und durch dessen weichende Frühnebel der rasselnde Schritt des eisernen Ritters von Berlichingen erklang, ist dieser die gleiche Erscheinung, die hässliche Brandröthe eines Zerstörungskampfes, das Blutmal am Himmel, das über der Stätte des Mordens und Brennens plündernder Vandalenhorden loht, es fehlt nicht an alten Fritzen, die im Sanssouci ihrer unerschütterlichen Kunsttheorieen zweifelnd die schönen, geraden Terrassen und Orangerieen abschreiten und sich kopfschüttelnd fragen: Was soll der Lärm?

Verbrüderung aller nationalen Literaturen durch die Blutsgemeinschaft gleicher Methode für die Schwärmer, erscheint den Skeptikern der ganze Aufstand bei uns in Deutschland nur als der feige Abklatsch einer widerwärtigen Krankheitserscheinung im schlechteren, in alter Sünde absterbenden oder in unwissender Roheit der Halbbildung haltlos hin und her schwankenden Nachbarlande, und, dem Franzosen gleich, der das deutsche Bier als fremdes Gift verbannen möchte, wäre ihnen nichts lieber, als eine literarische Grenzsperre für alle fremden Einflüsse.

Und endlich, was das Seltsamste ist: während die Einen glauben, der Reinheit ihrer Gesinnung und dem Genius poetischer Sittlichkeit nicht besser dienen zu können, als in dem Gewande der neuen Ritterschaft, meinen die Andern das Schwert gegen diese erheben zu müssen zum Schutze der unschuldigen Gemüther in der Welt, zum Schutze ihrer Söhne und Töchter, denen der weihende Tempel des dichterischen Ideals kein Sündenhaus werden soll und keine Schnapsschenke.

Jeder Vernünftige sieht, dass unter dem einen Worte Realismus thatsächlich nicht immer das Gleiche verstanden wird und dass sich hier Begriffe mischen, die strenge Sonderung fordern. Es fehlt denn auch nicht an besonneneren Stimmen, die sich bemühen, Realismus in einer Weise zu definiren, die jeden gröberen Irrthum ausschliesst.

Ich gebe diese Definition zunächst in möglichst allgemeiner Fassung wieder, um später den speciellen Punct herauszugreifen, dem ich eine eingehendere Betrachtung zu widmen gedenke.

Die Basis unseres gesammten modernen Denkens bilden die Naturwissenschaften. Wir hören täglich mehr auf, die Welt und die Menschen nach metaphysischen Gesichtspuncten zu betrachten, die Erscheinungen der Natur selbst haben uns allmählich das Bild einer unerschütterlichen Gesetzmässigkeit alles kosmischen Geschehens eingeprägt, dessen letzte Gründe wir nicht kennen, von dessen lebendiger Bethätigung wir aber unausgesetzt Zeuge sind. Das vornehmste Object naturwissenschaftlicher Forschung ist dabei selbstverständlich der Mensch geblieben, und es ist der fortschreitenden Wissenschaft gelungen, über das Wesen seiner geistigen und körperlichen Existenz ein ausserordentlich grosses Thatsachenmaterial festzustellen, das noch mit jeder Stunde wächst, aber bereits jetzt von einer derartigen beweisenden Kraft ist, dass die gesammten älteren Vorstellungen, die sich die Menschheit von ihrer eigenen Natur auf Grund weniger exacter Forschung gebildet, in den entscheidendsten Puncten über den Haufen geworfen werden. Da, wo diese ältern Ansichten sich während der Dauer ihrer langen Alleinherrschaft mit andern Gebieten menschlicher Geistesthätigkeit eng verknotet hatten, bedeutete dieser Sturz nothwendig eine gänzliche Umbildung und Neugestaltung auch auf diesen verwandten Gebieten. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Religion, deren einseitig dogmatischer Theil durch die Naturwissenschaften zersetzt und zu völliger Umwandlung gezwungen wurde. Ein zweites Gebiet aber, das auch wesentlich in Frage kommt, ist die Poesie. Welche besondern Zwecke diese auch immer verfolgen mag und wie sehr sie in ihrem innersten Wesen sich von den exacten Naturwissenschaften unterscheiden mag, – eine Sonderung, die wir so wenig, wie die Sonderstellung einer vernünftigen Religion, antasten, – ganz unbezweifelbar hat sie unausgesetzt, um zu ihren besondern Zielen zu gelangen, mit Menschen und Naturerscheinungen zu thun und zwar, so fern sie im Geringsten gewissenhafte Poesie, also Poesie im echten und edeln Sinne und nicht ein Fabuliren für Kinder sein will, mit eben denselben Menschen und Naturerscheinungen, von denen die Wissenschaft uns gegenwärtig jenen Schatz sicherer Erkenntnisse darbietet. Nothwendig muss sie auch von letzteren Notiz nehmen und frühere irrige Grundanschauungen fahren lassen. Es kann ihr, was Jedermann einsieht, von dem Puncte ab, wo das Dasein von Gespenstern wissenschaftlich widerlegt ist, nicht mehr gestattet werden, dass sie zum Zwecke irgend welcher Aufklärung einen Geist aus dem Jenseits erscheinen lässt, weil sie sich sonst durchaus lächerlich und verächtlich machen würde. Es kann ihr, was zwar nicht so bekannt, aber ebenso wahr ist, auch nicht mehr ungerügt hingehen, wenn sie eine Psychologie bei den lebendigen Figuren ihrer Erzeugnisse verwerthet, die durch die Fortschritte der modernen wissenschaftlichen Psychologie entschieden als falsch dargethan ist. Eine Anpassung an die neuen Resultate der Forschung ist durchweg das Einfachste, was man verlangen kann. Der gesunde Realismus ermöglicht diese Anpassung. Indem er einerseits die hohen Güter der Poesie wahrt, ersetzt er andererseits die veralteten Grundanschauungen in geschicktem Umtausch durch neue, der exacten Wissenschaft entsprechende. Mit Genugthuung gewahrt er dabei, dass die neuen Stützen nicht nur relativ, sondern auch absolut besser sind, als die alten, und dass er bei Gelegenheit dieser Anpassung der Poesie ein frisches Lebensprincip zuführt, das nach vollkommener Eingewöhnung höchstwahrscheinlich ganz neue Blüthen am edeln Stamme des dichterischen Schaffens zeitigen wird, die vormals Niemand ahnen konnte. Das ist in abstracter Kürze die eigentlich verstandesgemässe Definition des Realismus.

