Книга - Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

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Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild
Gustav Bodelschwingh




Gustav von Bodelschwingh

Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild





Vorbemerkung


Während der sommerlichen Ferienzeiten, die wir Geschwister vom Jahre 1883 ab mit unseren Eltern an irgend einem stillen Erholungsort zubrachten, pflegte uns unser Vater Erinnerungen aus seinem Leben zu diktieren. Sie umfassen die ersten vierzig Jahre seines Lebens und reichen bis zu seinem Eintritt in die Arbeit in Bethel. Für die Darstellung der Zeit von 1831–1872 boten mir diese Erinnerungen, die der Raumersparnis wegen nicht ganz gebracht werden konnten, wesentlichen Anhalt. Sie erschienen vollständig in der Monatsschrift „Beth-El”, Jahrgang 1909, 1912–14 und 1918/19. (Verlag des Pfennigvereins der Anstalt Bethel bei Bielefeld.) Da, wo diese Erinnerungen im Text wörtlich angeführt sind, sind sie durch Anführungsstriche gekennzeichnet.




I

1831–1872





Voreltern und Eltern


Die Heimat der Familie v. Bodelschwingh liegt zwischen Ruhr und Lippe im Herzen des westfälischen Industriebezirks, wo heute die rauchenden Schornsteine den Tag dunkel machen und die grellen Feuergarben der Hochöfen die Nacht erhellen. Wer jetzt mit dem eilenden Zuge jenes Gebiet durchreist, der ahnt kaum, daß mitten in dieser lärmenden, flammenden Welt noch manche stille Zeugen der alten Zeit stehen. Zu diesen Zeugen gehört auch die ehrwürdige Wasserburg, die zwei Stunden westlich von Dortmund am Ausgange einer kurzen, engen Waldschlucht sich aus breitem Wassergraben erhebt. Das ist Haus Bodelschwingh, dessen Name um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts zum erstenmal in alten Urkunden auftaucht.

Eine märkische Familie Speeke, die hier wohnte, nimmt um diese Zeit nach ihrem Wohnsitz den Namen Bolschwich, später Bolschwingh und Bodelschwingh an. Unter der alten Fehmlinde zu Dortmund, die erst vor wenigen Jahren dem Bau des neuen Bahnhofes weichen mußte, sollen Herren aus dem Hause Bodelschwingh forterbend das Gericht der heiligen Fehme geübt haben. Aber gewiß ist das nicht. Die spärlichen Urkunden melden nur, daß ein Sohn des Hauses Bodelschwingh im Dienst des deutschen Ordens ostwärts zog, um sich und seinen Nachkommen im Baltenlande eine neue Heimat zu gewinnen. Ein anderer fiel im Kampf gegen die Türken und liegt in Ungarn begraben. Im Dom zu Mainz findet sich das Grabmal eines Wennemar v. Bodelschwingh mit der Jahreszahl 1543, der nach den alten Berichten des Domkapitels seinem fürstlichen Bischof ein treuer Ratgeber gewesen sein muß, und um die gleiche Zeit meldet das Kirchenbuch der Stadt Elberfeld, daß Friederike v. Bodelschwingh um ihres evangelischen Bekenntnisses willen mancherlei Ungemach zu leiden hatte.

Ein Sohn aus dem Hause Bodelschwingh heiratete im Jahre 1633 Felicitas v. Oeynhausen, die wegen ihrer Herzensgüte bei arm und reich hochgeschätzte Erbin des zwischen Dortmund und Hamm gelegenen Gutes Velmede. Aus diesem Hause Bodelschwingh-Velmede stammt Ernst v. Bodelschwingh, der Vater des späteren Pastor Friedrich v. Bodelschwingh.

