Книга - Der Sinn und Wert des Lebens

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Der Sinn und Wert des Lebens
Rudolf Eucken




Rudolf Eucken

Der Sinn und Wert des Lebens



Die Wohnung des Lebens

sind viel weiter denn die

Wohnungen des Todes.

    Luther.






Vorwort zur ersten Auflage


Mit einer Behandlung der Frage nach dem Sinn und Wert des Lebens suche ich die inneren Probleme der Gegenwart jedem einzelnen möglichst nahe zu bringen und ihn zur Teilnahme daran zu gewinnen. Solche Fassung der Aufgabe zog der philosophischen Erörterung bestimmte Grenzen: daß es aber innerhalb dieser Grenzen genug zu klären gibt, das hofft die Untersuchung selbst zu zeigen. Dem einen oder anderen Leser wird vielleicht der erste kritische Teil zu weit ausgesponnen scheinen. Aber es konnte die entscheidende Hauptthese, an der die Möglichkeit einer Wiederbefestigung des Lebens und einer Verjüngung der Kultur hängt, ihre volle Überzeugungskraft nur erlangen, wenn sie als der einzig mögliche Weg zum Ziele erwiesen war; dafür aber war jene Kritik unentbehrlich, sie steht nicht neben, sondern in der Sache.

Jena, Dezember 1907.




Vorwort zur fünften Auflage


Zwischen der vierten und der fünften Auflage liegt der Beginn und der Verlauf des Weltkriegs; notwendig mußten seine Eindrücke und Erfahrungen auch auf das Gesamtbild des menschlichen Lebens wirken, und solche Wirkung mußte sich auch auf eine Untersuchung erstrecken, welche sich mit dem Sinn und Wert des Lebens befaßt. So ist denn diese neue Auflage aufs gründlichste umgestaltet, ja völlig erneuert worden, ganze Abschnitte sind stark verkürzt, andere neu hinzugefügt worden, das Ganze ward straffer zusammengefaßt und mehr in den Dienst eines einzigen Hauptgedankens gestellt. So wenig ich meine Grundanschauungen zu verändern brauchte – die Erfahrungen des Krieges haben sie nur bestätigt – , ihre Darstellung mußte kräftiger werden, die Gegensätze waren schärfer zu scheiden, die Forderungen deutlicher herauszuheben. So hoffe ich, daß das Buch an innerem Leben gewonnen hat, und daß zugleich sein Verhältnis zur Gegenwart in Ja und Nein enger geworden ist. Mein Hauptwunsch geht dahin, in unserer wirren Zeit möchte es suchenden und kämpfenden Seelen irgendwelche Förderung bringen.

Jena, im Juli 1917.



    Rudolf Eucken.




Einleitung


Die Frage nach einem Sinn und Wert des Lebens macht ruhigen Zeiten wenig Sorge, da dann die Umwelt dem Einzelnen einen festen Lebenszusammenhang zuführt, ihm darin einen sicheren Halt und eine Antwort auf etwaige Zweifel gibt; sie wird erst dringend, wenn über den Grundstock des Lebens eine Unsicherheit entsteht, wenn sich in ihm Spaltungen bilden und das Handeln nach verschiedenen Richtungen ziehen. Dann müssen wir wohl oder übel unsere Zuflucht zum eigenen Denken nehmen, dann müssen wir suchen, mit seiner Hilfe wieder eine Hauptrichtung des Lebens zu gewinnen und in der Arbeit dafür eine Wehr und Waffe gegen all das Dunkle und Feindliche, das unaufhörlich auf uns eindringt. So erweist das Fragen und Mühen um einen Sinn und Wert des Lebens immer einen geistigen Notstand, einen solchen erweist es auch heute. Dieser Notstand ist keineswegs eine bloße Folge des Krieges, er reicht weit hinter ihn zurück und ist aus dem Ganzen des modernen Lebens mit Notwendigkeit hervorgegangen. Dieses Ganze hat sich in verschiedenartige Ströme gespalten, die auseinandergehende Richtungen verfolgen und abweichende Wertschätzungen enthalten. Namentlich stehen hier gegeneinander eine unsichtbare und die sichtbare Welt. Der früheren Zeit galt jene als der Kern der Wirklichkeit und als der Hauptstandort echten Lebens, während die Neuzeit mehr und mehr die sichtbare Welt auch zur geistigen Heimat des Menschen macht und alle seine Ziele von ihr erhofft. Innerhalb der Hauptrichtungen aber erschienen weitere Unterschiede und trieben das Leben auseinander, das freudige Ja der einen wurde den anderen zum herben Nein, eine peinliche Unsicherheit griff um sich und mußte zur Schwächung alles Strebens wirken, das die Notwendigkeit des Lebens und die selbstischen Zwecke überschreitet. So mußte die Menschheit bei aller Fülle äußerer Berührungen sich innerlich mehr und mehr zerwerfen und ein gegenseitiges Verständnis verlieren. Ernsteren Seelen waren diese Gefahren schon vor dem Kriege deutlich geworden, und an Bemühungen, sie zu überwinden, hatte es nicht gefehlt. Aber die Breite der Zeit fühlte sich viel zu sehr in reichem Kulturbesitz und wurde durch die Befassung mit ihm viel zu sehr festgehalten, um diesen Fragen viel Aufmerksamkeit zu schenken; so blieb das Mühen um sie im Hintergrunde und erlangte nicht die nötige Kraft. Der Krieg hat die Lage weiter verschärft, er stempelt die willenlose Ergebung in die Widersprüche des Daseins zu flacher und niedriger Art. Er zeigt uns handgreiflich die völlige Abhängigkeit unseres Lebens und Strebens von dunklen Geschicken, er zeigt die Menschheit bei sich selbst gespalten und bis zu wildem Haß verfeindet, er zeigt im Völkerleben eine häßliche Mischung moralischer Unlauterkeit und intellektueller Schwäche, er zeigt freilich auch viel Kraft in den Völkern und viel Aufopferungsfähigkeit für gemeinsame Zwecke, aber im Gesamteindruck stellt er die Lage der Menschheit als höchst verworren und ihr Streben als eines deutlichen Zieles entbehrend dar, er erschüttert aufs stärkste den Glauben an das Walten einer Vernunft bei ihr. Einer so verworrenen Lage gegenüber versagt alles bloße Grübeln und Deuten, Scharfsinn und menschlicher Witz werden uns nicht von ihr befreien; die einzige Hoffnung einer Rettung besteht darin, daß durch alles menschliche Meinen und Suchen hindurch eine tiefer gegründete Tatsächlichkeit im Leben waltet, auch uns sich eröffnet und unser Handeln zu sicheren Zielen leitet. Dieser Tatsächlichkeit den Weg zu bahnen, zunächst der Richtung inne zu werden, in der sie zu suchen ist, das muß einer Selbstbesinnung zur Aufgabe werden. Sie kann das aber nicht tun ohne vorherige Orientierung über den heutigen Lebensstand mit all seinem Durcheinander. Denn was an vermiedenen Strömen wirkt und sich gegenseitig zu hemmen droht, das sind keineswegs bloße Lehren, die sich behaupten und zurücknehmen lassen, sondern das enthält tatsächliche Leistungen, Bewegungen des Lebens selbst, Konzentrationen, welche ihrem ganzen Bereich eine eigentümliche Beschaffenheit verleihen; wir kämpfen daher nicht um bloße Deutungen eines gegebenen Lebensstandes, sondern wir kämpfen um den Lebensstand selbst, wir kämpfen nicht um Bilder, sondern um Wirklichkeiten. Die Verwicklung aber stellt sich nun dahin, daß jede einzelne dieser Lebensentfaltungen Berechtigtes und Wertvolles enthält, das, einmal belebt, sich nicht wieder aufgeben läßt, daß sie aber, anscheinend untrennbar, mit diesem anderes verquickt, was wir unmöglich festhalten können, wovon wir uns befreien müssen. Daß so Notwendiges und Unmögliches bei uns zusammentrifft und vielfach ineinander verfließt, das versetzt uns in ein peinliches Schwanken zwischen dem Ja und dem Nein; wir sehen nicht, wo das eine sich gegen das andere abgrenzt, wir werden nach dem Wechsel der Stimmung bald hierher, bald dorthin gezogen. Um so mehr bedürfen wir einer überlegenen Tatsächlichkeit, die uns Wahres und Falsches scheiden, das Wahre aber miteinander verbinden und mutig in den Kampf führen lehrt. Ohne den Glauben an das Bestehen und das Wirken einer solchen Tatsächlichkeit wäre alles Streben nach Rettung vergeblich, auch unsere Untersuchung ruht auf einem solchen Glauben, sie wird getragen von der Überzeugung, daß in der Tiefe des Lebens Notwendigkeiten walten, die nicht an menschlicher Meinung hängen. Im Vertrauen auf solche Notwendigkeiten beginnen wir unser Werk.




Die Antworten der Zeit





Die älteren Lebensordnungen





Die religiöse Lebensordnung


Von den verschiedenen Lebensordnungen, die den Menschen der Gegenwart umwerben, wirkt am stärksten auf das Ganze noch immer die der Religion. Ein Erbe uralter Zeiten hat die Religion durch besondere Erfahrungen des ausgehenden Altertums eine herrschende Stellung erlangt; jene Zeiten ließen den Menschen sowohl die Nichtigkeit des gewöhnlichen Lebens als das eigene Unvermögen mit peinlicher Schärfe empfinden und erfüllten ihn zugleich mit einer tiefen Sehnsucht nach einem neuen Leben, ja einer neuen Welt. Ein solches Leben hat in unserem westlichen Kulturkreise das Christentum ausgebildet, es hat, nachdem das leidenschaftliche Verlangen nach Rettung der Seele sich später geklärt und gemildert hatte, ein religiöses Lebenssystem geschaffen und ihm alle Kulturarbeit angefügt; dies Lebenssystem hat durch die Kette der Jahrhunderte hindurch seine Macht bis zur Gegenwart behauptet und hält auch heute den Anspruch auf Beherrschung der Seelen noch aufrecht.