So rund ausgesprochen, hat die Forderung, die darin liegt, alle Eigenschaften, um den Kritiker oder Dichter, dem die Poesie als ein leuchtendes Palladium der Menschheit, das jede Zeit auf den höchsten Platz ihres intellectuellen Könnens zu stellen verpflichtet sein soll, eine wahre Herzenssache ist, zu ernstem, wohlwollendem Nachdenken zu zwingen.

Angesichts der gestellten Wahl muss er die ganze, schwere Verantwortung empfinden, die in einem leichtsinnig heraufbeschworenen Streite zwischen Poesie und Naturwissenschaften läge. Er wird sich nicht stören an die werthlose Phrase, dass ein solcher Conflict nothwendig im Wesen der beiden Geistesgebiete begründet sei. Er wird vielmehr den Blick haften lassen auf den starken Meistern der Vergangenheit, auf dem heldenkühnen Ringen Schiller's, die Wahrheiten der Philosophie, die doch in der speciellen Form auch mit dem Wissen zusammen fiel, dem poetischen Ideal zu vermählen, auf dem unablässigen Forschen Göthe's, der in den Wahlverwandtschaften – fehlerhaft vielleicht, aber doch in sicherem Ahnen der Methode – die Arbeit des Forschers auf dem Gebiete der Seelenkunde im Dichterwerke zu verwerthen suchte, auf dem lichten Bau der physischen Weltbeschreibung des greisen Alexander von Humboldt, in deren kosmischem Rahmen unter der Form der dichterischen Naturanschauung die ganze Poesie mit Leichtigkeit eine Stelle gefunden hätte. Dürfen wir stehen bleiben, wo jene, denen die ganze Fülle unserer Offenbarung im Naturgebiete noch versagt war, unentwegt den Wanderstab zum Vorwärtsschreiten ansetzten? Gewiss steckt in den erhitzten Parteien des Tages die lebhafteste Neigung zu schwerem Kampfe; sollen wir die einzige noch mögliche Gelegenheit zur Versöhnung zurückweisen, – zu einer Versöhnung, die vielleicht zugleich einen Fortschritt für die Poesie bedeutet?

Ich meine, so, wie die Frage gestellt ist, giebt es nur eine Antwort. Es handelt sich nicht um Namen, um Nationalitäten, um Meister und Jünger einer Schule, sondern um zwei Dinge, die vor aller Augen sind: eine Wissenschaft, die energisch vorgeht und neue Begriffe schafft, und eine Literatur, die zurückbleibt, und mit Begriffen arbeitet, die keinen Sinn und Verstand mehr haben. Thatsächlich hat denn auch ein beträchtlicher Theil unserer modernen Dichter die richtige Antwort gefunden, und es kommt hier nicht darauf an, ob Dieser ernste und wohlüberlegte Entschlüsse daran angeknüpft oder Jener bloss in kindlicher Freude ein polizeiwidrig lautes Jubelgeschrei über sein findiges Genie dazu ausgestossen hat. Man hat sich geeinigt über den Satz: Wir müssen uns dem Naturforscher nähern, müssen unsere Ideen auf Grund seiner Resultate durchsehen und das Veraltete ausmerzen.

