Книга - Deutsche Humoristen

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Deutsche Humoristen
Helene Böhlau

Max Eyth

Otto Schmidt

Hans Hoffmann




Helene Böhlau

Deutsche Humoristen / Dritter Band





Hans Hoffmann:

Eistrug


Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlegers abgedruckt aus dem Buche »Von Frühling zu Frühling« (Berlin: Verlag von Gebrüder Paetel, 3. Auflage 1898).


Eistrug

»Das ist wahr,« sagte Kapitän Kannenberg – Robert Kannenberg, der die »Pomerania« führte – »etwas anhängen bleibt einem immer von solcher jugendlichen Liebschaft, wenn auch sonst gar nichts dabei herausgekommen ist; und es passiert auch, wenn man sie längst vergessen hat oder bildet sich das doch ein, dann muckert sie hinterher noch 'mal nach, daß einem Hören und Sehen vergeht: und dafür bin ich selbst ein lebendiges Beispiel gewesen.

Also, ich war schon ein paar Jahre auf See und dachte gewiß und wahrhaftig nicht mehr viel an meine Jugendflamme, die hübsche Hersilie, kümmerte mich auch nicht drum, was aus ihr geworden wäre. Nun kam ich aus der Südsee zurück mitten im Februar. In den Hafen konnt' ich bequem einlaufen, den hielten die Dampfer offen, aber weiter 'rauf übers Haff ging's nicht mehr, das war fest zugefroren. Es war lange Tauwetter gewesen und dann auf einmal noch spät im Januar scharfer Frost.

Nun ist das eine komische Sache, wenn man von 'ner großen Fahrt zurückkommt und es riecht einem dann plötzlich alles so heimatlich, und wenn's auch bloß Teergeruch ist; es schlägt einem doch aufs Gemüt. Und hier war noch das Besondere, daß die ganze Gegend da herum so viel Ähnliches hatte mit der bei uns zu Hause, nämlich die Werften und die Schiffe und das Bollwerk und der Strom und besser hin die großen Wiesen zu beiden Seiten, die jetzt überschwemmt und mit blankem Eis bedeckt waren. Diese Erinnerung schlug mir erst recht aufs Gemüt, und ich mußte immer wieder an unser altes Nest denken, und daß doch immer noch die Gräber meiner Eltern da auf dem Kirchhof waren, wenn ich auch sonst nichts mehr da zu suchen hatte. Und so dämmerte ich schon tagelang in einer kuriosen Verfassung umher. Wenn ich aber sagen sollt', daß ich jetzt schon nach der hübschen Hersilie 'ne Extrasehnsucht gehabt hätte, müßte ich lügen. Wenn ich sie hier am Platz ohne Umstände hätte sehen können, wär's mir so wahrhaftig eine große Freude gewesen und hätt' mich auch inwendig aufgeregt; aber große Geschichten drum zu machen fiel mir nicht ein.

Da wollte aber der Teufel oder sonst wer, daß ich an einem Morgen bei unserem alten Radmann zu tun hatte, der sich jetzt hier niedergelassen hatte und reich geworden war, und daß er mich dann natürlich gleich zu Mittag da behielt. Das war ja so weit sehr schön von ihm; und der Hasenbraten war gut, und der Rotspohn war sehr gut: sie haben da so ihre stillen Quellen für diese Ware.

Und nachdem wir in Frieden vielerlei Geschäftliches gesprochen hatten, sagte Radmann so beiher:

»Merkwürdig ist's doch, wie sich das manchmal so zusammentrifft: heute sind Sie bei mir, und gerade gestern früh treffe ich Ihren alten Freund Heinz Wichards, Pastors ihren, den Sie ja nun auch wohl seit Jahren nicht gesehen haben.«

»I wo Donner,« rief ich ganz aufgeregt, »hier doch nicht?« Denn natürlich hatte ich ihn jahrelang nicht gesehen.

»Nein,« sagt er, »ich bin gestern erst mit der Post von Stettin gekommen; da hab' ich ihn getroffen.«

»Was zum Kuckuck hat der in Stettin zu tun?« rief ich. »Ich denke, der sitzt in Berlin bei seinen Museums und Gipspuppen.«

»Tut er auch,« sagte Radmann, »und sie wollen ihn da nun bald zum Professor machen. Aber jetzt ist er auf dem Wege nach Ellermünde, nämlich wegen dem alten Küper; Sie wissen doch, daß der tot ist?«

Ich wußte natürlich nichts davon, und es fuhr mir ordentlich in die Glieder. Es war doch immer Hersiliens Vater, wenn er mich auch sonst nicht viel anging. Und ich muß sagen, im stillen wurd' ich ganz rot vor Schreck; zu sehen war aber wohl nichts davon, weil ich so schon rot genug im Gesicht war, denn wir standen bei der fünften Flasche, und der leichteste war der Chateau nicht.

»Aber was hat der Heinz Wichards damit zu tun?« fragte ich ganz schüchtern.

»Der will sich die alten Marmorscharteken ansehen, die der Küper hinterläßt – Sie wissen doch, das Zeug, das er aus Griechenland eingeschleppt hat – vielleicht, daß er sie für sein Museum kaufen kann. So hat er mir gesagt. Möglich ist ja aber auch, daß er das lebendige Marmorpüppchen, die hübsche Hersilie, mal wieder unter die Lupe nehmen will; man hat so Exempel von Beispielen. Anzumerken war's ihm schon, wie nahe es ihm ging, daß die arme Person jetzt so verwaist dastände. Und verdächtig sind diese Art Mitgefühle immer, wenn solche arme Person so verteufelt hübsch ist wie die kleine Hersilie und noch obendrein eine alte Jugendflamme. Man hat Exempel von Beispielen.«

So redete er ganz ruhig und hatte keine Ahnung, daß mir dabei etwas in den Kopf gefahren war wie ein Wirbelwind. Ich sage nicht, daß nicht auch der Rotspohn sein Teil daran gehabt hat, denn es kam zu plötzlich und zu toll. Und wenn ich ehrlich sein soll, es war eine richtige Gemeinheit und nicht um ein Haar was Besseres, was mich da gepackt hatte; nämlich der niederträchtige, giftige Neid und Eifersucht auf den alten Freund und friedlichen Nebenbuhler, daß der nun doch zu guter Letzt bei unserer gemeinsamen ehemaligen Flamme sollte zum Ziele kommen können.

Und mit einem Schlage war die ganze alte Leidenschaft in mir wieder da, toller als je, und ich hätte in diesem Augenblick einen Finger darum gegeben, wenn ich der süßen Hersilie nur die Hand hätte küssen können. Wie das so auf einmal möglich war nach all den ruhigen Jahren, verstehe ich noch heute nicht; es kam über mich wie ein Gewitter. Schwere Angst! Und wenn ich mir nun vorstellte, daß der Heinz das Mädchen vielleicht zu dieser Stunde schon in den Armen hielt als seine Braut! Und ich hätte das ebensogut haben können, wenn ich eher daran gedacht hätte!

»Wann wollte er denn fahren?« fragte ich so gleichgültig als möglich, denn von Stund' an war ich heimtückisch und hinterhaltig geworden.

»Heute mit der Post,« sagte Radmann.

»Wann kommt die an?« fuhr ich hastiger dazwischen, als ich wollte.

»So gegen Abend. Um sechs herum, denk' ich. Natürlich mit der üblichen Verspätung.«

Ich sah nach der Uhr. Ein sonderbarer Gedanke zischte in mir auf. Ich dachte an das zugefrorene Haff.

Währenddem sah mich der alte Sünder, der Radmann, mit einem verdammten Grinsen an. Da wurde ich wirklich noch um einen Strich röter im Gesicht, denn ich glaubte, er müßte all meine nichtsnutzigen Gedanken in mir gelesen haben. Doch er sagte nur ganz gemütlich:

»Wissen Sie, Kannenberg, was ich anfange zu merken?«

»Na?« grunzte ich halb wütend, halb verlegen.