Ernst v. Bodelschwingh, geb. 1795, hatte nach seiner Schulzeit die nassauische Forstakademie in Dillenburg besucht und war dann im Herbst 1812 zum Studium der Rechtswissenschaften nach Berlin gegangen. Hier traf ihn im Frühjahr 1813 der Aufruf des Königs Friedrich Wilhelm III. „An mein Volk”. Wenn er sich zu den preußischen Fahnen meldete, so war damit der elterliche Besitz in dem damals unter französischer Herrschaft stehenden Westfalen bedroht, und ein Freund warnte ihn, daß er sich nicht leichtsinnig um sein Erbe bringe. „Aber”, rief Bodelschwingh aus, „was ist eine Handvoll Erde gegen mein Vaterland!” und eilte, kaum siebzehn Jahre alt, nach Breslau. Um aber Eltern und Besitz möglichst zu schützen, ließ er sich unter falschem Namen in die Liste der freiwilligen Jäger eintragen.

Er kämpfte in den Schlachten von Groß-Görschen, Bautzen und an der Katzbach und war bei Leipzig in dem besonders blutigen Ringen des Yorckschen Korps um das Dorf Möckern. Bei der Verfolgung der zurückflutenden französischen Armee kam es hinter Freiburg auf den Höhen über dem Unstruttale zum Gefecht, und hier erhielt der junge Jägerleutnant, hart über dem Herzen, einen Schuß durch die Lunge. Er hatte am Tage dem bedrängten Stadtschreiber des Städtchens Lauchstädt beim Ausschreiben der Quartierzettel geholfen, und dieser kleine Dienst rettete ihm das Leben. Denn als der Transport der Verwundeten Lauchstädt passierte, holten der Stadtschreiber und seine Frau den todesmatten jungen Leutnant, der den Transport bis Halle an der Saale nicht überstanden haben würde, in ihr Haus. Das Bett war zu kurz für den fast sechs Fuß langen Kranken. So bekam er sein Strohlager an der Erde, und sein treuer Bursche Schneeberg – wie oft hat das später der Sohn des Verwundeten den Pflegern und Pflegerinnen seiner Kranken erzählt! – bettete sich zu den Füßen seines Herrn und sagte: „Herr Leutnant, wenn Sie etwas wünschen, dann treten Sie nur.” Denn zum Sprechen war der Kranke zunächst zu schwach.

Die Wunde des jungen Leutnants schloß sich nur langsam, und die alte Frische wollte nicht wiederkehren. Die Eltern, die nach langem, bangem Warten endlich die Nachricht des Stadtschreibers erhielten, machten sich auf den Weg, um ihren Sohn zu holen. Im Angesichte der Stadt eilte die Mutter dem Wagen voraus und trat unverhofft in die Stube, wo ihr blasser Sohn in die Kissen gelehnt auf dem Stuhle saß. Die übergroße Freude ließ das Blut des Kranken aufwallen, sodaß sich die Wunde aufs neue öffnete. Aber gerade das war der Anfang der Genesung. Denn aus einem verborgenen Eiterherd kamen Reste der Uniform zum Vorschein, die bisher die Heilung gehindert hatten.

Freilich blieben die Kräfte noch lange geschwächt. Als 1815 der Krieg mit Napoleon abermals ausbrach, verweigerten darum die Eltern ihrem Sohn, sich bei der Truppe zu stellen. Da machte er sich zu Fuß von Göttingen, wo er studierte, querfeldein auf den Weg nach Velmede, seiner Heimat. „Mutter, ich kann wieder marschieren,” so trat er ins Zimmer und erkämpfte sich die Erlaubnis der Eltern.

An dem Tage, wo er von Unna aus zur Armee aufbrach, erlitt dicht vor Unna das Gefährt zweier junger Mädchen, der beiden Schwestern von Diest, die denselben Weg zum Rhein reisen wollten, einen Unfall. Die Pferde hatten gescheut, der Kutscher war schwer verwundet, und so blieb den beiden nichts anderes übrig, als zur Weiterreise den Postwagen zu nehmen. Das war derselbe Weg und derselbe Wagen, den auch der junge Leutnant v. Bodelschwingh benutzen mußte, um die Truppe zu erreichen. So lernte Ernst v. Bodelschwingh in einer der beiden Schwestern seine spätere Lebensgefährtin, Charlotte v. Diest, kennen, und durch diesen Unglücksfall wurde der Grund gelegt zu einer Ehe, durch die ein Strom von Glück über ungezählte Unglückliche kommen sollte.

