Книга - Hann Klüth: Roman

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Hann Klüth: Roman
Georg Engel




Georg Engel

Hann Klüth




Meiner Vaterstadt Greifswald

Du liebe Alte, hoch am Meer,
Mit blauen Augen, weißen Haaren,
Wann wird mir wohl die Wiederkehr
Nach all den langen Wanderjahren?

Wann wirst du mir den Schemel rücken
Und sprechen: »Jünging, ruh di ut«?
Wann werd' ich leis die Hand dir drücken
Und fragen: »Mudding, büst mi gut?«

Vielleicht bin ich schon siech und grau,
Bevor der Weg zu dir durchmessen.
Du liebe, gute, alte Frau,
Vergiß mich nicht, ich werd' dich nie vergessen.




Erstes Buch

Moorluke





I


»Mudding,« sagte der Kranke, »ich seh sie ganz deutlich. Es sind zwölf schwarze Käfer, die da auf dem Zifferblatt von der alten Uhr im Kreis laufen.«

»Ne, ne,« entgegnete die kleine Frau, und in ihre Stimme kam ein Stocken und Zittern, während sie nichtsdestoweniger unablässig an dem großen, grauen Strumpf, der schon fast bis auf die Erde herabhing, weiterstrickte. »Das is man dein Fieber. Und wenn das Fieber wiederkommt, sagte heut der Doktor, dann steht es schlimm.«

»Das kann sein,« meinte der Lotse Krischan Klüth, und das Reißen krümmte ihn in den rot und weiß gewürfelten Kissen noch etwas mehr zusammen. »Aber ich hab' die Käfers gezählt – hör', und nu brummt einer.«

An der schmalen Kastenuhr in der Ecke sank ein Gewicht. Es rollte dumpf.

»Sechs,« zählte die kleine Frau Klüth. Dann seufzte sie tief auf. »Ich soll wohl nun Licht anmachen?«

»Ja, ja, Mudding, es muß doch hell sein, wenn er kommt.«

»Ja, wenn er es tut,« meinte Frau Klüth bedenklich. »Denn sobald man ihn nich höflich einladet, dann kommt er nich.«

Von der roten Birkenkommode flackerte ein Talglicht auf. Der Kranke rückte sich in dem trüben Schein etwas höher im Bett zurecht und warf zuvörderst einen mißtrauischen Blick auf das Zifferblatt. Dann strich er beruhigter über die Decke. »Ja, ja – nu kriechen die verfluchtigen Biester nich mehr. Es is doch gut, wenn es hell is. – Mudding, halt mir das Licht dicht an die Finger. Mir is kalt. – So – sieh eins, wie dünn sie geworden sünd.«

Er wurde wieder ungeduldig und schlug auf den Bettrand.

»Siehst du das Boot noch immer nicht?«

Die Frau trat an das kleine quadratförmige Fenster, das auf den Bodden hinausging, und schüttelte den Kopf.

Da draußen war nichts als leere, graue Fläche. Hinter ihr schrie der Lotse plötzlich auf. Die tollen Schmerzen würgten ihn bereits im Halse.

»Mudding,« gellte der Kranke.

»Lieber Gott – lieber Gott,« murmelte die hilflose Frau, ohne sich umzuwenden, und faltete die Hände. »Was soll man da tun?«

Dann wurde es wieder still. Die Uhr knarrte laut und deutlich ihren Schlag.

Inzwischen hatte der alte Klüth nach dem Stuhl gelangt, auf dem ein Stück gedrehten schwarzen Priems und ein Taschenmesser lagen. Rasch und heimlich schnitt er ein großes Stück ab und schob es in den Mund.

Doch die Frau, obwohl sie noch immer abgekehrt über die See spähte, hatte es gemerkt, als wenn sie auch im Rücken Augen besäße. »Das darfst du nicht,« verwies sie matt.

Doch ohne darauf zu achten, kaute der Lotse eine Zeitlang begierig weiter, dann spie er den Tabak wieder aus und schüttelte so mutlos das Haupt, daß die schweißnassen grauweißen Locken ihm struwlig über die Stirn fielen. – »Ne, Mudding,« stöhnte er und sank zusammen – »es wird nichts mehr. Fünfzig Jahre hab ich ihm nu gekaut. Und seit vier Tagen will's nich mehr – kuck' – das is ein Zeichen vom lieben Gott.«

»Ja, ja, was wollt's nich?« nickte die kleine, ältliche Frau und faltete wieder zerknirscht die Hände. Darauf strickte sie, wie erschreckt, an dem grauen Strumpf weiter.


* * *

Dicht unter den Fenstern des Lotsenhäuschens lag zur selben Zeit eine kleine Jacht am Bollwerk angeschlossen. Sie war von oben bis unten mit Kartoffeln beladen und gehörte Johann Christian Petersen. Wenigstens stand sein Name in goldenen Buchstaben vorne an der Schiffswand. Aber der eigentliche Kapitän des Fahrzeuges war Frau Dörthe Petersen, die eben in ihrer Küchenkajüte einen Eierkuchen gebacken hatte und nun von der Steuerbordseite aus der kleinen Line, die am Bollwerk stand, ein großes Stück heraufreichte.

In der bloßen Hand. Aber das schadete nichts.

»Nu iß, mein Döchting,« sagte die starkknochige Frau, die mit nackten Füßen und hochaufgeschürzt herumging, denn aus dem kleinen Schiff wurden von zwei halberwachsenen, strohblonden Söhnen der Frau Dörthe ununterbrochen Kartoffeln über das Landungsbrett gekarrt und draußen in Säcke gefüllt. Wenn es zu langsam ging, dann sprang Frau Dörthe selbst entschlossen hinzu, um ihren beiden Sprossen je einen freundlich-aufmunternden Puff unter die Rippen zu versetzen.

»Au, Mudding, das tut jo weh!«

»Das soll es ja auch. – Man immer zu.«

Und das Karren ging weiter.

So hielt sie alles im Gang. Nur ihr Mann hockte in einem braunen, fellartigen Anzug auf dem Kajütendach und spielte, ohne sich um etwas zu kümmern, die Handharmonika.

Eine andere Beschäftigung hatte nie einer bei ihm wahrgenommen, und man verlangte sie auch nicht. Denn bei der großen Flut war ihm bei einer Rettungsarbeit ein Balken auf den Kopf gestürzt und hatte ihm den klaren Verstand eingeschlagen. Frau Dörthe aber, obwohl sie ihn erst nach dieser Zeit geheiratet hatte, war dennoch felsenfest überzeugt, daß Malljohann, wie er in Moorluke genannt wurde, ein tiefsinniges und nachdenkliches Haupt und auf dem Gebiete der Handharmonika ganz einzigartig dastehe.

Malljohann saß und spielte —

»Judemädel, wasch dich, kämm dich, putz dich schön,
Denn wir woll'n zum Tanze geh'n.«

Der Walzer, von der Harmonika mit Glockenspiel vorgetragen, klang laut und scharf über den stillen Fluß und mußte auch in die Krankenstube hinaufdringen. Von oben antwortete auch sogleich ein schriller, ächzender Wehlaut.

»Hörst du?« begann Frau Dörthe zu Line, während sie vielsagend die Achseln zuckte: »Da stirbt nu dein Vater. – Ja, so is es in der Welt. – Willst du noch'n Stück Eierkuchen, min Döchting?«

Line empfand noch Appetit. Sie hatte sich auf das wurmstichige braune Bollwerk gesetzt und schaukelte mit den nackten, weißen Beinchen zwischen Schiff und Holzwand nachlässig hin und her.

Für ein vierzehnjähriges Kind war sie auffällig zierlich und biegsam gewachsen.

Plötzlich hob sie das schwarze Haupt mit den merkwürdig blitzenden Augen und sagte bestimmt, auf das kleine Fenster des Lotsenhauses deutend: »Das is nich mein Vater.«

»Wer denn?« fragte Frau Dörthe gespannt, obwohl sie ganz gut wußte, daß die Kleine recht hatte.

»Das is man bloß mein Pflegevater,« antwortete Line kauend, »mein richtiger ist der Klabautermann.«

»Huch,« schrie die Schifferfrau entsetzt auf und schielte zu Malljohann empor, ob er das Kind auch ordentlich verstanden hätte. – »Huching – Jochen, hast gehört? – Lütting, oh, wer ist denn der Klabautermann?«

Der tapfere weibliche Kapitän war ordentlich scheu zurückgewichen.

»Der Klabautermann?«

»Je.« – Die Kleine schaukelte wieder ein bißchen mit den nackten Beinen, dann gab sie so fest zurück, wie sie etwa in der Schule eine Antwort deklamierte: »Je, der Klabautermann is ein Wasserzwerg.«

»Und von so einem bist du die Tochter?«

»Ja, so is es,« beharrte Line ernsthaft, und wischte sich die Kuchenhände an ihrer Schürze ab.

»O jeh – o jeh,« schrie Frau Dörthe und schlug entsetzt ihre Fäuste zusammen. Und die Söhne hielten mit ihren Karren still. Und Malljohann endete das »Judenmädel« mit einem schrillen Wehlaut – und zog sein glattrasiertes Gesicht in hundert Falten – und alle starrten sie auf Line hin.

»Aber du liebe Güte, wer hat dir denn so was eingeredet?« stotterte endlich Frau Dörthe.

Allein, Line befand sich zu sehr in ihrem Recht.

»Das hat mich oll Kusemann erzählt,« brachte sie rasch hervor und stand beleidigt auf, »und Hann hat es auch gesagt.«

»Oll Kusemann?« wiederholte Frau Dörthe nun ehrlich empört und dabei ein wenig triumphierend – »Jochen, hast's woll gehört? – Das is ja der oll Lügenlotse hier. – Und Hann? Hann is weiter nichts als ein Dummkopf.«

»Ja, dumm is er man,« pflichtete Line bei. Dann verzog sie das kirschrote Mündchen zu einem spitzbübischen Lächeln.

Da wurde das Idyll häßlich unterbrochen.

Im gleichen Moment vernahmen alle auf dem Schiff so namenloses, tobendes Geheul aus dem Krankenzimmer herabschrillen, daß alle zusammenschreckten und verlegen auf die Planken sahen.

Als sie wieder aufblickten, lag Line lang auf dem harten Uferboden ausgestreckt, die Stirn auf kleinen Kieselsteinen, und wühlte mit den Fingern in Gras und Erde herum.

»Was machst du da?«

»Er soll nich sterben! – soll nich sterben,« raste die Kleine in wütendem Trotz und schleuderte allerlei Steine von sich. – »Wozu muß denn gerade er sterben? – Kann es nich Hann sein?«

Die Kapitänin sah wieder zu ihrem Gatten empor. Der aber hatte das Kinn auf die Harmonika gelehnt und schien nachzudenken.

»Lütting, du mußt zu dem lieben Gott bitten,« entschied die Frau endlich überzeugt und nickte dreimal sehr stark mit dem Kopf. »Das ist das einzigste Mittel.«

Aber bei Line verfing es nicht. Immer erregter schlug sie auf das Bollwerk und schluckte vor Wut und Tränen: »Das hab ich alles schon versucht. Aber es hat mir nichts genützt. Vielleicht weil ich gar nich sein richtiges Kind bin,« setzte sie hinzu, »wie die andern. Ich heiß ja auch nich Line. Ich heiß ja Aline. Und draußen auf dem Bodden, da haben sie mich gefunden.«

Damit erhob sie sich auf den nackten Knien und zeigte auf die graue Wasserfläche der See hinaus, als ob sie dort draußen etwas Schreckliches und Merkwürdiges zugleich erspähe.

Seltsam, wie sich dabei die Augen des Kindes veränderten. Etwas Wildes, Dunkelleuchtendes flackerte darin auf. Es war jetzt bereits klar, daß in diesem kleinen Wesen die Phantasie mächtig schaffe und wirke.

Unvermittelt fuhr sie empor.

»Malljohann,« schrie sie zu dem Fellbraunen hinauf: »Spiel wieder – ich will eins tanzen.«

»Was? Jochen, untersteh dich,« – rief Frau Dörthe fassungslos dagegen, »pfui, was für ein Gör – ihr Vater stirbt da oben, und dann will sie so was!«

»Doch, doch, wenn der liebe Gott mir nicht hilft, dann tanz ich,« schrie Line noch einmal und wirbelte bereits, wie zum Hohn, auf einem Fuße herum.

Und dann geschah etwas Unvorhergesehenes!

Malljohann ließ plötzlich mit aller Macht den unterbrochenen Walzer ausklingen. Die Glöcklein klirrten, die Pfeifen brausten, und die Kleine begann sich graziös und sicher herumzudrehen, bis ihr rotes Röckchen um die nackten Beine flatterte und die beiden Schifferjungen begehrlich zu ihr hinüberglotzten. Und immer, wenn sie sich zur Kapitänin wandte, streckte sie drollig die Zunge heraus.

»Jochen, willst du woll?« tobte diese noch einmal kirschbraun vor Zorn.

Aber der Mann auf dem Kajütendach winkte mit dem Kopf zu Line herüber, und aus dem sonst so schweigsamen Munde brach ein merkwürdiges Knastern: »Gurr – gurr – Klabautermann.«

Da erschrak Frau Dörthe und schwieg. Jetzt wußte sie es. Jochen hatte sich ebenfalls für den Seezwerg entschieden. Und Jochen war ein tiefer und gründlicher Geist.

Und mit heimlichem Schauder sah sie mit an, wie Line sich röter und immer röter tanzte, gerade unter dem Fenster des gequälten, hinsterbenden Lotsen, der von Zeit zu Zeit dazwischenheulte.




II


Der Erwartete war gekommen.

Hann hatte ihn mit der roten Jolle von der Landzunge herübergeholt.

Es war der Schäfer von Ludwigsburg. Ein Heilkünstler, gegen den alle Professoren drin von der kleinen Universität zu lächerlichen Pfuschern herabsanken.

Ein Mann im Besitz wunderbarer Naturkräfte und dabei von wirklich frommer Gesinnung.

Menschen- und Tierarzt zugleich, der durch ein getragenes, feierliches Schweigen überall, wo er erschien, eine direkt priesterliche Stimmung erzeugte.

Dieser war oben.

Unten zu ebener Erde, dicht neben der Treppe, die zu dem Schlafzimmer hinaufführte, in einem kahlen Raum, der wie mit Waschblau gefärbt schien, warteten inzwischen die beiden ältesten Söhne des Lotsen, während Line auf der untersten Stufe der Treppe saß und gedankenvoll auf das leise Murmeln lauschte, das seit einiger Zeit aus der Krankenstube herunterquoll.

Sie stützte den Kopf auf und schüttelte sich leicht wie im frostigen Winde.

Dort oben trieb der Zauberer nun sein Wesen, denn hexen konnte er, daran zweifelte Line nicht einen Augenblick. Der Lügenlotse, oll Kusemann, hatte ihr ja auch erst neulich in seinem Wetterhäuschen an der See erzählt, wie Schäfer Sturm vor einiger Zeit kurz vor Mitternacht auf dem Moorluker Kirchhof aufgetaucht und dort zwischen allerlei Kreuzen suchend auf- und abgeschritten sei. Vor dem Grabe eines längst verstorbenen Fischers wäre er dann stehen geblieben und hätte einen Zettel auf dessen Hügel gelegt. – Einen Zettel. – »Denk' bloß, Lineken, einen Zettel mit wunderbaren Buchstaben beschrieben.« Der Tote aber sei der alte Glückspeter gewesen, der, solange er lebte, den unheimlichen Fischzug besessen und stets sein Netz mit Hunderten von Heringen ans Tageslicht gefördert habe. – Und richtig – Line zuckte in der Erinnerung förmlich in die Höhe und starrte mit weitgeöffneten Augen vor sich hin – als die Kirchhofsuhr Mitternacht schlug, da habe sich das Grab mit einem Schlag geöffnet und —

Oben ächzte die Tür und fiel schallend wieder ins Schloß.

»Tu mir nichts,« rief Line halblaut in ihrem Traum und streckte die Hände aus.

Aber es war kein Gespenst, das da die Treppe herunterwehte, sondern Hann polterte herab und stieß mit seinem schweren Stiefel gegen ihren Rücken.

»Au – dummer Junge – nimm dich doch in acht!«

»O Lining, ich wollt ja nich – ich soll bloß – « damit fiel der fünfzehnjährige, gedrungene Bursche bereits in den lichtblauen Raum hinein und hob vor seinem ältesten Bruder ordentlich bittend die Hände in die Höhe.

»Was willst du, Hann?«

»O Paul – Pauling – nich wieder böse sein.«

»Nein, aber ich soll doch nicht etwa hinaufkommen, solange der da oben ist?«

»Das nich, aber du sollst – «

»Was?« unterbrach der junge Theologe ungeduldig.

»Du sollst mir das Buch geben.«

»Welches Buch?«

»Oh, die Bibel, Pauling.«

»Die Bibel?«

Für Schäfer Sturm!

»Was will der mit ihr?«

»Das darf ich dir nich sagen.«

Der Student streckte die Hand aus. Wie er so dastand mit seiner mageren Gestalt und dem abgezehrten, verarbeiteten Kopf, hatte er etwas Hartes und Eckiges.

»Hann – « Rasch und stoßend redete er, gleich einem, der die Sprache nicht recht meistert, und deshalb hatten seine Worte etwas Unbeholfenes, Stammelndes, das zum Herzen drang. »Hann – ich hab' dir nie was getan.«

»Ne – ne,« schluckte der Junge.

»Mir kannst du alles sagen.«

In seiner Aufregung überfiel ihn wieder jenes verwünschte Stammeln. Und diesem hilflosen und doch fanatischen Klang gegenüber unterlag Hann widerstandslos.

Der Junge zitterte: »Pauling, nich böse sein.«

»Nein.«

»Der Schäfer – will einen Spruch aus der Bibel reißen, und den soll Vating verschlucken.«

»Verschlucken?«

»Ja, verschlucken,« sagte Hann ernsthaft.

»Und dazu soll ich ihm das heilige Buch überliefern?« entgegnete der Student entrüstet. Schon war er auf einen kleinen Schrank zugeeilt, auf dem oben ein paar Bücher standen, und nun riß er das umfangreichste an sich. Etwas Eckiges, Bäuerisches, Überzeugtes steckte in all seinen Bewegungen.

»Das Tiefste, das uns geschenkt ward, soll ich so mißbrauchen lassen? So – so – Zu solch abergläubischem Betrug?« stammelte er von neuem. Er drückte das Buch an sich, daß ihm die Arme bebten. Dann machte er einen hastigen Schritt nach der Treppe zu und redete voller Zorn und Eifer weiter.

Er sei kein Frömmler, aber das dürften die Eltern eines Gottesgelehrten nicht begehen. Solche Sünde. Solch heidnisches Hexenwerk. Gleich – gleich wolle er selbst in die Krankenstube hinauf und Schäfer Sturm vertreiben. Mit Gewalt, wenn es sein müßte.

Dabei betrat er schon die erste Stufe.

Allein, unbeweglich, mit aufgestütztem Haupt, aus dem nur die Augen wie glimmende Punkte herausfunkelten, so saß Line zu seinen Füßen und sperrte ihm den Weg.

Er hätte über sie forttreten müssen.

»Line, so geh doch zur Seite,« herrschte er sie an.

»Nein – erst gib Hann das Buch.«

»Was?« stotterte der Student.

»Gib her,« flüsterte das Kind noch einmal mit seiner heißen Stimme und schlang trotzig die Arme um seine Beine, um ihn am Steigen zu hindern. »Du verstehst das nicht – der Schäfer kann hexen.«

»Oh, das kommt davon, das kommt davon, daß du so gar nichts lernst,« kam es heiser von den Lippen des Studenten. – »Aber das muß anders werden. Und jetzt gleich laß los – ich muß – ich muß hinauf.«

Er drängte sie mit seinem Fuß beiseite.

Line fiel, im nächsten Moment wäre der Gereizte an ihr vorüber gestürmt.

Da mischte sich eine neue Stimme in den Streit.

Am Tisch in der kahlen blauen Stube saß der mittelste der drei Brüder, Bruno.

Sekundaner war er drinnen auf dem Gymnasium in der Stadt. Ein hübscher, dunkelhaariger, siebzehnjähriger Bursche. Der Liebling der Eltern, der Liebling der Lehrer. Einer von denen, auf die alle Hoffnungen gesetzt werden, die dann die Zeit erfüllen soll!

Die Zeit!

»Paul,« sagte der Sekundaner mit seiner hellen, frischen Stimme, »gib doch das Buch. Wenn es nichts nützt, so schadet es doch auch nichts.«

Der Theologe beugte sich über das Geländer, um Bruno besser sehen zu können.