»Daß Sie keinen Bordeaux vertragen können, Sie haben ja eine tolle Fahne aufgezogen nach den paar Buddeln.«

Dieser infame Verdacht hätte mich sonst ganz aus dem Häuschen gebracht; jetzt aber kam er mir recht zupaß, und ich log flott darauf los:

»Ja, wissen Sie, Radmann, ich hab' heute schon ein bißchen viel Sherry hinter mir; wissen Sie, bei Eggebrecht ist es immer so schwer, 'rauszukriegen, ob der Sherry oder der Portwein besser ist, und da wird es leicht etwas viel mit dem Proben, bis man es mit Halb und Halb versucht und endlich zur Ruhe kommt: ich glaub' selbst, ich hab' einen kleinen Hieb weg; der Kopf ist mir merkwürdig benommen.«

»Na,« sagt' er in seiner Gutmütigkeit »das kommt vielleicht auch von dem Wetterumschlag; es liegt was von Schnee oder Tauwetter in der Luft; ich spür' das allemal in der Hüfte; mancher spürt's wieder im großen Zeh' und mancher in der Lunge und mancher sogar im Gemüt.«

»Das muß denn wohl mein Fall sein, das mit dem Gemüt,« dacht' ich im stillen. Ich sagte aber ganz was andres.

»Wissen Sie was, Radmann?« sagt' ich gemütlich, »können Sie mir ein Paar Schlittschuhe borgen? Ich möcht' ein Stündchen über die Wiesen laufen, das tut mir immer am besten, wenn ich im Kopfe Nebelwetter habe. Es ist eine gesunde Bewegung.«

»Da haben Sie wieder recht, Kannenberg,« sagt' er, »das ist es. Die allergesundeste Bewegung. Da kommt kein Turnen und kein Reiten gegen. Bloß jung sein muß man wie Sie und nicht zu dick; für mich ist's aus. Die Schlittschuhe sollen Sie haben, passen werden sie ja. Und mit dem Wiederbringen hat's keine Eile. Brauchen Sie die Dinger getrost, solange das Eis hält.«

»Hält's denn überall?« fragte ich so nebenher.

»O ja,« sagte er, »auf den Wiesen laufen sie ja überall, und auf dem Strom geht's auch.«

»Und das Haff?«

Er sah mich groß an. »Na nu, Sie wollen doch nicht aufs Haff? Was haben Sie da zu suchen? Das lassen Sie lieber bleiben; es ist auch schon zu spät am Tage.«

»Das wär' nicht schlimm,« meinte ich, »und sicher muß es doch sein; übrigens war es nur so 'ne Idee.«

»Gott, ja,« sagte er, »am Ufer lang soll ja gute Bahn sein; aber weiter 'rein ist's faul; es ist zu viel Sturm gewesen, daß es nicht richtig hat zugehen können; es haben welche 'rüberlaufen wollen, sind aber wieder umgekehrt, weil es zu ungemütlich war und überall knackte.«

Da schwieg ich still; und er kramte richtig ein Paar angerostete Holländer heraus, aber sonst leidlich im Stande und von guter Bauart. Und ich dank' ihm und mach' mich auf den Weg.

Was ich wollte, wußt' ich. Quer über's Haff nach Ellermünde. Wenn ich mich dran hielt, konnt' ich drüben sein vor Dunkelwerden und vor der Stettiner Post. Hätt' ich Extrapost ums Haff herum nehmen wollen, ich hätte mindestens die vierfache Zeit gebraucht – und morgen früh kam ich zu spät, daran war also nicht zu denken.

So ging's denn auf die Reise. Wie ein Donnerwetter den Strom hinauf und nachher über die Wiesen. Das Eis war wie ein Spiegel und so klar, daß man jeden Grashalm darunter sehen konnte. Es liefen ziemlich viel Leute, Fischer und andere, und ich hätt' noch manchen nach dem Haffeis fragen können, tat's aber nicht; ich hatte heimlich Angst, sie könnten die Köpfe schütteln und mir's ausreden wollen. Ich wollt' nun mal nichts sehen und nichts hören, ich ging drauf los wie der Bulle auf den roten Flicken.

Die Luft war schön und still wie in der Stube, der Himmel ganz blau: heißt das, im Südwest stand es grau und dick. Ach, Unsinn, dacht' ich, bei der Windstille kommt das nicht 'rauf, am wenigsten in zwei Stunden, und bis dahin bin ich drüben.

Also immer drauf los über die Wiesen weg. Und eh' ich mich's versehe, ist das Eis unter mir schwarz, keine Spur mehr von Gras und Kraut, und auch kein Mensch rundum; ich bin also auf dem Haff. Siehst du wohl, und es geht wunderschön. Kerneis durch und durch; das hält wie Balken. Also immer stramm weiter.

Und ein helles Vergnügen ist's und bleibt's doch, so dahin zu jagen, ganz allein; wie ein Adler kommt man sich vor, es ist gar nicht, als ob man den Boden berührt. Man fühlt sich so sicher; das Eis kann ja gar nicht brechen, weil man doch bloß so lose darüber streift. Ebensogut könnt' ein Vogel stolpern und ein Fisch sinken. Und immer vorwärts, immer vorwärts. Ja, das ist erst das Wahre, über solche Fläche zu schießen, die kein Ende hat und keine Unterbrechung; blankes, schwarzes Eis vor sich und hinter sich und rechts und links, und weiter nichts. Kein Mensch und kein Tier und kein Strauch und kein Pfahl und kein Halm. Und auch kein Ton; bloß die Schlittschuhe schurren leise, als ob das Eis singt, und die Luft streicht sachte an den Ohren vorbei. Es geht nichts darüber, sag' ich bloß.

Und dabei zu wissen und zu fühlen: mit jeder Minute kommst du ein langes Stück näher dahin, wohin du kommen willst! Und wenn es einen nun so gewaltsam dahin drängt, und jede Minute kostbar ist! – Wie ich so geradeaus vor mich hinsah, wo nun bald das Land aufsteigen mußte, da dacht' ich: Da drüben fährt er jetzt auch auf seinem Postwagen und hat auch solche Eile wie du und brennt auch inwendig lichterloh, aber er hat bloß Pferdebeine und kann nichts dazu tun, um schneller vorwärts zu kommen; wie muß ihn das prickeln in allen Gliedern, wenn der dumme Postillon 'mal Halt macht und trödelt und trödelt bei seinem Schnaps, und die Gäule haben auch ihren Eimer noch immer nicht ausgesoffen; und du hast deine eigene Kraft und hast Flügel an deinen eigenen Füßen und fliegst herrlich vorwärts, immer vorwärts! Ja, das war eine Freude. Und ich war nun ganz sicher, daß ich ihn überholen würde – um eine, um zwei Stunden – und versteht sich: wer zuerst kommt, mahlt zuerst, na, und die Augen, die er machen wird, wenn er die schöne Hersilie hübsch warm in meinen Armen findet, und er muß mit 'ner kalten Marmorpuppe ohne Kopf und Arme abziehen! Ja, das war ein Spaß, sich so was auszudenken und dabei zu fliegen, immer zu fliegen.

Gerade aber, wie dies Vergnügen am allergrößten war, kriegt es auf einmal einen Knacks. Erst nur einen kleinen. Ich merke nämlich erstens, daß die graue Wand im Südwesten – Gott's ein Donner ja, wie ist das möglich, daß die so schnell hoch gestiegen ist? Sie steht ja wohl längst nicht mehr im Südwesten, sondern gerade über meinem Kopf.

Und das zweite, was ich merkte: daß es mit dem Laufen nicht mehr so glatt vorwärts gehen will wie vorher. Warum? Weil die Luft so ganz allmählich stärker gegen mich an ging und eigentlich schon eine recht handliche Brise geworden war. Und natürlich, gerade wenn das Eis so schön glatt ist, wie es hier war, da merkt man jeden Hauch, der einen von vorn her anpustet. Und ich fing nun so wahrhaftig schon an zu schwitzen und zu keuchen.