Das Erste, worauf man im Verfolgen dieses Gedankens kam, war ein Satz, der ebenso einfach und selbstverständlich war, wie er paradox klang. Jede poetische Schöpfung, die sich bemüht, die Linien des Natürlichen und Möglichen nicht zu überschreiten und die Dinge logisch sich entwickeln zu lassen, ist vom Standpuncte der Wissenschaft betrachtet nichts mehr und nichts minder als ein einfaches, in der Phantasie durchgeführtes Experiment, das Wort Experiment im buchstäblichen, wissenschaftlichen Sinne genommen.

Daher der Name »Experimental-Roman«, und daher eine ungeheuerliche Begriffsverwirrung bei allen Kritikern und Poeten, die weder wussten, was man unter einem wissenschaftlichen Experimente, noch was man unter dichterischer Thätigkeit verstand. Der Mann, der das Wort populär gemacht hat, Zola, ist selbst unschuldig an der Verwirrung der Geister. Nur hat auch er den Fehler nebenher begangen, die Definition eines Kunstwerks als Experiment nicht einzuschränken durch die Worte »vom wissenschaftlichen Standpuncte aus«, womit alles klarer und einfacher wird. Vom moralischen Standpuncte beispielsweise will die Definition gar nichts besagen, denn was ist moralisch ein »Experiment«? Aber wissenschaftlich passt die Sache. Sehen wir das unheimliche Wort näher an.

Der Dichter, der Menschen, deren Eigenschaften er sich möglichst genau ausmalt, durch die Macht der Umstände in alle möglichen Conflicte gerathen und unter Bethätigung jener Eigenschaften als Sieger oder Besiegte, umwandelnd oder umgewandelt, daraus hervorgehen oder darin untergehen lässt, ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet. Natürlich: der Dichter hat Menschen vor sich, keine Chemikalien. Aber, wie oben ausgesprochen ist, auch diese Menschen fallen in's Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagiren gegen äussere Umstände, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter bei dem freien Experimente so gut zu beachten hat, wie der Chemiker, wenn er etwas Vernünftiges und keinen werthlosen Mischmasch herstellen will, die Kräfte und Wirkungen vorher berechnen muss, ehe er an's Werk geht und Stoffe combinirt.

Wer sich die Mühe nehmen will, einen ganz flüchtigen Blick auf das Beste zu werfen, was Shakespeare oder Schiller oder Göthe geschaffen, der wird den Faden des psychologischen Experiments in jeder dieser Dichtungen klar durchschimmern sehen. Bloss jene Voraussetzungen waren vielfach etwas andere, und hier ist denn eben der Punct, wo der Einfluss der modernen Wissenschaft sich als ein neues Element geltend machen und der Realismus, dessen Theorie wir zugegeben haben, practisch werden soll. Es gilt, neue Prämissen für die weitern Experimente, die wir machen wollen, aufzustellen oder besser, sie uns von der Naturwissenschaft aufstellen zu lassen. Hier aber, beim Eintritt in die Praxis, wird die ganze Sache sehr schwierig. Wir haben bisheran einer allgemeinen Erörterung Raum gegeben. Der allgemeine Zustand des Denkens in unserer Zeit und des Verhältnisses von Poesie und Forschung zu einander hat uns ein Geständniss abgezwungen, indem er uns ein Dilemma zeigte, aus dem es nur einen Ausweg gab. Wir haben uns einverstanden erklärt mit der versöhnlichen Richtung eines gesunden Realismus und sind vorgedrungen bis an den Fleck, wo die Berührung der exacten Wissenschaften mit derjenigen Definition der Poesie, die von allen am wissenschaftlichsten klingt, endlich stattfinden soll. Alle Vorfragen sind damit erledigt, und ich trete jetzt an das heran, was eigentlich den Kern des Ganzen ausmacht und zugleich ein solches Gewebe ernster Schwierigkeiten aufweist, dass ich eine eingehende Betrachtung derselben für die nothwendige Basis jeder realistischen Dichtung sowohl, wie jeder realistischen Aesthetik halte.

Die Prämissen des poetischen Experiments: das sagt in einem Worte alles. Hier verknoten sich Naturwissenschaft und Poesie.