So spärlich die Nachrichten über die Bodelschwinghs fließen, so reich sind sie andrerseits über die Familie v. Diest. Über Ort und Gau der im Jahre 838 zum ersten Male erwähnten deutsch-niederländischen Stadt Diest erwarb Otto v. Diest im Jahre 1090 das Herrschaftsrecht und wurde zum Stammvater eines Hauses, dem die Herzöge von Brabant und Flandern und manche andere alte und berühmte niederländische Geschlechter ihre Töchter zu Frauen und ihre höchsten Ämter zur Verwaltung gaben. In Münster, Lübeck, Utrecht und Straßburg finden wir Bischöfe v. Diest; und Arnicus v. Diest, der in seiner Einsiedelei als „ein Freund Gottes”, aber auch als Freund der Tiere, Kinder und Kranken lebte, wurde um das Jahr 1200 heilig gesprochen.

Früh bekannte sich die Familie zum evangelischen Glauben. Johann v. Diest, Prediger zu Antwerpen, wurde 1571 von seinem Krankenbett zum Scheiterhaufen geführt, und sein Sohn wurde auf dem Heimwege von der Synode in Dordrecht 1583 aufgegriffen und in einem Sacke ertränkt. Schließlich konnten sich die Evangelischen der belgischen Niederlande nur noch durch die Flucht ihren Verfolgern entziehen; und so finden wir von jetzt ab die Familie v. Diest im kurbrandenburgischen Staatsdienst oder, wie einst auf den Bischofsstühlen, so jetzt auf evangelischen Kanzeln und Lehrstühlen der rheinischen Städte. Samuel v. Diest, Professor der Theologie und Philosophie an der Universität Duisburg, trat als ein entschlossener Kämpfer für den Frieden der in bitterem Streit liegenden Lutheraner und Reformierten hervor, „um gegenseitige Duldung und brüderliche Gesinnung herbeizuführen, welche vor allem auch bis zur Gemeinschaft des Wortes und Sakramentes gehen müßte”. Und doch blieb solche edle Weitherzigkeit bei den Diests frei von feigem Nachgeben. Denn als der preußische Resident v. Diest in Cöln im Jahre 1714 von den dortigen Studenten durch Gewalt an der Abhaltung evangelischer Versammlungen in seinem Hause verhindert werden sollte, wandte er sich an König Friedrich Wilhelm I., der mit zähem Nachdruck sich hinter seinen Residenten stellte und Kur-Cöln zum Nachgeben zwang.

Eins der wenigen übriggebliebenen Glieder dieses alten Geschlechts war der Tribunals-Präsident Heinrich v. Diest, der erst in Cleve, dann in Burgsteinfurt gelebt hatte. Er und seine Frau aber waren vor und während der Freiheitskriege gestorben und hatten ihre Kinder in bescheidenen Verhältnissen zurückgelassen. Zu diesen Kindern gehörten auch jene beiden jungen Mädchen, Charlotte und Angelie v. Diest, mit denen Ernst v. Bodelschwingh in Unna zusammentraf und von denen die ältere später seine Frau wurde.

Nach seiner Rückkehr aus dem Feldzuge vollendete Ernst v. Bodelschwingh sein Studium und arbeitete als Referendar in Arnsberg, Berlin und Münster. Die Ferienzeiten aber führten ihn immer wieder zurück ins Elternhaus nach Velmede.

Nur anderthalb Stunden von dem väterlichen Gute entfernt lag Kappenberg, der Wohnsitz des vielleicht besten deutschen Mannes des ganzen Jahrhunderts, des Reichsfreiherrn vom Stein. Sein Auge fiel auf den jungen Referendarius, und Stein zog ihn in seine Nähe. So kam eine Freundschaft zustande, die bis zum Tode des Reichsfreiherrn anhielt und die für Leben und Amt Ernsts v. Bodelschwingh die größte Bedeutung gewann.