Jetzt lief mir doch sachte was Ungemütliches übern Rücken. Sapperment, dacht' ich, auf die Weise kannst du ja wohl vor Nacht kaum drüben sein, und dann ist's 'ne faule Sache, überhaupt die Mündung zu finden, denn den Leuchtturm stecken sie doch nicht an bei Eiszeit. Und wenn dann noch Schnee dazu kommt von der verdammten Wolke da oben, oder das Eis fängt doch wo an zu knacken?

Ein bißchen schummrig wurd' es nämlich schon – mehr von der Wolke als von der Abendstunde – und vor mir war noch keine Spur von Land zu sehen und rechts und links auch nicht. Und wenn ich nach unten sah, kam mir das Eis auch so dünn vor, als müßt' es jeden Augenblick unter mir zerspringen. Eigentlich sah ich gar nicht, wie dick es war oder wie dünn, sondern bloß wie in einen leeren, schwarzen Abgrund; so durchsichtig war es.

Ob's nicht doch am Ende besser ist, umzukehren? fing ich an zu überlegen. Aber wie meine Schlittschuhe so über das Eis bullerten, mußt' ich an den verdammten Postwagen denken und den Heinz Wichards darin, und dann sah ich ihn vor mir, wie er die Hersilie im Arm hielt und sie tröstete, und ihre Tränen fingen an schon sachte zu fließen, bloß noch so, als wenn nach dem Regen das Wasser von den Blättern abtröpfelt. – Zum Donnerwetter, nein, dacht' ich, wenn ich das zuließe, müßt' ich all mein Lebtag vor mir selbst als dummer Junge dastehen!

Und weiter dacht' ich: I was, zurück kommst du immer noch. Mit dem Wind, der jetzt geht, bist du in der halben Zeit zurück, als in der du gekommen bist, und hast die sichere Bahn hinter dir!

So kriegt' ich wieder Mut; denn man hat immer Mut, sowie man den Rücken gedeckt hat; und lief stramm weiter, obgleich es immer weniger flecken wollte gegen den Wind.

Aber kaum hatte ich noch ein paar Minuten hinter mir, da kam etwas ganz Ekelhaftes. Erst so ein greulicher Ton von unten her, laut, lang, dumpf, genau als wenn jemand unter dem Eise jämmerlich schluchzte oder auch gurgelte wie beim Ersticken. Und der Ton lief dann immer weiter und weiter hin, als wenn da jemand mit fürchterlicher Schnelligkeit unten an dem Eise entlang führe und einen Ausweg suchte und dabei immer trostloser schluchzte und zuletzt in weiter Ferne erstickte.

Eigentlich wußt' ich ja ganz gut, was es war, bloß das eingesperrte Wasser, das gluckst, ich hatte das schon oft genug gehört; aber es ist noch etwas anderes, solche Töne ganz allein mitten auf dem Haff in der Einsamkeit zu hören, wo sonst alles still und leer ist wie das Grab. Und wenn der Mensch graulich werden soll, dann wird er graulich und kann sich nicht wehren dagegen.

Aber das war noch nicht das Schlimmste. Gleich darauf glitt etwas Weißes unter meinen Füßen hin, wie eine große weiße Gestalt. Wenn mich jetzt einer fragt, was es gewesen sein wird, so sag' ich: vielleicht ein toter Stör oder sonst ein großes Vieh oder meinethalben auch ein Stück Segeltuch, oder was weiß ich? – Aber damals schüttelte ich mich ordentlich vor Schauder und hätte darauf geschworen, es wär' ein Mädchen gewesen mit weißen Kleidern, und ich muß sagen, ich sah ganz genau Hersiliens weißes Gesicht vor mir, wie wir sie einmal halb ertrunken aus dem Wasser gezogen hatten. Und gleich darauf kam noch einmal das scheußliche Schluchzen unter dem Eise, gerade als wenn es von der armen Gestalt selbst ausginge. Und wenn mich einer auslacht, ich sag's doch: mir kamen die Tränen in die Augen vor reiner Angst.

Und es war auch in Wahrheit schlimm für mich; nicht von sich selbst, aber weil mich jetzt keine Macht der Erde mehr dahin gebracht hätte, umzukehren und noch einmal über die weiße Gestalt hinweg zu laufen. Sondern ich arbeitete vorwärts mit allen Kräften wie ein Wahnsinniger. Und ich tröstete mich und dachte: wenn's jetzt nicht bricht, bist du durch, denn du mußt jetzt ja wohl gleich über die Mitte weg sein, und nach dem Ufer zu ist's wieder ganz sicher: und da kommen auch wohl wieder Menschen! – Denn wahrhaftig, ich fing an, eine grausame Sehnsucht nach lebendigen Menschen zu kriegen.

Aber das Vergnügen war noch lange nicht zu Ende, sondern der kleine Schreck war bloß ein Vorspiel gewesen, bloß so zum langsamen Drangewöhnen. Jetzt kam erst das Reelle.

Nämlich auf einmal fällt mir etwas Naßkaltes ins Gesicht und dann etwas Weißes auf den Ärmel, und dann noch etwas und immer noch mehr, hier eine Flocke und da eine Flocke, und es tanzte immer lustiger vor meinen Augen, immer hübsch weiß, immer hübsch weiß; na ja, da haben wir die Bescherung!

Es braucht nämlich kein Mensch zu denken, daß es sich leichter auf Schlittschuhen läuft, wenn man mit dem Eisen durch den Schnee fegen muß, und die Decke alle Minuten höher und höher wird, und man alle Augenblicke in einen dick zusammengewehten Haufen gerät und fast stecken bleibt. Und dann noch einen steifen Südwest gegen sich! Und es braucht auch keiner zu denken, daß es sehr gemütlich ist, wenn man in solcher Einsamkeit nichts mehr um sich her sieht als Flocken und Flocken und Schnee und Schnee und Schnee und keine Spur mehr von dem festen Eis – von Land schon gar nicht zu reden.

Aber da kam's, das Allerschlimmste. Es war zwar bloß so ein ganz feines, schleichendes Knistern unter mir: aber verdammt, das kannt' ich! Weiter war es auch nichts gewesen damals, als ich auf unserem Wiesengraben einbrach: damals hatte ich nicht darauf geachtet, bis ich drin lag. Nur bis an den Bauch damals – aber jetzt! Na, es wird keiner denken, daß ich auch jetzt nicht darauf geachtet hätte! Und ob ich die Beine rührte! Aber das Knistern lief immer sachte hinter mir her, immer dicht mir auf den Hacken, wie so ein vermaledeiter Köter, der knurrt und knurrt und jeden Augenblick zubeißen kann. Und dabei war mir's, als käm' ich nicht von der Stelle, sondern säße da festgenagelt, wo das Eis am dünnsten war.

Und nun also gerade mitten auf dem Haff. Himmeldonnerwetter!

Und dann der Gedanke: mit dem Umkehren ist's jetzt vorbei, über das knackende Eis hinter dir läufst du ungestraft nicht zum zweitenmal. Dahinaus ist die Welt mit Brettern vernagelt!

Na, schön war's nicht: aber wenn einer eben vom hohen Gerichtshof zum Tode verurteilt wird, das soll ja auch nicht schön sein.

Also ich lief und lief wie besessen; und das Knistern lief immer sachte hinter mir her.

Aber das Eis hielt immer noch trotz alledem, und es wollte mir schon ein ganz klein bißchen besser zu Mut werden.

Ich laufe und laufe – da, bums, krach, da liege ich lang ausgestreckt, oder vielmehr, ich liege nicht, sondern fliege im Kreise herum, und der Schädel brummt mir so, daß ich eine schöne Zeit brauche, bis ich ordentlich zur Besinnung komme. Erst denke ich natürlich, ich bin eingebrochen und alles ist aus; und weiß Gott, einen Augenblick war ich ganz zufrieden, daß die Höllenangst ein Ende hatte, und ich das verfluchte Knistern nur nicht mehr hörte.