Wohlverstanden: diese Prämissen umschliessen nicht die Naturgeschichte des poetischen Genius selbst, eine Sache, die ja auch in die Aesthetik hineingehört, die aber mit dem, was ich meine, direct nichts zu schaffen hat. Geniale Anlage muss der Mensch besitzen, um überhaupt als Dichter auftreten zu können, und zwar eine ganz bestimmte Form genialer Anlage, die sich von der für andere Geistesgebiete individuell unterscheidet. Jene andern Prämissen, die erworbenes Wissen darstellen, verhelfen ihm bloss in zweiter Instanz dazu, sein schöpferisches Wollen nach vernünftigen Gesetzen zu regeln und auch andern, nicht dichterisch Beanlagten durch das Medium der Logik einigermassen verständlich zu machen. Aber auch wenn wir alle Missverständnisse ausschliessen, bleibt die Sache immer noch sehr schwierig. Es mangelt zunächst gänzlich an brauchbaren Büchern, die dem Dichter einen vollkommenen Einblick in das verschaffen könnten, was ihm aus dem ungeheuren Bereiche der wissenschaftlichen Forschung über den Menschen zu wissen Noth thut. Die in ihren Resultaten so sehr werthvolle psychologische und physiologische Fachliteratur zeigt den Bestand des Materials nur in seiner äussersten Zersplitterung. Weit entfernt, die Arbeit des einsichtigen Dichters unter der Rubrik des psychologischen Experimentes entsprechend zu würdigen, zieht sich die Fachwissenschaft in den allermeisten Fällen vornehm zurück und überlässt die Verarbeitung ihres Materials für poetische Zwecke dem Philosophen, der unter zehn Fällen neunmal die Thatsachen unter dem Vorwande der Ordnung einfach fälscht. Statt der Wissenschaft Rechnung zu tragen, suchen schaffende Poesie wie Aesthetik dann ihre Prämissen durch Studium philosophischer Systeme zu gewinnen, und der Erfolg ist, dass wir unter dem Vorwande realistischer Annäherung an die Resultate der Forschung allenthalben einer Verherrlichung Hegel'scher Phrasen, Schopenhauer'scher Verbohrtheiten oder Hartmann'scher Willkür begegnen, die mit echter Wissensbasis wenig mehr zu schaffen haben, als die alten religiösen Ideen, so geistvoll sie auch im Einzelnen ersonnen sein mögen.

Eine Anzahl vorsichtiger Geister, besonders ausübender Poeten, verschmäht mit Recht diese schwankende Brücke und stürzt sich kühn in die Detailmasse des exacten Fachwissens. Der Erfolg zeigt eine ernstliche Gefahr auch bei diesem Unterfangen. Die wissenschaftliche Psychologie und Physiologie sind durch Gründe, die Jedermann kennt, gezwungen, ihre Studien überwiegend am erkrankten Organismus zu machen, sie decken sich fast durchweg mit Psychiatrie und Pathologie. Der Dichter nun, der sich in berechtigtem Wissensdrange bei ihnen direct unterrichten will, sieht sich ohne sein Zuthun in die Atmosphäre der Clinic hineingezogen, er beginnt sein Augenmerk mehr und mehr von seinem eigentlichen Gegenstande, dem Gesunden, allgemein Menschlichen hinweg dem Abnormen zuzuwenden, und unversehends füllt er im Bestreben, die Prämissen seiner realistischen Kunst zu beachten, die Seiten seiner Werke mit den Prämissen dieser Prämissen, mit dem Beobachtungsmateriale selbst, aus dem er Schlüsse ziehen sollte, – es entsteht jene Literatur des kranken Menschen, der Geistesstörungen, der schwierigen Entbindungen, der Gichtkranken, – kurz, das, was eine nicht kleine Zahl unwissender Leute sich überhaupt unter Realismus vorstellt.

Ich habe den Weg gezeigt, wie klar denkende Dichter auf diese Linie gerathen können, und bin weit davon entfernt, das blöde Gelächter der Menge bei Beurtheilung derselben zu theilen. Es sind keineswegs die kleinen, rasch zufriedenen Geister, die in solche heroischen Irrthümer verfallen, und der still vergnügte Poet, der im einsamen Kämmerlein von Sinnen und Minnen träumt, hat für gewöhnlich nur sehr problematische Kenntniss davon, welcher Riesenarbeit sich gerade der dichtende Genius unterzieht, der im treibenden Banne seiner Gedanken bis zum Unschönsten, was die Welt im gebräuchlichen Sinne hat, dem Krankensaale, vordringt. Ein Irrthum bleibt die Einseitigkeit darum doch. Die Krankheit kann nicht verlangen, den Raum der Gesundheit für sich in Anspruch nehmen zu wollen, das unausgesetzte Experimentiren mit dem Pathologischen, also dem ganz ausschliesslich Individuellen, das eine Ausnahme vom normalen Allgemeinzustande bildet, nimmt der Poesie ihren eigentlichsten Charakter und verführt den Leser zu Irrthümern aller Art, die hinterher den ganzen Realismus treffen.