1822 wurde er zum Landrat des Kreises Tecklenburg ernannt. Das Landratsamt in dem Städtchen hatte keine geeignete Wohnung. Aber die Witwe des früheren Landrats, Frau v. Diepenbrock-Grueter, die dicht unterhalb der Stadt Tecklenburg in Haus Mark wohnte, bot einen Teil des Hauses zur Wohnung an. So konnte denn der Landrat sein „Lottchen”, wie er zeitlebens seine Frau nannte, heimführen. Die junge Landrätin war freilich ihrer Schwiegermutter keine willkommene Tochter. Die alte Frau v. Bodelschwingh stammte aus dem Hause Plettenberg, das einst dem deutschen Ritterorden in Hans v. Plettenberg einen seiner größten Ordensmeister gestellt hatte. Sie war bei kleinem, zartem Körper eine stolze und sehr willenskräftige Natur. Im Stillen hatte sie sich eine der Töchter des Freiherrn vom Stein an die Seite ihres ältesten Sohnes gewünscht. Darum blieb sie lange Zeit ihrem Sohne gram, obwohl er, wie sie selbst sagte, ihr niemals Kummer gemacht hatte. Namentlich aber mußte ihre Schwiegertochter viele Jahre hindurch unter schwerer Zurücksetzung leiden. Doch die junge Landrätin trug es still und gewann dadurch das Herz ihrer Schwiegermutter in einer Weise, daß die alternde Frau schließlich niemand lieber um sich hatte als ihr „Lottchen”. „Kinder, vergeßt es nie, was ihr für eine Mutter habt!” rief sie einmal ihren Enkeln zu. Und als es zum Sterben mit ihr ging, war es wiederum ihre Schwiegertochter, der sie ihr ganzes Herz ausschüttete, wie ein Beichtkind dem Beichtvater, und von der sie sich Trost und Stärkung holte für den letzten Gang.

Ihr Mann, der „Franzherr”, wie ihn seine Leute nannten, war ihr im Tode längst vorangegangen. Er war ein Mann von gewissenhafter Treue und größter Herzensgüte. Das Gut war zum Teil verpachtet, und der Pachtzins mußte jährlich in bar bezahlt werden. Ein Pächter, der in jenen schweren Zeiten die Summe nicht rechtzeitig hatte aufbringen können, kommt zum Gutsherrn, um ihn um Stundung zu bitten. Der weist ihn an seinen Rentmeister, dem die Einkassierung des Pachtgeldes oblag. Dieser aber bleibt hart. So kehrt der bedrängte Pächter zum Gutsherrn zurück und bittet ihn, ihm das Geld vorzustrecken, damit er es dem gestrengen Rentmeister zahlen könne. Der Franzherr gibt ihm das Geld, und der Pächter trägt es zum Rentmeister hinüber. Aber der findet unter der Summe ungängige Münzen und lehnt sie ab. Und noch einmal kommt der Pächter zu seinem Herrn, um sich die gewünschten Münzen einzutauschen und so mit dem Gelde seines eigenen Pachtherrn die Pacht zu bezahlen.

Die Landrätin in Tecklenburg, seine Schwiegertochter, hatte nach einer beängstigenden Nacht eines Morgens zu ihrem Mann gesagt: „Ich weiß nicht, warum ich so unruhig bin, ich glaube, unserm Vater geht es nicht gut.” Noch denselben Morgen kam ein reitender Bote mit der Nachricht, daß der Vater krank sei. Sofort warf sich der Landrat aufs Pferd. Aber als er Velmede erreichte und die Magd, die ihm begegnete, fragte: „Wie geht es dem Vater?” sagte sie nur: „Der ist eingegangen zu seines Herrn Freude.” Der Sohn dieses Vaters aber, der Landrat von Tecklenburg, stand mit gleicher Treue und mit großer Umsicht in seinem Amt. Noch nach Jahrzehnten haben die Augen der Tecklenburger geleuchtet, wenn der Name ihres ehemaligen Landrats genannt wurde.

Der Osten Deutschlands hatte in den Jahren 1813–15 den großen Frühling vaterländischen Erwachens erlebt. Jetzt erlebte der Westen ein neues Erwachen des alten Glaubens der Väter. Statt des Rationalismus, der keinen Menschen mehr befriedigte, wurde der Geschmack an dem Evangelium lebendig. Auf vielen Kanzeln erstanden Männer, die den sehnenden Herzen und Gewissen den Sünderheiland predigten.