Diese religiöse Lebensordnung setzt mit einer heroischen Kraft die Welt, die uns umgibt, zu einer niederen herab und macht eine unsichtbare Welt des Glaubens und des Gemütes zur geistigen Heimat des Menschen; zugleich vollzieht sie eine energische Konzentration, indem sie zum alleinigen Ziel des Lebens und Strebens die Einigung mit dem Geist vollkommener Macht, Weisheit und Güte erhebt. Mit ihrer Einführung absoluter Maße wird sie der Quell aller Erhabenheit, die das menschliche Leben kennt, zugleich aber läßt sie, und sie allein, das Leben eine reine Innerlichkeit, ein volles Beisichselbstsein, gewinnen, indem es hier an erster Stelle ein Verhältnis von endlichem und unendlichem Geiste wird. Aus solcher Innerlichkeit vermag es den Menschen unvergleichlich mehr sich selbst zu erschließen, und lehrt es zugleich die Menschen sich gegenseitig besser verstehen und inniger miteinander fühlen. Das hier entwickelte Leben hat bei seinem Wurzeln in göttlicher Liebe eine große Weichheit und Zartheit, aber der Liebe verbindet sich eng die Heiligkeit einer sittlichen Ordnung und gibt dem Leben bei aller Innigkeit einen unermeßlichen Ernst.

In diesem Zusammenhange durfte der Mensch von sich und seinem Tun aufs Höchste denken. Als Ebenbild Gottes bedeutete er den Mittelpunkt der Wirklichkeit, um den sich das All bewegte, und dessen Tun über seine Geschicke entschied. Wohl hatte der Einzelne sich dem Ganzen des Gottesreiches gliedmäßig einzufügen, aber zugleich bildete er einen eigenen Kreis und wurde als ein Selbstzweck behandelt; zur Vollendung des Ganzen, das kein Glied missen durfte, gehörte auch seine Rettung.

Diesem Leben fehlte es nicht an Sorgen, Nöten und Schmerzen, die Höhe der Forderung und der weite Abstand des Menschen verhinderten alles bequeme Behagen und alles spielende Glück, ja das Gewicht von Leid und Schuld schien mehr zu wachsen als abzunehmen. Aber die Grunderfahrung der Religion, die Befreiung von drückender Schuld und die Schöpfung eines neuen Lebens durch göttliche Liebe und Gnade, hob den Menschen über den ganzen Bereich von Kampf und Not hinaus; die Einigung mit Gott ließ ihn ein vollkommenes Leben und hohe Seligkeit teilen, in die freilich für den Menschen immerfort der überwundene Schmerz hineinklingt. Wohl verblieb der Widerstand einer gleichgültigen, ja feindseligen Welt, aber in Zweifel versetzen und das Streben lähmen konnte er nicht. So war es kein leichtes Leben, das hier entstand, aber es war ein Leben voller Bewegung und in sicheren Zusammenhängen, es war kein leeres, kein sinnloses Leben.

So hat die religiöse Lebensordnung lange Jahrhunderte beherrscht, sie hat Individuen und ganze Völker verbunden, sie hat unzähligen Seelen sowohl eine kräftige Aufrüttelung als seligen Frieden gebracht. Ihr eigentümlich sind besonders die schroffen Kontraste, worin sie das menschliche Leben versetzt: die Gottheit zugleich in weltüberlegener Hoheit und in nächster seelischer Nähe (»Gott ist mir näher als ich mir selber bin«, Meister Eckhart), der Mensch verschwindend klein und doch zur Gemeinschaft mit dem Höchsten berufen, Liebe und Ehrfurcht, Milde und Ernst eng miteinander verflochten, tiefes Dunkel und strahlendes Licht, Elend und Seligkeit sich gegenseitig steigernd, ein Aufstieg zum Ja durch ein Nein hindurch, eine volle Anerkennung, aber zugleich auch Heiligung des Leides, in dem allen eine starke Bewegung, die allererst der Seele des Einzelnen wie dem Leben der Menschheit eine wahrhaftige Geschichte eröffnet und diese zum Kern aller Wirklichkeit macht, ein unablässiges Hinausstreben über alle Gegenwart bloßer Zeit, aber zugleich ein sicheres Ruhen in einer gegenwärtigen Ewigkeit. Eine so heroische Größe und zugleich eine solche Innigkeit hat das Leben an keiner anderen Stelle erreicht.

Trotzdem haben sich gegen dieses Leben starke Zweifel erhoben, Zweifel nicht bloß aus eitler Widerspruchslust flacher Seelen, sondern auch aus dem heiligen Ernst eines Ringens um lautere Wahrheit. Bedenken entstanden zunächst aus der eingreifenden Veränderung, welche seit Beginn der Neuzeit das Bild der Natur und bald auch das der Geschichte empfing, es ergab das wachsenden Widerspruch nicht nur an einzelnen Stellen, wie bei der Frage der Wunder, sondern die ganze Welt der Religion konnte von hier aus als zu eng und mit viel menschlicher Zutat behaftet erscheinen. Dieser Widerspruch der Weltbetrachtung läßt sich überschätzen, er läßt sich aber auch unterschätzen. Sicherlich ist Religion etwas anderes als bloße Weltanschauung, aber einen Widerspruch mit gesicherten Zügen des Weltbildes kann auch die Religion nicht ohne schweren Schaden ertragen; ihre Wahrhaftigkeit leidet darunter, wenn sie einer Auseinandersetzung mit ihm aus dem Wege geht. Tiefer freilich geht die schärfere Scheidung der geistigen Arbeit vom menschlichen Seelenstande, wie das moderne Denken sie vollzogen hat. Der Mensch konnte danach als ein Sonderwesen erscheinen, das ganz unfähig ist, die Welt in seine Begriffe zu fassen und ihre Tiefen zu ergründen; die Religion erschien von da aus leicht als ein bloßes Hineintragen menschlicher Bilder und Wünsche in das All, sie konnte diesem Gedankengange schließlich als ein bloßes Wahnbild erscheinen. Aber gegen das alles hätte sich kämpfen und die Grundwahrheit der Religion auch gegen den schroffsten Widerspruch durchsetzen lassen, wäre das Ganze des Lebens in der Verfassung geblieben, aus der die Wendung zur Religion hervorging. Hier aber war ein Umschlag erfolgt, der den Gesamtstand völlig verschob. Jene Wendung war in einem Bruch mit der nächsten Welt entstanden, zu einer Zeit, wo die Menschheit den Glauben an sich selbst und ihr Vermögen verloren hatte, wo sie im besonderen einen schweren moralischen Zwiespalt empfand, und wo nur das Ergreifen einer neuen Welt ihre geistige Vernichtung schien verhüten zu können. Nun aber hatten neue Völker in langen Jahrhunderten der Erziehung neue Kraft gesammelt, und diese Kraft strebte mit dem Beginn der Neuzeit nach voller Betätigung, die nächste Welt wurde ihr zum willkommenen Vorwurf, und das Wirken in ihr drängte die moralischen Probleme, drängte im besonderen den moralischen Zwiespalt der Seele weit in den Hintergrund. Wenn aber solche Wandlung des Lebensgefühls kein starkes Verlangen nach einer Erlösung und völligen Umwandlung aufkommen ließ, so verlor die Religion ihre seelische Nähe und ihre Überzeugungskraft; die Gefahr entstand, daß sie mehr als ein Erbstück der Vergangenheit fortgeführt wurde, als aus eigener Erfahrung hervorging, ja daß sie als eine bloß gesellschaftliche Einrichtung erschien und als solche aus Gründen der Wahrhaftigkeit hart angefochten wurde. Eine derartige Bewegung hat sich von der Höhe der Gesellschaft, wo sie entstand, immer mehr in die breiten Massen gesenkt; wie weit sie auch bei uns Deutschen um sich gegriffen hat, das würde noch deutlicher zutage treten, wenn nicht die sehr problematische Hilfe, welche bei uns der Staat der Religion noch immer zukommen läßt, den wirklichen Stand der Dinge schonend verdeckte. Auch dürfen wir nicht erwarten, daß der gegenwärtige Weltkrieg diese Lage wesentlich ändert. Gewiß bringt er mit seinen ungeheuren Gefahren und schweren Verlusten einen großen Ernst in die Stimmung und lenkt zwingend die Gedanken auf die Fragen des Geschicks und der Bestimmung des Menschen, auf die Fragen von Zeit und Ewigkeit. Aber einer einfachen Beantwortung dieser Fragen im Sinne der überkommenen Religion widerspricht der unabweisbare Eindruck des Wirkens eines dunklen Schicksals, das unbekümmert um menschliches Wohl und Wehe nur die blinde Notwendigkeit walten läßt, den einen opfert, den anderen rettet, wie es sich eben trifft. Auch das gewaltigste äußere Ereignis kann ohne ein inneres Entgegenkommen keine seelische Wandlung erzeugen; so dürfte auch dieser Krieg auf die Seelen verschieden wirken, je nachdem was sie an ihn bringen: er wird die Gläubigen gläubiger und die Ungläubigen ungläubiger machen; er wird die Religion wieder mehr als eine unabweisbare Frage empfinden lassen, aber eine Frage ist keine Antwort.