Allmählich aber merkt' ich denn doch, daß ich nicht unter dem Eise, sondern auf dem Eise lag, und daß ich bloß über einen losgegangenen Riemen gestolpert war.

Und da hatt' ich nun zuerst eine große Freude: wenn das Eis den Prall aushält, dacht' ich, dann hat's keine Not, dann war das ganze Knistern bloß Spiegelfechterei zum Bangemachen, und du bist hier so sicher wie auf dem Tanzboden. Das heißt, das war hauptsächlich so eine Art von Renommage vor mir selber, denn ich wußt' doch ganz gut, daß solches Knistern und Knacken immer was zu bedeuten hat; ich war wohl bloß so davongekommen, weil ich so glatt hingerutscht war und sich die Last des Körpers im Liegen verteilte. Vielleicht war's auch aus Zufall eine festere Stelle gewesen.

Mit der Freude war's bald zu Ende: indem ich aufstehe und wieder meine Richtung nehmen will, ja, zum Schockschwerenot, wo ist denn meine Richtung?

Ich war beim Fallen so rundum geschmissen, daß ich nichts mehr wußte von Norden noch Süden, noch Osten, noch Westen.

Der Schreck war nicht schlecht! Der kalte Schweiß brach mir aus am ganzen Leibe, und ich wäre beinahe wieder umgefallen und liegen geblieben.

Aber natürlich faßte ich mich schnell und mußte ordentlich lachen über meine Dummheit. Wenn man eine so schöne steife Brise zum Wegweiser hat, braucht man wahrhaftig keinen Kompaß und keinen Leuchtturm. Immer nur stramm gegen den Wind an, und ich mußte notwendig irgendwo bei unserem Nest in der Nähe ans Land kommen; und dann fand ich mich schon zurecht, auch bei Nacht und Schneegestöber.

Also los. Immer gegen den Wind und gegen den Schnee. Und der Schnee wurde immer dicker, und der Wind immer toller, und manchmal gab's einen Wirbel, daß mir Hören und Sehen verging: ich arbeitete wie ein gepeitschter Gaul und merkte doch kaum, daß ich vorwärts käme. Das Ausschreiten mit den Schlittschuhen war eine richtige Schinderei geworden.

Und endlich war ich so weit, daß ich gegen Sturm und Schneedecke nicht mehr aufkommen konnte; ich mußte die Eisen abschnallen und auf Schusters unbeschlagenem Rappen weiter traben.

Doch ich tröstete mich: nach meiner Rechnung mußte ich jetzt doch ganz nahe am Lande fein. Freilich war ich auch müde zum Umsinken, ich hatte mich gar zu sehr abgerackert mit dem tollen Anstürmen gegen das Wetter. Und nun Schritt vor Schritt durch den dicken Schnee zu patschen! Eine schöne Geduldsprobe das nach dem Fliegen und Sausen im Anfang! Dazu war es jetzt dunkle Nacht geworden, und der Schnee fiel immer ruhig weiter, unaufhörlich, ohne Ende, als wäre es darauf abgesehen, mich bis an den Hals einzuschneien.

Und immer noch kein Land. Das wurde nachgerade unheimlich. Ich hatte mich denn doch schändlich verrechnet in Betracht meiner Geschwindigkeit. Zwar in jedem Augenblick konnte das Ufer auf zehn Schritt nahe sein; sehen konnte ich es kaum, ehe ich es unter den Füßen fühlte. Diese Hoffnung, die sich bei jedem Schritt erneuerte, hielt mich noch eine Zeitlang aufrecht; aber sie täuschte auch bei jedem Schritt.

Und endlich packte mich's; siedendheiß lief es mir über den Rücken; es war kein Zweifel mehr: ich hatte die Richtung verfehlt. Der Wind – nun ja, warum sollte der Wind sich nicht gedreht haben?

Ich schnappte nach Luft, mehr noch vor Entsetzen als vor Müdigkeit, blieb stehen und witterte hinaus. Man kann es der Luft so ungefähr doch anfühlen, woher sie bläst. Nord und Ost war's nicht, das stand fest, dazu war sie zu feucht und zu weich – aber Südost konnte es sein so gut als Südwest: vielmehr es war höchstwahrscheinlich Südost, denn er fühlte sich so sonderbar warm an, fast wie richtiger Tauwind. Südost! Also richtig Südost! Wenn ich aber gegen Südost gegangen war, so blieb kein Zweifel: dann steckte ich jetzt ganz genau im richtigen geometrischen Mittelpunkt des Haffs. Also noch mindestens je zwei bis drei Stunden Fußwanderung nach den nächsten Küstenpunkten im Norden und Süden. Das hielt ich gar nicht mehr aus nach all' der Quälerei, selbst wenn ich diesmal wirklich den richtigen Kurs faßte, und selbst wenn ich überall festes Eis fand und nicht wieder auf eine knisternde Stelle geriet.

Eine tolle Verzweiflung schüttelte mich; blind und kindisch rannte ich im Zickzack hin und her wie eine Maus in der Falle – da plötzlich knackt es unter mir, weit stärker als je vorher; ich bilde mir ein, ich fühle, wie die Eisdecke sich biegt und senkt!

Wie ein Messerschnitt ging mir der nichtswürdige Ton durch den ganzen Leib.

Ich tue einen wilden Sprung vorwärts, und im selben Augenblick steht etwas Schwarzes vor mir auf wie eine dunkle Mauer.

Erst krieg' ich einen mächtigen Schreck, und das war sehr dumm von mir: denn alles, was hier nicht Schnee und Eis war, konnte für mich doch nur etwas Gutes sein.

Und es war etwas sehr Gutes: nämlich ein rechter, echter Haffkahn, mit Torf beladen. Der hatte also vor dem Frost noch durchzukommen versucht und war mitten auf dem Haff eingefroren.

Ich kletterte an Bord und kroch das lange Ding entlang bis zur Kajüte. Sie war verschlossen, und auf ein kurzes Klopfen kam keine Antwort. Selbstverständlich, die Leute konnten doch nicht auf dem Kahn geblieben sein, da das Eis seit Wochen stand. Also nahm ich eine tüchtige Klobe Holz und sprengte die Tür. Es war natürlich nicht bloß stockdunkel in dem kleinen Loch, sondern auch kalt und feucht wie im Eiskeller.

Herr des Himmels! Noch ein letzter Schreck – ich fand meine Streichhölzer nicht. Entsetzlich: da hatte ich nun Torf genug, um mir jahrelang einzuheizen, und konnte bei all dem Reichtum jämmerlich erfrieren. Und das zu guter Letzt, wo ich sonst gerettet war und friedlich wie auf einer sicheren Insel saß!

Aber das war zum Glück nur ein blinder Schuß: man hat bekanntlich die Streichholzschachtel immer in einer falschen Tasche, wenn man sie gerade sehr eilig braucht.

Na, ich fand sie am Ende doch noch, und dann fand ich gleich die anderen schönen Dinge, die dazu gehören: nämlich eine kleine Lampe über dem Tisch und sogar etwas Öl drin, und einen eisernen Ofen und Torf daneben und sogar Kienspäne, alles, als wenn's auf mich gewartet hätte. In einer Minute schlug die Flamme auf. O du grundgütiger Himmel, wie schön war das Feuer, wie schön, wie schön! Ich stöberte weiter umher; und jetzt hatt' ich Glück auf Glück. Es kommt immer gehäuft, Unglück und Glück. Erst lag in der Koje ein tüchtiger Schafpelz; merkwürdig genug, daß der Schiffer den hatte liegen lassen. Na, ich hatte nichts dagegen, ich zog ihn an, und mir fing an mollig zu werden. Dann in dem Wandschapp eine Flasche Rum, nicht die feinste Sorte, aber immer Rum, und eben erst angetrunken. Komischer Kerl, dacht' ich, der Schiffer! So was dazulassen, wenn man den langen Weg übers Eis vor sich hat! Ein ordentlicher Seefahrer hätt' das nie übers Herz gebracht – aber na, so'n Kahnfriedel!