»Ja, ja, so bist du,« grollte er. »In jedem Wort sprichst du dich selbst aus. Immer nur auf den augenblicklichen Vorteil hin leben. Was man damit anrichtet und aufgibt, ganz gleich. Nein – aber es soll doch wenigstens einer hier in dem Hause existieren, der einen Willen und eine Meinung besitzt. Der Vater wird zu Gott berufen, die Mutter hat in ihrer Sanftmut nie gewußt, was Selbstbestimmung heißt. Du und dieses kleine Ding, die Line, ihr lebt wie in einem heidnischen Traum befangen, und Hann – Gott« – er zuckte die Achseln – »Hann ist es nicht so gegeben. Deshalb soll Vater noch beim Scheiden die Beruhigung empfinden, daß wenigstens eine Hand da ist, die alles zusammenhalten will.«

In seinem Eifer hatte er auf das so fest an sich gepreßte Buch nicht mehr acht gegeben. Jetzt vermißte er es.

Einen halblauten Ausruf der Überraschung stieß er aus.

»Bruno – Hann – wo ist die Bibel? – Wo?«

Ja, wo war sie?

Wie ein Schatten, katzenhaft, leichtfüßig, in all ihrem Schrecken vor dem Tode da oben leicht kichernd, flog Line die Treppe in die Höhe.

In ihren Händen etwas Schwarzes, Umfangreiches.

»Line – Line,« rief der Student totenbleich hinter ihr her.

Da zögerte sie an der Tür noch einen Moment. Als sie aber Schritte, Sprünge vernahm, duckte sie sich, und – durch die entstehende Türspalte steckte sie etwas hindurch.

»Da – «

Ihr Atem pfiff.

»Ich dank dich, mein Döchting,« tönte es von drinnen.

Es war geschehen.

Im gleichen Moment fühlte sie sich an den Schultern gepackt. Oh, wie heftig dieser große, schmale Mensch immer zugriff mit seinen Händen, die nichts als Sehnen und Knochen waren. Und doch empfand das wilde, kleine Wesen eine Art Ehrfurcht vor ihm.

»Du – du Geschöpf,« keuchte er, »du bist wie solch' kleine, böse Hexe – aber warte, das muß anders werden. Und wenn ich mich dabei an dir vergreifen sollte. Diese schreckliche Unbildung muß aus dem Hause. Warte nur.«

Wie wenn er gar nicht wüßte, was er tat, schüttelte er sie zornig hin und her.

Das Kind gab keinen Laut von sich. Nur als Bruno, erschreckt über das dumpfe Geräusch dieses stummen Ringens, mit einem Lichtstümpfchen an die Treppe trat, da sah der Student, wie ihre Augen ununterbrochen und fest in die seinen blickten.

Eine große, merkwürdige Ruhe wohnte in ihnen.

Da ließ er von ihr ab, als habe er sich an einem Dorn gestochen.

Tief seufzte er auf und wollte eben wieder hinuntersteigen, als die Tür des Krankenzimmers sich in ihren Angeln drehte. Und in dem breiten Lichtschein stand die kleine Frau Klüth und sagte mit ihrer ebenen Stimme: »Vating will euch alle noch eins sehen. Kommt!«

Hierbei verlor ihre Stimme den ruhigen Klang. Aber den halbfertigen Strumpf hatte sie noch immer in den Händen.


* * *

»Ja, nun seid ihr alle da,« flüsterte der Lotse und hob sich weit aus den Kissen heraus, um die Anwesenden zu überzählen.

Seine Hand schwankte dabei hin und her —

»Und Paul – und Bruno – und Line – und Hann – un Mudding – un der oll Schäfer – un mein Bootsmann Dietrich Siebenbrod – ihr seid alle da – ja, ja, das is mein Bootsmann. Mit dem zusammen hab' ich damals die kleine Line gerettet. Prösting Dietrich – wann werden wir wieder eins von dem feinen Kognak trinken? – von dem feinen Kognak. – Ja, ja, Dietrich Siebenbrod – das mußt du nich tun, ümmer so viel trinken, sonst bist du 'n guter Kerl – und verstehst deine Sach! – Komm Mudding – komm her – gib mich deine Hand. Und Dietrich Siebenbrod gib mich auch deine. – Ich muß nu rauf – das nützt allens nichts – Schäfer Sturm, der doch sonst seine Sach versteht, nützt da auch nichts. – Hör', Dietrich Siebenbrod, da sollst du auf mein Haus aufpassen, denn du büst 'n anständiger Kerl und verstehst deine Sach'. Ja, Mudding, das is Dietrich Siebenbrod. – Du, Mudding und Siebenbrod, ihr bleibt zusammen. – Und wenn's mit der Lotsenanstellung nichts is, denn is es mit der Fischerei was. Ja, ja – da hat man dann auch weniger Zeit, dann trinkt man auch nich soviel. – Der verfluchtige Kognak, – Mudding, nu spür ich's. – Und du und Dietrich Siebenbrod, ihr bleibt zusammen. Und dann paßt ihr auf die Kinder auf, damit da was draus wird. – Und – und – Siebenbrod, klopf' mich auf den Rücken, mir ist's, wie wenn ich in der See läg. Weißt noch, wie wir das kleine Jöhr, die Line, von der schwedischen Bark gerettet haben, und keiner wußt, wie das Ding hieß? – Lining, komm her – steh nich so in der Ecke – sterben muß jeder mal. – Du bist ümmer 'n drolliges Ding gewesen und hast mir viel Spaß gemacht. Ja, und Mudding, unser Ältester wird Paster – Paster – ja – denn er is 'n feiner Kopf. Und wenn's auch viel Geld gekostet hat – ja, Siebenbrod, gar zuviel Geld – 's freut mich doch. 'n Paster, – 'n wirklichen Herrn Paster, hab ich doch zustand' gebracht. Und was unser zweiter is, Bruno – der is klug, der is sehr, sehr anschlägig – hat auch was gelernt. – Da hat mich Konsul Hollander versprochen, er kommt zu ihm ins Kontor – Schiffsreeder – Bruno wird eins 'n reicher Mann werden – Hollander hat ja auch man so klein anfangen, na, man kann nie – nie wissen. – Und ja, paß auf – ich sag weiter nichts.

»Und was soll nu aus Line werden? Line? – Line? Ja, das weiß ich nich, darauf versteh ich mich nich. Da wird schon einer kommen. – Aber nu – nu mit Hann. – Hann, wein' nich, du kannst da auch nichts für. Lernt nichts – und hat nichts gelernt – oh, Siebenbrod, den mußt du hier anbändigen. Is'n guter Jung, un 'n Boot regiert er auch ganz gut. Den müßt ihr hier so nebenher mit auffüttern. – O je, Hann, wein' nich, du kannst da auch nich für. – Siebenbrod, klopf' mich auf den Rücken. – Und nu, nu ruf mir die Lotsen mal her – du sagst doch, sie stehen hier an der Tür, die Kollegen. Na, denn soll'n sie raufkommen. Ja, 's is gut, Siebenbrod, ruf 'runter!

»Je, da seid ihr ja, ihr zwei, oll Kusemann un Friedrich Pagels. – ? – Je, nu nehmt man an, vor vier Wochen nu noch Dienst getan – und nu jetzt soll's losgehn. – Na, oll Kusemann – ich dank dir auch, daß du das mit Hann so gut meinst, dem armen Jung. Aber tu mich den Gefallen, mußt ihm auch nich mehr so viel dumm Zeug erzählen. Und du, Pagels – na, hast du auch wieder das verschnürte Bein? – Ja, ja, auf die Art geht das mal mit uns allen zu Ende. – Ich wollt dich fragen, ob du wohl mein zweites Boot kaufen willst. 's kann ein Zesner draus gemacht werden. Ganz bequem. Und du hast doch die Erbschaft getan und kannst gleich bezahlen. Und bei mir is das man – mit dem Begräbnis – verstehst du – es muß doch gleich Geld da sein. Und wir haben nu so viel eingebrockt durch die Krankheit und das alles. Und wenn du zweihundert Taler so geben würdest – Weniger? – Na, einhundertachtzig. Aber dafür is 's halb umsonst, nich war, Siebenbrod? Also, 's is zwischen uns abgemacht, Friedrich Pagels – ihr habt's gehört. —

»Und – und – Paul, komm her, du büst mein Paster, sing was Geistliches, ein schönes Gebet, du kannst ja – Und, und Mudding, ich dank dich auch für alles – und – und der Kauf mit Friedrich Pagels ist abgemacht – und Lining – un – un Hann – un – abgemacht – is – allens!«

»Nu 's vorbei,« murmelte der aufgeschwemmte Lotse mit dem verschnürten Bein, dem die Wassersucht deutlich anzumerken war.

»Das is es,« flüsterte oll Kusemann und schlich zu Hann. Und nach einer Weile sagte er ganz leise: »Mich war's, als wenn ich so was Graues an den Fenstern hätt' entlangflattern sehn.«

»Wollen ihm die Augen zudrücken,« sagte der riesige Siebenbrod und näherte sich vorsichtig dem Bett. Und als er seine Pflicht erfüllt hatte, brachte er noch stockend heraus: »Schlaf woll, Herr Klüth.«




III


Es war am Abend nach dem Begräbnis.

Da begab sich folgendes:

Die leidtragenden Fischer und Lotsen, die so altertümlich in ihren weit abstehenden, schwarzen Gehröcken und den unförmigen, pudligen Zylindern aussahen, waren nach einem reichlichen Leichenschmaus abgezogen. In dem Stübchen, in dem der Kranke so lange gelegen, blieben nur seine beiden Ältesten zurück, um in einem alten Rollpult nach Papieren zu suchen, die der Verstorbene vielleicht hinterlassen. Es sollte eine Verschreibung des Magistrats auf eine Pension vorhanden sein.

Wenigstens hatte sich oll Kusemann während des Leichenschmauses bei einem Glase Kirschlikör urplötzlich darauf besonnen.

Wenn das wirklich ausnahmsweise kein Geflunker war! Wenn das Wahrheit wäre! —

Fast ohne zu sprechen suchten die beiden.

Das Fenster stand offen. Man wollte auslüften. Unterdes befanden sich die andern Trauernden auf dem Hofe hinter dem Häuschen.

Es war ein kleiner, ungepflasterter Hof. Rings herum ein Bretterzaun, an dem rote Johannisbeersträucher in die Höhe rankten. In der Mitte ein niedriges, grünmoosiges Rohr, die Pumpe. Ganz in der Ecke, auffallend niedrig, mit Moos und Schindeln gedeckt, ein Stall für drei Kühe und daneben, nicht größer als eine Hundehütte, ein hölzerner Schweinekoben.

Aus ihm drang Schnuppern und Schnaufen den ganzen Tag. Auf dem schrägen Dach jenes Kobens saßen an diesem Abend Hann und Line.

Beide in ihren schwarzen Traueranzügen.

Der Junge ungeschlacht, wie ein verzauberter kleiner Schornsteinfeger; das Mädchen vornehm, wie die Prinzessin, die den Schweinehirten heiratet.

In dem Kuhstall aber weilte noch ein anderes Paar. Ein älteres. Hier saß die Witwe, die kleine Frau Klüth, mit ihrem vergrämten Gesicht auf einem Schemel und verrichtete langsam und trauervoll ihr abendliches Werk. Sie melkte ihre wohlgenährten, glänzenden Kühe.

An der Schwelle, leicht an den Pfosten angelehnt, sah Dietrich Siebenbrod, gleichfalls im Trauerrock, diesen Geschäften nachdenklich zu.

Er hatte eine kleine Pfeife in der Hand. Aber er rauchte nicht. Er hielt das in diesen Augenblicken für unschicklich.

Ein wundervoller Herbstabendglanz lag auf dem Fischerdörfchen.

Bäume und Dächer leuchteten einen unbestimmten matten Schimmer. Am Himmel zogen lichtrosige Wolken dahin. Rosig durchleuchtet ringelte sich Rauch aus den Schornsteinen. Überall tiefe Ruhe. Nur vom Bodden strich ab und zu ein leichter Windzug daher, und dann sah man fern durch die Bäume und Büsche, wie die See draußen ihre Farben änderte.

Ein Jagen von Grün und Zitterblau!

Dann wieder Stille.

Da regte sich Line auf dem Koben.

»Sprich was,« sagte sie zu Hann und stieß ihn leicht an den Arm. »Es ist so häßlich, das Stillsein.«

Sie fürchtete sich heimlich. Denn ununterbrochen, klammerfest wurde sie von diesem einen Bilde gefangengenommen, wie die Lotsen den Sarg heruntergelassen, die Erdklumpen hohl daraufgekollert, und wie oll Kusemann hinter ihr, scheinbar absichtslos, die Worte geflüstert: »Sieh, wenn die letzte Handvoll drauf liegt, dann macht sich die Seele auf ihren Weg.«

»Ja, dann macht sie sich auf den Weg,« ging es ebenfalls durch Hanns Gedanken, denn auch er hatte, ohne daß Line davon wußte, die Worte oll Kusemanns wohl vernommen.

Und zum erstenmal – an dem dunklen Grab – regte sich bei dem blöden Jungen, dem das Lernen versagt war, eine nachdenkliche Frage.

Jetzt sprach er sie aus. Langsam und stockend in den lichten Abend hinein, während unter ihm die Schweine schnüffelten und ganz nahe die Milch in den Eimer klatschte.

»Lining,« begann er, »hast gehört, was oll Kusemann sagte? – Weißt du, was 'ne Seel' is?«

»Nein – laß,« versetzte die Kleine ängstlich und zog an ihrem Kleid. »Aber oll Kusemann meinte ja vorgestern, sie säh' grau aus.«

»Ja, grau sieht sie aus,« nickte der Junge schwerfällig, »denn irgend 'ne Farb' muß sie haben. Schweine sehen gelb aus und Rosen rot, und Seelen werden dann woll grau sein.«

»Vaters Seel' is nu im Himmel«, – sagte Line geheimnisvoll. »Sieh, da oben, wo die rote Wolke geht, da oben sitzt er gewiß und sieht zu, wie hier das Vieh gefüttert wird. Das hat er sonst ja auch immer gemacht. – Meinst du nicht, daß er's da oben gut hat?«

»Das hat er,« bestätigte Hann ernsthaft.

»Woher weißt du das?« fragte Line rasch.

Hann rückte eine Weile hin und her, als getraue er sich nicht recht. Dann beugte er sich vor, warf einen spähenden Blick in den Kuhstall hinein und schob sich endlich ganz dicht an Line heran, so daß die beiden Köpfe sich eng berührten.

Sonst ließ ihn Line nie so nahe heranrücken, ohne die Hand gegen ihn zu erheben.

»Ich weiß, daß er's gut hat,« brachte der Junge scheu hervor und seufzte, als wenn ihn ein Geheimnis drücke. »Aber sieh, du mußt es Paul nicht sagen.«

»Was denn, Hann?«

Wieder ein schwerer Atemzug, dann rasch: »Ich hab neulich in den Himmel reingekuckt.«

»Du?«

»Ja, ich.«

»Womit?«

»Oll Kusemann hat in seinem Wetterhaus ein Rohr. Damit kann er in den Himmel kucken. Und da hat er es mir auch gezeigt.«

»Hann – Hanning, und was hast du da gesehn?«

»Lauter Glänzendes, das so hin und her zieht, und dann solche grauen Punkte, die fliegen überall herum. Das sind die Seelen. Oll Kusemann hat es mir ganz genau erklärt.«

»Hann – «

Line zögerte einen Moment. Dann schlang sie ihren Arm in den seinen. Die Frage war zu wichtig.

»Hast du auch den lieben Gott gesehn?«

Hann zögerte und seufzte wieder.

Es fiel ihm zu schwer.

»Hann, was tat der liebe Gott?«

»Line – ich darf nicht drüber sprechen. Oll Kusemann hat es mir direkt verboten. Aber« – er wälzte sich seine Last ab – »du sollst es wissen. Der liebe Gott sitzt an einem großen goldenen Tisch und um ihn herum lauter graue Seelen.«

»Und was machen sie da?«

»Da essen sie Mittag.«

»Mittag? Jemine, essen die da oben auch?«

»Jawoll – die Schüsseln und Gläser hab' ich genau erkannt. Oll Kusemann sagt, die wären all' von Sonnenschein.«

Line starrte ihn an.

»So schön is es da oben?« fragte sie endlich. Begierig hob sie die Augen zu den großen roten Flecken empor, die sich allmählich silbern ränderten.

Es wurde immer dunkler. – Plötzlich schrie Line auf.

»Line, was is?«

»O da oben!« rief sie und legte schaudernd den Kopf auf das Dach des Kobens. Sie zitterte.

Deutlich hatte sie den alten, toten Lotsen geschaut, wie er in seinem roten Schiff über sie hinfuhr. Dabei hatte er »Line« gerufen – ganz deutlich »Line«. Jetzt hob auch der Junge das Haupt. Dann nahm er die Mütze ab und grüßte nach oben.

»Ich hab' ihn auch gesehn,« flüsterte er dabei.

Für eine Weile herrschte tiefe Stille zwischen den Kindern. Erst nach einiger Zeit nickte Hann ernsthaft vor sich hin und legte den Zeigefinger an seine plumpe Nase: »Ich hab's mir gleich gedacht,« sprach er, »daß er nun da oben als Schiffer angestellt is. Ich möcht' auch gern einmal in solch schönem roten Schiff fahren.«

»Möchtest du denn auch schon dahin?« fragte Line frierend vor Furcht und schüttelte die schmalen Schultern.

»Da kommen alle Menschen hin, die hier unten nicht gesessen haben.«

»Und die gesessen haben?«

»Die kommen zum Teufel. – Oll Kusemann hat ihn erst neulich in Stralsund getroffen. Er trug einen Zylinder.«

»Nein, nein,« zitterte Line und nahm rasch Hanns Hand in die ihre.

Sie hielt ihn ganz fest.

Aber nach ein paar Augenblicken sprach Hann nachdenklich weiter: »Das hat der liebe Gott schlecht gemacht.«

»Was, Hann?«

Immer näher drängte sie ihre zitternden Glieder an den Jungen heran.

»Daß er nicht gleich lauter Seelen gemacht hat. Dann brauchte man nicht erst in solch engen, schwarzen Kasten, und die Begräbniskosten wären auch nicht da – und man hätte gleich eine Anstellung in so einem feinen, roten Schiff.«

In diesem Moment ging ein Windstoß durch die Bäume. Altes Laub flog den Kindern um die Ohren, und eine der Kühe nebenan stieß ein wehklagendes Brüllen aus.

Da durchdrang das kleine Mädchen ein überwältigender Schrecken. Heftig, wie sie war, glaubte sie, Hann wäre an allem schuld. Und während sie ihn mit aller Kraft in den Arm kniff, so daß er einen heiseren Schmerzensruf ausstoßen mußte, schrie sie wild auf: »Du Dummerjahn – bloß hier unten bleiben – ich will nich solch ein Gespenst werden – nein, nein, ich will nich grau sein.«

Heftig sprang sie auf den zottigen Hofhund zu, den sie schutzsuchend umklammerte. Und Pluto, der Hann nicht leiden konnte, heulte wütend nach dem Dach des Schweinekobens hinauf und fletschte die Zähne nach dem Jungen.


* * *

So hob über den Schweinen die Geburtsstunde eines Philosophen an. In dem Kuhstall daneben aber wurde zu derselben Spanne Zeit das Schicksal entschieden, das alle, die sich jetzt in dem Lotsenhäuschen befanden, aneinanderketten, verwirren und dann auf ewig trennen sollte.

Im Abendglanz lachte dazu von fern die See, die sich doch einmal zwischen die Schuldigen legen sollte, unschuldig wie ein kleines Kind, das in azurner Wiege geschaukelt wird.

Der Bootsmann Dietrich Siebenbrod lehnte am Pfosten des Kuhstalles und beobachtete, wie die Witwe seines Brotherrn die Kühe melkte.

Der leichte Seewind spielte mit den Enden des ihm so ungewohnten Bratenrockes, und unter dem wolligen Zylinder, der noch immer sein Haupt bedeckte, fühlte sich Siebenbrod feierlich angeregt.

Deshalb sprach er auch kein Wort, sondern horchte mit Ernst auf das Einströmen der Milch.

»Strull – strull,« ging es gleichmäßig fort.

Da schlug vom nahen Kirchturm die Uhr, deren goldene Buchstaben in der Abendsonne gleißten und funkelten.

Die entscheidende Unterhaltung begann. Erst harmlos und ungewollt, wie fast alle großen Ereignisse.