Ich halte es angesichts all' dieser Gefahren für durchaus an der Zeit, in einer übersichtlichen Darstellung diejenigen Puncte herauszuheben, die eigentlich in der Gesammtfülle des modernen naturwissenschaftlichen Materials als wahre Prämissen seiner Kunst den Dichter unmittelbar angehen. Ich möchte dabei ebensoweit von philosophischer Verwässerung wie von fachwissenschaftlicher Detailüberlastung entfernt bleiben. Was sich als Resultat der bisherigen objectiven Forschung ergiebt, möchte ich unter dem beständig beibehaltenen Gesichtspuncte der dichterischen Verwerthung klar darlegen. Das Metaphysische kann ich dabei nur streifen als nothwendigen Grenzbegriff des Physischen. Die Erkenntnisslehren der modernen Naturwissenschaft sind, wie schon gesagt, bisher in die weiten Kreise fast stets als Beiwerk in gewissen Systemen, als Stütze materialistischer oder pessimistischer oder sonst irgendwie auf einen Glauben getaufter Weltanschauungen verbreitet worden. All' diesen Bestrebungen stehe ich durchaus fern. Was der Poet sich über das innerste Wesen der kosmischen Erscheinungen denkt, ist seine Sache. Die Puncte, um die es sich für mich handelt, sind als Wissensgrundlagen massgebend für Alle, so gut wie das Wasser das Product zweier Elemente, des Wasserstoffs und des Sauerstoffs, für jeden vernünftigen Menschen bleibt, mag er nun im Puncte des Gemüthes Christ oder Jude oder Mohammedaner sein oder die heilige Materie anbeten.

Es giebt Dinge darunter, die den Dichter stärker machen werden, als seine Vorgänger waren, wenn er sie in der rechten Weise beachtet. Es giebt auch Dinge, die ein zweischneidiges Schwert sind und mit aller Vorsicht behandelt werden wollen. Im Grossen und Ganzen kann ich nur sagen: eine echte realistische Dichtung ist kein leichter Scherz, es ist eine harte Arbeit. Die grossen Dichter vor uns haben das sämmtlich empfunden, die kommende Generation wird es möglicher Weise noch mehr fühlen. Einen Menschen bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch sich so zum Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, dass er im Stande ist, uns zu interessiren aus mehr als einem Gesichtspuncte, – das ist zugleich das Höchste und das Schwerste, was der Genius schaffen kann. Wie so der Mensch Gott wird, ist darin enthalten, – aber es wird jederzeit auch darin sich offenbaren, wie so er Gottes Knecht ist. Das Erhebendste dabei ist der Gedanke, dass die Kunst mit der Wissenschaft empor steigt. Wenn das nicht werden sollte, wenn diese Beiden fortan im Kampfe beharren sollten, wenn Ideal und Wirklichkeit sich gegenseitig ermatten sollten in hoffnungslosem, versöhnungslosem Zwiste: dann wären die Gegenwart, wie die Zukunft ein ödes Revier und die Mystiker hätten Recht, die vom Aufleben der Vergangenheit träumen. Es ist in Wahrheit nicht so. Ein gesunder Realismus genügt zur Versöhnung, und er erwächst uns von selbst aus dem Nebeneinanderschreiten der beiden grossen menschlichen Geistesgebiete. Dichtung um Dichtung, ästhetische Arbeit um ästhetische Arbeit, alle nach derselben Richtung gestimmt, müssen den Sieg anbahnen. Die rohe Brutalität, von der hitzige Köpfe träumen, wollen wir dabei gern entbehren, – ich meine, die Wissenschaft ist dazu viel zu ernst und die Kunst viel zu sehr der Liebe und des klaren, blauen, herzerwärmenden Frühlingshimmels bedürftig.




Zweites Capitel.

Willensfreiheit


Ich will als Dichter einen Menschen, den ich in eine bestimmte Lage des Lebens gebracht habe, eine Handlung begehen lassen und zwar diejenige, welche ein wirklicher Mensch in gleicher Lage wahrscheinlich oder sogar sicher begehen würde.

Ich will als Kritiker einer Dichtung beurtheilen, ob eine bestimmte Handlung, die ein bestimmter Held dieser Dichtung unter bestimmten Umständen begeht, wirklich richtig, das heisst den Gesetzen der Wirklichkeit entsprechend, erfunden ist.

In beiden Fällen werde ich beim geringsten Nachdenken auf die allgemeine Frage der Willensfreiheit geführt.

Diese Frage aber ist weder eine dichterische, noch eine philosophische, sondern eine naturwissenschaftliche. In ihr kreuzen sich die sämmtlichen Grundfragen der wissenschaftlichen Psychologie, und sie ist meiner Ansicht nach die erste und wichtigste Frage, mit der sich die Prämissen der realistischen Poesie und Aesthetik zu befassen haben.