Ich setzt' einen kleinen Topf auf den Ofen, tat Schnee hinein, und bald war mein Grog fertig. Aber steif wie nie, Halb und Halb ist Kindermilch dagegen. Und dann setzt' ich mich auf die Bank daneben und taute inwendig langsam auf. Und wie wohl es einem Menschen um die Seele 'rum werden kann bei Grog und Feuer und Schafpelz, das kann bloß der nachfühlen, der gerade so ein kleines Sommervergnügen wie ich hinter sich hat.

Da saß ich also in meiner Gemütlichkeit, duselte vor mich hin und dacht' an viel und dacht' an gar nichts.

Wenn jetzt einer hier vorbeikäm', dacht' ich, und säh' den fidelen Rauch aus dem ollen eingefrorenen Torfkahn aufsteigen! Aber hat sich was mit dem Vorbeikommen. 'Ne Landstraße ist hier gerade nicht und ein Aussichtspunkt auch nicht. – Und wenn der Kahnfriedel selber käm'? Ob er wohl hauen würd'? Ich denke, nein; und wenn, dann haut' ich wieder. – Und was mag denn wohl jetzt die Uhr sein? – Richtig, sieben Uhr auf'n Knopf. Also jetzt hat sich der Schlingel, der Heinz, gerade aufgewärmt von der Postreise und geht über die Brücke und das Bollwerk entlang zu unserer kleinen Hersilie. Und jetzt tritt er ein, und Hersilie, ganz in Schwarz, aber sehr schön, erschrickt und wird rot und gibt ihm die Hand; und er küßt die Hand und wird auch rot und stammelt etwas; und sie wird noch röter und schlägt die Augen nieder und nickt ganz leise; und er faßt sie rundum mit aller Macht und küßt sie auf die Stirn und den Mund, und sie weint, und er weint auch, und sie lacht, und er lacht auch –

So deutlich sah ich die ganze Geschichte vor mir, richtig wie ein lebendes Bild oder ein Schauspiel. Aber das war nun ein reines Wunder Gottes dabei, daß ich das mit ansehen oder mir doch einbilden konnte, ohne aus der Haut zu fahren! Wer mir das vor ein paar Stunden gesagt hätte! Aber es war so: ganz ruhig blieb ich und gemütlich, und fiel mir gar nicht einmal ein, daß ich doch eigentlich aus keinem anderen Grunde hier auf dem Torfkahn saß, als weil ich eben diesem Heinz eben dieses Mädchen abjagen wollte.

Küßt ihr euch nur! dacht' ich jetzt recht seelenvergnügt, und bildet euch wunder was für Süßigkeiten dabei ein: meinen Schafpelz und meinen Ofen und meinen steifen Grog habt ihr doch nicht! – Und wenn jetzt der Teufel selbst in Person zu mir gekommen wär' und hätt' gesagt: Nimm du die schöne Hersilie und gib dem Heinz dafür die drei Stücke! – »Den Teufel auch,« hätt' ich gerufen, »nicht eins von den dreien geb' ich her! Und wie werd' ich denn meinem alten Kameraden seine Liebste abjagen? Pfui Teufel! So ein Schuft bin ich mein Lebtag nicht gewesen. Jedem das Seine! Ihm die Braut und mir die dreifache Heizung, das ist christlich und kameradschaftlich geteilt.«

So war's und so blieb's. Es ist die ganz buchstäbliche Wahrheit, mag es klingen wie es will: meine ganze Liebe und meine ganze Eifersucht waren alle beide im Haffeis eingefroren wie ein alter Torfkahn. Und sind auch festgefroren geblieben für Zeit meines Lebens. An die hübsche Hersilie hab' ich nie mehr anders gedacht, als an andere nette Mädchen; aufgeregt hat's mich nicht mehr. Von diesen Frühlingsgefühlen hat mich die lustige Badereise kuriert: eine Pferdekur ist's gewesen, aber geholfen hat's.

Ja, aber nu: wie ich wieder 'rausgekommen bin aus dem alten Torfkahn? Na, das war auch man so; und 'ne besondere Sache war's.

Also, wie ich nun so viel Grog hatte, als ich ungefähr vertragen konnte, verfiel ich in einen Schlaf; ich hatt' gerade noch Zeit, mich in der Koje auszustrecken und den Schafpelz überzudecken, und weg war ich. Und hab' denn auch die ganze schöne Nacht in Frieden geschlafen.

Und zuletzt hatt' ich einen Traum, daß eben das Eis unter mir bräche und ich mit aller Gewalt ins Wasser sauste, immer tiefer, immer tiefer; und ich hörte im Sinken das Wasser an meinen Ohren vorüber rauschen und rauschen und immerfort rauschen –

Und meine Angst wurde so groß, daß ich davon aufwachte. Und ich fuhr in die Höhe, stieß mir den Kopf und horchte. Denn es war etwas zu hören. Wahrhaftig, es rauschte immer noch, über mir, um mich her, rauschte und rauschte –

Himmeldonnerwetter, was sollte das sein? Nu natürlich, Regen war's, richtiger, strammer Pladderregen.

Also mit dem Tauwind hatte es doch seine Richtigkeit gehabt. Das war eine nette Bescherung. Da saß ich nun richtig im Gefängnis, konnte nicht mehr ausbrechen, und kein Mensch konnte zu mir 'rankommen. Denn wenn das Eis gestern schon so teuflisch geknistert und geknackt hatte, wie sollte das erst heute werden nach der Regennacht? Daran war gar nicht zu denken, wieder aufs Eis zu gehen, außer um schnell ein Ende zu machen.

Und daran dacht' ich nun aber wirklich. Denn was hatt' ich sonst für schöne Aussichten? Bis das verdammte Eis ganz aufging und die Schiffahrt frei wurde, das hatte gute Weile bei allem Tauwetter, wenn nicht etwa gleich Hundstagshitze kam. Bis dahin würd' ich gerade in aller Gemütlichkeit verhungert sein – denn zu essen hatte der Hallunke von Schiffer nicht eine Brotrinde dagelassen, und der Rum würde auch bald alle sein – außer wenn mich vorher ein Sturm faßte und umschmiß oder leck machte.

Da kriegt' ich's richtig mit der Verzweiflung. Mit der niederträchtigen, gemeinen, unchristlichen Hundeverzweiflung.

Das einzige ist, dacht' ich, du machst es wie mancher Matrose, wenn das Schiff nicht mehr zu halten ist und alles aus ist: du säufst Rum bis zur Bewußtlosigkeit, und dann mit einem Sprung aufs Eis und durchs Eis ins Wasser. –

Und das dacht' ich nicht bloß so wie ein Hanswurst, um mich selbst graulich zu machen, sondern in verdammtem Ernst, und war, weiß Gott, nicht mehr weit ab davon, die Flasche vor den Kopf zu nehmen.

Da mit einem Male – bum – bam – bum – bam – bum – bam – was ist das? Da fängt es draußen an zu dröhnen und zu summen und zu singen und zu klingen – bum – bam – bum – bam – richtiges, offenbares Glockengeläut, und das so laut und fest, als ob der Kirchturm nicht ein paar hundert Schritt von meinem Kahn ab sein könnte.

Allmächtiger Gott, dacht' ich, was sind das für Neuigkeiten? Entweder bist du wahnsinnig geworden von der Angst, oder – und mir kam die alte Geschichte in den Sinn, daß in der versunkenen Stadt Vineta manchmal die Glocken läuten sollen unter Wasser: aber wer das Läuten gehört hat, ist ein verlorener Mann und sieht das Land nie wieder – Und das bist du jetzt, und also sind das deine Totenglocken.

Aber Vineta liegt weit draußen in der Ostsee bei Streckelberg, wie kann man da das Läuten bis hier hören? Ja, dafür sind es Zauberglocken; christliche Glocken läuten auch erst nach dem Tode, nicht vorher.

Indessen ging das draußen ruhig weiter – bum – bam – bum – bam – immer schöner, immer freundlicher.