»Acht,« sagte Dietrich Siebenbrod, und nachdem er seine sogenannte Warmbieruhr gezogen hatte, setzte er hinzu: »Nu is der Herr all sechs Stunden begraben.«

»Ach, Gott!« —

In das »Strull-strull« mischte sich ein Schlucken, man hörte das Rascheln des frischen Heus, das von den Kühen aus den Raufen gezogen wurde, und dann rann die Milch wieder stoßweise in den Holzeimer.

Nach einer Pause der Sammlung fuhr Siebenbrod fort: »Der Lotsenkapitän aus Göhren war auch beim Begräbnis.«

Und die melkende Witwe antwortete seufzend: »Ja, ja, sie haben meinem sel'gen Mann alle viel Ehr' angetan.«

Darauf zog sie mit der Linken ihr Taschentuch hervor und führte es an ihre weinenden Augen, mit der Rechten melkte sie fürbaß.

»Den Lotsenposten bekomm' ich nich,« sprach Siebenbrod ruhig weiter – »Der Kapitän hat gesagt, es is wegen …«

»Den Schnaps,« tönte es aus dem Stall – »ja, ja Siebenbrod, das is nich recht von Ihnen.«

»Jetzt gewöhn' ich mir ihn aber ab,« unterbrach der Bootsmann mit festem Entschluß.

»Is das sicher?«

»Ganz sicher.« —

Die Witwe setzte den vollen Eimer beiseite, jedoch bevor sie den andern heranzog, wandte sie ihr ältliches, vergrämtes Gesicht der Stallöffnung zu. Dann betrachtete sie den Bootsmann aufmerksam, brach aber sofort, kopfschüttelnd, in ein leises Weinen aus: »Ne – ne, – es is zu slimm.«

»Was? – Frau Klüth.«

»O nix nich – Siebenbrod – ich meinte man so.«

Damit machte sie sich an die letzte Kuh.

»Strull – strull.«

Siebenbrod rührte sich. Er hatte sich in der Nacht vorher alles überlegt. Es ging nicht anders. Er mußte es tun.

»Frau,« begann er und nahm vor der Wichtigkeit des Moments den Hut in beide Hände: »Ich wollt' nun noch fragen, wie es mit mir wird?«

»Mit Ihm?«

»Ja, da ich ja nun den Lotsenposten nich bekomm, und da das mit der Pension wohl auch man dumm's Zeug von oll Kusemann is, so wollt ich man fragen, wie ich mich von nu an gehaben soll?«

»Je, Siebenbrod, wie mein lieber Mann gesagt hat – dann wollen wir es in Gott's Namen mit der Fischerei versuchen. Man muß doch leben. Und vier Kinder sind auch nich leicht durchzubringen.«

»Je, das sag' ich man. Aber – aber, Frau, nehmen's nich übel – ich bin doch nu auch all siebenunddreißig Jahr alt.«

»Je, was meint Er damit?«

Die Witwe melkte hastiger, so daß die Kuh ein wehklagendes, mißbilligendes Brummen ausstieß.

Siebenbrod überzählte noch einmal die Kühe, dann sagte er ruhig: »Je, es is man wegen den Zesnerfischern.«

»Was wollen die, Siebenbrod?«

»Strull – strull.«

»Je, Madamming, nehmen's nich übel – aber sie nehmen keinen Unverheirateten auf.«

»Huch,« rief die Witwe tief erschrocken.

Was der Bootsmann da vorbrachte, bedeutete ja eine Gefahr für das verwaiste Häuschen. Ein Fremder würde sich ihrer sicher nicht annehmen, und die paar Groschen, die ihr armer seliger Mann erübrigt hatte, ja, du lieber Gott, die reichten gerade für ein halbes Jahr.

»Strull – strull.«

Und dann das Studium von Paulen – und Bruno mußte erst Kaufmannslehrling werden (Ladendiener nannte es Frau Klüth). Gott – o Gott, die offenste Angst sprach sich in dem ältlichen, so merkwürdig glatten, ausdruckslosen Weiberantlitz aus. Und wenn nun Siebenbrod sie auch noch im Stich ließ? Vielleicht besaß er bereits eine Braut? Ja, dann saß sie ja ganz hilflos mit zwei alten Booten und vier unversorgten Menschen da!

Was war hier zu tun? Sie wurde sehr nervös, und ihre Gedanken schwenkten immer rechnender von dem Toten zu dem Heute zurück.

»Hat Er denn schon eine?« begann sie plötzlich überstürzt, und als Siebenbrod ein wenig verlegen vor sich hinnickte, setzte sie halb weinend hinzu, warum er das denn nicht schon früher geäußert hätte.

An der Kuh wurde lebhaft gerissen. Schmerzlich brüllte das Tier auf. —

»Muh!«

»Je, Madamming,« sagte Siebenbrod schon etwas sicherer, »ich dacht mich auch, es hätt' bis nach dem Begräbnis Zeit.« Und während er den wolligen Zylinder etwas langsamer drehte, fügte er noch ehrbarer bei: »Denn vorher schickt sich das doch wohl nich gut?«

»Ach, mein Gott!« murmelte die Witwe.

Dann trat Stille ein.

Eine lange, feierliche Schweigsamkeit, während welcher das Strull-strull immer langsamer auftönte, um endlich ganz zu verstummen. Auch Siebenbrod versank wieder in seine würdige Ruhe. Nur daß er jetzt den Zylinder aufsetzte, als hätte dieser seine Dienste verrichtet, und daß er aufmerksam in die Ecke des Kuhstalls hinüberlauschte, von wo einige schwere Seufzer laut wurden. Auf einmal sprach aus der Dunkelheit eine traurige Stimme: »Siebenbrod, will Er sich denn wirklich das Trinken abgewöhnen?«

»Je, Madamming, seit drei Tagen all keinen Tropfen mehr. Nich rühr an.«

»Das is gut,« lobte die Witwe und fiel wieder in ihr früheres Grübeln.

»Ja,« fuhr Siebenbrod nun schon beruhigter fort, »und die beiden Ältesten gehen ja nun aus dem Haus, und Hann lern' ich an, und wenn dann die lütte Dirn auch erst in die Stadt kommt, je, dann werden wir ganz gut fertig werden, Madamming.« Und die Witwe nickte in ihrer festeren Ecke und murmelte in sich hinein: »Ja, ja, Siebenbrod, das is ja soweit ganz richtig.«

»Je, Madamming, und dann freu' ich mich auch, daß alles so schön in Ordnung is. – Denn ich bin nu auch all in die Jahren. Lassen Sie man, ich werd' Sie die Eimers raustragen helfen.«

Von der Dorfuhr schlug es neun. Ein weiches Abenddunkel sank auf Moorluke. Auf den beiden schlanken Pappeln vor dem Häuschen hatte sich eine schwarze Wolke junger Stare niedergelassen und zwitscherte hundertstimmig Braut-, Wander- und Jugendlieder.

Und der alte Klüth ruhte jetzt doch bereits die siebente Stunde.




IV


An einem der nächsten Tage – noch wußten die Kinder nicht, was im Kuhstall beschlossen war – wurde Hann ins bürgerliche Leben eingeführt.

Er lag gerade mit Line auf einer der schönen grünen Wiesen, auf denen Moorluke gebaut ist, und die sich bis zum Meer hinunterziehen. Die letzten Gräser biegen und wiegen sich über den sanften Wassern und flüstern mit den Stichlingen. Manchmal schießt auch ein rotkäppiger Barsch heran, beißt vor Lebenswonne in die schwanken Halme und saust wieder in die schillernde Weite zurück. Hann wußte das alles.

Er fühlte es, wenn er es auch nicht sah. Seine Umgebung war das einzige, was er gelernt hatte, und was ihm vertraut war.

Da, wo das Gras am höchsten und üppigsten grünt, da liegen die beiden Kinder.

Line ruht auf dem Rücken. Um sie herum wehen wunderbar feine, seidig-graue Gespinste. Es sind die zarten Heringsnetze, die aus meerblauer Seide geknüpft sind, damit sie mit der Seefarbe übereinstimmen und den scheuen Silberflößler nicht erschrecken. Jetzt sind sie zum Trocknen aufgehängt. Wenn der leichte Seewind zuweilen an sie rührt, dann zittern sie so seltsam um das Dirnchen, wie ungeheure, phantastische Spinnenwebe, in denen sich ein Nixenkind gefangen.

Es ist Vormittag.

Ringsherum Sonnenschein.

Das Meer funkelt wie ein weißgedeckter Tisch, auf dem eine Million in Goldstücken aufgezählt liegt.

»Line,« sagt Hann, der in seinem abgetragenen, blauen Drillichanzug in einiger Entfernung von ihr liegt und, den plumpen Kopf in beide Hände gestützt, aufmerksam einen wimmelnden Ameisenhaufen betrachtet: »Hast du wohl acht gegeben – «

»Still,« unterbricht Line unwillig.

»Ich mein', daß Dietrich Siebenbrod nun ümmer bei uns zu Tisch ißt?«

Wieder eine heftige Bewegung der kleinen Hand: »Sei ruhig.«

»Je, warum?«

»Weil ich da oben raufkuck.«

»Lining, siehst du was?«

»Nein – aber es is so häßlich, wenn du sprichst.«

»Oh, Lining, warum is das so?«

»Das weiß ich auch nich. Es is häßlich.«

»Je, dann kann ich ja auch ruhig sein.«

»Das tu. Dann kommt es wieder.«

»Was kommt?«

»Das Schöne.«

»Welches Schöne?«

»Dummer Jung. – Als wenn mich einer streichelt.«

»Oh, Lining – «

»Sei still.«

Und nun liegen sie beide wieder wie vorher. Die feinen blauen Maschen zittern und beben, und die fleißigen Ameisen rennen auf ihrem Hügel im Kreise.

Allmählich vergißt Hann, wie die kleine Pflegeschwester ihn schlechter als Pluto, den Hofhund, behandelt. Aber das ist ja schließlich auch so natürlich. Sie ist so viel vornehmer als er. Auf einer untergehenden schwedischen Bark ist sie gefunden worden. Vielleicht stellt sie wirklich was sehr Hohes vor. Am Ende gar eine Prinzessin. Ja, ja, und solch eine, die muß wohl so kurz angebunden sein. Das hat er ja immer gehört.

»Na, denn is es ja ganz in Richtigkeit,« meint Hann vor sich hin.

Damit wendet er sich wieder seinem Ameisenhaufen zu und beugt sich tiefer und tiefer darüber.

Wie die Tierchen alle beladen herumrennen. Ganze Züge in einer Richtung. Das ist sehr wunderbar. Der Junge denkt zum erstenmal darüber nach.

Da fällt unvermutet ein langer Schatten über den grünen Plan. Er gleitet langsam näher.

Line erhebt sich halb, blinzelt nach vorn und sagt wegwerfend: »Da kommt Dietrich Siebenbrod.«

»Ja, Lining,« antwortet Hann, »leiden kann ich ihn auch nicht recht.«

»Du auch nicht?«

»Ne, er spuckt ümmer in die Stuben.«

»Ja, ja – wollen ihn heute mal recht ärgern,« regt Line an.

Und Hann ist gänzlich damit einverstanden. Ganz selbstverständlich. Er ist immer nur der Gefolgsmann seiner Dame.

Der Bootsmann steht nun in seinen großen Wasserstiefeln vor ihnen.

Er hat ein gutmütiges, hageres, dunkelbraungebranntes Gesicht, glanzlose, schwarze Augen, eine große Menge schwarzer, schweißnasser Haare und eine glühende Adlernase.

Als er so vor ihnen steht, sieht er mit Vergnügen auf die schlanken, nackten Beinchen von Line herab, die in der Sonne seidig glänzen.

Die kleine Dirn findet er niedlich. Auch Hann mag er leiden. Nur hält er es an der Zeit, daß aus dem Jungen etwas wird. Überhaupt, seit aus dem Kuhstall die Zukunft ihn, wenn auch nur mit einem alten, unbeweglichen Weibsantlitz angelächelt, ist er von väterlichen Gefühlen beseelt.

Verwundert blickt er auf die beiden Kinder hinab, die so stumm daliegen, als wäre er gar nicht vorhanden. Nur Line schlenkert ein wenig mit dem rechten Bein hin und her, als schlüge sie damit den Takt zu einem Liedchen. Hann dagegen starrt unbeweglich in seinen Ameisenhaufen.

»Morgen,« beginnt Siebenbrod gemütlich, denn der Sonnenschein, die Kinder und das Gesumm der Käfer wecken Wohlgefallen in ihm.

»Aber ja nicht antworten,« »Man jo nich« – Auf keinen Fall; das ärgert den Säufer sicherlich.

Die kleinen Boshaften verhalten sich mäuschenstill.

Siebenbrod wundert sich, sperrt den Mund auf und faßt sich an die Nase.

Die Stille, das Schweigen, das seltsame Benehmen verwirren ihn sichtlich.

Wozu tun das die Jören?

»Was gibt's denn?« räuspert er sich endlich, indem er sich zusammennimmt. »Was is hier?«

Stille.

Nur Line summt mit den Käfern um die Wette und dirigiert das Konzert immer geschickter mit dem Fuß.

»Na, da soll doch,« bricht Siebenbrod, noch immer voller Erstaunen, los, denn an einen Kinderhaß, an eine Rebellion denkt er noch lange nicht. – Auch geht ihn die Dirn schließlich nichts an, ist zudem auch 'n netter Racker.

»Jung, bist du dumm? – Was kuckst du so in den Haufen? Steh gleich auf!«

Line wendet das Köpfchen und schielt zu ihrem Begleiter hinüber. Aber der bleibt fest. Er ist stolz, sich vor seiner Dame einmal zeigen zu können.

Er rührt sich nicht.

»Hann!« brüllt Dietrich plötzlich kirschrot, denn er begreift, und die Nase beginnt so merkwürdig zu zittern und zu funkeln, daß beide Kinder in ein befriedigtes, höhnisches Gelächter ausbrechen.

Siebenbrod reißt den Jungen in die Höhe: »Verfluchtiger Lümmel, willst du woll?«

»Laß los,« schreit Hann wütend dagegen. Aber die Habichtkrallen des andern geben ihn nicht frei. Sie wirbeln ihn vielmehr im Kreise umher, wie ein altes Kleidungsstück, das von dem Trödler von allen Seiten betrachtet werden soll.

Entsetzt springt jetzt auch Line in die Höhe.

Das bedeutet keinen Spaß mehr. Dietrich ist gewiß wieder betrunken.

»Laß ihn los,« will auch das kleine Kind rufen, aber der Laut bleibt ihr in der Kehle stecken.

Starr, gebannt, mit weiten, erschreckten Augen muß sie das Begebnis mit ansehen.

Das wickelt sich jedoch unheimlich schnell ab.

Siebenbrod wirbelt den Haufen Kleider noch zwei-, dreimal mit wütender Kraft herum, dann wirft er ihn ins Gras.

»Da lieg.«

»Was? – Was?« – heult Hann, halb vor Wut, halb vor Schmerz. »Was hast du mir zu sagen? – du oll Säufer? – Nichts – du büst ja man bloß unser Bootsmann, unser Knecht.«

»So,« lacht Siebenbrod höhnisch, »dann komm noch eins her, mein Hühning.«

Wieder streckt er die Klaue aus. Hann, rasend mit weißem Schaum vor dem Mund, entgeistert von der Scham, vor seiner Dame mißhandelt zu werden, hebt einen großen Feldstein in die Höhe – und dann – der arme Junge. – Er ist kein David, der den Goliath zerschmettert.

Mit wilden, funkelnden Blicken verfolgt Line nun das sich aufrollende Bild.

Hinten auf den blauen Hosen hat Hann einen grauen Flicken eingenäht. Der glänzt jetzt in der Sonne, als er über dem Knie von Siebenbrod liegt, und gerade auf diesen Fleck prasseln die flachen Hiebe des Bootsmannes hageldicht nieder.

Immer mehr – immer mehr – bis der Schall selbst das Schlucken und Schluchzen übertönt.

»Wart, mein Hühning, wirst du das wieder tun?«

»Nein – nein,« wimmert es.

»Na, dann verbitt' dich.«

»Oh – oh – ich verbitt' – mich.«

»Na, denn 's gut – Und nu gib mich die Hand, mein Söhning.«

Hann schleicht heran und gibt tiefgesenkten Hauptes die Finger.

»Na, dann 's gut – Nu is alles in Ordnung.«

»Oh – und oh – und oh – Line – Line – hat es gesehen.«

Da steht er im Sonnenschein, mitten auf dem zertretenen Ameisenhaufen, und schluckt und zittert am ganzen Leibe. Und ihm gegenüber verharrt noch immer das kleine Mädchen und sieht auf ihn hin.

Aber merkwürdig.

Ein seltsames, irrendes Lächeln schwebt dabei um die roten Lippen.

Der graue Fleck und die hohe Rundung, wie das aussah!

Wieder möchte sie lachen. Aber dort drüben weint der Gespiele so jammervoll, daß sie unbeweglich steht und zu ihm herübernickt.

Was sie jedoch beide nicht wissen, das ist das Merkwürdige, daß dieser Eindruck unverwischlich in dem Gedächtnis des Mädchens fortleben wird, daß er andere Gefühle auszulösen berufen ist, die Hann eines Tages mehr schmerzen müssen, als die schwielige Hand des neuen Stiefvaters Siebenbrod, und daß diese Zeit nicht mehr gar so fern liegt.


* * *

Er stand und weinte.

Line lächelte.

Und Siebenbrod meinte endlich befriedigt: »Nu komm.«

Dann nahm er ihn mit.




V


Nachmittags kehrte Hann pudelnaß zurück.

Der blaue Drillichanzug klebte an seinen ungelenken Gliedern, unaufhörlich leckte das Wasser von ihm herab; seine Mütze hatte er verloren.

Das waren die nächsten Folgen seines ersten Unterrichts. Zuvörderst hatte ihn Siebenbrod hinten an dem Steuer des weißen Lotsenbootes Platz nehmen lassen. Er hatte ihm gezeigt, wann man rasch, wann man langsam drehen müsse; er hatte ihm die Stellung der Segel erklärt und ihn zum Schluß in das schwierige Geschäft des Windabfangens eingeführt. Sodann wurde von Siebenbrod ein förmliches Examen über das eben Erläuterte angestellt, und bei jeder vergessenen Position tat ein gelinder Puff, zuweilen auch eine Ohrfeige das übrige.

Zuletzt aber kam der Höhepunkt des heutigen Tages. Ein Exerzitium, das Hann gewiß nicht so bald vergessen wird.

Sie segelten gerade im offenen Bodden.

Glatt, wie poliert, lag die glänzende Scheibe da. Nur fern und verschwommen, wie hinter zarten, blauen Nebeln, ragte das Dörfchen. Man vernahm von dort kaum das monotone Schlagen der Dorfuhr und zuweilen das Kläffen eines Hundes.

Am lichterfüllten, tiefen Himmel zeigte sich bereits das bleiche Viertel des Mondes.

Eben hatte Siebenbrod eine kleine Pause in seinem Unterricht eintreten lassen.

Mit aufgestütztem Kopf hockte er auf der zweiten Ruderbank und glotzte während des Hingleitens melancholisch auf den Vorratskasten des Bootes, in dem eine wohlgefüllte Kirschschnapsflasche stehen mußte, ein Genuß, dem er nun ein für allemal abgeschworen.

Wer würde jetzt wohl den feinen Tropfen trinken? Schade – schade – aber wenn man selbständig werden und in die vornehme Gilde der Zesnerfischer zugelassen werden wollte?

Kein Spaß, wahrhaftig!

Schwermütig nickte er mit dem Kopf, dann sah er zu Hann hinüber.

Der Junge hatte längst den Wind aus den Segeln verloren und träumte bekümmert zu der blassen Silberscheibe empor.

»Verfluchter Bengel!«

»Jesus!«

Der Knabe schrak krampfhaft zusammen. So weit war es schon gediehen.

»Na, ich tu dich ja nichts. Hab dich nicht, Jünging.«

Damit trat Siebenbrod auf ihn zu und pätschelte ihm auf dem Kopf herum.

Eine Weile sann er dann nach.

Ja, warum nicht? – Je eher, desto besser. Lernen mußte er es ja. Es war gut, wenn er ihm gleich diese große Wohltat erwies.

»Kannst du schwimmen, Hann?« fragte er deshalb mit plötzlichem Entschluß, wobei er seine Hakennase spürend in die Abendröte erhob.