Die oberflächlichste Anschauung der wahren Dinge in der Welt lehrt, dass die menschliche Willensfreiheit nicht ist, was das Wort nahe legt: eine absolute Freiheit. Wir sehen nicht nur die Macht des Willens physikalisch beschränkt, sondern gewahren auch in dem eigenthümlichen Gefüge und Bau der Gedanken, die den Willen zu irgend etwas schliesslich als äussern Act entstehen lassen, beständig sehr eigenthümliche, subjective Factoren, die in uns sofort das Gefühl eines eingeschränkten Laufes der Gedankenketten entstehen lassen. Genau dieselbe Thatsache erweckt im Geiste verschiedener Menschen verschiedene Gedankenreihen, die oft den genau entgegengesetzten Willen hervorrufen. Eine unbewacht gelassene Casse ruft in einem Gewohnheitsdiebe den Gedanken und in directer Fortsetzung die Handlung des Stehlens, in einem seiner bisherigen Lebensbahn nach durchaus rechtlich gesinnten Menschen höchstens den Gedanken an eine Sicherung und Bewachung zur Verhütung eines Diebstahls hervor. Eine grosse Anzahl von Menschen ist zwar geneigt, gerade den Umstand hier für allgemeine Freiheit zu halten, dass der Eine so, der Andere anders handelt. Der Naturforscher wird sich sagen müssen, dass die gleiche äussere Sache nur einen verschiedenen innern Effect haben kann, weil sie offenbar in dem Innern der beiden geistigen Individuen auf eine ungleiche Disposition trifft, etwa wie in der Physik derselbe Funke, je nachdem er in eine Pulvertonne oder in ein Wasserfass fällt, sehr verschiedene Kräfte auslöst.

Damit ist ein erster, roher Anhaltspunct für die Auffassung psychologischer Vorgänge gewonnen. Wenn ich als Dichter Menschen in Berührung mit äusseren Erscheinungen bringe, so wechselt nicht nur der Wille in den Handlungen der Person je nach den äusser'n Impulsen, sondern er ist auch subjectiv bei den Einzelnen verschieden je nach der Disposition des Geistes, die der Impuls bei Jedem findet.

Die Physiologie giebt uns nun als nächsten Fortschritt über diesen ersten Punct weg die Thatsache an die Hand, dass jede Disposition des Geistes zugleich eine Disposition des stofflichen Untergrundes, des Gehirns, bedeutet.

Die Frage, in welchem Causalitätsverhältniss diese Doppelerscheinungen der geistigen und stofflichen Disposition unter sich wohl stehen möchten, ob der Geist als solcher existire oder bloss eine subjective Rückansicht desselben Dinges sei, das wir äusserlich als Stoff, respective mechanische Kraft uns gegenüber stellen, geht uns hier als eine erkenntniss-theoretische, wissenschaftlich nicht lösbare gar nichts an. Was wir mit Händen greifen können, ist das Zusammenfallen jeder psychischen Erscheinung mit einer molecularen, jedes Gedankens mit einem ganz bestimmten physiologischen Ereignisse innerhalb des nervösen Centralorgans. Dieses leugnen, hiesse rundweg das Gehirn leugnen und die ganze überwältigende Masse künstlicher wie unfreiwilliger Beeinflussungen des psychischen Apparats, die man bei vivisecirten Thieren und verwundeten oder gehirnkranken Menschen durch stoffliche Umwandlungen in der Gehirnmasse hat entstehen sehen. Die Thatsache steht also unbezweifelbar fest: wir können behaupten, wenn bei einer bestimmten Person ein bestimmter äusserer Impuls eine bestimmte Disposition im Gedankengange des Betreffenden vorfindet, so ist diese Disposition zugleich etwas Stoffliches, eine Curve, Furche, reihenweise Gruppirung kleiner Theilchen, Schwingung der Molecüle nach einer bestimmten Richtung oder was man sich sonst denken will in der greifbaren Masse des Gehirns. Das oben gebrauchte Beispiel mag das zur Deutlichkeit nochmals illustriren. Gleicher äusserer Impuls: eine offene Casse. Erfolg bei dem einen Menschen unmittelbar und ohne Wahl eine moralisch verwerfliche Gedankenkette, die endigt mit der Handlung des Stehlens, bei dem andern ebenso unmittelbar eine gute, die ausläuft in die Handlung des Bewachens. Grund: der erste Mensch ist gewöhnt, schlecht zu handeln, seine Gedankenkette schlägt sofort eine bestimmte Richtung ein, die körperlich einem durch Gewohnheit tief ausgefahrenen Geleise entspricht, in das ein neu ankommender Wagen stets mit mechanischer Nothwendigkeit wieder hineinrollt; umgekehrt bei dem gewohnheitsmässig moralischen Menschen geräth die Ideenverbindung unmittelbar in eine ganz entgegengesetzte Linie, die schliesslich den umgekehrten Effect auslöst.