Ich machte die Augen zu, und da kam es mir vor, als ob es die Weihnachtsglocken wären. Und ich faltete die Hände und dachte an die Zeiten früher, wenn am heiligen Abend die Glocken gingen und dann gleich der Baum angesteckt wurde und aufgebaut war – mein Gott, was alles für Herrlichkeiten! – Und wie nachher immer mein erstes gewesen, noch schnell am Abend zu Heinz Wichards zu laufen, seine Sachen zu besehen und meine zu zeigen und zu teilen, was zu teilen war – ja wahrhaftig, wir hatten alles Gute damals geteilt als gute, treue Kameraden, ohne Neid und giftige Eifersucht bis –

Und in diesem Augenblick hatte ich nur den einen Wunsch und eine recht bitterliche Sehnsucht, meinen Heinz nur einmal noch vor meinem Ende zu sehen, ihm um den Hals zu fallen und – na, ihm eine Kleinigkeit abzubitten.

Bum – bam – bum – bam –

Und nun klang es langsam, feierlich aus und wurde ganz still, ganz still.

Und an der schauerlichen Stille merkte ich erst sicher, daß die wunderbaren Glockentöne doch kein Hirngespinst, sondern irgend etwas Wirkliches gewesen waren.

Ich hielt es nicht mehr aus in der dumpfen Kajüte, stand auf und ging aus der Tür ins Freie.

Da war es schon Morgen, ein trüber und regnerischer Morgen, aber Tageslicht.

Da tat ich einen lauten Schrei, aber wahrhaftig, zuerst nur vor Schreck und nicht vor Freude.

Dicht neben mir lag noch ein zweiter langer Haffkahn, ebenso eingefroren – und weiterhin ein anderer Küstenfahrer – und da eine holländische Kuff – und da ein abgetakelter Schoner – alle dicht nebeneinander, als ob das so sein müßte mitten auf dem Haff.

Und wieder besserhin – allmächtiger Vater – da lag ein großer Schiffsrumpf, aber nicht im Eis, sondern auf dem Stapel, halbfertig – und fünfzig Schritt von mir ist Land – Häuser – ein Kirchturm – ein altes Schloß – ganz offenkundig und reinlich unser altes pommersches Herzogsschloß –

Und nun faßte ich noch einmal an meinen Kopf und dacht', ich wäre wahnsinnig geworden vor Angst und Verzweiflung.

Aber ganz und gar nicht. Ich war klar und vernünftig wie nie.

Na nu kam's alles 'raus. Da hatte ich Unglückswurm also die ganze Nacht in meinem Elend gesessen, fünfzig Schritt weit von meinem Ziel. Und wäre gestern ganz bequem noch zur rechten Zeit gekommen, wenn ich's nur gewußt hätte. Aber welcher Mensch sollte auch auf den Gedanken kommen, daß er vom Haff, ohne es zu merken, auf die überschwemmten Wiesen geraten kann!

Na, Gott sei gelobt und gepriesen, daß ich's nicht gewußt habe! Das bißchen Angst habe ich redlich verdient, und alles Übrige war in schönster Ordnung.

Aber eine tolle Sache war's doch. Solchen Augenblick wie den erlebt man nicht zweimal im Leben.

Ich hätte jetzt aber wer weiß was drum gegeben, wenn die Glocken noch einmal geläutet hätten. Aber das taten sie nicht, sondern blieben in ihrem Schweigen.

Da packte mich die Sehnsucht nach einem Menschengesicht, und am meisten nach meinem alten Heinz. – Und eine Viertelstunde später hatte ich meinen Heinz und konnte ihm nach Herzenslust um den Hals fallen und ihm eine Kleinigkeit abbitten. Und ich habe ihm, weiß Gott, nichts vorgelogen. Von der Stunde an sind wir die alten Freunde geblieben wie in unserer Kindheit, soweit seine jetzige Gelehrsamkeit das zuläßt.

Mit der schönen Hersilie aber gab es zuletzt noch eine neue Überraschung.

Der Heinz nämlich lachte so recht gemütlich und sagte:

»O lieber Junge, unsere Hersilie ist schon seit dem Sommer – lange ehe ihr Vater starb – heimlich verlobt mit einem jungen Leutnant; nur daß sie leider vorläufig noch nicht ans Heiraten denken können, weil sie beide zu arm sind. Aber auch ohne das wäre es mir gar nicht eingefallen, noch an die alte Flamme zu denken – weißt du, ich habe inzwischen schon eine neue Jugendliebe verschmerzt – sondern ich bin wirklich nur um die antiken Fragmente hergekommen. Mit den Dingern bin ich freilich auch angeführt, ich habe sie gestern Abend noch besichtigt; sie sind rein gar nichts wert, nicht einmal der Frauentorso in der Hausnische, höchst mittelmäßige Arbeit aus spätrömischer Zeit, wie sie in Italien und Griechenland an jeder Landstraße zu finden sind. Wunderlich genug, daß der Alte sich mit dem Kram geschleppt hat; er muß doch nicht viel davon verstanden haben.

Übrigens ein merkwürdiges Beispiel, wie einem die jugendliche Illusion mitspielt oder die idealisierende Kraft der Erinnerung: ich hätte darauf geschworen, der Torso wäre ein gutes Stück und eines guten Preises wert. – Mit Hersilien ist's anders: die ist ein nett Mädchen und nicht häßlicher geworden, und nicht dumm. Ob sie aber zur Gelehrtenfrau gepaßt hätte, ist mir doch fraglich, und zur Seemannsfrau vielleicht erst recht nicht. Darüber können wir uns beruhigen. Aber ein nett Mädchen ist sie.«

So urteilte mein Heinz, und er ist wirklich ein Kenner, für Marmor sowohl wie für Frauenzimmer.




Otto Ernst:

Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben



Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlegers abgedruckt aus dem Buche »Vom geruhigen Leben. Humoristische Plaudereien über groß und kleine Kinder« (Leipzig: Verlag von L. Staackmann, 1903).


Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben

Wer je in seinem Leben den vortrefflichen Roman »Auch Einer« des noch vortrefflicheren Humoristen Friedrich Theodor Vischer gelesen hat, der wird sich auch in späteren Jahren noch mit Behagen erinnern, daß der Dichter ein Erkleckliches und Erquickliches zu reden weiß von der »Tücke des Objekts«. Man wird sich desgleichen erinnern, daß der Dichter unter solcher »Tücke des Objekts« die große Summe der kleinen Hindernisse versteht, die uns von äußeren und zufälligen Umständen gerade bei unseren wichtigsten und erhabensten Handlungen in den Weg geworfen werden. Eine große Tat vollbringen, ist keine Kunst, wenn man im entscheidenden Augenblicke nicht durch Niesen oder durch das Platzen einer Naht an ihrer Vollbringung gehindert wird. Das ist der Sinn der Vischerschen »Tücke des Objekts«.

Hat nun der mehrfach benannte Poet aus Württemberg die Vermessenheit besessen, den Humor des hirnzerschlitzenden Nasen-Rachenkatarrhs und der unzeitig geplatzten Hosennähte recht ausführlich zu kultivieren, solcher Dinge also, die eines großen Hintergrundes durchaus entbehren und die geradezu dem schlimmen Verdachte Raum geben, der Autor habe ehrenhafte deutsche Mitbürger mit Bewußtsein zum Lachen gereizt: so geht der ganz unwürdige Verfasser dieser Plauderei in seinem Unterfangen gar so weit, der reinen Vernunft jenes Spaßmachers noch seine vermeintlich praktische Vernunft hinzuzufügen. Der ganz unwürdige Schreiber dieser Zeilen ist nämlich nicht nur davon überzeugt, daß so etwas wie die Tücke des Objekts in Wahrheit vorhanden sei, sondern er lebt auch des Glaubens, daß es eine Weise gebe, ihr erfolgreich zu begegnen.