Die Kirche in dem Städtchen Tecklenburg blieb freilich von diesem neuen Frühlingshauch unberührt; aber im benachbarten Lengerich spürte man ihn und drüben in dem kleinen Walddorf Ledde, nur eine kurze Stunde von Haus Mark entfernt. So sehen wir auch die Tecklenburger Landrätin mit ihrem Mann in Ledde unter der Kanzel des feurigen jungen Predigers Walter wie auch in Lengerich, wo Pastor Smend stiller, aber auch tiefer von dem neuen Leben erfaßt war.

Fünf Kinder hatte sie ihrem Mann geboren, und jetzt, wo sie ihr sechstes Kind erwartete, war es für sie eine Zeit, wo ihr Herz unter dem Wehen des Geistesfrühlings mehr als je in Sprüngen ging und ihre Liebe zu dem, der sie zuerst geliebt hatte, besonders hell brannte. Nie vorher hatte sie einem ihrer Kinder mit solcher Freudigkeit und Sammlung des Herzens entgegengesehen. So kam der 6. März 1831 heran. Es war ein Sonntag. Die Hausgenossen waren zur Kirche gegangen. Die Landrätin hatte still für sich eine Predigt des Württembergers Hofacker gelesen. Nun weihte sie das Kind, das sie erwartete, noch einmal, wie sie es früher schon getan, ihrem Herrn zum Eigentum und Dienst. Am Abend desselben Tages hielt sie ihren kleinen Friedrich in den Armen.




Die Jugendzeit





Koblenz. 1832 – 1842


Zwei Monate später mußte die Familie v. Bodelschwingh ihr liebgewonnenes Tecklenburger Land verlassen. Es ging dem Rheine zu nach Cöln, wohin der Landrat als Oberpräsidialrat versetzt worden war. Noch in demselben Jahre wurde er Regierungspräsident von Trier. Von hier schrieb später seine Frau an ihre Schwester: „Von Fritz läßt sich nur sagen, daß er ein recht aufgeweckter Junge ist und das Soldatenspiel so fleißig übt, als wenn es ihm damit schon ein großer Ernst wäre.” Und der kleine Fritz selbst erinnerte sich aus dieser Zeit an die großen Taubenschwärme, die um die Porta Nigra, das uralte Römertor, flogen, und – an den Sarg, in welchem sein kleiner Bruder Ernst lag. „Die Kränze,” so erzählte er, „hüllten den Sarg ein, die Lichter brannten, und als der Sarg aufgehoben wurde, da war es mir, als würde er gradeswegs in den Himmel getragen.” So nah und dicht ragte dem Kinde unter der Unterweisung der treuen Mutter die unsichtbare Welt schon damals in die sichtbare hinein.

Dann, 1834, kam die Ernennung des Vaters zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz, und der kleine Fritz weiß noch, wie eines Tages die ganze Familie auf der „Eiljacht” moselabwärts von Trier nach Koblenz fährt. „Koblenz”, so erzählt er später, „wie freundlich blickst du aus Kindheitstagen mich an! Wie haben die schönen Fluten der Mosel und des herrlichen Rheinstroms, in denen ich schwimmen lernte, wie haben die schönen Berge, in die so mancher fröhliche Weg uns hineinführte, mich erfreut und erquickt! Aber ganz besonders traut bleibst du mir, alte Wohnung in der Oberpräsidium-Straße! Welch ein Kinderparadies warst du für uns! Welche Schätze mancherlei Art, gruselige und heitere, botest du uns dar: einen großen Flur, wo wir nach Herzenslust unsere Kreisel treiben konnten, eine unbeschreiblich gemütliche Wohnstube, wo die Mutter in allen Anliegen aufgesucht werden durfte; ein Hinterhaus nach dem Garten zu, wo unser Hauslehrer wohnte und wir zu arbeiten hatten, dazwischen ein langer, langer Gang mit einer Glastür, durch die es auf die Rumpelkammer des Hauses mit ihren altertümlichen Truhen ging und von da auf einen langen Boden, wo wir unsere Mäusefallen aufstellten. Vom Ende dieses Bodens aber, das war unser Geheimnis, gelangten wir durch ein losgelöstes Brett mittels eines kühnen Sprunges auf den Heuboden des Kutschers Franz. Kein schöneres Spiel, als hier von oben nach unten Kobolz zu schießen oder, was noch viel schöner war, oben in der verborgensten Ecke des Heubodens sich ein Häuschen zu bauen. Da wurden die schönsten Geschichten erzählt. Und, o Wonne, wenn es nun gar am Schloß rappelte und Kutscher Franz den Heuboden betrat! Da hielten wir alle den Atem an, bis er mit seiner Tracht Heu wieder verschwunden war.