So kann es scheinen, als sei die Zeit der religiösen Lebensordnung abgelaufen, und als müsse die Religion als ein irreleitender Wahn aus dem menschlichen Leben verschwinden. Aber so einfach, wie ihre Gegner sich die Sache denken, ist diese nicht. Denn die Religion hat weit über alle Lehren und Einrichtungen hinaus in den Grundbestand des menschlichen Lebens eingegriffen und ihm Weiterbildungen gebracht, deren Preisgebung es einer kläglichen Verarmung ausliefern würde. Von ihr kam eine Befreiung von dem schweren Druck des Daseins, das uns sonst unbarmherzig umklammert; sie eröffnete mit ihrer Erhebung über dieses und ihrer Erschließung einer neuen Welt die einzige Möglichkeit, alles Unzulängliche und Verfehlte des menschlichen Lebensstandes vollauf anzuerkennen, ohne darüber die Festigkeit des Glaubens und den Mut des Handelns einzubüßen; mit ihrer Umkehrung des Lebens wurde sie ein Quell heroischer Größe und mit ihrer Vorhaltung absoluter Maße eine gewaltige Kraft der Aufrüttelung und nimmer fertigen Bewegung; die einzigartige Stellung, welche gemeinsame Schätzung der Menschheit der moralischen Aufgabe zuerkennt, rechtfertigt sich vollauf nur in der Welt der Religion; dazu ihre Entfaltung reiner Innerlichkeit – auch die eigentümlich deutsche Färbung des Ausdrucks Gemüt ist der Religion zu verdanken – , sowie ihr Vermögen, den Menschen wie der Menschheit der kaum erträglichen Vereinsamung in einem seelenlosen Weltall zu entziehen, der sie sonst verfallen sind; – wahrlich, wir können die flachen Seelen nur bedauern, die ohne Schaden und Schmerz glauben das alles aufgeben zu können; jedenfalls sind sie mit ihrer Flachheit nicht die berufenen Vertreter der Menschheit, und bringt ihre leichtherzige Verneinung die Sache nicht schon zum Abschluß. Aber zugleich bleibt alles bestehen, was sich gegen die Religion an Bedenken und Zweifeln erhob; so steht das Geistesleben der Gegenwart zwischen dem Ja und dem Nein in haltloser Mitte, und es ist uns die Religion, mit ihr auch die religiöse Lebensordnung, aus einem festen Besitz zu einem schweren Problem geworden; auch das Ewige, was sie enthalten mag, hat sich der Gegenwart neu zu bewähren, es ist zu einer offenen Frage geworden.




Die Lebensordnung des weltlichen Idealismus


Die Verwicklungen der Religion zu vermeiden, ohne die Tiefe des Lebens zu mindern, glaubt ein der Welt zugekehrter, sie umfassender und durchdringender Idealismus, ein Idealismus, der mit seiner Entfaltung einer Geisteskultur seit Jahrtausenden eine selbständige Art neben der Religion entwickelt, bald sie freundlich ergänzend, bald ihr als Feind begegnend. Die Lebensordnung des Mittelalters hatte diesen Idealismus ihren eigenen Überzeugungen angegliedert, die Neuzeit gab ihm eine wachsende Selbständigkeit, so daß er sich schließlich der Religion überlegen fühlte und ihr die Beherrschung des Lebens bestreiten konnte. Auch dieser Idealismus nimmt seinen Standort in einer unsichtbaren Welt, aber ihm bedeutet diese nicht ein neben dem sinnlichen Dasein befindliches, von ihr abgelöstes Reich, sondern seinen eigenen Grund, seine belebende Seele; daß das All nicht in das Nebeneinander der einzelnen Erscheinungen aufgeht, sondern eine dem äußeren Auge verborgene Tiefe besitzt, daß es ein Ganzes bildet und ein inneres Leben führt, das ist die Grundüberzeugung, mit der diese Lebensordnung steht und fällt. Aus solcher Überzeugung verbindet dieser Idealismus den Menschen eng mit dem All und läßt ihn sein Leben aus diesem schöpfen, aber zugleich gewährt er ihm eine einzigartige Stellung und ein ausgezeichnetes Werk. Denn alles Untermenschliche scheint das Leben bewußtlos und aus dunklem Zwange zu führen, es verwandelt das Vermögen des Ganzen nicht in den Besitz der einzelnen Stelle; dies aber geschieht beim Menschen, der den Gedanken des Ganzen denkt und dieses selbst damit weiterführt. Erst bei ihm erhebt sich die Welt zu voller Klarheit und Freiheit und erlangt damit ihre Vollendung; der Mensch darf groß von sich denken, indem sein Wirken so viel für das Ganze bedeutet.

Diese Lebensordnung bewegt sich vornehmlich um den Gegensatz von Innerem und Äußerem, von unsichtbarer und sichtbarer Welt. Das Innere hat als der Hauptträger des Lebens das Äußere zu ergreifen und zu beseelen, es tut das namentlich in Kunst und Wissenschaft, aber auch durch Entwicklung einer in der menschlichen Natur angelegten Moral; das Äußere aber ist unentbehrlich, um das Innere von mattem Umriß zu voller Durchbildung zu bringen. So entsteht ein geistiges Schaffen, das, getragen von einer Weltvernunft, gegenüber der gebundenen Natur, auch gegenüber der äußeren Ordnung des Menschenlebens, wie die Zivilisation sie vertritt, ein höheres Leben schafft, eine Geisteskultur, deren Wahres, Schönes, Gutes den Menschen den reichsten Gehalt gewinnen und den ganzen Umkreis des Daseins veredeln läßt. Dieses Leben bedarf keines außer ihm gelegenen Lohnes und ist nicht auf einen Nutzen gerichtet, es findet vollste Befriedigung in seiner eigenen Entfaltung und freudigen Selbstanschauung; bei unablässigem Wirken ruht es sicher im eigenen Wesen und bewahrt bei allem Streben ins Weite einen beherrschenden Mittelpunkt.

Dies Leben ist verschiedener Färbungen fähig, je nachdem Wissenschaft, Kunst oder Moral den leitenden Grundton geben, und an Kämpfen im eigenen Bereich hat es ihm nicht gefehlt. Aber alle Mannigfaltigkeit beläßt ihm der Religion gegenüber eine eigentümliche Art. Die Religion ist mehr auf die Schärfung, die Weltkultur mehr auf die Ausgleichung der Gegensätze bedacht; jene richtet das Leben auf einen Punkt, diese gibt ihm mehr Weite; jene sieht mehr Schwäche und Kleinheit, diese mehr Kraft und Größe am Menschen; ist sie es doch, die vor allem das Menschsein zu einem hohen Wertbegriff erhoben und Achtung vor allem geweckt hat, was menschliches Angesicht trägt; jene findet den Weg zur Lebensbejahung erst durch schwere Erschütterung und herbe Verneinung hindurch, diese glaubt sie durch vollste Anspannung eigener Kraft unmittelbar vollziehen zu können; jener gilt das Böse mehr als eine Verderbtheit, dieser dagegen als eine Schwäche und Mattheit des Wollens. Vielleicht mag ein Leben weiterer Art den Gegensatz umspannen und zu einer Ausgleichung führen, zunächst ist ein weites Auseinandergehen nicht zu verkennen.

Dieser weltliche Idealismus gewann eine besondere Höhe im altgriechischen Leben; im Mittelalter ein bloßer Nebenstrom, brach er in der Neuzeit mit frischer Kraft hervor, aus ihm entsprang bei uns Deutschen die Epoche geistigen Schaffens, welche wir unsere klassische nennen, und die uns den Ruf eines Volkes der Dichter und Denker eintrug.

Von den reichen Schätzen, welche die Gesamtbewegung des weltlichen Idealismus mit ihrer Geisteskultur erzeugte, zehren wir heute alle, und können uns gar nicht denken, wie sie zu entbehren wären. Aber mit dem Anspruch, das Leben zu führen, ist es dem weltlichen Idealismus nicht anders ergangen als der Religion: die Grundlage wurde erschüttert, das Grunderlebnis verdunkelt; so erhielten feindliche Mächte die Oberhand und vertrieben diese Gestaltung aus dem Mittelpunkte des Lebens. Daß die Welt eine Tiefe habe, und daß diese dem Menschen zugänglich sei, das ist jetzt dem vorwiegenden Zuge des Lebens nicht minder zweifelhaft geworden als die Grundwahrheiten der Religion. Der weltliche Idealismus hatte stets Mühe, seine Behauptung in vollem Sinne zu erhärten. Eine sichere Überzeugungskraft gaben ihm nur besondere Höhepunkte geistigen Schaffens, seltene Sonn- und Festtage der Menschheit, wo eine Gunst des Schicksals mit hohen Aufgaben der weltgeschichtlichen Lage selbstwüchsige Persönlichkeiten großen Stils zusammenführte; dann wurde allerdings eine unsichtbare Tiefe der Welt zu allergewissester Nähe und zum sicheren Standort des Handelns. Aber solche schaffenden Zeiten sind Ausnahmezeiten, und der Alltag übt sein Recht, jenes hohe Leben sinkt und zugleich sein Vermögen, den ganzen Menschen an sich zu ziehen und einzunehmen; aus der eigenen Betätigung wird dann ein bloßes Aneignen und Genießen überkommener Schätze, es verflacht damit das geistige Schaffen unvermeidlich zu einer bloßen Bildung, einer geschmackvollen Formung des Lebens; gewiß hat auch eine solche ihren Wert, aber sie bewegt nicht die letzten Tiefen des Lebens, und sie ist dem Dunklen, ja Dämonischen in der Menschennatur bei weitem nicht gewachsen; sie befreit nicht genügend von innerer Leere, und sie erleidet leicht dadurch Schaden an ihrer Wahrhaftigkeit, daß sie oft weniger aus einer Notwendigkeit eigenen Verlangens als der sozialen Umgebung halber gesucht wird. Alles in allem erscheint die Bildung mehr als ein Leben aus zweiter Hand, ein solches aber kann schwer den Angriffen Widerstand leisten, welche der Grundbehauptung erwachsen.