»Ne, Siebenbrod.«

»Sag' Vater zu mich.«

»Du bist ja aberst nicht mein Vater.«

»Das schadet nichts. Sag' so.«

»Ne, ich kann nicht schwimmen, Vater.«

Der Junge begann wieder leise zu schaudern. Warum sollte er dem Bootsmann diesen Namen erteilen? Sein richtiger Vater schlief doch dort drüben unter den belaubten Ulmen, die man hinter der Kirche hervorlugen sah – Und weshalb grinste Siebenbrod so komisch bei dem Worte »schwimmen«?

»Siehst du,« bemerkte der Stiefvater, indem er noch näher an den sitzenden Jungen herantrat, wobei er mit gespreizten Beinen das Schwanken des Schiffleins zu verhindern suchte. »Das ist das Unglück bei uns Schiffern und Fischern. – Keiner kann. – Mein Vater is auf solche Weise vertrunken, und mein Großvater is auch vertrunken. Deshalb will ich dich jetzt die Kunst zeigen. Du willst ihr doch lernen?«

»Woll,« stotterte Hann mit Beben.

»Gut, dann komm zu mich – aberst vorsichtig.«

Hann kroch dicht neben den Stehenden hin. Der besah ihn sich schmunzelnd.

Jetzt folgte ja eigentlich ein großer Spaß. Und dann war's ja auch eine Wohltat.

»Fürchtest du dich?« fragte er noch einmal.

Der Knabe schüttelte mit zugeschnürter Kehle den Kopf. Sprechen konnte er nicht mehr.

»Na, dann pass' auf! – So wird's gemacht.« Ein rascher Griff – die Habichtskrallen hakten sich wieder, wie am Vormittag, in den Rockkragen des Jungen ein – dann hob er ihn hoch in die Höhe und ließ ihn zuvörderst ein wenig herumwirbeln.

»Du fürchtest dich doch nicht?« meinte er noch einmal ehrlich. – »Na, dann schwimm.«

Er ließ ihn los.

Plumps. Das Boot schwankte, als wollte es kentern. Hann versank sofort spurlos unter die Oberfläche.

»Na, also,« sagte Siebenbrod neugierig.

Nach ein paar Sekunden tauchte Hann wieder empor, kirschrot im Gesicht, mit Händen und Füßen wie besinnungslos um sich schlagend.

»So 's recht,« lobte Siebenbrod, »so bleib man bei.«

»Hilfe – Hilfe – laß mir ins Boot.«

»I ne, mein Jünging, dann lernst du ja nichts.«

»Ich – ich – kann nich mehr.«

»I – das glaubst du man. Siehst – stoß tüchtig aus – so 's schön.« Erst als Hann nach zehn Minuten wortlos das zweitemal versank, zog der Lehrmeister seinen Schüler auf die Planken zurück. Er war sehr zufrieden mit ihm. Aus Hann mußte etwas Erwähltes werden. Er hatte nach der Warmbieruhr eine volle Viertelstunde ausgehalten.

»Schön – schöning.«

Und wie der Junge völlig betäubt und teilnahmlos, zitternd und fröstelnd auf dem Vorratskasten saß, da schoß Siebenbrod der Gedanke durch den Kopf, daß er diese große Leistung auch gebührend ehren müsse. Rasch schloß er deshalb den Kasten auf, nahm die Flasche heraus, und als Hann errötend voller Ekel abwehrte, setzte er dem Jungen mit sanfter Gewalt das Glas an den Mund und zwang ihm mehrere Schluck hinunter.

»I, Jünging, das is dich ja gesund, der schöne Kirsch, so – so – siehst du – na, ich sag bloß, aus dich wird was – sollst mal sehn.«

Hann drehte sich etwas im Haupt. Aber dadurch steigerte sich Siebenbrods Zufriedenheit nur.

Wie schön roch nicht der geliebte Kirsch.

Wehmütig verbarg der Bootsmann das rubinfunkelnde Naß wieder in den Schiffsschrank. – »Ja, wenn man Zesnerfischer werden wollte.« Kein Spaß, wahrhaftig! Aber aus Hann wurde was! – Das stand fest.


* * *

Der arme Junge.

Er getraute sich nicht in das Lotsenhäuschen zurück, als Siebenbrod nach der gemeinschaftlichen Seefahrt in dem rotgepflasterten Flur verschwand. Noch zitterte er vom Kopf bis zum Fuß. Dazu summte der ungewohnte Alkohol förmlich in seinem Kopf herum. Er sah alles, als ob es auf Wolken tanze.

Und dann die Scham!

Geprügelt, durchgehauen, wie ein boshafter Köter. Nun wußten es doch gewiß bereits alle.

Ganz sicher, von Line mußten sie es längst gehört haben.

Oh, wenn bloß Line nicht dabei gewesen wäre. Das tat so weh. Er konnte sich selbst gar nicht erklären, warum das Bild des erstaunten, lächelnden Kindes in seinem Innern wie mit Messern eingerahmt schien.

Das riß und schnitt.

Ne, ne, lieber nicht Abendbrot essen, obwohl er vor Müdigkeit am liebsten sich auf die offene Dorfstraße geworfen hätte. Nein, irgend jemand dasjenige anvertrauen, was er erlebt. Wenn er das nur könnte!

Aber wem?

Der Junge dachte nach.

Seinen Brüdern?

Nein, nein, die waren zu fein dazu.

Sein Mudding?

Auch nicht, die weinte und gab selten Antwort.

Draußen klang im selben Moment eine Handharmonika durch die stille Abendluft herüber.

»Judemädel, wasch dich, kämm dich, putz dich schön,
Denn wir woll'n zum Tanze geh'n.«

Malljohann spielte wieder auf dem Dach seiner Kajüte, während am Bollwerk einige Matrosen mit ein paar Dorfmädchen dazu lachten und sangen.

Bewahre, was sollte Hann wohl unter solch Fröhlichen anfangen?

Ne, ne, Malljohann war auch nicht der richtige.

Aber plötzlich wußte er's.

Es gab nur einen.

Oll Kusemann.

Ja, zu dem mußte er sich schleichen.

Und es war so natürlich, daß der Knabe zu dem Lügenlotsen seine Zuflucht nehmen wollte. Denn dieser Phantast ohnegleichen, dem das Leben eine einzige bunte Unwahrheit, eine schillernde Seifenblase erschien, der sich an seinen eigenen, närrischen Geistessprüngen ergötzte wie ein Kind, das den Affenkäfig beschaut, – er brauchte Hann als sein Publikum, als seinen Hörer – und deshalb liebte er ihn. Und auch Hann verehrte den Alten leidenschaftlich als seinen einzigen Freund. Ja, in das Wetterhäuschen zu oll Kusemann mußte der Junge.

Vorsichtig, nach allen Seiten ausspähend, schlich der Geprügelte die wenigen Schritte bis zur Hafenmündung, wo auf einer Steinmole eine ausrangierte Badehütte stand.

Das war der Beobachtungsposten des Lügenlotsen.

Und richtig, da lehnte der Gesuchte in der offenen Tür, strich über seine schmucke, blaue Uniform und fuhr sich wohlig über den spitz geschorenen, grauen Kinnbart, denn oll Kusemann hielt sich trotz seiner Sechzig für einen schönen Mann, für einen Eroberer, von dem Frauen, Dirns und noch Jüngere zu erzählen wußten.

Als er den fröstelnden Jungen gewahrte, schielte er mit seinen fröhlichen, blauen Augen auf ihn hin, denn oll Kusemann schielte ein wenig, spuckte pfeilschnell und kunstgerecht seinen Priem dem Ankömmling vor die Füße und äußerte teilnehmend: »Na, Hann, bist ins Wasser geschmissen worden?« Denn der Lügenlotse hatte durch sein Lugfenster und mit seinem Fernrohr längst das Erlebnis seines Freundes festgestellt.

Hann stutzte.

Was war das wieder für ein neues Wunder?

»Woher weißt du das, oll Kusemann?«

Statt einer Antwort wies der Angeredete mit seinem Fuß ein wenig in die Höhe, und da sah denn Hann, wie oben auf dem Dach der Hütte der gezähmte Rabe oll Kusemanns, Niklas mit Namen, hin und her hüpfte, von dem der Lotse oft mit größtem Ernst behauptet hatte, daß dieser Vogel ihm alle möglichen Geheimnisse hinterbringe.

»Ach so,« sagte der Junge und senkte demütig den Kopf.

Dann heulte er auf.

»Jung, rohr nich,« tröstete oll Kusemann gutmütig und zog den Knaben in das enge Bretterloch hinein, »hör' zu. Ebenso wie dich – so is es – hm, ja – so is es Kolumbussen auch gegangen.«

Hann, der zu seinen Füßen saß, schluckte noch.

»Wer is Kolumbus?«

»Was? Du weißt das nicht? – Jung, das kommt von deine verfluchtige Ungebildheit – hm, ja.« —

Oll Kusemann schob behaglich seinen Priem hin und her und schielte unternehmungslustig auf den ruhenden Bodden, über den die Dämmerung daherzog wie eine Schlachtreihe grauer Nebelgeister. —

»Na also – Kolumbus, je – na, Kolumbus, was is er weiter gewesen, as so'n lütter spanischer Schiffsjung? – Aberst sein Vater, der hatte sich das in den Kopf gesetzt, er sollt' was entdecken, womöglich einen ganzen Weltteil, und, um ihm das anzugewöhnen, hat er ihn auch immer im Wasser untergetümpelt als Siebenbrod heut mittag dir – na, und sühst du, was hat der Jung getan? – Ausgerissen is er, mit noch paar andere solche Ströper und hat Amerika entdeckt! Wat sagst nu?«

Hann vergaß eine kurze Zeit sein Unglück.

»Woher weißt du das alles?« fragte er rasch, »bist du denn dabei gewesen?«

Diese Frage reizte den Lotsen zu einer kräftigeren Leistung.

»Je, erzählt ich dich das noch nie? – Ich bin es ja gewesen, der da so immer in dem Mastkorb schrie: »Land – Land!«

»Dann hast du ja Amerika entdeckt?« echote der Kleine.

Hann versäumte vor Bewunderung, den Mund zuzumachen.

»Das hab' ich,« bestätigte oll Kusemann behaglich. – »Das kann mir keiner streitig machen. – Und hier« – dabei zog er eine ausländische Münze aus der Tasche – »kannst du noch die spanische Medaille sehen, die ich dafür bekommen hab. Kuck – hier.«

Hann sah hin; dann begann er wieder zu heulen.

»Was is?«

»Prügel,« jammerte der Junge. Und nun teilte er dem neugierig aufhorchenden Lotsen das Begebnis auf der Wiese mit, und wie er in Gegenwart von Line so entwürdigend geschlagen worden sei.

Der Lotse wurde ungeduldig. Der kleine Bursche amüsierte ihn heute nicht. Und oll Kusemann war mehr für einen Spaß zu haben. Am liebsten war es ihm, wenn man lauschend seinen Lügenphantasien folgte.

»Hör eins« – mißbilligte er – »was is das mit der lütten Dirn? Den ganzen Tag steckst du mit ihr zusammen. Is sie deine Braut?«

»Was, oll Kusemann?«

»Ob sie deine Braut is?«

Der Junge wurde dunkelrot. Er ahnte selbst nicht, warum. Am ehesten hielt er diese Frage für eine neue Entwürdigung.

»Na, ich mein, – na, wie soll ich dich das klarmachen? – Küßt du ihr denn? – Und faßt du ihr manchmal liebreich um? Und wenn sie eins 'n Schnupftuch verliert oder 'ne Schleife, steckst du das zu dich und hast dir damit?«

Hann hörte furchtsam zu. All das, was der alte Lügenlotse jetzt anführte, flößte ihm eine ungeheure Furcht ein. Das Schnupftuch, die Schleife, das Umfassen, alles. Eine ängstliche Neugierde erfaßte ihn.

Hastig schüttelte er seinen plumpen Kopf.

»Na, dann will ich dir was sagen,« ermahnte der Alte, »wenn du das Ding so gern leiden magst, dann mußt du fix machen – denn später« – er schüttelte bedenklich das Haupt – »sie is 'ne kleine Hex, wer weiß, was später mit ihr los is – ob sie dich dann noch will? Verstehst du auch, du lütter Dämlak, was ich mein?«

»Ne, oll Kusemann, ich versteh' dich nicht.«

»Na, dann paß auf, der Umgang zwischen Männliche und Weibliche is nämlich sehr schnurrig – hör zu, ich will dich das erklären: Siehst du, da gibt es nämlich Männers, die von allen, aberst ich sag' dir, auch von allen Weibers geliebt werden, und die dabei gegen Damens sehr stolz sind. – So einer bin zum Beispiel ich. Ich weiß auch nicht, wie es kommt. Aber es is so!

»Ein alter Professor drin aus der Stadt sagte mich mal, es liegt an dem Geruch. – Wie gesagt, ich hab' da noch nich drauf geacht.

»Und zum zweiten gibt es Männers, die nu wieder ihreseits gegen die Weiber 'ne große Liebe und Andacht haben und sehr demütig gegen ihr sind. – Sieh, zu dieser zweiten Sorte wirst du woll gehören, wenn es mal so weit sein wird. Und deshalb müssen diese zweiten Schafsköpp' sich recht frühzeitig verloben und verfreien, damit ihnen die Herzallerliebsten noch in der Dummheit zulaufen. Denn später pfeifen die Frauenzimmers auf die Demütigkeit und halten das für Langweiligkeit und machen denn ganz verfluchte Chosen. – Verstehst du mir?«

Hann starrte ihn an und hielt sich krampfhaft an der auf- und niederknarrenden Brettertür fest. Zum Umsinken müde war er, und doch hätte er gern noch mehr gehört, denn das kleinste Wort kam ihm geheimnisvoll vor, weil Line damit irgendwie in Verbindung zu stehen schien. Es wurde ihm ganz kalt vor Furcht.

»Was nu aber deine Brautschaft anbetrifft« – wollte der Lotse seinen Spaß fortsetzen, – da wurden auf der steinernen Mole kurze Tritte laut, wie wenn leichte Holzpantöffelchen darüber klapperten, und aus den Wassernebeln, die zerfasert und gespenstisch an der Steinwand in die Höhe quollen, tauchte eine kleine Gestalt auf.

Line.

»Oll Kusemann, is Hann bei dir?« rief sie atemlos und beugte sich mit halbem Leib in die Hütte hinein.

»Ja, hier, Lining,« stammelte der Junge.

Ihm fiel alles ein, was sein Freund eben vorgebracht hatte. Jetzt wäre er am liebsten davongelaufen.

Ihr Atem stürzte nur so aus der kindlichen Brust hervor, aber die Augen blitzten vor Neugierde und Spannung.

»O Hann, komm fix nach Haus. – Abendessen. – Wenn du bloß wüßtest, wie Siebenbrod wieder schimpft.«

»Ißt der jetzt auch an eurem Tisch?« fragte oll Kusemann hastig.

»Ja.«

»Und er schimpft?«

»Furchtbar.«

Süh – süh, dachte der Lotse für sich, und Hann soll Vater zu ihm sagen? »I, Kinnings,« sprach er laut, »hört ihr nicht, was Niklas eben ruft?« In der Tat begann der Rabe, den wohl frieren mochte, laut zu krächzen: »Scharp – scharp.«

»Hörst du's,« verkündigte oll Kusemann, während er schnell die Hütte verschloß, »Hochzeit,« sagte er. – »Es gibt Hochzeit bei euch. Siebenbrod heiratet euer Mutting. Und horch – «

Wieder schrie der Rabe sein »Scharp«.

Der Lotse pfiff und tat einen Luftsprung. »Ne so was lebt nich,« schrie er beglückt. »>Verlobung< sagt er auch, hast du's gehört, Dirning? – Ganz deutlich >Verlobung<. Nu kommt fix.«

Er zog die Kinder mit sich fort. Sorgsam, damit sie in dem dicken, milchigen Nebel nicht ins Wasser stürzten.

Deshalb schritt er voran.

Hinter sich hörte er, wie die Kinder ängstlich miteinander über Siebenbrod flüsterten.

»So spät – so spät,« hauchte Line erwartungsvoll. »Wird er dich jetzt nicht wieder schlagen?«

»Ja, das wird er woll,« gab Hann zu, dem die Zähne klapperten.

Die Kleine sah ihn an. Ihre Spannung stieg immer höher.

Ganz finster war es unterdes geworden.

Vom Fluß tönte ein scharfes Murmeln herauf, und auf den Wiesen tanzten kolossale, bleiche Gestalten.

Da machte der Lügenlotse, der ihnen bis dahin schweigsam vorausgeschritten war, obwohl er ihre Unterhaltung Wort für Wort aufgefangen, plötzlich an einem gespenstisch aufragenden Querbaum halt.

Ein vergessenes, grobes Netz flatterte im Abendwind von der Gabel herab und verbreitete einen ätzenden Fischgeruch. Es sah aus, als ob von einem Galgen eine Riesin in langem, schleppendem Gewande herabschlottere.

Dieser Platz schien oll Kusemann für den närrischen Spaß, den er mit den Kindern treiben wollte, der rechte Ort. An dem Pfahl blieb er stehen.

»Kommt her,« flüsterte er darauf, und als die Kinder in der Schwärze neben ihm standen, legte er jedem von ihnen den Arm um die Schulter und beugte sein bärtiges Haupt zwischen die jungen Köpfe.

»Kommt her. – Ihr müßt ein Bündnis machen gegen Dietrich Siebenbrod. – Das ist klar. Aber das beste Bündnis zwischen einen Männlichen und eine Weibliche is die Verlobung. Ihr müßt euch also verloben. – Daß ihr noch 'n bischen jung seid, das is woll wahr, aber es braucht ja auch erst später die richtige, die ganz richtige Verlobung zu folgen. – Na also, was sagt ihr?«

Prachtvolle, glitzernde Sterne brachen hier und da durch den stillen Nebelhimmel hindurch, und in seinem Halbtraum vernahm Hann, daß oll Kusemann von neuem vor sich hinlachte, während er die beiden Kinder eng aneinander schob.

»Nu küßt euch,« befahl er.

Voller Angst küßten sich die Kinder.

Der Lotse pfiff durch die Zähne und sprang, wie er es bei freudigen Anlässen zu befolgen pflegte, hoch in die Luft.

»So,« schmunzelte er seelenvergnügt. »Nu seid ihr so weit. – Ich gratulier' euch. – Kommt, Kinnings, fix, fixing, damit ihr zu Haus nich Schläg kriegt. – Und wenn ihr Hochzeit macht, Lining, weißt was? – Dann schenk' ich dir ein goldenes Brokatkleid – ja – hm – natürlich – ein goldenes Brokatkleid und silberne Schuhe mit diamantne Schmetterlinge darauf. – Da drüben im Kloster, da liegt so was vergraben. Ich kenn' die Stell'. Ja, und Hann – na, du weißt doch, Jung, daß hier in unserem Bodden die alte Stadt Vineta untergesunken is. Pass' auf, für dich hol ich mal in 'ner besonderen Stund eine Molle voll alter Dukaten rauf. Ich hab neulich erst mit meinen Wasserfernrohr so was funkeln sehn. – Und nu adjüssing, Kinnings – hier is mein Haus und mein Alwining wartet all – und nu macht, daß ihr weiterkommt.«

Er verschwand.

Die beiden Kinder aber liefen Hand in Hand heim.

Eine Stunde später lag Hann in seinem Dachverschlag im Bett. Um das Haus wehte jetzt ein frischer Seewind. Der raschelte in dem Stroh des Daches, wisperte Märchen und fuhr auch durch die Ritzen, so daß der Knabe fror.

Er schauderte zusammen und konnte nicht einschlafen, denn all dieses Merkwürdige, Zauberische schwirrte in dem Kämmerchen vor seinem Lager hin und her. Die grüne Wiese und Line, die Prügel und die Verlobung, der Kuß und die untergegangene Stadt voller Dukaten. – Und plötzlich begannen noch die Ameisen aus dem Hügel an der Wand wirr durcheinander zu kreisen.

Ihn nahm der Schlaf.

Aber das glaubte er doch noch zu hören, daß Pantöffelchen an seiner Tür vorüberklapperten und eine Stimme hindurchrief: »Hann, bist du noch mein Bräut'gam?«

Dann huschte es nebenan in die Kissen.

Er konnte es aber auch geträumt haben, denn der Mond lachte bereits auf ihn herunter und freute sich über all die bunten Lügen und nannte ihn einen »dummen Jungen«.




VI


Ein weißgedeckter Tisch befand sich in der Mitte. Porzellanteller standen darauf, und wahrhaftig – Messer und Gabeln sah man säuberlich auf gläserne Bänkchen gelegt.