Ich habe das Beispiel so nackt gewählt, wie möglich, – ohne jeden Conflict, was nicht ausschliesst, dass es täglich so vorkäme. Wer oft gestohlen hat, stiehlt wieder; wer in moralischem Denken aufgewachsen ist, kommt für gewöhnlich gar nicht auf den Gedanken, zu stehlen; die Ideenkette lenkt ohne Ablenkungen besonderer Art, die ich hier vernachlässige, stets in dieselben Geleise ein. Das Wort Geleise dürfen wir unbedenklich anwenden, da ja ein stofflicher Vorgang stets mit unterläuft. Geschaffen hat die Geleise, wie sich Jeder schon zur einfachsten Erläuterung dazu sagt: die Gewohnheit. Jede Minute unseres Lebens bringt uns Beweise dafür, – das Wort Gewohnheit, das uns beständig auf der Zunge schwebt, ist eben nur der Ausdruck des Factums, dass die mehrmals aufgestellten Gedankenketten sich ein derartig festes Bett in unserm Denkorgane graben, dass gewisse, nur entfernt daran gemahnende Impulse sie jedesmal mit zwingender Nothwendigkeit wieder hervorrufen und dieselbe Handlung als schliesslichen Effect daraus entstehen lassen. Je ausgefahrener die Geleise nach und nach werden, desto rascher und damit dem Bewusstsein desto undeutlicher saust der Gedanke hindurch, desto unmittelbarer lösen sich Impuls und Willenseffect ab, bis schliesslich der Gedanke gar nicht mehr bewusst wahrgenommen wird und die Handlung sich als rein mechanischer Reflex des Impulses darstellt, – Erscheinungen, die wir täglich am Menschen beobachten können und die beim Thiere, dem die wenigen Eindrücke seines Lebens durch ihre regelmässige Wiederkehr fast alle in der genannten Weise constant und zur Quelle reiner Reflexhandlungen werden, die Regel bilden.

Wenn es auf Grund eines ungeheuren Fortschrittes mikroskopischer Forschung möglich wäre, ein vollkommenes Bild eines beliebigen menschlichen Gehirns, das zu seinen Lebzeiten Gedanken gehegt hat, zu entwerfen, so würde man, wie immer das wahre Antlitz der Sache sich gestaltete, stets auf das schematische Bild einer Ebene kommen, die von Linien ungleicher Dicke durchkreuzt wird, von denen eine Anzahl nur matt angedeutet und halbverwischt, eine gewisse Zahl dagegen äusserst scharf und deutlich erschiene, und der Beschauer würde unmittelbar das Gefühl haben, dass es sich hier um ein Strassensystem handle, bei dem dasselbe obgewaltet, wie bei menschlichen Verkehrswegen: irgend ein äusserer Umstand hat mehrmals die Verkehrenden auf dieselbe Strasse geführt und, einmal ausgetreten, hat diese nun Alle, die nur entfernt nach derselben Richtung wollten, veranlasst, ihrer Linie und keiner andern zu folgen.

Thatsächlich sind wir ja so weit nicht. Das Gehirn, welches wir kennen, bietet uns, was das unmittelbare Sehen anbelangt, ungefähr so viel Anhaltspuncte zur Kenntniss seiner innern Processe, wie dem Astronomen die Oberfläche des Planeten Mars. Wir erkennen auf dieser Länder und Meere, Canäle, die das Festland durchschneiden, atmosphärische Vorgänge, Wolken, Schnee, Eismassen am Pol; das Alles aber kommt so wenig über den groben Umriss hinaus, dass Objecte von der Grösse der Victoria-Nyanza noch gerade als Puncte wahrnehmbar sind.

Unsere Anschauungen vom Wesen der ganzen Gedankenthätigkeit müssen wir, unfähig, die Maschine in ihre Rädchen auseinander zu nehmen und im todten Material zu studiren, abstrahiren aus dem Erfolge, aus der regelmässigen, positiv zu beobachtenden Wiederkehr gewisser gewohnheitsmässiger Gedankenreihen in uns selbst und den Handlungen, die wir täglich bei uns als Folgen dieser zwangsweisen Ideenketten wahrnehmen und bei Andern als solche voraussetzen dürfen. Immerhin ist diese Art der Beobachtung ein vollkommen guter Ersatz für jene.

Für die Freiheit des Willens, von der wir ausgegangen sind, ist jedenfalls – mögen wir nun physiologisch oder psychologisch zu unsern Resultaten gekommen sein – in dem Bestehen der durch Gewohnheit gegrabenen Gedankenstrassen ein bedenkliches Hinderniss gegeben. Der Wille ist Endergebniss eines nicht gestörten, bis zu einer gewissen Intensität angeschwollenen Gedankens, – wenn der Gedanke aber in seinem Flusse sich in den meisten Fällen einem gegrabenen Bette anschmiegen muss, so kann in allen diesen von einer Freiheit des endlichen Willens keine Rede mehr sein, und man braucht noch gar nicht auf jene oben erwähnten, ganz reflectorisch gewordenen Willensacte zurückzugehen, um auf Schritt und Tritt diesen einfacheren hemmenden Einflüssen zu begegnen.