Der Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts hat diese Angriffe mächtig anschwellen lassen. Zunächst wirkt die Erschütterung der Religion auch zu einer Schwächung des weltlichen Idealismus. Denn seine Überzeugung von einer Tiefe des Alls und von dem Walten eines unsichtbaren Ganzen hat die Menschheit meist nur im Anschluß an eine religiöse Überzeugung gewonnen, nur eine solche machte den Bruch mit der sichtbaren Welt auch dem Einzelnen zur zwingenden Notwendigkeit, und die Veredlung, welche jener Idealismus an der Welt vollzieht, ist kaum denkbar ohne das verklärende Licht, das die Überwelt der Religion auf diese wirft; je mehr die Zurückdrängung der Religion dieses Licht verblassen läßt, desto mehr verliert auch jener seine leitende Stellung im Leben, wird er aus dessen Mittelpunkte an die Außenseite gedrängt. Sodann aber hat die neueste Zeit der sichtbaren Welt eine Selbständigkeit gegeben, welche sie nie zuvor für uns hatte; immer energischer hat die wissenschaftliche Arbeit aus ihr alles Seelenleben vertrieben, dafür aber ein neues Reich reiner Tatsächlichkeit eröffnet und aus ihm eine überströmende Fülle neuer Aufgaben abgeleitet, deren Lösung das menschliche Wohlsein aufs erheblichste zu steigern verspricht. Zugleich hat die Forschung die Besonderheit und Gebundenheit des menschlichen Lebens und Strebens aufs stärkste hervorgekehrt, es scheint ihr in enge Schranken gebannt und dadurch gänzlich verhindert, jene Welt starrer Tatsächlichkeit sich innerlich anzueignen und ihre Unermeßlichkeit als ein Ganzes zu erleben; sie wird bei aller äußeren Annäherung unserer Seele immer fremder. Kann ein solcher Gedankengang im Menschen den Vollender des Weltalls sehen? Aber mehr als alles das widersprechen dem weltlichen Idealismus im modernen Leben die Erfahrungen innerhalb der Menschheit selbst. Es erschien hier so viel wilde Leidenschaft und unbegrenzte Selbstsucht, so viel Kleinheit der Gesinnung, so viel moralische Unlauterkeit, so viel Mangel an geistiger Größe und an Kraft der Persönlichkeit, es stellte sich das menschliche Dasein so sehr als ein wirres Chaos dar, daß alle Hoffnung verflog, in ihm ein Reich der Vernunft entdecken oder es in ein solches verwandeln zu können. Wie vermöchte sich aber bei solcher Lage geistiges Schaffen und edle Bildung als der Kern des Lebens zu behaupten? Auch der gegenwärtige Krieg muß den Eindruck ihrer Ohnmacht über die menschliche Seele verstärken. Wäre eine gemeinsame Vernunft die Grundkraft menschlichen Lebens, so müßte sie die Menschheit zusammenhalten und einen etwaigen Zwiespalt rasch überwinden, sie müßte allem Rohen und Gemeinen siegreich widerstehen, das an einzelnen Stellen erscheinen möchte. Deutlich genug aber sehen wir, daß das keineswegs geschieht. Was hilft uns dann aber jene Geisteskultur mit ihrer gepriesenen Bildung? Ist sie nicht bloß ein gefälliger Schein, mit dem sich das menschliche Leben umkleidet, um seine nackte Gestalt zu verhüllen? Und lohnt es sich dann, so viel Muße und Arbeit an diesen Schein zu verwenden? So ist es kaum zu verhüten, daß viel Geringschätzung dieses weltlichen Idealismus aufkommt und um sich greift. Und doch haben wir uns zu hüten, solcher Stimmung nachzugeben und die Güter geringzuschätzen, die er mit Behauptung und Leistung vertritt. Denn sie berühren keineswegs die bloße Oberfläche des Lebens, sie wirken weit über die Stimmung und Neigung der Individuen hinaus zu seiner Durchbildung von innen her, sie haben eine Klärung, Vertiefung, Veredlung an ihm vollzogen, deren Preisgebung uns in den Stand der Barbarei zurückschleudern würde; mag einer besonderen Zeit unter besonderen Geschicken sich ihr Bild verzerren, sie hören darum nicht auf, im Grunde des Lebens tätig zu sein und mehr aus dem Menschen zu machen, als sein eigenes Bewußtsein ihm zeigt. Das Reich der geistigen Güter verbleibt, auch wenn sich dem Menschen der Zugang zu ihm durch manche Hemmung zeitweilig versperrt. Immerhin verbleibt solche Hemmung und will vollauf gewürdigt sein; die führende Stellung des weltlichen Idealismus wird jedenfalls durch die Erfahrungen der Gegenwart schwer erschüttert. Und zugleich machen sie zweifelhaft, wieviel wir an ihm überhaupt besitzen, und wo sein Recht innerhalb eines weiteren Lebensganzen liegt. So verwandelt sich uns auch hier in eine unsichere Frage, was früheren Zeiten eine zuversichtliche Antwort gab.

Demnach ist die Lebensordnung des weltlichen Idealismus heute nicht weniger erschüttert als die der Religion, wir verspüren die Erschütterung nur nicht so stark, weil sie weniger durch einen direkten Angriff als durch ein allmähliches Verblassen und Ermatten erfolgte; wie der weltliche Idealismus nicht die Kühnheit der Religion besitzt, so entzündet der Streit um ihn auch nicht so gewaltige Leidenschaft. Aber hier wie da kommen wir zu demselben Endergebnis: Lebensmächte, welche Jahrtausende lang die Menschheit beherrschten, ihrem Leben Ziele gaben und ihm dadurch einen Sinn verliehen, haben eine feste Wurzel im Bewußtsein des heutigen Geschlechts verloren und erhalten sich mehr durch träge Gewohnheit als durch eigene Erfahrung. Nur die Verstrickung in die Geschäfte des Alltags und das Überwiegen von Einzelfragen läßt uns übersehen, wie Ungeheures bei uns vorgeht. Oder ist es nicht etwas Ungeheures, wenn Ziele, an die Jahrtausende ihre beste Kraft gesetzt haben, und im Glauben an die sie lebten und starben, nunmehr eine bloße Einbildung scheinen und damit der bisherige Hauptzug des Strebens als ein leerer Wahn befunden wird? Ist es nicht etwas Ungeheures, wenn die unsichtbare Welt, früher als eine sichere Zuflucht ergriffen und als ein Quell der Liebe und Wahrheit gepriesen, nunmehr sich völlig auflösen muß? Wir müßten die Umwälzung anerkennen, wenn das Gebot der Wahrheit sie forderte; aber nur flache Denkart kann leicht und vergnüglich alles hinter sich werfen, was bisher als heilig galt. Zum mindesten dürfte sie nicht übersehen, daß das Durchschauen eines so langen Irregehens der ganzen Menschheit allen Glauben an ihr Vermögen zur Wahrheit aufs tiefste erschüttern müßte.




Die neueren Lebensordnungen





Die gemeinsame Grundlage


So schwer wir die Erschütterung der Gegenwart durch das Verblassen der unsichtbaren Welt nehmen mögen, es sei nicht vergessen, daß zu ihrem Ersatz ein vielverheißender Aufbau im Werke ist, und daß einem neuen Leben die sichtbare Welt unvergleichlich mehr geworden ist, als sie früheren Zeiten war. Diese Welt hat sich nicht nur in der Natur um uns wie in der eigenen Geschichte der Menschheit der Erkenntnis in ungeahnter Weise erschlossen, sie hat auch dem menschlichen Wirken immer mehr Angriffspunkte gezeigt; der Befund der Dinge, sonst wie ein unentrinnbares Schicksal hingenommen, zeigt sich jetzt sehr wohl einer Veränderung und Verbesserung fähig: Elend und Roheit werden angegriffen, das Leben durchgängig in rascheren Fluß versetzt und zu mehr Fülle und Freude gebracht. Den Kern des neuen Lebens bildet aber die Arbeit, das heißt die Tätigkeit, welche den Gegenstand ergreift und ihn für den Menschen bereitet; was von altersher davon vorlag, das hat die Neuzeit erheblich dadurch gesteigert, daß ihr die Arbeit weit mehr über die Kräfte und Zwecke der Individuen hinauswächst, ja durch Bildung eigener Zusammenhänge eine Selbständigkeit gegen den Menschen erlangt. So zeigen es Wissenschaft und Technik, so zeigen es auch politisches und soziales Wirken; sie alle machen den Menschen zum Gliede eines Arbeitsganzen, dessen Forderungen er unbedingt nachkommen muß. In solcher Unterordnung der Einzelnen gewinnt das Ganze eine gewaltige Macht, es faßt das Nebeneinander der Kräfte und das Nacheinander der Zeiten zu gemeinsamem Wirken zusammen, das in sicherem Zuge vordringt und keine Grenze als endgültig anerkennt. So gewinnt die Menschheit einen frischen Mut und ein stolzes Selbstvertrauen, sie entwickelt in ihrem eigenen Bereich ein mannhaftes, klares, zielbewußtes Leben, das auch zu entsagen vermag, aber durch das Entsagen keineswegs niedergedrückt wird. Denn für alles, worauf zu verzichten ist, scheint der Gewinn an Sicherheit und an Wahrhaftigkeit vollen Ersatz zu bieten. Unerschütterlich fest scheint der Boden, der hier die Arbeit trägt, alle Einbildungen und Vorurteile, die gleich trübem Nebel die Dinge umhüllten, sind gewichen und machen hellem Sonnenlicht Platz, die Tätigkeit findet nach allen Seiten ein offenes und unbegrenztes Feld; so scheint erst hier das Leben sich selbst und seine Kraft zu finden, von einem Schlummerstand in volle Wachheit überzugehen. Alles Wirken hat dabei den Reiz eines frischen Sehens und selbständigen Entdeckens. Dürfen wir uns wundern, daß dieses Leben eine starke Anziehungskraft ausübt, und daß ihm das Goethewort zugute kam.

»Er stehe fest und sehe hier sich um,
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm«?

Die Wendung vom allgemeinen Gedanken zur näheren Durchführung ließ jedoch ersehen, daß das hier gebotene Leben keineswegs einfach ist. In zwei Bereichen liegt uns das Dasein vor: in der Natur und im Menschheitsleben. Jeder dieser Bereiche läßt sich zur Hauptsache machen, jeder kann von sich aus eine allumfassende Lebensordnung zu bilden suchen. So entspringen aus dem gemeinsamen Grunde zwei verschiedene Lebensströme und wollen gesondert behandelt sein. Es sei zunächst als der einfachere derjenige behandelt, dem das Verhältnis des Menschen zur Natur als das Grundverhältnis seines Lebens gilt.