In der großen Parterrestube, die jahraus, jahrein ganz leer stand und nur zu großen Feierlichkeiten benutzt wurde – zuletzt hatte der Sarg des alten Klüth darin gestanden – war heute am Sonntag Sand in feinen Kringeln auf den Estrich gestreut. Grobe, weiße Gardinen bemerkte man vor die Fenster gesteckt, und mitten auf dem Tisch prangte ein Strauß bunter Georginen.

Das hatte etwas zu bedeuten.

Alle empfanden es, aber keiner erriet den Zweck dieser Vorbereitungen, oder man scheute sich doch, ihn ernstlich ins Auge zu fassen.

Allerdings, eine Möglichkeit, eine denkbare Erklärung schien vorhanden.

Bruno, der Sekundaner, hatte vor drei Tagen zu den Michaeliferien den Berechtigungsschein zum einjährigen Dienst aus der Stadt nach Hause gebracht und erwartete nun als freier Mann den Augenblick, daß irgend jemand mit ihm zum Konsul Hollander führe, damit dieser weitere Aufschlüsse über die Zukunft seines neuen Lehrlings erteilen könnte.

Wer jedoch dieser begleitende Jemand sein sollte, darüber war keine Gewißheit zu erlangen. Paul, der Student, hatte sich bereits mehrfach dazu erboten, war indessen von der Mutter mit einem leisen, beinahe wehmütigen Kopfschütteln abgelehnt worden.

Also ein anderer!

Aber wer?

Siebenbrod? – der Sekundaner stampfte mit dem Fuß – das war hoffentlich völlig ausgeschlossen. Der Bootsmann konnte sich doch unmöglich vermessen, mit dem feinen Bruno, dem sein Jackettanzug so elegant saß, und der sich seit drei Tagen bereits im heimlichen Besitz eines Zigarettenetuis befand, den Weg zum Konsul anzutreten?

Also Siebenbrod nicht.

Wer aber?


* * *

Die vier Kinder warteten schon in dem großen Zimmer eine geraume Zeit. Noch war die Mutter nicht erschienen, was ganz gegen alle Gewohnheit verstieß. Und nur Line, die vor einer Weile verstohlen und mit ihren katzenhaften Tritten an der Bodenkammer der kleinen Frau vorbeigehuscht war, sie allein wußte, daß es in dem verschlossenen Raum merkwürdig geraschelt habe. Gerade wie wenn dort schwere alte Seide geglättet würde.

Und Frau Klüth besaß in der Tat ein altes, schwarzes Seidenkleid, ein echtes, ehrwürdiges Lyoner Stück, das von oll Kusemann vor etwa dreißig Jahren, als er sich noch »Strom« nannte, direkt für die drei Lotsenfrauen nach Moorluke eingeschmuggelt war.

Line kauerte in einer Ecke, biß mit ihren spitzen Zähnen in die Lippen und sann fieberhaft darüber nach, ob die Mutter dieses Heiligtum wirklich anlegen wolle.

Ja, wenn jenes Prachtstück hervorgeholt wurde, dann stand Großes bevor.

Auch Hann stand mitten in der Aufregung.

In seinem zottigen, düffelblauen Sonntagsanzug hockte er am unteren Ende des Tisches und war starr vor Ehrfurcht über die ungewohnte Pracht dieser Zurüstungen.

Das große Zimmer. Die feinen Ringelkreise des Sandes auf dem Fußboden. Am Fenster die beiden schwarzgekleideten Brüder, die leise miteinander verhandelten; in der Ecke Line mit dem wunderhübschen weißen Kleidchen und der rosa Schleife im Haar! – Die Georginen, und draußen auf der Dorfstraße die vorüberwandelnden Fischer, die alle so seltsam nickten und lächelnd in die Fenster hineinsahen!

Nein, das war alles so spannend – so – so —

Dem Jungen saß etwas in der Kehle, das Herz schlug ihm stark vor Erwartung, und nicht ein einziges Mal wagte er es, zu Line hinüberzublicken.

Seit sie seine Braut geworden, bedeutete sie für ihn direkt einen Gegenstand namenloser Furcht. Nach jenem Abend ging er ihr scheu aus dem Wege und erkühnte sich nicht mehr, das Dirnchen anzureden.


* * *

Da fiel etwas Schwarzes in das sonnenbeschienene Fenster.

Alle im Zimmer mußten wie auf Verabredung auf die helle Dorfstraße hinausblicken.

Welch ein wunderliches Bild.

Dort draußen auf dem weißen Sande ragte die lange Gestalt des Bootsmannes aus einem Menschenhaufen hervor, merkwürdig ungelenk anzusehen in seinem Bratenrock und dem wolligen Zylinder, aber heute noch steifer wie gewöhnlich, da er eine große Mappe mit aller Kraft an sich preßte, als wünsche er sich eines kostbaren Gutes beständig zu versichern.

Da standen sie alle um ihn herum. Ein paar Zesnerfischer, ferner die beiden Lotsen, oll Kusemann in seinem schmucken, blauen Wams, und Friedrich Pagels mit dem verschnürten Bein, sodann Klaus Muchow, der stärkste Fischer von Moorluke mit einem blondlockigen Neptunshaupt, das stumm und taub zugleich war, ja selbst Malljohann, dessen Kartoffelkahn gerade wieder vor dem Lotsenhäuschen der Klüths ankerte, beteiligte sich von fern an dieser Ehrung. Tiefsinnig saß er auf seinem Kajütendach und spielte in Anbetracht der Feierlichkeit: »Deutschland, Deutschland über alles.«

Und alle gratulierten dem Bootsmann.

»Ich dank' euch auch,« sagte Siebenbrod stolz, »ich werd' nun mein Möglichstes tun.«

»Ja,« stellte der wassersüchtige Lotse mit dem Schnürbein, der sich am besten auf Geschäfte verstand, fest, »das Haus is ja auch ganz nett. Das Dach muß ausgebessert werden.«

»Ne, ne,« widersprach Siebenbrod mit einer gewissen Besitzerbehaglichkeit. »Vier Jören – kein Spaß – sparen, sparen.«

»Ja,« mischte sich nun auch oll Kusemann listig ein und redete ganz laut, damit ihn sein Freund Hann in der Stube besser verstehen sollte, »Siebenbrod, kiek, da sind drei Kühe und zwei Schweine. Wenn man sich die ein paar Jahre vermehren läßt, sieh, dann kommt 'ne recht anständige lütte Viehzucht raus. Ich hatt' mal einen Vetter, der – «

»Ne – man ja nicht – und der Rotlauf und die Klauenseuche,« wehrte der neue Besitzer ab und drückte das Zesnerfischerpatent in der Mappe zärtlicher an sich. »Sparen – sparen.«

»Na, dann auch so! – Es is ja wirklich allens ganz nett,« fuhr der Lügenlotse, immer mit erhobener Stimme, bedächtig fort. »Und Mudding Klüth is ja auch noch ganz gut zu Weg. Man muß eben ein Auge zudrücken. Wenn sie sich mein schwarzes Seidenkleid aus Lyon anzieht, dann läßt sie sich noch ganz hübsch wonach.«

»Ja, was sollt' sie nich,« murmelte Siebenbrod dagegen und blickte sich mißtrauisch im Kreise um, ob vielleicht einer Spaß mit ihm treiben wollte. »Frau Klüth is noch sehr bei Kraft.«

»Deutsche Frauen – deutsche Treue,« klang es von dem Kartoffelkahn.

»Na, die Hauptsache bleibt aber doch das Haus und die Schweine,« schloß Friedrich Pagels bestimmt. »Dabei bleibt es.«

»Ja – ja, dagegen läßt sich nichts einwenden,« nickte Siebenbrod sehr vergnügt und drückte allen unter beifälligem Gemurmel die Hände.

Dann trat er in das Klüthsche Familienhaus.


* * *

Unter befangenem Schweigen hatte man an der festlichen Tafel gesessen.

Alle scheuten sich, von ihren Tellern aufzusehen. Man hörte die herbstlich-matten Fliegen an der Decke summen und vernahm nur zuweilen das erzwungene »Hum – Hum« des Bootsmannes, der sich bemerkbar machen wollte.

Doch keiner redete.

Es war, wie wenn sich die vier Kinder hinter dieses Schweigen wie hinter einen letzten Wall zurückzögen.

Zuletzt konnte es Siebenbrod nicht mehr aushalten.

»Hum – Hum – Frau Klüth,« begann er endlich, während er ratlos und eingeschüchtert neben der Frau in dem steifen seidenen Kleide hin und her rückte. »Ich glaub', nun wär' es Zeit mit dem Bier.«

»Ja, dann können wir ja nun.«

Rauschend erhob sie sich, rauschend kam sie zur Tür wieder herein und stellte einen großen, braunen Krug auf den Tisch.

Dann ließ sie sich mit ihrem unbeweglichen Gesicht neben dem Bootsmann nieder, aufrecht wie ein Licht, das in den Leuchter gesteckt wird.

»Frau Klüth – ich werd' das selbst eingießen.«

»Schön, Herr Siebenbrod.«

Die Anreden steigerten sich in ihrer Feierlichkeit. Doch auch der Gerstensaft ließ keinen größeren Frohsinn aufkommen, immer wieder blickten acht Augen forschend und anklagend nach der Mitte der Tafel, als säße dort ein Paar, das einen ungeheuren Frevel verüben wollte. Bis endlich Siebenbrod dreimal energisch über seinen Kopf strich und sich halb verzweifelt zu der Witwe wandte: »Frau Klüth, nu muß ich es wohl tun?«

Einen Augenblick Schweigen.

Dann ein tiefes Aufatmen: »Ja, Herr Siebenbrod, nun bleibt wohl nichts mehr übrig.«

»Na, denn – ,« der Bootsmann gab sich einen gewaltigen Ruck, sperrte den Mund auf und blickte jedes der vier Kinder, Nachsicht heischend, an: »Na, denn also – Paul, Bruno, Hann und Line – ich hab' ihr nu.«

»Was haben Sie?« fragte der Theologe langsam, während er seine finsteren Augen nicht von ihm wandte.

»Das Zesnerpatent, Herr Paul.«

Siebenbrod holte das Papier aus der Tasche und hielt es wie einen Schutz oder eine Erklärung vor sich in die Höhe.

»Ja, aber was folgt daraus?« forschte der Student unbarmherzig weiter.

Was daraus folgt? —

Siebenbrod sah sich verwirrt im Kreise um, wischte sich die Nase und machte wieder den Mund auf. Ja, was sollte denn daraus anderes folgen, als was doch so klar war? – Herr Gott – Herr Gott – solch ein studierter Mensch – was für Umstände: »Je,« stotterte er, »daß ich hier nu alles übernehme.«

»So? – Das stand ja aber schon vorher fest. Dabei ist doch nichts Besonderes?«

Als sich der Fischer derartig in die Enge getrieben sah, geriet er in Verzweiflung. Weit schob er die Füße von sich, legte eine Faust auf den Tisch und sagte in völliger Resignation: »Ja, das mag ja nun alles sein, wie es will – aber wir sünd einig – wir heiraten uns.«

Und Frau Klüth blickte mit ihrem starren Gesicht jedes einzelne der Kinder an und setzte traurig hinzu: »Glaubt mir, es geht nicht anders.«

Nach dieser Erklärung waltete neues, drückendes Schweigen. Als jedoch zwischen Mittagbrot und Kaffee der Bootsmann, froh, der schwülen Stille zu entfliehen, ein wenig an den Fluß und an Malljohanns Kahn geschlendert war, da sahen die andern Kinder, wie Paul mit der Mutter in einer Ecke saß, und hörten abgebrochene, geflüsterte Worte von dorther dringen: »Paul – Pauling – tu das nicht.«

»Es ist besser so – ich brauche dann von euch nichts mehr.«

»Aber wie willst du das bloß anfangen?«

»Privatstunden.« —

»O Pauling – ich geb's ja gern – ich tu's doch bloß euretwegen.«

»Ja – ja, aber im Andenken an den Vater – ich kann's nicht mit ansehn – ich zieh – morgen schon in die Stadt.«

Dann umschlang die Mutter ihren Ältesten, und man konnte hören, wie der harte Junge von einem Schluchzen förmlich geschüttelt wurde. Bruno stand dabei abgewandt am Fenster und sah hinaus. Auch ihm war übel zumute. Aber er dachte mehr daran, was seine städtischen Bekannten, was vor allen Dingen wohl Konsul Hollander, der doch ein Gönner des alten Klüth gewesen, zu dieser plötzlichen Verlobung sagen würde. Die beiden Kleinen, Hann und Line, hingegen schlichen mit gesenkten Köpfen hinaus.


* * *

In dem verwilderten, struppigen Garten, der wie alle Moorluker Anpflanzungen von dem häufigen Nordoststurm zerzaust und verwüstet aussah, machten die Kinder vor den traurigen, geknickten Sonnenblumenstauden halt.

Das Gelb der Kelche hatte schon etwas Giftiges angenommen, und die mächtigen Blumenhäupter hingen so trostlos, so greisenhaft gebrechlich darnieder, als wüßten sie, daß der nächste Norder sie hohnlachend in den Fluß schleudern würde. Der ganze Fleck hatte etwas Unrastiges.

Schräge, schlecht gezogene Beete, auf denen Rüben und Petersilie wuchsen, und hier und da ein verkrüppelter Apfelbaum, der im Kampf mit dem Winde bucklig geworden.

In den Blättern raschelte ein unfreundlicher Zug, am Himmel fand ein höhnisches Spiel zwischen Sonne und grauen Wolken statt.


* * *

Das Dirnchen hatte eine der Sonnenblumenstauden zu sich herniedergebeugt und zupfte nun ein Blatt der kranken Köpfe nach dem andern ab.

Allmählich färbte sich ein gelber Teppich zu ihren Füßen, bis ihn der Wind wieder von dannen fegte.

»Lining,« fing Hann an, der hinter ihr stand und in seiner Trauer seine Furcht vor ihr vergessen mochte, »siehst du, Niklas von oll Kusemann hat recht behalten. Nu is Vater abgesetzt – und sie haben sich verlobt.«

Nun hätte sie fragen müssen, welche Zweifel ihn eigentlich plagten. Indessen sie schwieg. Warum, wußte sie selbst nicht. Aus Eigensinn oder weil sie gewohnt war, mit ihrem treuen Begleiter, der überall hinter ihr hertrollte, nach Laune zu spielen.

Sie schwieg und zupfte schneller.

»Lining,« fuhr Hann eingeschüchtert fort und sah verlegen auf seine Stiefel hinunter: »Verloben? – Das is doch eigentlich was sehr Feierliches.«

Noch immer rührte sie sich nicht, und doch schielte sie ein wenig seitwärts nach ihm hin. Dem kecken, frühreifen Ding kam die Erinnerung, daß ihr treuer Gespiele sie neulich geküßt. – Im Grunde war sie auch seine Braut. Sie spitzte die Lippen.

Was er ihr wohl zu sagen hatte?

»Lining,« stotterte der Junge, bei dem die ersten forschenden Gedanken durchaus nicht in dem groben Gehirn verharren wollten, die vielmehr aus ihrem Käfig ausbrachen wie eine Schar schreiender Gänse auf die Landstraße. »Lining, hinter dem Verloben muß doch noch was stecken, kuck – wir« – er wurde glühend rot – »wir sind doch auch verlobt – wie oll Kusemann sagte – aber – wir – Lining, sei nicht bös – wir mögen uns doch auch leiden – ! Dietrich Siebenbrod aber und Mudding, die mögen sich doch nicht ausstehen und verloben sich doch. – Daß so was erlaubt is?«

Nachdenkend hielt er inne.

Immer wandte sie ihm noch den Rücken. Langsam jedoch, mit einer unbewußt koketten Bewegung bog sie jetzt den Hals und blickte ihn mit ihren braunen Augen suchend und staunend an.

Sie wartete. Er hatte gewiß noch etwas Wunderschönes zu sagen. Wie eine ganz feine, leise Musik begann es in dem herbstlichen Garten um sie herum aufzuklingen. Viel, viel später noch leuchtete diese Szene zu ihr herüber, wie ein farbenschimmernder, erwartungsvoller, verheißender Kindertraum.

In dem frischen Winde flatterte die Schleife in ihren Haaren gleich einem rosigen Wimpel; die vollen roten Lippen bebten vor Frost und vor Neugierde.

»Du magst mich gern leiden?« brachte sie hervor.

»Ja,« entgegnete Hann erschreckt. »Das hab' ich gesagt.«

»Ich mag dich auch gern leiden,« flüsterte Line und streckte ihm mit einer raschen Bewegung ihre runde, rosige Hand hin.

Da verdarb ihm die Philosophie alles. Dieses verwünschte methodische Hinstarren auf die Gedankenkegelbahn, auf der er die ersten ungeschickten Würfe tat.

»Der Amtsvorsteher nimmt Mutter und Siebenbrod am Ende gar nicht an,« gab er dem Gespräch eine andere Wendung, während er sich aus Furcht vor der ausgestreckten Hand beinahe zum Ausreißen wandte. »Wenn er erfährt, daß sie sich nicht gern haben, dann schickt er sie vielleicht nach Hause.«

Noch immer wartete Line. – Langsam sank das Händchen herunter, vor dem Hann bereits bis hinter den Apfelbaum zurückgewichen war.

Ein plötzlicher Windstoß brauste durch die Zweige und warf harte Früchte herab.

Da riß Line in aufflammendem Zorn eine riesige Sonnenblume, die hinter ihr herabhing, von ihrem Stengel und schleuderte sie dem Jungen mit aller Kraft ins Gesicht. Hart klatschte es gegen seine Haut.

»Lining,« rief er bestürzt. »Was tust du?«

In demselben Moment rollte eine Equipage die Dorfstraße entlang und hielt vor dem Klüthschen Hause.

»Dummer Bengel,« rief das Mädchen.

Dann lief sie mit flatternden Röcken auf das glänzende Gefährt zu.




VII


Der Konsul Hollander war ein griesgrämiger Herr.

Wohl hatte er vier der schönsten Pferde im Stalle, doch pflegte er sie aus Trotz gegen sich und gegen seine Familienangehörigen selten zu benutzen. Jeder Luxus schien ihm etwas so Verabscheuungswürdiges, daß er sich von Zeit zu Zeit sogar seines schönen, lebenden Besitztums schämte.

Mußte er notgedrungen, so wie heute, den Bitten seines Töchterchens Dina, die so gar nicht in das stille, vereinsamte Kaufmannshaus paßte, nachgeben, wurde die altväterliche und bequeme Equipage zu einer Spazierfahrt einmal angespannt, thronte der alte, steifleinene Johann in seiner verschossenen Livree wirklich einmal vorn auf dem Bock, dann konnte man sicher sein, daß der Konsul brummig auf seinem Hintersitz hockte, den Stock mit dem englischen Knopf fest gegen das Kinn gepreßt, um ununterbrochen leise Zeichen der Unzufriedenheit vor sich hinzumurmeln.

Das klang ungefähr so: »Alle Krankheiten laufen sich die Tiere auf so einer verwünschten holprigen Chaussee. Diese ruckartige Bewegung ist dem Körper in hohem Grade unzuträglich. Überhaupt das ganze ein Frauenzimmervergnügen. Müssen sich zeigen – und das alles in den wichtigsten Geschäftsstunden.«

Und zu seiner Schwester, einer unverheirateten Dame, die wie ein gepudertes Bild aus der Rokokozeit breitröckig neben ihm thronte, pflegte er mit einer ironisch-höflichen Verbeugung und bittersüßem Lächeln hinzuzusetzen: »Habe ich dich getreten? Das tut mir leid, aber in diesem Kasten kann ich mir nicht anders helfen.«

Derartige Reden waren aber so bekannt, daß die beiden Damen sich nicht sonderlich darum kümmerten. Die Tante erklärte vielmehr ihrer Nichte Dina, die erst kürzlich aus der Schweizer Pension zurückgekehrt war, mit gutmütiger Regelmäßigkeit alle irgendwie hervortretenden landschaftlichen Schönheiten, ohne sich dadurch irgendwie stören zu lassen, daß sie dies bei ihren Ausfahrten jedesmal zu befolgen pflegte. Und das elegante Fräulein, das so blond, modern und vornehm aussah, nickte stets dazu und erwiderte immer: »Danke, danke.«


* * *

Als der Konsul in die Nähe des Klüthschen Familienhauses gelangt war, versetzte er plötzlich dem alten Johann mit dem Stock einen leichten Schlag auf den Rücken.

»Anhalten!«

Richtig – hier hatte er ja etwas abzuwickeln.

An den alten Klüth, der einmal Schiffszimmermann auf seiner Werft gewesen, hatte ihn noch etwas Persönliches gebunden.

Nun sollte ja eine neue Generation, eine feinere, kultiviertere mit ihm in Verbindung treten.