Schwerer als auf anderen Zeiten der schwarze Tod, lastet auf unserem Zeitalter die Seuche des grellen Lebens. Es ist die ansteckende, hartnäckige, tragikomische Krankheit, die man Nervosität nennt. Sie ist tragikomisch von einer schlimmen Art: wer von ihr befallen ist, dem ist sie sehr tragisch – den anderen aber meist komisch. Oder sie halten sie für eine Lumperei, von der man kein Wesens machen sollte. Ich finde, man soll viel, viel Wesens von ihr machen. Denn obwohl sie dem einzelnen meistens das Leben läßt, ist sie eine tödliche Krankheit. Manchen tötet sie 24mal an einem Tage; was aber mehr bedeutet: sie tötet Völker und Generationen.

Sehr wahrscheinlich, daß sie eine Ansteckungskrankheit ist wie Chauvinismus und Grippe, Bigotterie und schwarze Pocken und ihr spezifisches Kontagium hat, das zu allen Zeiten auftreten kann. Gewiß ist aber, daß sie in unserer Zeit eine besondere »Disposition« vorfindet. Kein Märchen von »guter, alter Zeit« ist es, daß unsere Väter zu allen ihren Taten wundervoll viel Zeit hatten. Sie waren gewiß so lebendig und fleißig wie wir; aber wenn der Blitz ihr Haus in Brand steckte, so rauchten sie, bevor sie hinausgingen, noch eine lange Pfeife. Wollt ihr noch die Abendröte jenes Zeitalters genießen, so geht in eine Kleinstadt; dort wächst noch alte Zeit zwischen den Pflastersteinen. Du verabredest dich mit deinem Freund in der Kleinstadt für Punkt zwei Uhr zu einem gemeinsamen Gange. Naiv, wie du als Großstädter bist, erscheinst du Punkt zwei Uhr oder auch eine Minute früher auf dem Posten. Dein Freund empfängt dich mit einer leichten Überraschung im Blick, erklärt aber, er werde gleich bereit sein und habe nur noch einen Blick in den Stall zu tun. Nach dreiviertel Stunden kommt dein Freund aus dem Stalle, unschuldig wie ein Schaf, und tut gar nicht, als ob irgend jemand sich zu entschuldigen hätte. Er ist überzeugt, daß du dich mit seinem Großvater, der dir von sämtlichen Fleisch- und Gemüsesorten die Preise zu Anfang und zu Ende des vorigen Jahrhunderts vorgerechnet hat, vortrefflich unterhalten habest. Ihr wollt gerade gehen, als die Gattin bemerkt, daß ihr Mann mit dem Hut unmöglich auf die Straße gehen könne, und daß der andere Hut beim Hutmacher sei.

»Ach, dann schick' eben die Anna zum Hutmacher und laß ihn holen, ja? Mein Freund nimmt noch 'n Augenblick Platz, nicht wahr?«

Aber natürlich. Warum nicht? Time is money. Man muß es einmal ansehen, mit welcher Nervenruhe diese Leutchen auf Anna und den Hut warten. Sie sind noch nicht wieder zurück, als Verwandtenbesuch aus dem benachbarten Dorfe erscheint. Bis dieser Besuch ordnungsmäßig empfangen ist und sich auf mehreren Stühlen in Linie entfaltet hat, vergeht eine Viertelstunde. Der Besuch erzählt, daß Onkel Thomsen sich eine Ziege gekauft und der kleine Franz sich die Finger verbrannt hat. Es ist ganz selbstverständlich, daß du mit anhörst, wie Onkel Thomsen sich eine Ziege kaufte und der kleine Franz sich die Finger verbrannte. Inzwischen empfindet die Hausfrau, daß es Zeit zum Kaffeetrinken sei, und meint, eine gute Tasse Kaffee würdest du »im Fluge« gewiß noch mitnehmen. Freilich, freilich. Dir ist jetzt schon alles egal. Die Zeit ist dir nur noch eine leere, nichtssagende Form der Vorstellung. Du kannst von hier aus ja gleich zum jüngsten Gericht gehen, wenn die Zeit knapp werden sollte. Nachdem der Kaffee mit allen Vorsichtsmaßregeln aufgetragen und er sowohl wie zahlreiche Butterbrote in einem sehr gedeihlichen Tempo genossen worden sind, erklärt dein Freund ohne jede Anwandlung von Schwäche, daß es jetzt, um halb fünf Uhr, doch zu spät für den verabredeten Gang sei, aber man könne ihn ja ebensogut morgen um zwei Uhr unternehmen.

Leben sie nicht, diese guten Leute, wie in einem Schlaraffenlande, wo Milch, Zeit und Honig in vollen Bächen fließt, und wo man, wenn das Leben ausgetrunken ist, wieder einschenkt? Wo man selbst den Tod so lange bei Wein und Politik hinhält, bis er gemütlich die Sense in den Winkel lehnt und sagt: »Auf ein paar Jahre kommt mir's nicht an?« Und derweilen sich diese Leute in Zeit wälzen wie Ferkel in der Kleie, lebst du in der Großstadt – nicht nach einem Stundenplan, o nein – nach einem Halbeminutenplan. »4 Uhr 15 ist der Vortrag zu Ende; 4 Uhr 17½ Minuten ist die grüne Straßenbahn an der Ecke der Pfälzerstraße, in 2½ Minuten kann ich sie erreichen: in 15 Minuten, also 4 Uhr 32½ ist sie am Moltkeplatz; wenn ich Glück habe, erwische ich dort die rote Bahn und fahre mit dieser in 14½ Minuten nach der Domgasse; wenn ich die Beine nachziehe, kann ich in 13 Minuten an der Esplanade sein und komme dann eben rechtzeitig um 5 Uhr zur Konferenz.« Hast du aber kein Glück – und mit Straßenbahnen hat man nie Glück – dann fällt deine ganze Tagesordnung über den Haufen wie ein Kartenhaus, das auf den großen Zeiger einer Turmuhr gebaut wurde; über den ganzen Rest des Tages fällt der Schatten der versäumten 10 Minuten; alles ist verschoben, alles verdreht und verspätet; die Galle tritt ins Blut, und in jener halben Minute, die du zu spät zur roten Bahn erschienst, hast du einen Tag verloren.

Oder du sitzest in deinem Bureau oder Kontor und prüfst eine Statistik, die morgen abgeliefert werden muß. Ha, denkst du, die Eingabe des Herrn X. muß ja noch heute erledigt werden! Und dann das Attest, das Frau Y. erbeten –! Ja, richtig, der Z. wartet schon drei Tage auf die Empfangsbestätigung für seine Sendung – und dann muß der Bericht an die Behörde angefangen werden; es sind nur noch acht Tage bis zum Einlieferungstermin – I, sollte nicht heute eine Sitzung des Wohlfahrtsausschusses sein? (Du suchst längere Zeit nach einem Papier.) Richtig: Sitzung am 3. Juni morgens 11 Uhr – es ist jetzt ¾ 12 – also versäumt! Hm – dem Dr. N. hab' ich noch gar nicht auf seine Einladung zum Diner geantwortet; es hat, glaub' ich, vor 14 Tagen stattgefunden – halt! Hab' ich eigentlich schon meine Feuerversicherung erneuert? Nein – nein! Und dabei gewittert's jetzt alle Tage, und überall schlägt's ein! Zum Augenarzt komm' ich auch nicht mit meinem Bindehautkatarrh – ach ja, das Buch über Lungenheilstätten von Dr. M. sollt' ich ja lesen, das liegt schon seit Weihnachten hier – hab' ich eigentlich schon dem Fräulein O. geantwortet? Ah, da muß ich doch aber gleich – nein, erst muß P. Bescheid haben, daß ich – oder nein, noch eiliger ist der Brief an Q.; die andern kann ich heute Abend – Donnerwetter, heute Abend ist ja der Vortrag von Professor R.; wenn ich da nicht hinkomme, wird er mir sein Lebtag nicht wieder – ja, was ist denn das, heut' Abend hab' ich ja Gesellschaft im eigenen Hause –