Die Lebensordnung des Naturalismus


Eine Lebensordnung des Naturalismus konnte nicht entstehen, bevor das Bild der Natur alles Fremdartige ausgeschieden und seine Eigentümlichkeit deutlich ausgeprägt hatte; das aber ist zuerst seit Beginn der Neuzeit geschehen. In Abweisung aller religiösen und spekulativen Deutung wird hier zum Ziel der Forschung die Erfassung der Natur in ihrer reinen und bloßen Tatsächlichkeit; hier entsagt jene aller inneren Eigenschaft und allem seelenartigen Streben und verwandelt sich in ein Reich unbeseelter Massen und Bewegungen, das sich in festen Zusammenhängen und unwandelbaren Ordnungen darstellt, ohne dem Menschen eine besondere Stellung einzuräumen und ihn zum Gegenstand besonderer Sorge zu machen. Von Anfang an bestand viel Neigung, dies Reich der Natur für das Ganze der Wirklichkeit auszugeben und zugleich alle Wissenschaft nach Art der Naturwissenschaft zu gestalten; schon Bacon (1561 bis 1626) nannte die Naturwissenschaft »die große Mutter und die Wurzel alles Erkennens«, diese Neigung hat immer mehr Boden gewonnen und Naturbegriffe immer tiefer in alle Gebiete eindringen lassen, so daß heute »naturwissenschaftliche Weltanschauung« vielen als Weltanschauung überhaupt gilt. Um sich so zum All zu erweitern, mußte die Natur auch den Menschen an sich zu ziehen und ganz und gar in sich aufzunehmen suchen. Das konnte so lange nicht gelingen, als eine unübersteigbare Kluft Ursprung und Wesen des Menschen von der Natur zu trennen schien; aber der Anerkennung einer solchen Kluft hat die Naturwissenschaft immer entschiedener widersprochen, sie hat immer mehr verbindende Fäden aufgewiesen, bis die moderne Entwicklungslehre eine völlige Verkettung herzustellen schien.

Gehört aber der Mensch ganz und gar zur Natur, so muß auch sein Leben ganz dem der Natur entsprechen, so hat alles auszuscheiden, was im überkommenen Befunde dem widerspricht. Die Natur aber erscheint hier als ein Nebeneinander einzelner Elemente, die in vielfachste Beziehung treten und auch manche Verwebung bilden, deren Verbindung aber nie mehr als eine Anhäufung und Zusammensetzung ist; es gibt hier keinen inneren Zusammenhang und daher auch kein Wirken aus einem Ganzen, auch kein Selbständigwerden eines Inneren. Wie die Natur in reiner und bloßer Tatsächlichkeit verläuft, so kann auch das Menschenleben, das zu ihr gehört, keine die natürliche Selbsterhaltung überschreitende Wertschätzung, kein Gut und Böse anerkennen; nur die Entfaltung der Kraft und die sie begleitende Lust kann dem Leben einen Antrieb geben, und, soweit hier überhaupt von Zielen die Rede sein kann, haben sie in die Kraftsteigerung einzumünden.

Die Übertragung dieser Maße auf das menschliche Leben erwies ein gutes Recht dadurch, daß sie Tatsachen zur vollen Anerkennung brachte und untereinander zusammenschloß, die früher vereinzelt geblieben und als Nebensachen behandelt waren. So die Gebundenheit aller seelischen Betätigung an körperliche Bedingungen, so die elementare Macht der Naturtriebe und der natürlichen Selbsterhaltung, so die überwiegende Macht der materiellen Faktoren im Menschenleben, so das aufrüttelnde und vorwärtstreibende Wirken des Kampfes ums Dasein, so die weite Ausdehnung der blinden und sinnlosen Tatsächlichkeit auch im Bereich des Menschen. Alles zusammen ergibt einen eigentümlichen Lebenstypus, der sich auch der geistigen Arbeit, die er an sich zieht, mitteilen muß.

Da diese Lebensordnung dem geschichtlich überkommenen Stande schroff widerspricht, so muß sie mit einer entschiedenen Verneinung beginnen, mit einer Verneinung alles dessen, was die Natur überschreitet und damit die Wirklichkeit auseinanderzureißen scheint. So geschah es nach ihrer Überzeugung in Religion und Metaphysik, gemeinsam war ihnen der Fehler, das menschliche Subjekt von seiner Umgebung abzulösen und seiner ungezügelten Phantasie eigene Wege zu gestatten. Dadurch entstanden erdichtete Bildungen, die, so meint man, einen vielfachen Druck auf den Menschen üben und mit ihren Satzungen und Vorurteilen das Leben verengen und entstellen. Es scheint ein großer Gewinn an Freiheit, wenn das aus dem Leben verschwindet. Zugleich ein Gewinn an Einheit, indem die verhängnisvolle Spaltung aufhört, die aus jener Überhebung des Subjekts hervorging. Im eigenen Aufbau aber verheißt dies Leben eine gewaltige Steigerung der Kraft, der anschaulichen Nähe, ja der Wahrhaftigkeit. Denn nur in Berührung mit dem Gegenstande draußen scheint das menschliche Vermögen sich vollauf zu entfalten, ja erst Leben in vollem Sinne zu werden. In endloser Weite und Fülle breitet sich dabei vor dem Menschen das Reich der Arbeit aus, und was in ihr das Erkennen erringt, das findet hier, wo sich der Tätigkeit deutliche Angriffspunkte bieten, ohne viel Mühe den Weg zum Handeln; wie aus der modernen Naturwissenschaft unmittelbar die moderne Technik entsprang, so scheint diese Denkweise überhaupt der gegebene Weg, die menschlichen Verhältnisse zu verbessern und den Gesamtstand menschlichen Wohlseins zu heben.

Auch die einzelnen Gebiete bringt diese Lebensordnung in eine starke Bewegung nach eigentümlicher Richtung. Überall ein ausgeprägter Realismus, der von erträumten Höhen abruft, alle Ziele, der Kunst wie der Wissenschaft, der Erziehung wie der Moral, des politischen wie des sozialen Lebens, innerhalb der sinnlichen Erfahrung findet und ihren Gehalt damit eigentümlich gestaltet. Durchgängig gilt es, die sinnlichen und materiellen Faktoren als die Wurzeln aller Kraft voll zur Wirkung zu bringen, das Leben dadurch zu sättigen, es in frischen Fluß und sicheren Fortgang zu bringen. So inmitten alles Realismus ein Leben mit so viel Spannung, Leistung und Hoffnung, daß es auf die weltüberfliegenden Ausblicke früherer Zeiten ohne Schmerz scheint verzichten zu können. Ein neuer Tag scheint hier anzubrechen, dessen helles Licht alle frühere Zeit zu einer trüben Dämmerung herabsetzt.

Dieser Lebensstrom hat viel zu viel Kräfte in Bewegung gesetzt, viel zu viel Leistungen hervorgebracht, ja den Gesamtstand des menschlichen Daseins viel zu sehr umgewandelt, als daß sich seine Macht verkennen und seine Bedeutung angreifen ließe. Was in Frage kommen kann, ist lediglich dieses, ob er das ganze Leben zu erfüllen und seinen Gesamtstand zu beherrschen vermöge. Denn dagegen erheben sie freilich schwere Bedenken, sie gehen von einem Punkte aus, der bei flüchtigem Anblick nebensächlich scheinen mag, der sich aber bei näherer Prüfung als so bedeutend herausstellt, daß jener ganze Lebensstrom mit all seiner Tatsächlichkeit dadurch an die zweite Stelle gedrängt wird und sich damit bescheiden muß, ein Stück eines weiteren Lebens zu bilden. Jener behandelt den Menschen als ein bloßes Stück der Natur und verlegt in sie sein ganzes Leben. Aber woher kennen wir die Natur, wie wissen wir überhaupt von ihr? Wir kennen sie nur als ein Erlebnis der menschlichen Seele, wir kennen sie nur in ihrer Wirkung auf die Seele, und nur von der Seele aus wird das Bild entworfen, mit dem sie uns vor Augen steht. Diesen Aufbau der Natur von der Seele her hat eben die neuere Philosophie mit besonderer Klarheit aufgewiesen, sie hat gezeigt, daß sowohl was in ihm an festen Elementen als an Zusammenhängen vorliegt, uns nicht von außen zugeführt, sondern von der Seele aufgebracht und von ihr in das auf uns eindringende Chaos zu seiner Bewältigung hineingelegt wird; die Seele ist es, welche die Natur erst im wissenschaftlichen Sinne entdeckt und aus der Flut der Eindrücke herausarbeitet; dabei ist völlig klar, daß das nicht von der sinnlichen Empfindung aus, sondern aus der Arbeit des Denkens geschieht; das kann verkennen nur, wer wissenschaftliche und naive Stellung des Menschen zur Umgebung in eins zusammenwirft. Mit der Anerkennung des Unterschiedes tritt vor die sinnliche Empfindung die Denkarbeit, also eine geistige Tätigkeit, und es zeigt sich zugleich, daß im Bilde der Natur die Eindrücke auf ein Gerüst von Gedankengrößen, von Begriffen aufgetragen und nur dadurch in ein Ganzes verwandelt worden sind. In Wahrheit ist die Welt des Forschers mit ihrer Umsetzung der Natur in Kräfte, Beziehungen, Gesetze etwas wesentlich anderes als das, was die Sinne uns übermitteln. Diese Überlegenheit des geistigen Wirkens bekundet aber eine Selbständigkeit des Seelenlebens gegen die Natur und läßt uns zugleich verstehen, daß es seelische Antriebe sind, welche über den Zwang der Selbsterhaltung hinaus der Befassung mit der Natur einen Wert verleihen. Der Anhänger des Naturalismus legt, wenn auch unwillkürlich, selbst dafür Zeugnis ab. Denn was ihn bewegt, ist nicht bloß der Trieb, seine Kraft in Bewegung zu setzen, sondern ein Streben nach Befreiung von irreleitendem Wahn, nach mehr Einheit und nach mehr Wahrhaftigkeit der Weltanschauung; sind aber solche Ziele von der bloßen Natur aus irgendwie zu begreifen, bekunden sie nicht ein aller Natur überlegenes Leben und Streben? Kurz, es hat der Naturalist, indem er die ganze Weite der Welt überdachte, leider etwas vergessen, was im Grunde das Allernächste ist, er hat sich selbst, die eigene Seele, vergessen. Aber die Seele ist nun einmal da und läßt sich nicht wegdisputieren; selbst wer sie leugnet, tut es aus einem Drange nach Wahrheit, damit aber aus einem Antriebe seelischer Art. Und die Seele ist nicht bloß da, sondern sie zeigt auch eine eigentümliche Art und stellt aus ihr Forderungen, denen die naturalistische Lebensordnung nicht zu entsprechen vermag. Das seelische Leben ist kein bloßes Nebeneinander, es umfaßt alle Mannigfaltigkeit und bezieht sie auf einen Mittelpunkt, es geht nicht in die Beziehungen nach außen hin auf, sondern es bildet sich einen eigenen Kreis und gewinnt damit ein Beisichselbstsein; es erschöpft sich nicht in bloße Tatsächlichkeit, sondern es entwickelt Maße und Ziele aus sich selbst heraus und prüft danach alles, was bei ihm vorgeht, kurz es ist ein wesentlich anderes Leben, was hier entsteht, als das der sinnlichen Natur. Auch ist dieses Leben nicht ohne ein gemeinsames Werk großen Stiles geblieben, welches das menschliche Dasein wesentlich umgewandelt hat, in nichts anderem liegt dies vor als in der Hervorbringung eines Kulturstandes, womit der Mensch sich über die Natur hinaushob und ihr gegenüber ein neues Reich mit eigentümlichen Größen und Gütern erzeugte. Das ergibt allerdings eine Zweiheit, aber sollen wir den Aufstieg bekämpfen und zugleich alle Kultur verwerfen, weil sie das Leben minder einfach macht? Sehr wohl kann bei dieser Bewegung der Mensch die Natur zu weit zurückgeschoben und sich in seiner Meinung zu sehr von ihr abgelöst haben, – die Bekämpfung dessen ist ein unbestreitbares Verdienst des Naturalismus – , aber wenn der Kulturmensch zur Natur zurückkehrt und ihr eine höhere Schätzung für das Ganze des Lebens verleiht, so wird er dadurch nicht im mindesten ein bloßes Stück der Natur, seine geistige Überlegenheit bleibt dabei unangetastet.