Diese mußte er sich erst einmal genau besehen.

Wer weiß, was da wieder dahintersteckte. Er hielt es nicht sehr mit der neuen Zeit.


* * *

Die beiden Damen saßen auf zwei Stühlen, welche die kleine Frau Klüth mit unheimlichem Eifer und ohne daß es notwendig gewesen wäre, gereinigt hatte. Der Konsul dagegen stand mitten in der Stube, den Stock wie immer gegen das glattrasierte Kinn gepreßt und sah mit seinen grauen Augen, die so groß unter den weißen Brauen hervorblickten, auf Bruno herab, der schweigend und doch unsicher vor seinem zukünftigen Chef verharrte.

An den Wänden ringsherum befanden sich die übrigen Familienmitglieder. Alle hielten den Atem an, als könnten sie den mächtigen Handelsherrn irgendwie beleidigen, während Siebenbrod von Zeit zu Zeit langsam an seiner eigenen Hose herabfuhr, um jede Bemerkung des Konsuls dann mit einem beistimmenden: »Jawoll, jawoll – so 's recht, Herr Konsul« zu begleiten.

Eingehend erkundigte sich Hollander nach Brunos Vorbildung und Kenntnissen, und merkwürdig, bei jeder neuen Wissensposition, die sein künftiger Lehrling zu besitzen behauptete, entfuhr dem Kaufmann stets ein zweifelhaftes »Na, na!«

»Englisch?«

»In meinem Zeugnis steht gut!«

»Na, na!« grunzte Hollander, und nachdem er sich noch die Handschrift seines Schülers betrachtet und ebenfalls verdächtig mit dem Kopf geschüttelt hatte, sagte er hart und abweisend, als wenn er dem Neuaufzunehmenden in der Tat nicht viel Vertrauen entgegenbrächte: »Das mag alles recht schön und gut sein. Aber die Hauptsache liegt ganz woanders. – Wissen Sie, wo?«

»Nein,« entgegnete Bruno nach einigem Besinnen offenherzig.

»In der Treue und Ehrlichkeit liegt sie,« knurrte Hollander.

»O Herr Konsul,« erlaubte sich bei dieser Stelle die kleine Frau Klüth anzufügen, »so was ist doch wohl selbstverständlich!«

»Na, na – wollen sehen, ich meine auch eine Ehrlichkeit, wie sie jetzt in Geschäften selten geworden, so eine Treue im großen. Und nun, lieber junger Mann, müssen Sie sich vor allen Dingen nicht überspannten Ideen darüber hingeben, was Geschäft heißt. Ich hab' da mal so ein Buch gelesen von einem Gustav Freytag – >Soll und Haben< – . Sehr schön. Wenn Sie so was erwarten, dann können Sie gleich zu Hause bleiben. Kaufmann ist der Stand der Demut, wer nicht bescheiden ist, bringt's da sicher zu nichts. Und nun sagen Sie mal, mein junger Freund, was glauben Sie denn nun, werden Sie zuerst bei mir zu besorgen haben?«

Bruno kämpfte das niederdrückende Gefühl tapfer nieder und versicherte, er denke, man werde ihm vielleicht zu Anfang eines der untergeordneten Bücher zur Führung übergeben.

»So, so?« lachte Hollander kurz und stieß sich mit dem Knopf gegen das Kinn. »Untergeordnete Bücher? Sehr hübsch! Untergeordnete Bücher, das ist ein guter Anfang. In einem anständigen Betrieb gibt es überhaupt keine untergeordneten Bücher. Aber damit Sie es gleich wissen, mein liebes Jünging, Sie fangen eben so an, wie ich auch begonnen habe. Also zuerst schließen Sie früh morgens sieben Uhr hübsch die Kontore auf, dann fegen Sie die Dielen auf. – Sollte Ihnen das nicht passen, dann wollen wir gar nicht erst beginnen. Dann wischen Sie Staub ab. Den Papierschrank in Ordnung halten und kopieren lernen, das ist schon die nächste Stufe, und so geht es weiter. Immer in Bescheidenheit, so fängt der Deutsche an. Das Feine, so mit englischer Tischzeit und so weiter wollen wir den Herren in London überlassen. Haben Sie sich alles so vorgestellt?«

Bruno machte eine Verbeugung und versicherte mit Herzklopfen, daß er sich große Mühe geben würde.

»Schön,« meinte Hollander, »wollen sehen. Wohnen und essen werden Sie zunächst bei mir, und morgen früh schicke ich meinen Wagen heraus, damit er Sie und Ihre Sachen abholt! Gut – abgemacht!«

Er streckte ihm die Hand hin, drückte sie gewichtig und ging dann fest auf Frau Klüth zu.

»Haben Unglück gehabt,« sagte er, »braver Mensch gewesen, Ihr Mann, hat mir lange Jahre, als ich selbst noch nichts war, treu gedient. – Na, wollen sehen, kann dafür vielleicht aus Ihrem Jungen was machen. Komm, Dina!«

Die beiden Damen verabschiedeten sich, indem sie jedem der Anwesenden die Hand reichten.

Als Dina die Finger der kleinen Line in den ihren hielt, wandte sie sich erfreut zu der Rokokotante und flüsterte »Wie hübsch!«

Dann verbeugten sie sich und bestiegen wiederum die Equipage, deren Schlag von Siebenbrod aufmerksam und ehrfurchtsvoll gehalten wurde.

»Nach Hause,« befahl Hollander, nachdem er sich wieder auf seinem Platz befand. Und als er Brunos unter den Fenstern noch einmal ansichtig wurde, blickte er ihn nochmals prüfend an und murmelte: »Na also – wollen sehen!«




VIII


Mächtig verhaltene Aufregung war über die Familie gekommen. Kaum hatte der Konsul das Haus verlassen, da begab sich die Mutter auf die Bodenräume und begann klopfenden Herzens Brunos Sachen in einen Koffer zu verpacken.

Siebenbrod half ihr dabei; er wollte auch etwas Väterliches leisten.

Inzwischen hatte sich der Wind gelegt. Warme Abendsonne lag über dem Dörfchen, und überall waltete eine Frische, die alles Ferne nah und klar erscheinen ließ.

Da litt es den aufgeregten Bruno nicht länger in der weiten, niedrigen Stube, eine Furcht war über ihn gekommen, die er sich selbst nicht erklären konnte. – Wenn nur die Rede des Konsuls über seine neuen Pflichten nicht gewesen wäre!

Eine merkwürdige Ahnung der Zukunft beschlich ihn. Er fühlte, etwas Unfertiges, Halbes war in ihm, er war zu wenig gerüstet, der Welt, die er nun bezwingen sollte, entgegenzutreten.

Unbestimmte, ferne Dämmerungen taten sich vor ihm auf. Und immer wieder plagte ihn der phantastische Eindruck, als höre er drinnen aus der Stadt, von der er nur die Türme ragen sah, Tanzmusik, Goldklingen und Mädchenlachen. Das war gräßlich. Aber er vernahm es immerfort. Halb verzweifelt bedeckte er sich mit dem modischen Hut, der auch bereits in der Stadt gekauft war, und lief hinaus.

Ah, hier war doch Bläue, Frische, Abendsonnenschein.

Was kümmerte es ihn, daß auch die beiden Kleinen, Line und Hann, mit ihm zugleich aus der Tür traten? Als sie ihm nachriefen, rannte er nur umso schneller dahin.

Nein, nein, er mußte erst mit diesen törichten und doch quälenden Dingen, die er nur aus unreifen Büchern aufgelesen haben konnte, fertig werden.

»Bruno – nimm uns mit!«

Er hörte nicht.

So schlichen denn die beiden dem Voraufgegangenen nach, immer nach ihm ausspähend, doch beide von dem einen Ehrgeiz besessen, mit dem erwachsenen Bruder diesen letzten Abend noch gemeinsam verbringen zu dürfen.

Gegenüber von der gemütlichen Krugwirtschaft, aus der gerade Gesang von Studenten schallte, überschritt Bruno eine baufällige Brücke, die in das Nachbardorf hinüberleitete.

Und immer auf die fernen Türme der alten Hansestadt starrend, die im Abendflimmer wuchsen und sich verbreiterten, schritt er weiter. So war er in den uralten Wald gelangt, in jenen dunklen Götterhain, der seit grauen Zeiten ein Wahrzeichen der Gegend bildet.

Unter riesigen Eichen ragten hier Ruinen und zerstörte Kreuzgänge eines alten Zisterzienserklosters auf, und da hatte auch Bruno seinen Lieblingsplatz. Aus roter, zertrümmerter Mauer brach in halber Manneshöhe eine mächtige, verwitterte Grabplatte hervor. Gott allein wußte, welch weltfremder Abt hier bestattet liegen mochte. Die Schriftzüge der Tafel waren lange verwischt; nur unten sprang in groben Buchstaben ein Wort hervor: »Mors.«

Dort ließ sich der Sekundaner nieder. Eine Weile blieb er allein, dann hallten Tritte durch den Wald.

Verwundert merkte er, daß die beiden Kinder mit ihm waren.

»Was wollt ihr?« fragte er gezwungen lächelnd, denn hart und verletzend wie sein älterer Bruder konnte Bruno sich niemals geben.

Treuherzig antwortete Hann: »Bei dir bleiben!«

Da ließ er sie beide neben sich auf den steinernen Sitz. Und stumm und ohne sich viel zu rühren saßen die drei nun nebeneinander.

Durch die dunklen Bäume schimmerte das Blau der See, durchschnitten von ungeheuren, blutroten Brücken, die die scheidende Sonne über die Fläche gezogen hatte. Und über diese Stege sahen die Geschwister tausend und aber tausend bunter, perlender Kugeln auf sich zu rollen.

Ein stiller – klarer – deutscher Abend!

Über ihnen, in einem der zerstoßenen Fenster des Klosters nistete eine Meisenfamilie. Die schwirrten in scharfem unhörbarem Flug den langen Hauptgang herunter, verschwanden im Dunkel des Laubes und kehrten sausend zurück.

Aus dem Binsensumpf kurz vor der See drang ein Surren und Summen. Sonst schwieg alles, wie die drei auf dem Stein.

Auch der Wald regte sich nicht. Er sann und träumte wie sie.


* * *

Aber einer war unter ihnen, der war bereits dazu bestimmt, einem Beruf anzugehören, der ihn immer wieder hart und rauh aus solch goldenen, undurchdringlichen Jugendträumen herausriß.

Von der Seite, wo das zerstörte Bauwerk mit dem Dominium zusammenstößt, drängte sich durch die Eichengebüsche eine große, vierschrötige Gestalt.

»Hann!« schimpfte Siebenbrod, der sich mühsam auf die Spur der Kinder gefunden hatte und nun entrüstet war, mindestens eine Stunde Zeit zu verlieren.

»Jung! Was ist nun wieder? Was sitzst du hier und kuckst in die Luft? Weißt du nicht, daß wir raussegeln müssen? Bist ja ganz dumm, Bengel. Steh auf, hier ist es nicht hübsch.«

Damit packte er ihn bei der Hand, und ohne daß er die beiden anderen eines Blickes gewürdigt oder zugelassen hätte, daß Hann sich auch nur verabschiede, zog er seinen Schutzbefohlenen mit sich fort.

In dem dämmrigen Kreuzgang wurde es wieder ruhig. Dann bemerkten die beiden Zurückbleibenden, wie ein einzelnes Boot sich von der Mündung löste und mehr und mehr die See gewann.

Die braunen Segel blähten sich, undeutlich gewahrten sie hinten am Steuer einen plumpen Kopf, der nach dem Hain und den roten Ruinen sehnsuchtsvoll zurückzuspähen schien.

Dann wurde der braune Punkt winziger und verging.




IX


In dem Walde wurde es neblig. Line fröstelte. Sie saß noch immer in dem weißen Kleidchen, von dem die rosige Schleife in Hanns Augen so wundervoll abgestochen hatte.

»Ob er nun nicht bald nach Hause geht?« dachte das Mädchen, für das der neue Lehrling mit seiner geschmeidigen Figur und den immer gut und städtisch sitzenden Anzügen von jeher einen vornehmen Herrn bedeutet hatte. Unwillkürlich legte sie dabei ihre Hand auf seine Finger.

Die fröstelnde Haut brachte den Nachdenklichen zu sich.

»Was willst du eigentlich hier, Kleine?« fragte er freundlich, während er ihr leicht über die Haare strich.

Er sah sie an.

Das Verhältnis zu der niedlichen Pflegeschwester war immer nur das eines erwachsenen Jungen gegen ein unbedeutendes spielendes Ding gewesen.

»O nichts,« versetzte sie ein bißchen schnippisch, »kümmere dich nicht um mich.«

Dabei führte sie den Finger an die Lippen und ließ sie leicht gegeneinanderschnellen.

Das sah liebenswürdig und trotzig zugleich aus. Bruno gefiel das so sehr, daß er plötzlich hell auflachte und die Kleine bat, dieses Spiel noch einmal zu wiederholen.

Sie jedoch schüttelte verwundert das Haupt. »Wozu?« versetzte sie gekränkt. »Ich bin kein Kind mehr. Das mußt du nicht glauben.«

»So? – Ach was? – Sag mal, wie alt bist denn eigentlich?«

»Das weißt du nicht?«

Ihre Stimme nahm einen immer verletzteren Klang an, doch den Lehrling schien dies nur in seiner heiteren Laune zu bestärken.

»Das weißt du nicht?« wiederholte sie heftig, während sie auf der Steinplatte herumkratzte.

»Nein, nimm's nicht übel, Kleine, ich hab' nicht so genau aufgepaßt.«

»Schön, dann will ich dir's sagen. – Ich bin tausend Jahre alt,« platzte Line heraus und stieß ihn mit der kleinen Faust zornig vor die Brust. »So, nun weißt du's.«

Ihr Körper krümmte sich dabei zusammen wie der einer geschmeidigen Katze, mit einem Satz war sie von der Platte herunter.

»Ich geh nun nach Haus!«

»Dummes Zeug!« rief Bruno verblüfft. »Wozu? – Was soll das?«

Dennoch mußte er hinter ihr herrennen.

Sie wirbelte wie ein weißer Schatten durch den Klostergang.

Die Blätter raschelten zu ihren Füßen.

»Line – Donnerwetter – steh doch.«

Da war sie verschwunden.

Wohin?

Eingesunken, von der Erde verschluckt. Eine Sage ging, daß oft Namenlose, von denen keine Pergamente melden, ehemals bei den Mönchen so verschollen seien. Verwirrt blickte Bruno nach allen Seiten.

»Line,« lockte er nochmals.

Kein Laut!

Nur die Eichenkronen schüttelten sich und an dem bröckligen Mauerwerk lachte die Abendröte.

Ein Eichhörnchen hockte in einer Fensternische und zog ihm eine Nase.

Unvermittelt erhielt er im Rücken einen Stoß, so daß er vorwärts taumelte. Eine Baumwurzel krümmte sich vor seinen Füßen. Die ließ ihn stolpern.

Er kniete jetzt.

»So wird's gemacht,« klang hinter ihm Lines schadenfrohe Stimme, »du bist doch nicht klug genug.«

»Teufel nochmal, Ding; woher kommst du?«

»I, ich wollte dir bloß zeigen, daß ich auch manches kann, was du nicht weißt.«

Sie weidete sich einen Moment an dem Knienden und zeigte ihre weißen Zähne.

Plötzlich schrie sie auf.

Der Sekundaner war auf die Füße geschnellt und preßte mit einem festen Griff ihre Hände in den seinen.

»So,« forderte er atemholend, »nun bitt' ab.«

»Nein,« widersprach Line.

»Kleine, sei artig,« ermahnte der Lehrling. »Solche Wildheit muß dir abgewöhnt werden. Immer friedlich, Wurm.«

Allein sie sträubte sich, und er gab sie nicht frei. Bei dem Winden und Drehen stieg ihr das Blut in die Wangen, der geschmeidige Körper bog sich wie eine schlanke Gerte. Eine kurze Zeit, dann verließ sie die Kraft, und allmählich drängten sich ihr ein paar große Tropfen in die Augen.

»Tu ich dir weh?« forschte Bruno gespannt.

Line verbiß den Schmerz.

Er aber zog hastig seine Hände von ihr zurück und gab sie frei.

Merkwürdig – jetzt hätte sie entwischen können. Doch sie blieb und ging von jetzt an ruhig neben ihm her.

So waren sie bis an die niedrige, verfallene Feldsteinmauer gelangt, welche die Ruinen der Landstraße abschließt.

In der Abendsonne wand sich hier die Chaussee wie eine goldene Schlange vorbei, zur Seite schob der Wald seine dunklen Massen weiter ins Land hinein, und ganz hinten aus den nebligen Äckern, umquollen von den sich hebenden Abenddünsten, rollte unter undeutlichem Läuten die Sekundärbahn heran.

Bruno blieb stehen. Ihm kam der Gedanke, daß er das alles heute für lange Zeit zum letztenmal sehen würde.

Leise vor sich hinsummend, ließ er sich auf dem Mauerwerk nieder und starrte in die weite, nebeldampfende Ebene hinein. So merkte er erst nach einer Weile, wie das Mädchen unschlüssig neben ihm verharrte, weil sie sich scheuen mochte, in ihrem weißen Festkleid ebenfalls auf der schmutzigen Mauer Platz zu nehmen. Da zog er sie einfach an sich.

»Komm!«

Und ohne viel Umstände, kindlich und natürlich setzte sie sich ihm auf die Knie. Er schlug seinen Arm um sie, und sie rückte sich zurecht.

Nach geraumer Zeit erst äußerte der Sekundaner: »Das ist hübsch.«

Und Line nickte ernsthaft dazu und sagte: »Ja, das ist es.«

Dazu lag still und warm und rot die scheidende Abendsonne auf ihnen und aus den herbstlichen Bäumen raschelten braune Blätter auf ihre Häupter.

Da wandte sich Line nach ihm zurück. Als sie ihn ansah, bemerkte sie mit Erstaunen, daß in dem hübschen braunen Gesicht des Pflegebruders ein dunkles Schnurrbärtchen auf der Oberlippe zu sprossen begann. Das war ihr neu. Und aus ihren Augen und aus dem sich langsam öffnenden Munde sprach so viel Bewunderung, daß Bruno, der wohl fühlte, daß etwas Schmeichelhaftes für ihn darin lag, das kleine Ding plötzlich lachend und doch mit Hast an sich riß.

Sie sträubte sich gar nicht.

Ganz eng schmiegte sie sich an ihn, ja, sie verkroch sich geradezu an seiner Brust, so daß er deutlich empfand, wie weich und fest zugleich ihre Glieder sich fügten.

Eine schülerhafte, scheue Begierde stieg in ihm auf, auch ihren Mund zu berühren. Die roten Lippen leuchteten ihm so dicht!

Aber nein – nein, das wagte er nicht.

Es war überhaupt das erste Mal, daß er so kosend nah sich einem Mädchen fand. Und nun noch gerade diese! —

Nein!

Er schämte sich, fürchtete sich und lächelte doch ein wenig unwillig über sich selbst.

Ein merkwürdiger, angenehmer Schauer begann ihn dabei zu überrieseln. Und sie wand sich immer wohliger in seinem Arm. Noch war ihr unklar, warum, doch immer tiefer nistete sie sich bei ihm ein, blinzelte verstohlen zu dem Schnurrbärtchen empor und spann vor Freude, wie eine kleine Katze vor dem Schlummern.

Wieder wiegten sich beide einen fröhlichen Moment. – Dann surrte die Sekundärbahn mit ihren drei schwarzen kreischenden Waggons heran, und ein schriller, durchdringender Pfiff weckte beide auf.

Sie sahen sich an.

Dann mußten sie lachen. Keiner wußte den Grund.

Es war das Lachen zweier blutjunger Menschen, die sich entdeckt haben.

Aber sie wußten es nicht.


* * *

Langsam schlich der Abend über die Landstraße. Rechts und links fing er in seinem schwarzen Sack die letzten Sonnenstrahlen, die wie goldene Mäuschen über den Weg huschten.

Überall stiegen Schatten an Mauern und Bäumen empor und griffen nach der Röte, die dort noch ruhte.

Die Sekundärbahn, die am Fluß entlang auf die Stadt zustrebte, fuhr wie in einen dunklen Tunnel hinein. – Nur ihre roten Augen, die sie auf dem Rücken besaß, glimmten noch eine Weile nach dem einsamen Paar zurück.

Da wand sich Line von Brunos Knien herab und streckte den Arm nach den roten, blinzelnden Augen aus. »Morgen abend bist du auch da drin,« begann sie beinah anklagend.