Du bist längst aufgesprungen und rennst wie eine vergiftete Ratte an allen vier Wänden der Zeit hinauf, um ein Loch zu finden. Da tritt dein Diener ein und sagt: Herr Soundso (wie du nun eben heißt), es ist höchste Zeit, aufs Gericht zu gehen, sonst wird Ihre Klage als zurückgezogen betrachtet! Du greifst nach deinen Stiefeln, und indem du natürlich den linken Stiefel auf den rechten Fuß zu ziehen versuchst, fallen dir fünf notwendige Besuche, sieben wichtige Sitzungen und neunzehn dringliche Briefe ein; du stürzest davon, kehrst aber in der Tür wieder um und rufst dem Diener zu: »Lieber Meyer, mir fällt ein, ich habe auf 1 Uhr dem Porträtmaler eine Sitzung versprochen; sagen Sie, ich wäre plötzlich abgerufen worden, und dann gehen Sie sofort hin und bezahlen Sie die Einkommensteuer, die hab' ich total vergessen; der Gerichtsvollzieher ist schon dagewesen und hat Zettel angeklebt …«

Und so kommst du vor tausend Arbeiten zu keiner einzigen und erleidest das graueste Elend, das diese Welt gewährt: der Katzenjammer nach einer übervollen Nacht ist Himmelsfreude gegen den Kater nach einem leeren Tage!

Armer, verstörter Geist, ruheloses Herz, gequälter Zeitgenosse und Mitmensch, komm' zu uns und empfange Frieden in den Armen der

Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben.

Siehe, wir nennen uns nicht die »Brüder vom ruhigen Leben«, sondern »Brüder vom geruhigen Leben«, woraus du ersehen mögest, daß wir Zeit haben. Nachdem du so vielen Vereinen und Ausschüssen beigetreten bist, tritt endlich diesem bei, den ich mit anderen weisen Männern gegründet habe und der dich alle anderen Vereine ertragen lehrt. Du hast bereits dein Eintrittsgeld in der Hand – festina lente – höre und erwäge wohl, bevor du handelst.

Ich seh' es dir an: du wähnst, ich lüde dich zu einem Klub der Wurschtigkeit, in welchem man lebt nach dem Grundsatze: »Nachher ist alles eins; in der Nacht des Todes sind alle Katzen grau, und obendrein sieht, wer tot ist, kein Grau und keine Katze.« Irre dich nicht. Unsere Brüderschaft lebt das Leben mit eifriger Aufmerksamkeit und reger Kraft.

Oder glaubst du, wir schraubten uns und unsere Welt zurück in die Zeiten der Väter, die sich an dem Blitz, der ihr Haus entzündete, eine lange Pfeife entbrannten? O nein, mein Freund, unsere Brüdergemeinde weiß, daß Leben nicht zurück kann; Leben kann immer nur vorwärts.

Unsere Gemeinschaft weiß, daß Reize und Sorgen den Menschen von heute zehnfach so stark bestürmen wie seine Vorfahren. Es ist wahr: der Ernst des Lebens und die Lust des Lebens reißen sich um die moderne Menschenseele mit einem Ungestüm, das ehemals unerhört war. Wir Kinder dieses goldenen Zeitalters der Technik und der Wissenschaft sind ein Geschlecht von Parvenus, und unter diesen Parvenus sind wir Deutschen noch ein besonderes Stück emporgekommen. Wer aber so jählings emporkommt, dem wird schwindelig. Das ist das Schicksal der Parvenus.

Arbeit und Genuß tanzen uns vor den Augen, daß uns wirblig wird und alles sich mit uns im Kreise dreht. Wir haben den Überblick verloren; wir haben noch nicht gelernt, über die neue, unerwartete Fülle zu disponieren. Ruhig gesehen ist über die Hälfte geschafft. Wir werden hineinwachsen in unsere Aufgabe; wir werden sie bewältigen, wie jedes vorhergegangene tapfere Geschlecht. Aber noch flimmert's uns vor den Augen. Die einfachsten, banalsten Gebote der Ordnung, der Beschränkung und Überlegung sind uns abhanden gekommen, und bei wem du eintrittst, suchst du vergebens nach der philosophischen Hausapotheke.

Erwarte daher nicht orphische Weisheit, nicht rabendunkle Urworte aus Morgendämmerungen der Menschheit, der du eintrittst in unsere Gemeinschaft! Es sind die gewöhnlichen Rhabarbertropfen der Seelentherapie, die du hier findest; was aber das Eigentümlichste ist, sie stehen nicht da in verstaubten Fläschchen sondern sie werden angewandt. Wer in die Brüdergemeinschaft aufgenommen wird, leistet zuvor einen heiligen Eid, daß er ihr alle seine Sünden gegen ein geruhiges Leben beichten, sich den über ihn verhängten Bußen unterwerfen und die Lehren der Weisen mit Ehrerbietung hören und redlich befolgen werde.

In großen, ehrwürdigen Protokollen ist niedergeschrieben, was in den sonnabendlichen Konventen gebeichtet, verhandelt, geurteilt und gelehrt worden, zu denkwürdigem Zeugnis von der gewaltigen Macht und Tücke des Kleinen und von der Überwindung solcher Macht. In diesen heiligen Büchern mit mir zu blättern, bist du nunmehr, teuerster Leser, herzlich gebeten.




Haare in der Feder


Es ist verzeihlich, Mensch, daß du meinst, wenn dir ein Haar in der Schreibfeder sitzt, es werde sich beim Schreiben von selbst wieder daraus entfernen. Bedenke aber, daß Haar und Feder, sobald sie diese deine Meinung merken, nur um so zärtlicher zusammenhalten. Aus dem verschmierten Buchstaben wird ein verschmiertes Wort, aus dem verschmierten Wort eine verschmierte Zeile; in der nächsten Zeile geht die Schmiererei rüstig weiter und dauert so lange, bis du die Feder auf den Tisch haust, sie zerbrichst und dir die Hand verstauchst. Daß du die ganze Seite nun noch einmal schreiben mußt, kostet bloß Zeit. Die verstauchte Hand kostet Zeit, Verdienst und ärztliches Honorar: das will alles noch nichts sagen. Aber das Wutgift, das sich in dir angesammelt, während du mit steigendem Ingrimm auf die Vernunft eines Haares hofftest, und nun der tage-, der wochenlange, mindestens der viertelstundenlange Ärger über all die Widerwärtigkeit: die fressen Nerven und Hirn, und das läuft in die Papiere. Sobald du, o Mensch, ein Haar in deiner Feder spürst, spreize die Feder und entferne das Haar, und will dir's nicht gelingen, so wirf die Feder weg oder das fasernde Papier, und nimm neues Material, und lächle dabei als ein Wissender, der in aller Ruhe und Behaglichkeit ein glänzendes Geschäft macht.




Infame Halskragenknopflöcher


Es gehört zu den selbstverständlichsten Erscheinungen, daß die Knopflöcher neuer, namentlich etwas enger Halskragen sich gegen die Aufnahme größerer Knöpfe wehren. Nach dem ersten vergeblichen Versuche pflegt der Mensch von heute »Na?!« zu rufen, nach dem zweiten »Nanu?!!«, nach dem dritten: »Na, da soll aber doch gleich –!«, nach dem vierten pflegt er sich bereits erschöpft auf das frischgemachte Bett fallen zu lassen; beim fünften bricht er sich einen Fingernagel ab; nach dem sechsten schleudert er den Kragen in die Ecke und mit dem Kragen ein wertvolles Glas vom Waschtisch hinunter, und wenn seine Frau mit dem heitersten und liebenswürdigsten Gesicht von der Welt hereinkommt und ihn lächelnd etwas fragt, so antwortet er in einem unliebenswürdigen Tone, der ihm und ihr den ganzen Abend und den folgenden Morgen verdirbt. Der arme Unwissende und Verblendete merkt nicht, daß die Schar der tückischen kleinen Knopf- und Kragendämonen sich bei jedem Fluche verdoppelt, und daß ihre Gewalt und ihr Gewieher schon nach dem dritten Versuch ins Ungeheure und Unbezwingliche gewachsen ist.





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