Von solcher Überlegenheit aus muß ihm aber die naturalistische Lebensordnung als durchaus unzulänglich erscheinen. Denn folgerichtig durchgedacht muß sie alles Bestehen einer Innerlichkeit und allen Wert von inneren Gütern, muß sie zum Beispiel Größen wie Gesinnung, Pflicht, Ehre, Persönlichkeit, Charakter als völlige Einbildungen verwerfen, als ebenso verderbliche Einbildungen, wie es nach ihrer Meinung die Ideen von Gott und Weltvernunft sind. Das will jene Lebensordnung nicht, gewiß nicht; auch sie hält an jenen Größen fest, auch sie will Moral, auch sie will eine Veredlung des Menschen, aber sie kann das nur in Widerspruch mit den eigenen Grundgedanken. Selbst den Begriff der Wahrheit kann sie nur in solchem Widerspruch beibehalten. Denn wie kann von einer gemeinsamen und zwingenden Wahrheit die Rede sein, wenn nur einzelne Individuen mit ihren verschiedenen, unablässig wechselnden Meinungen nebeneinanderstehen, und wenn aus ihrem Zusammensein höchstens ein gewisser Durchschnitt hervorgeht? Auch für echte Kultur ist hier kein Platz. So sehr jene Ordnung die Lebensbedingungen nach allen Richtungen hin zu verbessern vermag, sie gibt damit dem Leben weder eine innere Bildung noch irgendwelchen Gehalt, sie überliefert es geistiger Leere; über die bloß äußere Ordnung der Lebensverhältnisse, die Zivilisation, kommt sie mit eigenen Mitteln nun und nimmer hinaus.

So kann die naturalistische Lebensordnung die höheren Forderungen des Menschenwesens nur in Widerspruch mit sich selbst festhalten; daß bei solchem inneren Widerspruch zur Erfüllung jener viel geschehen kann, ist schwerlich zu erwarten. Die Leere und Sinnlosigkeit, in die hier das Leben gerät, muß augenscheinlich und zugleich unerträglich werden, sobald die Frage aufs Ganze gerichtet wird, was der zum Denken erwachte Mensch schließlich doch nicht unterlassen kann. Was wird hier aus dem Ganzen des Lebens, was aus dem Lebensstand der Menschheit? Kein inneres Band verknüpft hier die Menschheit mit dem All, auch kein solches Band die Menschen untereinander. Wir mühen und hasten uns im wilden Lebenskampf, damit sich mehr und mehr Kraft entfalte, aber es gibt nichts, dem diese Kraft zugute komme, es gibt keine Möglichkeit, sie in ein wahrhaftiges Leben eines Beisichselbstseins überzuführen. Die der Kraftentfaltung anhangende Lust steht in grellem Mißverhältnis zu all der Mühe und Arbeit, all der Aufregung und Aufopferung, welche die Erhaltung des Lebens vom Kulturmenschen fordert. So viel Verwicklung und Umständlichkeit in Erziehung und Bildung, in staatlicher Ordnung und sozialem Aufbau, und das alles, damit wir im wesentlichen dasselbe erreichen, was das Tier so viel leichter erreicht!

Über solche Bedenken sich leicht hinwegsetzen kann nur, wer einem starken Optimismus gegen den Menschen und die menschliche Lage huldigt, wer keine inneren Verwicklungen, keine schweren Probleme in ihr anerkennt. So ging in der Tat der Naturalismus oft mit einem flachen Optimismus zusammen. Dieser Optimismus hatte schon vor dem Kriege manche Erschütterung erlitten, es waren im menschlichen Leben manche Probleme und Widersprüche ersichtlich geworden, denen gegenüber der Naturalismus vollständig wehrlos ist; so waren seine Flitterwochen schon vorher abgelaufen. Die Erfahrungen des Weltkrieges müssen das weiter vertiefen. Denn wären wir in den ungeheuren Erschütterungen, die er bringt, und den Problemen, die er eröffnet, allein auf die Hilfen angewiesen, die der Naturalismus zu bieten vermag, so bliebe nichts anderes als eine völlige Verzweiflung, ein trostloser Pessimismus. Und einem solchen Abschlusse wird doch die Menschheit mit aller Kraft widerstehen, selbst in den schweren Verlusten und den durch sie geweckten Zweifeln wird sie eine Überlegenheit gegen die bloße Natur empfinden. Das Leid selbst erweist sich als der stärkste Gegner des Naturalismus, sobald es ins Innere gewandt wird.

So wird dieser seinen Anspruch auf eine führende Stellung nicht durchzusetzen vermögen. Aber glauben wir deshalb nicht, daß wir schon mit ihm fertig sind, daß nicht viele offene Fragen verbleiben. Die naturalistische Lebensordnung hat nicht nur einzelne Daten aufgedeckt und zur Geltung gebracht, ihr Verdienst ist, in zwingender Weise einer ganzen Seite unseres Lebens zur Anerkennung verholfen zu haben, die ihr früher mit Unrecht versagt ward. Diese Anerkennung läßt sich aber nicht vollziehen, ohne daß schwierige Fragen erwachen, manche Zweifel entstehen, das Ganze unseres Lebens eine neue Beleuchtung erhält. Den Naturalismus zu schelten mag der landläufigen Apologetik als ein billiges Vergnügen überlassen bleiben; die vom Naturalismus vertretene Tatsächlichkeit im Ganzen des Lebens zu würdigen ist eine Aufgabe, die noch immer recht viel zu tun gibt. Der Mensch ist nicht bloß Natur, aber er ist weit mehr Natur, als die älteren Ordnungen ihm zuerkennen, und dieses Mehr wird nicht eher zur Ruhe kommen, als bis es sein Recht gefunden hat.




Die Wendung des Menschen zu sich selbst





Die Sozial- und die Individualkultur


Wenn das Dasein Gottes dem Menschen ungewiß wird und die Weltvernunft ihm verblaßt, wenn zugleich die Natur eben bei wachsender äußerer Annäherung ihm innerlich fremder wird und sein seelisches Leben leer läßt, so scheint, um unserem Dasein einen Sinn und Wert zu bewahren, nur noch ein einziger Weg zu verbleiben: die Wendung des Menschen zu sich selbst, die Ergreifung, Nutzung, Ausbildung alles dessen, was im eigenen Bereiche vorgeht. Solche Wendung läßt sich aber in zwiefachem Sinne verstehen. Einmal kann sie bedeuten, daß der menschliche Kreis die Stätte bildet, wo allein sich uns Tiefen der Wirklichkeit erschließen, von wo aus alles zu entwickeln ist, was mehr aus uns machen soll; dann geht der Mensch keineswegs in das Bild auf, das sein unmittelbarer Anblick zeigt, dann können große Möglichkeiten in ihm liegen und weitere Zusammenhänge von Welt und Leben von ihm aus ersichtlich werden. So erfahren wir es heute in erhebender Weise, wenn uns der Mensch in Staat und Nation weit über den nächsten Anblick hinauswächst. Dies aber soll uns später beschäftigen, an dieser Stelle kommt nur in Frage, ob das moderne Leben eine Bewegung enthält, vom Menschen, wie er in der Erfahrung vorliegt, vom Menschen, wie er leibt und lebt, eine allumfassende Lebensordnung als eine reine Menschenkultur aufzubauen. Das würde die Behauptung schärfer zuspitzen und dem Leben eine engere Bahn abstecken. Eine derartige Behauptung ist aber in der Tat vorhanden und hat einen eigentümlichen Anblick vom Leben und Sein hervorgebracht. Während von früheren Zeiten her und bis in die Gegenwart hinein der Mensch sich selbst und seinen Kreis im Lichte einer unsichtbaren Welt, sei es des Gottesreiches, sei es einer Weltvernunft, sieht und versteht, ist neuerdings auch eine breite Bewegung dahin aufgekommen, ihn ganz und gar auf das sichtbare Dasein zu stellen, hier alle Ziele zu suchen, ihn mit seinesgleichen nicht durch irgendwelche Vermittlung eines Gedankenreiches, sondern nur durch das tatsächliche Zusammentreffen auf dem Boden des Daseins zu verbinden. Eine solche Wendung darf sich auf tatsächliche Veränderungen des Lebens berufen. In der Neuzeit sind auf Grund der modernen Technik und der Beschleunigung des Verkehrs die Berührungen und Beziehungen von Mensch zu Mensch unermeßlich gewachsen, die Kräfte haben sich mehr zu fruchtbarer Arbeit zusammengefunden und dadurch ihr Vermögen gesteigert, auch die Individuen sind weit mehr in Bewegung versetzt und zu mehr unmittelbarem Empfinden geweckt; durch alles zusammen ist der Mensch sich selbst und dem Menschen weit mehr geworden. Solche Erfahrungen lassen es nicht als überkühn erscheinen, daß der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und mit emsigem wie zielbewußtem Handeln einen zusagenden Stand des Lebens herbeiführt, der alle berechtigten Wünsche zu erfüllen verspricht; ist ein überschwängliches Glück unerreichbar, wie es die Religionen dem Menschen versprachen, so kann doch recht viel zur Hebung des Daseins geschehen, in tatkräftigem Wirken dafür kann der Mensch seinem Leben ganz wohl einen Sinn und Wert verleihen. Ihm mag es bei solchem Zuge ein nicht geringer Vorteil dünken, wenn die Bindungen und Hemmungen entfallen, welche von den älteren Lebensordnungen her einen Druck auf das Handeln üben, wenn der Mensch nunmehr allen Anregungen der Erfahrungswelt mit voller Unbefangenheit nachgehen kann. Auch die einzelnen Lebensgebiete müssen sich damit eigentümlich gestalten, sie müssen an Schlichtheit, an seelischer Nähe und Wärme gewinnen, wenn sie lediglich daraufhin angesehen und danach bemessen werden, was sie dem Menschen als Menschen leisten. Aller Verwicklung der Weltprobleme enthoben, sieht sich hier das Handeln vor erreichbare Ziele gestellt, die doch keineswegs geringfügig sind und menschliche Kraft ganz wohl in Bewegung zu setzen vermögen. So ist es sehr begreiflich, daß ein derartiges Streben vielen Anklang fand und einen eigentümlichen Lebensstrom erzeugte.