»Ja, morgen abend schlafe ich schon in der Stadt,« entgegnete er rasch.

Hastig atmete er dabei auf.

»Was wirst du in der Stadt anfangen?« fragte sie weiter.

Er sah sich um, ob ihn auch niemand höre. Dann schlüpfte ganz heimlich das Unterste, Verborgenste aus ihm heraus.

Der Traum, der tief in der Seele im verschlossenen Kämmerchen auf weichem Bette geschlummert, der stieg scheu und schämig auf die Erde.

»Reich will ich werden, Line.«

»Reich?«

»Sehr reich. Unermeßlich reich.«

»Wozu willst du das?«

Mit einem Ruck hatte er sie wieder an sich gezogen. Doch sie setzte sich ihm nicht mehr aufs Knie. Stehend, von seinem zitternden Arm umschlungen, während ihr Ohr fast seinen Mund berührte, hörte sie alles mit an, sog es in sich ein, was er ihr nun mit fiebernder Hast, mit ausbrechender, üppiger Knabenphantasie vormalte.

Ein eigentümliches Beben ging durch seine flüsternde Stimme.

Ja, das mußte jahrelang in ihm geschafft und gewirkt haben. – Was vernahm sie nicht alles? – Das Gold, das sei der Schlüssel zu aller Macht und Herrlichkeit. Diese blitzenden Goldstücke hingen wie Sterne über jedem irdischen Menschenhimmel. Manchmal regne es von dort oben in weiten Strömen. Dann wüchsen aus dem getroffenen Acker Schlösser, Paläste, Gärten mit seltenen Blumen, Kleider, Livreen, schnelle Pferde und die seltensten Braten hervor. Freilich, nur ein paar Auserwählte seien es, die das Geheimnis ergründet hätten. Hollander gehöre dazu. Der hätte es. Und von dem alten Manne müßte er es auch erlernen. Sonst käme er nicht wieder, ganz gewiß nicht, sonst stürze er sich irgendwo in die See, wenn er das nicht erreiche. Denn sonst lohne es nicht, zu leben. – Aber er würde es erreichen, jede Nacht beinah hätte er ja davon geträumt, ja manchmal hätte er ganz deutlich gehört, wie es vor seinem Bette seltsam geklungen und geklappert hätte.

Ganz deutlich.

»Klipp – klapp.«

»Das ist fein,« flüsterte Line, der es wie Feuer durch die Adern brannte.

Die schönen Kleider und die Schlösser hatten es ihr angetan.

»Ja, aber es ist schwer,« murmelte er bekümmert.

Nun tastete langsam der Mond über die Baumkronen herauf.

»Und wenn du dann reich bist?« forschte sie mit verhaltenem Atem weiter, »dann – ?«

»Ja, dann – «

Ganz berauscht, toll von dem Klang der eingebildeten Schätze preßte er die Stehende an sich, bis er die Schläge ihres erregten Herzens hämmern hörte. Seine Knabenaugen leuchteten in den ersten Mondesstrahlen gleich einem Paar prachtvoller Edelsteine.

»Kann ich auch reich werden?« forschte sie plötzlich mit aufwachender Gier.

»Du?«

Er lächelte.

»Warum lachst du? Warum schüttelst du den Kopf?«

»Du nicht.«

Da riß sie ihre Hand ungestüm von ihm zurück. Ihr Mund zuckte. »Warum nicht?« rief sie verzweiflungsvoll.

»Weil du nicht genug gelernt hast,« erklärte er begütigend und erhob sich, um sie mit fortzuziehen. »Aber, das schadet ja auch nicht, Liebling. Wenn man so hübsch ist wie du. – Komm.«

Halb im Taumel ließ sie sich von ihm leiten. Alles summte in der aufwachenden Seele durcheinander, die Liebesworte und der Goldklang. Und immer wieder, fast bettelnd, suchte sie den Großen davon zu überzeugen, wie sie am Ende doch nicht so wenig gelernt hätte. Dabei ergab sich, daß sie die unregelmäßige Dorfschule monatelang überhaupt nicht gesehen, ja, wie dies dem alten verbummelten Lehrer Toll nicht einmal als etwas Besonderes aufgefallen wäre.

Spitzbübisch wollte sie die Lippen bei dem losen Streiche spitzen. Doch ganz ohne Übergang fuhr sie zusammen und begann laut vor sich hinzuschluchzen.

»Herrgott, Lining, was weinst du?«

»O nichts!«

Damit schüttelte sie sich die Tränen ab und warf ihr Köpfchen kräftig in den Nacken.

»Ich kann nicht reich werden, ich hab' nicht genug gelernt,« ging es durch ihre Gedanken. Und dann blickte sie wieder mit heimlichem Neid auf ihren Gefährten, der nun bald in diesen goldenen Gärten spazierengehen würde.

Plötzlich griff sie in der Dunkelheit heftig nach seiner Hand, und beinahe zornig stürzte es aus ihr heraus: »Sag' mal, kommst du nun bei Hollander auch mit lauter solchen Menschen zusammen, die was gelernt haben?«

Das bejahte er. Lachend über ihre kindliche Wut, und geschmeichelt, daß sie ihn augenscheinlich gleich einem höheren Wesen verehre.

Nun standen sie vor der Brücke. Unten gurgelte und sang der Fluß, vom jenseitigen Ufer blinkten die erleuchteten Fenster der Krugwirtschaft herüber. Und da! – Was war das?

Grobe Tanzmusik drang über das Wasser, hinter den angelaufenen Fensterscheiben huschten blasse Schatten vorbei!

Kling – kling – plump – plump – trala!

Line griff nach dem Geländer der Brücke und wurzelte an. Ihre Augen saugten sich an den kleinen, leuchtenden Fenstern, die so wunderliche Lichtstrahlen in die Finsternis hinaussandten, förmlich fest; ihre Zähne biß sie scharf zusammen.

»Nicht doch! – Was soll das? – Komm, Kleine.«

»Bruno?«

»Ja.«

»Sieh da, bei Gastwirt Krügern da tanzen jetzt die Studenten mit den Fischerfrauen und den Mädchen.«

Auch er warf einen verlangenden Blick hinüber und streckte dann die Hand nach ihr aus.

»Ja, ja – aber was soll das? – Du mußt nach Haus.«

»Du, da drüben möcht' ich auch hin.«

»Da drüben?« Er hielt sie fest. »Hör', – da gehören keine Kinder hin.«

»Ich bin kein Kind mehr. Das sollst du sehen.«

Mit einer schlangenhaften Wendung wischte sie ihm unter der Hand fort.

»Jetzt lauf ich rüber.«

Er geriet in Angst.

»Lining – bedenk doch – wir haben ja Trauer.«

»Oh, bei so einer, die nichts gelernt hat, schadet das nichts. Nein, nein, da schadet das gar nichts. Ich will bloß zusehen.«

»Um Gottes willen, bitte, tu das nicht – mir zuliebe! Ja?«

Seine Stimme zitterte so flehentlich, daß sie stehen blieb und zögerte. Über die hohen Schwebebalken der Brücke glitt der Mond, so daß sich beide genau betrachten konnten. Da öffnete sich drüben in der Schenke eine Tür. Ein Strom von Musik und Gelächter schoß heraus.

Kling, kling, plump, plump, trala!

Das entschied.

Line zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. »Bloß zusehen,« rief sie noch einmal mit geschnürter Stimme, »du kannst auf mich warten!«

Im nächsten Moment flog sie über die Brücke, und wie von unsichtbarer Hand zurückgehalten starrte ihr Bruno nach. Seine scharfen Augen verfolgten die Fliehende, bis sie gleich einem weißen Pfeil durch den Wirtshausgarten schoß. Dann griff er sich an die Stirn und sah sich um. Rechts von ihm ruhte die unendliche, finstere Masse des Meeres, links glitzerte im Mondenlicht der silberne Fluß, und weiterhin zuckte am Himmel ein breiter leuchtender Schein. Unter diesem lag in der Ferne die Stadt, in der er morgen schon wohnen und wirken sollte.

»Line!« rief er laut und ängstlich in unerklärlicher, aufsteigender Bangigkeit.

Aber nichts antwortete ihm.

Nur zwischen den nahen, glitzernden Fenstern glaubte er den weißen Schatten des Mädchens in das Innere des Hauses schlüpfen zu sehen.

Da brach auch bei ihm unvermittelt alle Überlegung zusammen. Die Trauer und den finsteren Ernst des Lebens, der dahinten lag und auf ihn lauerte, alles vergaß er. Er wollte nur die Kleine holen – nur sie überwachen, das unerfahrene Ding, das so hübsch auf seinen Knien gesessen. Noch fühlte er die heimliche Wärme. »Ja, nur sie holen.«

Ein paar leichte Sprünge.

Er war bereits jenseits der Brücke. Ganz nahe drang durch geschlossene Türen die Musik – hinter ihm versank still und schweigend die Stadt, in der er morgen einziehen und leben sollte.

Er sprang in den Saal.

Und draußen tauchte alles wieder in nächtliche Versunkenheit; die Ufer und die Landstraße und die raschelnden Binsen am Moor. – Nur unten, wo der Strom um die Brücke gurgelte, da sah Malljohann, der zur selben Zeit nachdenklich auf dem Dach seiner Kajüte hockte und zu dem Mond hinaufmurmelte, wie sich vorsichtig ein winziges Männchen aus dem Wasser hob, und wie es in die Hände klatschte und in ein scharfes Kichern ausbrach.

Das war nichts Menschliches.

Und Malljohann wußte recht gut, so lachte nur der Klabautermann, den ja Line für ihren Vater ausgab, und der sich nun über sein flinkes Dirnlein freute.




X


Der Mond tanzte auf den Wassern.

Durch den schwarzen, glatten Spiegel streckte er überall sein feuchtes Gesicht hindurch, zwinkerte mit den Augen und spie goldene Funken nach Hann.

Es war gerade um die Zeit, als Line mit feurigen Wangen das erste Mal durch den Saal schlich.

Siebenbrod war eingeschlafen, er schnarchte. Kein Lüftchen regte sich; mitten auf der toten Fläche stand das Boot unverrückbar still.

Die großen Stellnetze waren bereits eingezogen, ein paar andere hatten sie ausgelegt; mitten in dem Boot schillerte fast fußhoch ein dicker Haufe zappelnder Heringe.

Die zuckten und sprangen und leuchteten einen fahlen, blauweißen Glanz.

Von fernher hallte ein einsamer Glockenschlag. Dann kroch wieder dieses ungeheure tote Schweigen über den Spiegel. Der Junge, des Nachtdienstes ungewohnt, hockte vorn am Bugspriet und kämpfte gegen den Schlaf. Zuweilen neigte sich sein plumpes Haupt schwer gegen den Bordrand, doch ein letzter verlöschender Blick auf den Stiefvater, der, das Steuer im Arm, zu einer unförmigen Masse zusammengesunken schien, ließ ihn immer wieder zur Höhe taumeln.

Der Bootsmann hatte ihm anbefohlen, wach zu bleiben. Und die Furcht wirkte stärker als die Müdigkeit.

Allmählich aber begann er zu zittern. Ein eisiger Frost stieg aus der schwarzen Tiefe auf und legte sich wie ein enger Mantel um seine Brust.

Voller Angst und in der Sucht, sich an etwas festzuhalten, an etwas Lebendigem, blickte er überall umher.

Dort der Mond. – Er kam und ging.

Es war, als wenn er sich wasche und immer um das Boot herumschwimme!

Was war eigentlich der Mond?

Der Junge rieb sich den Kopf, aber das Richtige sprang nicht heraus. Er fuhr mit der Hand in die glitzernde Scheibe, aber das Wasser war so eisig, daß er zusammenschrak.

Immer toller grinste das Gesicht aus den Fluten. Deutlich sah der Einsame, wie die großen Augen auf und zu klappten. Dazu verzog sich der Mund und wies blitzende Zähne.

Herrgott – Herrgott – was war eigentlich der Mond?

Das Gesicht wurde immer deutlicher und runder. Jetzt hob es sich aus dem Wasser, jetzt tauchte es unter, im nächsten Augenblick klappte das Maul auf und fing an zu reden.

»Jesus!«

Der kalte Schweiß lief Hann herunter. Er war der Nacht und dieses fürchterlichen Schweigens noch ungewohnt.

»Siebenbrod – Siebenbrod!« schrie er auf.

Vom Steuer tönte ein Ächzen, dann rührte sich nichts mehr.

Nein, er mußte wissen, was der Mond war. Die Unwissenheit bedrückte ihn, wie kurz vorher Line. In wildem Schrecken versuchte er fortzusehen, doch kaum gedacht, schwoll das Haupt riesengroß an, ein Zischen quirlte um es her, und dann grinste es wieder tückisch unter der zitternden Flut.

Da kam Hann ein Gedanke.

Er wollte sein Abendgebet hersagen, denn seine Furcht war groß. So faltete er die Hände:

»Ich bin klein,
Mein Herz ist rein,
Soll niemand drin wohnen
Als Gott allein.«

Er betete es noch immer, obwohl er ein großer Junge geworden. Er hatte kein Gefühl für die Lächerlichkeit.

Als er den Spruch gesagt, schielte er von neuem auf seinen Feind. Der hatte sein Antlitz in tausend goldne Runzeln gezogen und lag grämlich und zitternd da.

Und immer wieder ging es durch den dummen Jungenschädel: »Was ist eigentlich der Mond?«

In der Schule war er so weit nicht gekommen. Ob Line das wohl wußte? Ja, wenn er heute nacht nach Hause kam, dann wollte er doch an die Nebenwand klopfen, hinter der sie schlief, um einmal anzufragen. Ja, ja, Line hatte es gut. Die lag nun weich in ihrem Bett.

Gutmütig nickte er.

Das war auch ganz in Ordnung, daß sie nicht mit auf der schwarzen See weilte. Sie sollte nicht arbeiten. Dazu war sie zu fein.

Und als er von neuem in das glitzernde Gebilde starrte, kam es ihm vor, als ob sich dort drin etwas verändere, als ob ein ganz kleines Püppchen darin herumtanze.

Wahrhaftig, so warf Line die Beinchen.

Freudig reckte er sich vor, so daß das Boot schwankte. Alle Bangigkeit war vergangen. Statt des gespenstischen Hauptes nahm er mit einmal eine goldene Stube wahr, in der Line herumhuschte.

»Ja, ja,« wohlgefällig lachte er dazu, und ganz hinten am Steuer, wo die formlose Masse des Bootsmanns hockte, räusperte sich etwas, und Siebenbrods knastrige Stimme fragte gemütlich: »Wat is de Klock?«


* * *

Um Mitternacht fuhr das Boot in Moorluke ein. Eine Viertelstunde später stießen die beiden Fischer auf Frau Klüth, die in der Dunkelheit vor dem Lotsenhäuschen stand und die Hände rang. Als Siebenbrod sich erkundigte, erfuhr er, daß Line und Bruno diese Nacht nicht nach Hause gekommen wären. Paul, der Student, sei bereits trotz Nacht und Nebel in die Klosterruinen gelaufen, wo man die beiden zuletzt gesehen.

»Und dabei soll es da drüben spuken,« jammerte Frau Klüth.

»Na, sie werden sich wohl wieder zufinden,« tröstete Siebenbrod in ziemlicher Ruhe und gähnte mächtig. »Die Hauptsache is nu, daß wir schlafen gehen. Puh – ich schuddere man so durch den ganzen Leib. – 's is niederträchtig kalt. – « Und während er die Witwe und Braut an die Hand nahm, murmelte er noch: »Leg dich man auch nieder, Frau Klüth. Es sind ja große Gören.«

Die kleine Frau ließ sich nach einigem Sträuben ins Haus ziehen.

Hann aber stand vor der Tür und zitterte vor Frost. Mit blödem Blick und schweren Augenlidern sah er in die Nacht hinein.

Hatte er das geträumt? Spukte der Mond noch vor seinen Augen.

Line war weg?

Schwerfällig schüttelte er den Kopf, als wär' ihm das Merkwürdige noch immer nicht klar, dann schauerte er wieder zusammen, und alle seine Glieder zuckten vor Kälte.

Line war weg?

Plötzlich überkam ihn eine seltsame Wut; die Mattigkeit wich von dem jungen Körper, mit voller Wucht schlug er mit der Faust gegen die Hausmauer, immer fester, immer ärger, als hätten die Steine nicht genügend über die Kleine gewacht.

Warum kam sie denn nicht wieder? – Wo war sie? Wenn sie nun beide, Bruno und das Mädchen, im Rick lägen? Laut heulte er auf und hieb wieder auf die Steine ein.

Aus der Hand sprang Blut.

Da klappte etwas auf der Dorfstraße.

Dicht am Rick entlang kam eine Fischersfrau in Holzpantoffeln daher. Es war die Frau des taubstummen Klaus Muchow, die ihren Mann aus dem Krug nach Hause holen wollte. Als der Junge in der Dunkelheit auf sie zufuhr, erschrak sie.

»Huching.«

»Line – Line is weg,« stammelte er.

Die Frau dachte nach. »Ne,« berichtete sie dann, »die hab' ich bei Gastwirt Krügern gesehn, mitten unter die Studenten.«

»Bei Gastwirt Krügern?« echote Hann, der es nicht glauben konnte, und riß den Mund auf.

Warum schlug ihm das Herz dabei so gewaltig an die Rippen? Noch war sein Verstand zu dumpf, um ihm das zu beantworten.

»Na, ich sag man, die tanzt fein,« meinte die Frau und lachte. Dann machte sie den Vorschlag, daß Hann sie begleiten solle, sie würde ihn mit hineinnehmen.

»Darf ich denn da hin?« stotterte Hann.

Die Frau warf ihm einen zweifelnden Blick zu: »I ja, warum denn nicht?« entschied sie, »wenn ich mit dabei bin – komm man, mein Jünging.«

»Na, denn nehm' ich's an,« brachte der Junge halb betäubt hervor und schüttelte sich, um sich zu erwärmen. »Dann hol' ich Line.«

»Ja, das tu man.«

»Es is wegen der Trauer,« entschuldigte Hann voller Scham.

»Ja, ja, das ist auch so.«

Und dann verschwanden die beiden.


– —

»Line, jetzt komm nach Haus,« drängte der Sekundaner wiederum.

Er hatte sie einen kurzen Moment an der Hand, doch sie entzog sich ihm wieder.

»Gleich – gleich, Bruno.«

»Nein, du gehst jetzt.«

Sie lachte wild: »Ich tu ja nichts«

Dabei schimmerten ihre Wangen in heller Röte, aus dem leicht geöffneten Munde stieß kurz und rasch der Atem, und in den schwarzen Augen züngelten hundert glänzende, kleine Feuer.

Ihre Füßchen trippelten ungeduldig, und jetzt, jetzt wo die Musik wieder einsetzte, da wiegte und dehnte sich der Körper so leicht, so frank und frei, als wäre das weiße Kinderkleidchen längst von ihr abgeglitten, als stände sie nackt und aller Hüllen ledig und würde bald einen unerhörten Tanz beginnen.

»Line – Line.«

»Laß mich doch, Bruno, ich tu ja nichts.«

»Du hast mit dem großen Studenten da drüben getanzt.«

»Das ist nicht wahr – laß mich jetzt los – bitte, bitte.«

»Nein, du darfst nicht mehr.«

»Oder tanz du selbst mit mir.«

Er erschrak über ihr Verlangen und starrte sie an. In ihrer Stimme lebte soviel kindliche Leidenschaft. Hinter ihm paukten und schmetterten ein paar Musikanten, die aus der Stadt herausgekommen waren, scharrendes Geräusch schleifender Füße mischte sich drein.

»Hopsa – hopsa – hopsasa,« sang plötzlich oll Kusemann neben ihnen, der in seiner Extralotsenuniform bei jedem Ball die Stellung eines Tanzkommandeurs bekleidete, »hopsasa,« sang er und hob das rechte Bein unternehmend in die Höhe: »Komm, Dirning, tanz mit mir! – Ich hab' spanische Korken in die Stiefel – siehst du so.« Er sprang hoch in die Luft. »So ein paar Dinger schenk, ich dir auch, wenn du hübsch artig bist und mir einen Kuß gibst – fix, Marjelling.« Hoch nahm er sie in seine Arme und schwenkte sie weit in der Luft herum.

Ihre Röckchen wirbelten, die schwarzen Zöpfe rasten um sie herum, von der einen Wade war der Strumpf heruntergestreift und entblößte die braune, seidige Haut.

»Huch,« schrien die Fischerweiber schamhaft.