Die wichtigste Frage scheint also, um hier Klarheit zu schaffen, die nach der Natur der Gewohnheit zu sein. Es gilt festzustellen, was sich unter diesem Begriffe, der die Willensfreiheit in so frappanter Weise bedroht, für einzelne Factoren verstecken und ob in dem einen Worte, das der Gebrauch selbst geschaffen, nicht Verschiedenartiges sich birgt. Gewohnheit ist, so haben wir physiologisch definirt, langsame Einprägung einer bestimmten Furche (psychologisch: Denkrichtung) im Gehirn, die durch eine längere Folge gleichartiger Wahrnehmungen erzeugt wird. Woher kommt eine derartige Gleichartigkeit der Wahrnehmungen? Zunächst aus der Einrichtung der Natur, die uns trotz der unendlichen Fülle ihrer Erscheinungen doch gewisse Phänomene in ewiger Regelmässigkeit wiederkehren lässt, die beständig gleiche Wahrnehmungen in uns hervorrufen. In zweiter Linie aber aus einem Umstande, der den Culturmenschen mit verschwindenden Ausnahmen fest und unerbittlich umklammert hält: der Erziehung. Wir sind nicht neu geschaffene Wesen, die bloss die Natur sich gegenüber haben. Wir gehören einer Gesellschaft an, die ebenfalls aus Menschen mit einem, dem unsern ähnlichen Denkapparate besteht. Wir sind jung, die Tafel unseres Gehirnes ist noch kaum beschrieben. Jene Menschen, die vielleicht unsere Erzeuger, jedenfalls als Erwachsene unsere Meister sind, sind in ihrem Denken bereits erfüllt mit jenen festen Linien, jenen Geleisen des Gewohnten, und sie fühlen sich wohl dabei. Ihr Bemühen geht dahin, in unser Gehirn dieselben Linien zu prägen. Unfähig, unmittelbar zu wirken, beschreiten sie den Umweg durch die wiederholten Wahrnehmungen, aber in der Weise, dass sie bestimmte Wahrnehmungen – eben jene, die ihren Gedankenlinien die bequemen sind – auswählen und uns so lange einseitig vorführen, bis sich in unserm Gehirn die gleiche Linie, wie bei ihnen, gebildet hat und wir ihre wahren geistigen Kinder sind. Mit andern Worten heisst das: wir erhalten die grosse Masse unserer gewohnheitsmässigen Gedanken durch Unterricht, durch Schulung. Der Werth dessen, was uns vermittelst derselben im Gehirn eingeritzt wird, ist dabei ganz gleichgiltig, es kann die höchste Moral oder die äusserste Unmoral sein: von einem gewissen Puncte ab ist die Gedankenübertragung gelungen, die Linie angelegt, und es bedarf fortan nur der leisesten Aehnlichkeit in einer Wahrnehmung mit jenen früheren, um sofort den ganzen Gedankenapparat nach der eingeprägten Richtung hin in Thätigkeit zu setzen.[1 - Sehr lehrreich für das ganze Gebiet der Gedankenübertragung sind die hypnotischen Experimente, die gewiss auch für den Dichter ein gewisses Interesse haben müssen. Ganz energisch aber ist zu verlangen, dass jeder Verwerthung derartiger Erscheinungen ein kritisches Verständniss und Studium vorausgehe. Es handelt sich hier durchaus nicht um ein Stück jener behaglichen Mystik, bei der alle Menschen, denen einmal etwas Unerklärliches vorgekommen, den Beruf fühlen, mitzusprechen, sondern um exacte wissenschaftliche Gegenstände, die, eben weil sie von der grössten Tragweite sind, auch die vorsichtigste Behandlung erfordern. Wen der Schleier des Unbegreiflichen allein verlocken sollte, der wird bei sorgfältiger Kenntnissnahme dann schon von selbst merken, wie wenig seine Neugier belohnt wird.]





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Sehr lehrreich für das ganze Gebiet der Gedankenübertragung sind die hypnotischen Experimente, die gewiss auch für den Dichter ein gewisses Interesse haben müssen. Ganz energisch aber ist zu verlangen, dass jeder Verwerthung derartiger Erscheinungen ein kritisches Verständniss und Studium vorausgehe. Es handelt sich hier durchaus nicht um ein Stück jener behaglichen Mystik, bei der alle Menschen, denen einmal etwas Unerklärliches vorgekommen, den Beruf fühlen, mitzusprechen, sondern um exacte wissenschaftliche Gegenstände, die, eben weil sie von der grössten Tragweite sind, auch die vorsichtigste Behandlung erfordern. Wen der Schleier des Unbegreiflichen allein verlocken sollte, der wird bei sorgfältiger Kenntnissnahme dann schon von selbst merken, wie wenig seine Neugier belohnt wird.



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