Solche Fassung des menschlichen Daseins muß auch den Gegensatz eigentümlich gestalten, der von altersher durch die menschliche Gemeinschaft geht, und dessen Zusammenstoß ein Hauptantrieb der Bewegung auf diesem Gebiete ist, den Gegensatz des Gesamtstandes und des Befindens der einzelnen Individuen, den Kampf darum, ob möglichste Unterordnung unter das Ganze oder freie Bewegung der Einzelnen das Hauptziel bilde, ob mehr das Gemeinsame oder das Eigentümliche den Charakter des Lebens zu bestimmen habe, ob mehr eine Organisation oder eine Emanzipation der Kräfte zu erstreben sei.

Dieser Gegensatz von Gesellschaft und Individuum, von Zusammenstreben und Auseinandergehen, von Ordnung und Freiheit durchdringt in weitester Fassung die ganze Weltgeschichte, er wirkt von ihr zur Gegenwart sowohl aus der Arbeit der Jahrtausende als aus den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts. Nachdem der Verlauf des Altertums mehr und mehr die überkommenen Ordnungen zersetzt und den Schwerpunkt des Lebens den Individuen zugewiesen hatte, erfolgt gegen sein Ende ein immer stärkerer Rückschlag zugunsten einer festeren Verbindung der Kräfte, philosophische Schulen wie religiöse Kulte schließen die Individuen enger zusammen und lassen sie einander helfen und stützen; das Christentum nimmt die Bewegung auf und führt sie bei wachsendem Verlangen nach einem sicheren Halt und nach Befreiung von eigener Verantwortung schließlich dahin, daß die religiöse Gemeinschaft, die Kirche, zur alleinigen Trägerin göttlicher Wahrheit und göttlichen Lebens wird, der Einzelne einen Anteil daran nur durch ihre Vermittlung erlangt. Wir wissen, wie das auch in die Gegenwart hinein eine große Macht erstreckt.

Eine völlig entgegengesetzte Richtung verfolgt die Neuzeit durch alles ihr eigentümliche Schaffen hindurch, sei es der Aufklärung, sei es des Humanismus. Aus allen ihren Bildungen spricht der Glaube an den Wert und das Vermögen der Individuen, so daß auf deren Wirken das Leben zuversichtlich gestellt wird; nichts unterscheidet die Kulturarbeit der modernen Völker mehr voneinander als das Gebiet und die Art, worin sie den Freiheitsgedanken zur Herrschaft brachten; auch für das Leben der Gegenwart hat jener seine Macht keineswegs eingebüßt, er erzeugt immer neue Bewegung.

Sodann aber entsteht auf dem Boden des letzten Jahrhunderts von verschiedenen Seiten her ein starkes Verlangen nach mehr Zusammenschluß der Einzelnen zu einem Ganzen und nach ihrer Befestigung dadurch, das aber sowohl aus der inneren Bewegung des geistigen Lebens als durch neue Aufgaben und Verwicklungen auf dem Boden der Erfahrung. Die spekulative Philosophie lief in eine Verkündigung eines alles beherrschenden Gesamtgeistes aus, dem der Einzelne unbedingt dienen müsse, stärker noch wirkte das Aufkommen einer historischen Denkart mit ihrer Einfügung des Einzelnen in große Zusammenhänge, am stärksten aber tat es das Aufkommen schroffer wirtschaftlicher Gegensätze, der Konflikt von Arbeit und Kapital, der die Menschheit zu zerreiben drohte und daher ein wachsendes Verlangen nach einer Ordnung ihrer Verhältnisse durch die überlegene Macht des Staates hervorrief. Alles miteinander hat manche auf die mittelalterliche Denkart zurückgreifen lassen, vornehmlich aber hat es auf dem eigenen Boden der Zeit eine neue Bewegung erzeugt, die Bewegung zu einer lediglich bei sich selbst befindlichen und befriedigten Sozialkultur. Wieviel in der modernen Gestaltung des Lebens ihr förderlich ist, daran wurde schon früher erinnert; eben jene Gestaltung ließ den Menschen deutlich empfinden, wie sehr er inmitten aller scheinbaren Freiheit am Ganzen hängt, ja wie die freiere Bewegung selbst stark zur Einschränkung des Einzelnen wirkt, indem sie ihn in mehr Berührung mit der Umgebung bringt und deren Einfluß von allen Seiten auf ihn eindringen läßt. Alles derartige zusammenfassend und die Kräfte zu gemeinsamer Arbeit verbindend, erstrebt die moderne Sozialkultur eine Ordnung des menschlichen Daseins, welche den Gesamtstand wesentlich hebt, im besonderen eine Atmosphäre des Wohlwollens und des Wohlseins schafft, in der sich alle Kräfte entfalten und alle Zustände bessern können. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein solches Wirken vornehmlich von außen nach innen geht, daß es mit der Herstellung glücklicher Lebensbedingungen, sowie zweckmäßiger Einrichtung des Zusammenlebens beginnt, in festem Vertrauen darauf, daß dem ein Fortgang des Inneren entsprechen werde. Denn was das Ganze gewinnt, das scheint sich notwendig auch in die einzelnen Seelen zu senken. So wird hier das Handeln vornehmlich auf die Umgebung gerichtet, es findet seine Höhe in eifrigem Wirken für andere und das gesellschaftliche Ganze; damit wird alle Ethik zur Sozialethik, und statt der Gottheit wird hier die Menschheit zum Gegenstand der höchsten Verehrung. Demgemäß ist es auch die Leistung für den gemeinsamen Lebensstand, die über die Bedeutung und die Gestaltung der einzelnen Lebensgebiete, zum Beispiel der Kunst und der Wissenschaft, entscheidet. Daß auch der Wahrheitsbegriff sich dieser Denkweise anpassen kann, das zeigt der Pragmatismus, der, aus Amerika stammend, auch in Europa zahlreiche Anhänger fand. Der Gefahr, die von dieser Sozialkultur aus der Selbständigkeit der Individuen droht, wird dadurch zu begegnen gesucht, daß sich mit jener Bewegung eine demokratische Tendenz zu verbinden pflegt, das Streben, möglichst alle zur unmittelbaren Teilnahme und Entscheidung aufzubieten und so einem jeden die Ordnung des Ganzen auch zur eigenen Tat zu machen oder doch als eine solche erscheinen zu lassen. Bemerkenswert ist auch, daß eben auf modernem Boden das freie Zusammenleben und die eigene Bewegung der Kräfte viel Organisation hervorgebracht hat, wie sie früher nur von oben herab aus einer überlegenen Gedankenwelt möglich schien; denken wir nur an die Gewerkschaften und ihr hervorragendes Wirken im Kriege!

Die Leistungen dieser Sozialkultur liegen deutlich zutage. Ihre Richtung der Arbeit auf die Wohlfahrt aller hat viel Not und Härte ausgetrieben, mehr Freude und Milde in das Leben gebracht, sie hat hilfreiche Tätigkeit in alle Verzweigung des Daseins eingeführt, jedem Menschenwesen ein Recht zuerkannt und es damit auch im eigenen Bewußtsein gehoben, sie hat zugleich ein Gefühl der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen für den Stand des Ganzen geweckt, sie hat mit dem allen eine höchst wertvolle Weiterbildung des menschlichen Daseins vollzogen. Aber das alles berechtigt sie noch keineswegs zur ausschließlichen Führung des Lebens; sie kann eine solche nicht unternehmen, ohne auch ihre Schranken erkennen zu lassen. Diese Schranken betreffen aber sowohl das hier gesteckte Ziel als die Mittel zu seiner Erreichung. Der Mensch geht in Wahrheit nicht auf in das Verhältnis zum Nebenmenschen, er hat auch ein Verhältnis zu sich selbst und in engem Zusammenhang damit eins zum All und muß von daher Maße des Lebens entlehnen; auch kann er sich unmöglich so in seinen Zustand verschließen und alles nach der Wirkung dafür bemessen, daß ihm alles Gegenständliche gleichgültig wird, da erst dessen Aneignung dem Leben eine innere Weite und zugleich eine reine Freude zu geben vermag. Einem Wesen, das mit seinem Denken sich zur Unendlichkeit und Ewigkeit zu erheben und von da den eigenen Stand zu betrachten vermag, wird die bloße Wohlfahrt, ein möglichst schmerzfreies und genußreiches Leben, und sei es auch das Leben aller, ein viel zu geringes Ziel; auch dessen Erreichung beließe ihn in einer völligen inneren Leere, die als endgültiger Stand gedacht peinvoller ist als aller Schmerz. Wer direkt auf Glück im Sinne der Wohlfahrt ausgeht, der muß alles Wagnis und Opfer möglichst fern von sich halten und fein säuberlich gebahnte Heeresstraßen wandern, wo doch die Erfahrung lehrt, daß der Weg zu hohen Zielen nur durch den Schmerz von Zweifel und Verneinung geht, und daß bedeutende Kraft nur das zu wecken vermochte, was nicht wegen des bloßen Glückes, sondern aus dem Zwange geistiger Selbsterhaltung angestrebt wurde, wie immer dabei das subjektive Befinden ausfallen mochte. Jenes allein vermag dem Handeln einen heroischen Charakter zu geben, während das bloße Glückverlangen es unvermeidlich einem Philistertum gröberer oder feinerer Art überliefert. So droht das Voranstellen der Sorge um die Bedingungen und Mittel des Lebens das Leben selbst schwer zu schädigen, ja tief herabzusetzen. – Auch die Menschheit böte insofern kein hohes Ziel, als die Zusammenhänge der Sozialkultur ihr keine innere Einheit zu geben vermögen und sie statt eines zusammengehörigen Ganzen in ein bloßes Nebeneinander einzelner Elemente verwandeln; fast unvermeidlich wird damit der Durchschnitt zur Norm, und die Masse muß die Menschheit vertreten; so verstanden wird der Menschheitsgedanke auf den Einzelnen eher niederdrückend als erhöhend wirken, er bedroht ihn mit der Gefahr einer Verwischung der Unterschiede und einer abschleifenden Gleichmacherei.