Solchen Tanz hatten sie noch nicht gesehen. Der taubstumme Riese Klaus Muchow lachte dazu, daß die Wände dröhnten, während die Studenten ihre Seidel schwangen, um Line ein donnerndes Hoch auszubringen.

»Line – hurra,« schmetterten die jungen Stimmen.

»Line hurra,« knatterte es aus allen Winkeln.

»Line hurra,« greinte oll Kusemann und spitzte seiner Tänzerin, die noch nicht den Erdboden berührt hatte, die Lippen entgegen.

»Ich will nicht mehr,« keuchte die Kleine, vor deren Blicken alles verschwamm, und begann mit dem Lotsen zu ringen. »Ich will runter.«

Ihre Fußspitzen suchten den Estrich.

Oh, und Bruno mußte oben von der Terrasse der Musiker, wo er krampfhaft einen Stuhl gepackt hielt, alles mit ansehen, mußte die entblößte Wade schauen und die tastenden Zehen, mußte auch knirschend beobachten, wie der taubstumme Riese sich erhob, um dem angetrunkenen Lehrer Toll pantomimisch vorzumachen, wie er das Ding auf seinen Arm setzen wolle und dann auf den Kopf.

Dazu erhob er taktmäßig die mächtigen Beine, grinste schlau und drehte sich komisch im Kreise umher.

»Solch ein Kerl,« murmelte Bruno in erstickter Wut. »Solch ein Kerl.«

Wie kam es, daß die Gestalt des alten verstorbenen Lotsen plötzlich vor ihm auftauchte, seines Vaters, der erst wenige Wochen in seinem Grabe ruhte, und der doch Line wie sein eigenes Kind gehalten?

»Wie ist das möglich?« – schnitt es ihm durch den Sinn, »wie ist das bloß möglich? – Hab' ich denn das Ding noch gar nicht gekannt?«

Ein merkwürdiges Gefühl, von Grauen und Verlangen gemischt, wühlte in ihm herum, keinen Blick konnte er von der Kleinen abwenden, und jetzt, jetzt trug sie oll Kusemann schleifend und zierliche Winkel drehend wieder in seine Nähe.

Wie er zitterte, wie er sich schämte, und er hatte sie doch erst vor wenigen Stunden weich auf seinem Schoß gehalten. —

»Dirning,« hörte er den Lotsen schmunzeln, »leg' mich deinen Arm um den Hals, sonst fällst du.«

Und was antwortete sie?

»Du alter, häßlicher Kerl.«

»I, Lining, das ist grade was Apartes. – Au, Kind, wozu kratzt du denn? Ich wollt ja bloß sagen: Hann liegt jetzt auf der See.«

Line schlug mit der Hand durch die Luft. »Wo Hann liegt, das ist mir ganz gleich.«

»Na, du gehst gut, du Racker,« wollte der Lotse eben belobigen, da fühlte er unvermittelt, wie etwas an ihm herunterglitt; dadurch verlor er das Gleichgewicht und purzelte, sich überschlagend und unter dem dröhnenden Gelächter der Studenten, gerade auf den Schoß seiner Gattin Alwining.

Die zog ein strenges Gesicht und kniff ihn heimlich in den Arm.

»Alwining,« flüsterte oll Kusemann und griff seiner Frau unter das Kinn: »Sei ruhig, ich weiß, was du denkst. – Aber die kleine Krabbe ließ mir gar nicht in Frieden. Du weißt ja, aus der wird nichts Gutes! – Sollst sehen, Alwining. – Ich kenn' meine Leute.«


* * *

Sie forderte zu trinken, als sie nun atmend und glühend neben ihrem Pflegebruder auf der Terrasse stand.

Aber er verweigerte ihr alles. Eine tiefe Verachtung gegen dies tolle Ding war in dem feinen gebildeten Jungen aufgestiegen. Fast mit Gewalt hatte er sie in eine Ecke hinter die Musiker gezogen, und nun schüttete er dort sein Herz vor ihr aus. Wie sie sich benommen, wie sie ihn blamiert hätte, und was die Mutter zu Hause dazu sagen würde. Den Abschluß bildete immer der eine Satz: »Du hast nichts gelernt, du gehörst eben unter die Fischer.«

Doch sie antwortete nichts.

Ihre schwarzen Augen, die so seltsam auf dem blauweißen Untergrund schwammen, lugten noch immer gierig nach allen Seiten. Die Musik und der Tanz hatten sie offenbar betäubt. Immer noch blinzelte sie nach den sich drehenden Paaren.

»Line, verstehst du mich denn nicht? – Ich trag dich mit Gewalt raus, wenn du nicht von selbst gehst,« flüsterte er mit neu aufbrausender Wut.

Verständnislos – kindlich und doch mit einem merkwürdigen, bewußten Zug um die Lippen lächelte sie ihn von unten herauf an. Dann streichelte sie ihm schmeichelnd über die Wange, um gleich darauf das Haupt zu neigen und mit ungeheucheltem Erstaunen auf ihre entblößte Wade herabzublicken.

Jetzt bemerkte sie es erst.

Auch der Sekundaner mußte diesem Blick folgen. Das Blut schoß ihm dabei ins Gesicht, er verachtete sich selbst, weil er sich nicht sofort abwenden konnte. Doch er verharrte und blinzelte hinunter. Und Line lachte über den Unfall, während sie tiefgebeugt über ihrem Strumpf nestelte. In diesem Augenblick nahte sich ein junger, schlanker Student, Jahn mit Namen, derselbe, der vorhin das Hurra auf diese jüngste Tänzerin kommandiert hatte, und streckte einfach die Arme nach ihr aus.

Schon berührten seine Finger die Schulter der Gebückten, als Bruno sich nicht mehr mäßigen konnte. Er riß sie empor, daß sie förmlich in die Höhe zuckte, beide flogen von der heftigen Bewegung die wenigen Stufen hinunter, und dann – hatte er begonnen oder Line?

Keiner wußte es später.

Aber die schlanken Arme, mit denen sie ihn unwillkürlich umschlungen, löste sie nicht, und dann war es Bruno, als ob alles um ihn herumwirbele. Die Wärme, die heiße Glut, dieser erste Lebenstaumel des jungen Wesens an seiner Brust hatten es ihm angetan – ! Er tanzte! – Nein, er riß sie rasend mit sich fort. Er sah nichts als die aufblitzenden Augen und die weißen Zähne, die hinter den schmalen Lippen glänzten. Immer herum – immer weiter, wenn es ihm auch war, als ob er über spitze Messer tanze, wenn ihm auch eine flüchtige Erscheinung kam, als stände sein Bruder Hann draußen an den Fensterscheiben und stiere blöden Sinnes herein. Schneller, wilder, dieses sich immer gleichbleibende, beglückte Lächeln der Tänzerin berauschte ihn und hetzte ihn weiter.

»Oh,« murmelte Line, »noch länger – noch länger.«

»Ja – ja.«

»So gut wie du tanzt doch keiner, Bruno.«

»Aber du auch – du auch, Line.«

»Ja, das hab' ich gelernt,« flüsterte sie stolz, während sie ihn leise in den Arm kniff.

Doch ehe er noch antworten konnte, kam das, was ihn zur Besinnung brachte, vor dem er floh, als hätte er ein Verbrechen begangen.

Wie eine Erscheinung, unvorhergesehen, stand es da.

Leise, aber entsetzt schrie Line auf.

Was war das für eine breite, nasse Hand, die sich auf ihren Arm legte? – Weshalb stürzte plötzlich ihr Tänzer fort, als ob er sich verfolgt wähne?

Wer war das eigentlich, der sie festhielt und mit ihr sprach?

Erst mußte sie sich die Haare aus der Stirn streichen, eh sie ihn erkannte. Dann blickte sie sich wirr im Saale um. Ihr Herz begann krampfhaft zu pochen, eine schneidende, überwältigende Angst durchfuhr sie.

Wie kam sie denn hierher? – All die fremden Leute? Die Fischerweiber, die mit Fingern auf sie zeigten, und die Studenten, die so vertraut mit ihr taten?

Zitternd und zerknirscht blieb sie vor dem Schifferjungen in dem nassen Rock stehen. Der sah sie mit seinen dumpfen blauen Augen bekümmert an und sagte mit kaum merklichem Vorwurf: »Ich such' dich, Lining.«

»Hann,« stotterte sie.

Da faßte er sie fester am Arm und meldete ernsthaft: »Ich soll dich nach Haus bringen.«

»Ja – ja,« stieß sie scheu hervor, während sie sich an ihn drängte: »O komm bloß, ich will mit dir.«

Er ließ ihr keine Zeit zur Besinnung, bevor sie es selbst recht bemerkte, hatte er sie aus dem tabakdurchqualmten Saal geleitet und führte sie nun durch die stockfinstere Nacht.

»O Lining,« murmelte er nur einmal mit tiefem Kummer, »was hast du gemacht?«

Hastig atmete sie auf. »Ich weiß auch nicht,« brachte sie dumpf hervor, aber dann setzte sie halb voll Angst hinzu: »Aber ich glaub', es kommt davon, weil ich so wenig gelernt hab'.«

»Ja, ja, das mit dem Lernen,« stimmte Hann beklommen bei.

Er dachte immerfort daran, wie sein feiner Bruder, der doch morgen in die Welt sollte, und dies kleine Mädchen zusammen getanzt hatten, getanzt, während der alte Lotse in seiner Grube kaum kalt geworden.

Das war greulich.

Aber er sprach darüber kein Wort. Etwas Unbestimmtes, Ängstliches hielt ihn von der Schwester fern.

Endlich waren sie an der Seite des murmelnden Flusses bis vor die Tür des Lotsenhäuschens geschlichen.

»Hann,« begann Line hier, der das Schweigen Pein verursachte, »wacht Mutter noch?«

Er schüttelte das Haupt.

»Bist du allein auf?«

Er nickte.

»O Hann« – sie drängte sich in ihrer schmeichelnden Art an ihn – »sprich doch mit mir – ich will's ja nie wieder tun, hörst du? – aber sprich mit mir.«

Wieder schüttelte er das plumpe Haupt. Ihm war so trostlos zumut, daß ihm keine Worte einfielen. Da wurde die bohrende Verzweiflung in Lines Brust übermächtig, heftig sprang sie an dem Jungen in die Höhe und drückte ihm einen heißen, bittenden Kuß auf den breiten Mund. »Ich will's ja nie wieder tun,« hauchte sie dazu, »ganz gewiß, nie wieder – aber sag hier zu Haus nichts davon, hörst du? – sag kein Wort.«

Noch stand sie einen Augenblick vor ihm. Durch die tiefe Nacht glaubte er das Weiße ihrer Augen zu erkennen. Dann hörte er etwas über die Treppe huschen, und über die Stelle, wo sie gestanden, säuselte der Nachtwind.

Es war stockfinster und Hann auf der Landstraße allein.

Da senkte der dumme Junge langsam den Kopf in seine groben Hände und begann unhörbar vor sich hinzuschluchzen.




XI


Zur selben Zeit saß Line im Hemd auf ihrem Bette.

Die nackten Füße ließ sie hinabhängen, die Hände hielt sie auf dem Schoß krampfhaft ineinandergefaltet, und so bohrte sie ihren Blick unverrückbar auf die nahe Bretterwand des Verschlages, als wäre dort in der Schwärze irgendeine helle Stelle und sie vermöchte auf ihr etwas Merkwürdiges zu erspähen. Sie fror nicht, sie zitterte nicht, aufgerichtet und mäuschenstill hockte sie, und alle ihre Gedanken schienen sich wie Pfeile in ein einziges Ziel einzuspießen.

Endlich seufzte sie tief auf, griff nach dem Stuhl, auf dem ein Lichtstümpfchen stand, und entzündete es. Behutsam hielt sie die Hand vor das Flämmchen, so daß ihre Finger wie in Blut getaucht erschienen, und schlich dann verstohlen mit ihren nackten Füßen in die Ecke hinter dem Bett, in der eine ehemalige Zuckerkiste stand.

In diesem Behälter wühlte Line heftig herum. Bald holte sie ein paar alte Bücher und einige vollgeschriebene Schreibhefte heraus, bald blätterte sie emsig in einem zerrissenen Volksschulatlas, immer erregt dazu murmelnd und buchstabierend. Zum Schluß band sie um alles einen Bindfaden und schlug leicht mit der Faust auf das Päckchen, als hätte sie einen festen Entschluß gefaßt.

Den Atlas aber behielt sie bei sich, eng an den Leib gedrückt. Und als sie ins Bett huschte, legte sie die verstreuten Blätter erst sorgfältig unter ihr Kopfkissen.

Licht aus.

Still lag sie da, lang ausgestreckt, die großen Augen weit offen, nur ihre regelmäßigen Atemzüge verrieten, daß sie lebe.


* * *

»Das ist ein ekliger Qualm,« hustete Siebenbrod und spie ein paarmal aus, »pfui Deibel.«

»Ja, das is, wie wenn Satans Großmutter verbrannte Milch auf die Erde gießt,« brummte oll Kusemann, dessen Konturen ebenfalls zuweilen durch den weißen Brodem sichtbar wurden. Manchmal schien es auch, als tanzten die Köpfe von Malljohann und Frau Dörthe Petersen um ein paar Pferdeschnauzen herum, doch alles verschwand gleich wieder hinter dem feuchten, bleiernen Linnen.

Da brummten Glockenschläge aus der Höhe, und durch die Nebel ging ein Zittern.

Acht Uhr.

Die Equipagenpferde des Konsuls wieherten laut und durchdringend.

»Mudding – nu mach fix,« mahnte Siebenbrod. »Nu mußt du die Hände von Bruno und Paulen loslassen.«

Doch die kleine, stille Frau konnte sich noch nicht trennen. Immer wieder griff sie nach den Fingern ihrer beiden Ältesten, die nebeneinander auf dem leichten Korbwagen saßen, und nur die milchigen Gespinste verhinderten, daß nicht alle bemerkten, wie dicke, schwere Tränen über die Wangen der Witwe rollten.

»Mudding,« drängte Siebenbrod, »die Pferde friert.«

»Wo ist Hann?« fragte des Studenten harte Stimme.

»Und wo Lining?« beeiferte sich oll Kusemann ironisch hinzuzusetzen.

Zur Seite des Wagens, dicht unter dem Bollwerk knirschte etwas. Dort hatte Hann bis jetzt in seinem festgebundenen Boot gesessen und schwerfällig in sich hineingesonnen. Viel, viel lieber wäre er hinter der dicken Nebelwand versteckt geblieben, als jetzt seinem Bruder Bruno die Hand zu reichen, gegen den er seit gestern so Schweres auf dem Herzen trug. Doch auf den Ruf des Theologen trottete er folgsam heran.

»Adieu, Hann,« sagte der Student, während er ihm rasch über das Haar fuhr, »achte auf das Grab von Vater – versprich mir das.«

»Ja, ja – Pauling,« heulte Hann los.

»Adieu, Hann,« verabschiedete sich jetzt auch der andere, »bleib gesund und besuch mich bald mal – hörst du?« Er reichte ihm zögernd die Hände.

Der Schifferjunge drückte sie aus Leibeskräften. In seiner Rührung hatte er längst den Groll vergessen. »Bleib immer gut zu Weg, Bruno – immer gut zu Wege.«

»Du auch.«

»Aber wo ist Line?« schrie oll Kusemann dazwischen, der seine Tänzerin durchaus dabei haben wollte.

Keiner wußte es.

Nur Malljohann, der zuweilen etwas sah, was kein anderer bemerkte, stand unaufhörlich in seiner schlotternden Haltung da und glotzte schweigend und mit dem breiten Maul merkwürdige Kaubewegungen ausführend nach dem kleinen, kreisrunden Giebelfenster. Und je mehr die andern riefen, und je lauter sie sich wunderten, desto deutlicher erkannte Malljohann mit grinsendem Behagen, wie dort oben aus dem dunklen Kreise der Kinderkopf unbeweglich durch die Milchnebel hindurchsah.

»Hüh!« rief der Kutscher.

Die Peitsche knallte, die Pferde zogen an, laut knackten die Räder in dem feuchten Lehmboden.

»Adschö, meine lieben Kinder,« rief die Mutter mit erhöhter Stimme.

In einer Sekunde hatte das weiße Nichts das Gefährt verschlungen. Das Rollen allein tönte noch heraus und nach diesem sich verlierenden Geräusch bog Line weit, weit den schlanken Leib aus der Bodenluke, bis sie fast auf den qualmenden Kissen zu ruhen schien. Die Hand warf sich vor, ihre Finger bogen sich, als wollte sie nach etwas Verlorenem greifen.

Alle gingen sie darauf ihren gewohnten Tagesbeschäftigungen nach. Malljohann spielte die Handharmonika, oll Kusemann verzog sich in die Wärterhütte, Siebenbrod flickte in der Küche an einem Segel, und Hann saß mit dumpfem Kopf und schweren Gedanken in seinem verankerten Boot, wo er ein Brettchen an eine der Schiffsrippen zu schlagen hatte.

Über alle aber warf der Nebel seine dichten wallenden Decken. So kam es auch, daß niemand wahrnahm, wie Line mit dem Bündel, das sie in der Nacht verschnürt, vorsichtig aus dem Hause witschte.

Geradeswegs ging sie in das Pfarrhaus, das neben dem Kirchhof lag. Und als der geschäftige winzige Pastor, der gerade mit seiner korpulenten Frau auf dem rot gepflasterten Flur damit beschäftigt war, ein Fäßchen Malaga abzuziehen, als der muntere, weinlustige Herr ihr vergnügt die Haare kraute und sich nach ihrem Begehren erkundigte, da streckte sie ihm wortlos, jedoch mit einer wilden Bewegung und klopfendem Herzen, das Bündel Bücher entgegen.

»Ich will was lernen.«

»Hm,« murmelte der Pastor und sah verdutzt von der Kleinen auf den Käse, den er gerade zum Abprobieren in der Hand hielt, »ach so – ja, ja – hm, hm.«

Und dann reichte er ihr auf jeden Fall ein Glas von dem goldbraunen, spiegelnden Malaga.

Ende des ersten Buches




Zweites Buch

»Frau Welt«





I


Ich zweifle, ob ihr wißt, daß es noch Götter auf der Welt gibt. Aber ihr könnt es glauben, es ist so.

Mein Vetter Walter, der Student in Leipzig, hat dort eine Schenkmamsell entdeckt, die ihm vertraulich gestanden, daß sie in Wahrheit die alte Venus sei. Und als er ihr allerlei Bedenklichkeiten ausdrückte, da hat sie ihm einfach ihren Knaben gezeigt, einen kleinen, dreijährigen Strolch, der richtig mit einem Flitzbogen den Passanten des Salzgäßchens die Hüte vom Kopfe schoß.

Daraufhin hat der Vetter Walter alles eingesehen und sich über die Bekanntschaft sehr gefreut.

Dieses steht fest, das hat er mir eigenhändig geschrieben. Einen anderen, sehr interessanten Gott hab' ich selbst gekannt. Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Aber als ich noch nicht seßhaft war, da habe ich ihn zwischen Greifswald und Moorluke getroffen, darauf will ich einen Eid leisten.

Ein Jahr war gerade im Abtröpfeln, ein Jahr, das ich wieder damit hingebracht, gesunde Glieder und eine warme Brust an den Dornen und Hecken wund zu reißen, hinter denen im Schlosse Phantasia das deutsche Dornröschen schlummert. Aber als des Jahres letzte Henkerstündlein schlugen, da hatte ich genug, da machte ich den Berliner Herren und Damen meine Verbeugung, packte mich in einen Eilzug und stand ein paar Stunden später auf einem dick verschneiten, abenddämmerigen Felde, über das ein Weg nach Moorluke führen sollte. Doch der Pfad mußte eine Frühlingssage bilden. Jetzt war er längst versunken. Inzwischen brach die Nacht ein – es war Silvester 1896 – ringsherum wirbelte dicker Schnee, über die toten Felder heulte der Wind, und das Eis unter meinen Tritten stöhnte und ächzte, als ob die Erde in ihrem Winterschlaf schwer träume, – da – täuschte ich mich? Nein, es knarrte aus der Schwärze ein langer ungefüger Wagen heran, ein Pferd wieherte, ein merkwürdiges rotes Licht zuckte auf, und gleich darauf wollten zwei mächtige Schimmel ihr Fuhrwerk an mir vorüberziehen. Da rief ich sie an: »Heda!«

Vorn auf dem hohen Bock regte sich etwas. Eine vermummte Gestalt im weißen Schafpelz, die eine Tüte mit einem Licht darin in der Hand hielt, leuchtete mir ins Gesicht.

»Fährst du schon lange, Alter?« fragte ich hinauf.

»Lange,« antwortete eine trockene, hüstelnde Stimme.





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