Aber angenommen, das Ziel der Sozialkultur bliebe unangefochten, wie will sie die Kräfte und die Gesinnungen zu seiner Erreichung finden? Sie hofft alles von einem Handeln für andere, einem »altruistischen« Handeln, und sieht nicht, daß ein solches Handeln eine bewegende Kraft nur erlangen kann, wenn der andere nicht bloß neben mir steht, sondern mit mir durch eine innere Einheit des Lebens verbunden, in mein geistiges Selbst aufgenommen wird. Aber ein derartiger Begriff muß der Sozialkultur als schlechthin unverständlich erscheinen und die Sache als unerreichbar; jene läßt den anderen neben mir stehen und verlangt doch, daß ich meine Kraft für ihn einsetzen soll. Nie aber kann ein Mensch oder ein Ding eine starke Bewegung erzeugen, solange es nicht ein Bestandteil meines eigenen Lebens wird. Eine solche Bewegung geht nur aus innerer Notwendigkeit, namentlich aus unerträglichen Widersprüchen des eigenen Lebens hervor; nur sofern der Mensch auf sich selber steht und für sich selber schafft, kann er etwas erreichen, das auch den anderen wertvoll ist; wer vornehmlich an die Wirkung bei anderen denkt, der hat damit auf das Erstgeburtsrecht des Schaffens verzichtet. – In der Gesinnung aber setzt die Sozialkultur freundliche, wohlwollende, zahme Menschen voraus, Menschen, die kein radikales Böses kennen, nichts von wilden Leidenschaften und dunklen Abgründen der Seele wissen, denen alles Dämonische oder gar Diabolische, zugleich freilich auch alles Heroische, eine unverständliche Größe ist. Mußten wir schon früher bezweifeln, ob die Menschen so zahm, so gutartig sind, so hat der gegenwärtige Krieg solchen Zweifel wohl zu vollem Siege gebracht. Damit aber wird der Sozialkultur eine Hauptstütze entzogen, dem Bösen gegenüber hat sie keine Wehr. Bei solchen Bedenken verkennen wir keineswegs die Bedeutung edler Humanität und rastloser Hilfstätigkeit, die nach jener Richtung hin entfaltet wird, auch nicht den Wert des Strebens, alles Menschenbild zu heben und zur Selbsttätigkeit zu berufen; aber das geschieht nur unter Überschreitung der begrifflichen Schranken jener Lebensordnung, die Leistung geht hier, wie so oft, weit über die Lehre hinaus. Im besonderen erhält die Menschheit oft einen tieferen Sinn, als der eigene Boden der Sozialkultur begründet, sie wird, oft in Nachwirkung der älteren Lebensordnungen, ein hoher Idealbegriff, der echte Begeisterung erweckt. Solche Verschiebung der Begriffe macht dem Herzen der Bekenner alle Ehre, das Problem aber löst sie nicht.

Diese Gefahren und Schranken mußten auch innerhalb der Menschenkultur zur Empfindung kommen und eine Gegenbewegung erzeugen. Das ergab die Bildung einer Individualkultur, welche sich ebenfalls ganz und gar auf den Boden der Erfahrung stellt und jede Abhängigkeit des menschlichen Daseins von weiteren Zusammenhängen ablehnt, welche aber innerhalb der Erfahrung einen völlig anderen Ausgangspunkt nimmt, nämlich das Fürsichsein, den seelischen Zustand des Individuums. Indem sie die Sozialkultur als eine Mechanisierung und Schablonisierung des Lebens bekämpft, stellt sie ihr ein Leben entgegen, welches vornehmlich das Individuum zu stärken, es unter Befreiung von aller Bindung ganz auf sich selbst zu stellen und zur vollen Ausprägung seiner Eigentümlichkeit zu bringen verspricht. Indem sie alle Lebensverhältnisse und alle Lebensgebiete zu Mitteln für die Entfaltung und den Selbstgenuß des Individuums macht und zugleich alles, was von der Vergangenheit zu uns wirkt, in lebendige Gegenwart verwandelt, ergibt sich viel Freiheit und Frische, ein überströmender Reichtum verschiedener Bildungen, entsteht ein leichtbeschwingtes, freischwebendes, frohgestimmtes Leben; es wird sich selbst um so mehr zu verstärken glauben, je mehr es das Unterscheidende pflegt und den Abstand von anderen hervorkehrt; die Freude, etwas Eigenes, Unabhängiges, Unvergleichliches zu sein, wird alles Tun durchdringen und heben; Hauptgehilfen dieses Lebens werden Kunst und Literatur, natürlich in einem besonderen Sinne verstanden.

Zustimmung hat diesem Leben namentlich sein Widerspruch gegen den Massencharakter und die Gleichförmigkeit der Sozialkultur gebracht; daß es mit seiner Auflösung des Daseins in lauter Einzelpunkte und seinem Mangel alles Kernes unmöglich das Menschenleben ausfüllen und führen kann, das bedarf keiner näheren Darlegung. Nur das sei bemerkt, daß die Individualkultur im Kern ihrer Behauptung denselben Fehler begeht wie die Sozialkultur: wie diese aus der Menschheit unversehens etwas weit besseres macht als ihre Begriffe gestatten, so muß die Individualkultur das Individuum idealisieren, um es zum Hauptträger des Lebens machen und in ihm dessen Hauptzweck finden zu können. Sie denkt dies Individuum als groß und als Quell einer starken Bewegung, mit höchsten Problemen befaßt und eine Welt der Wahrheit und Schönheit in der eigenen Seele erbauend. Aber woher soll das alles innerhalb des gegebenen Daseins kommen, dem doch einmal das Individuum nur ein Glied einer weitschichtigen Verkettung bedeutet, nicht eine Stätte ursprünglichen Lebens, nicht den Durchbruchspunkt einer neuen Welt. Wie die Individualkultur das Individuum versteht, kann die ihm beigelegte Selbständigkeit nur eine erträumte und das daraus entstehende Leben nur ein eingebildetes sein. Schätzbare Anregungen im einzelnen und manche vollberechtigte Kritik seien dabei dieser Individualkultur bereitwillig zugestanden.

So scheitert die bloße Menschenkultur in jeder der Richtungen, die sie einschlagen kann, und zwischen denen sie wählen muß; weder das Zusammenstreben noch das Auseinandergehen der Menschen gibt dem Leben einen Sinn und Wert und läßt die Seele ein Beisichselbstsein erreichen. Denn auch die Individualkultur gelangt nicht zu einem solchen, da sie die Seele in lauter einzelne Lagen und Stimmungen zersplittert, ohne ihnen eine Einheit des Wesens und eine Innenwelt entgegenzusetzen. Wenn die Ausführung beider Arten der Menschenkultur die Oberfläche überschreitet, so tut sie das in schroffem Widerspruch mit der Grundbehauptung des Ganzen.

Das empfindet auch die Gegenwart immer stärker, schon vor dem Kriege war vielfach das Bloßmenschliche als viel zu klein erkannt und mit dem Überdruß an seinem selbstgefälligen Gebaren eine tiefe Sehnsucht nach Durchbrechung seiner Schranken und nach Erringung eines weiteren, reineren, wahreren Leben erwacht. Augenscheinlich wurde, daß die Ablösung des Menschen von der großen Welt und die Bildung eines Sonderkreises ihn einer Enge und Kleinheit überliefert, die er selbst auf die Dauer nicht aushält, die ihm die Tiefe seines eigenen Wesens verschließt. So hörten wir viel von Übermenschlichem und von Übermenschen reden. Aber alle echte und innige Sehnsucht, die aus solchem Streben spricht, führt über ein ungestümes Wogen und Wallen der Seele nicht hinaus, wenn dieses Übermenschliche innerhalb der Welt der Erfahrung gesucht wird. Denn viel zu streng binden hier den Menschen Natur und Schicksal, und zwar mehr noch von innen als von außen, als daß ein kühner Aufschwung ihn davon befreien und ein neues Leben schaffen könnte. Es muß das Menschenwesen überhaupt einer inneren Umwandlung und Erhöhung fähig sein, wenn der Einzelne wesentlich mehr aus sich machen soll; sonst ist alles Mühen verloren. Der Krieg hat uns diese Wahrheit noch stärker eingeprägt, er stellt uns die Unzulänglichkeit des bloßen Menschen und damit aller bloßen Menschenkultur so deutlich vor Augen, daß nur eine flache Denkweise sich folgendem Dilemma entziehen kann: entweder steht das Menschenleben in tieferen Zusammenhängen und schöpft aus ihnen neue Ziele und Kräfte, welche die bloße Wohlfahrt des Menschen überschreiten, oder das ganze menschliche Sein ist eine, freilich unbegreifliche, Verirrung des Weltlaufs, und alles Streben nach einem Sinn und Wert unseres Lebens ist zu sicherem Scheitern verdammt. Es wäre ein großer Gewinn unserer harten Zeit, wenn sie uns dieses Entweder – Oder klar durchschauen ließe und damit allen verwirrenden und verflachenden Mittelgebilden ein dauerndes Ende bereitete.





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