Aber einmal, als wir Kinder an der Glastür vorbeikamen, klopfte es von innen, und oben durch die Scheiben guckte ein Kerl. Eigentlich war es gar kein Kerl, sondern ein alter Hut, der oben auf der Rumpelkammer gelegen hatte und der nun auf einem mit einem weißen Tuche behangenen Stocke in die Höhe gehalten wurde. Natürlich ein furchtbarer Schreck der kleinen Gesellschaft und Fersengeld, was nur die Füße laufen wollten. Was half es, daß der Bruder Ludwig die Tür aufmachte und lachend den alten Hut auf dem Stocke zeigte. Der Schreck blieb nun einmal. Und so oft der Spaß wiederholt wurde in wechselnden Gestalten, die durch das Fenster guckten, – bald war es eine große ausgestopfte Puppe, bald ein ausgehöhlter Kürbiskopf – die Furcht vor der Glastür verlor sich nicht.

Ganz besonders schön war unser Garten, der in zwei Terrassen zur alten, dicken Stadtmauer hinunterführte. In dieser Mauer legten wir unsere Räuberhöhlen an und bargen unsere selbstgeschnitzten Waffen darin: Säbel, Pistolen, Streitäxte, Bogen und Pfeile. In der Mitte des Gartens lief eine Allee von Linden, in deren prachtvoll verschlungenen Kronen wir Kinder manche Stunde zubrachten. Von allen Obstbäumen bleibt der große Birnbaum oben rechts in der Ecke des Gartens besonders unvergeßlich. Er trug so treu jedes Jahr mehrere Waschkörbe voll Birnen, daß der Tag, an dem wir ihn abernteten, jedesmal ein Familienfest war. Hinter dem Birnbaum war ein Himbeerbeet, das beliebteste Versteck, wenn wir Anschlag spielten. Unten im Garten aber hing an vier Balken eine lange Schaukel, auf der wir Kinder alle zugleich Platz hatten. Oben links in der Ecke stand eine Geißblattlaube, wo so manches Mal unser Vesperbrot verzehrt wurde, und an der Mauer waren die prachtvollsten weißen und blauen Weintrauben. Das alles genossen wir nicht allein, sondern mit treuen Spielgefährten zusammen, die sich täglich bei uns einstellten.

Besonders reich wurde unser Leben, als der Vater noch einen Garten am Rhein hinzukaufte, dem Dörfchen Pfaffendorf gegenüber. Diesen Garten, der unser eigentlicher Gemüse- und Obstgarten war, halfen wir Kinder bepflanzen und bestellen. Wir konnten alle klettern wie die Katzen. Darum war es uns auch ein Kleines, über den hohen Gartenzaun zu kommen. Als das aber der Vater erfuhr, verbot er es uns, damit wir es andern Kindern nicht vormachten. Wir sollten fortan immer den Schlüssel mitnehmen und nur durch die ordentliche Tür aus- und eingehen.

Nun hatten mich einmal die Geschwister, als sie kurz vor Mittag nach Hause gingen, aus Versehen in dem Garten eingeschlossen in der Meinung, ich sei schon voraus, während ich ganz vertieft hoch in den Zweigen eines Kirschbaums saß. Plötzlich merkte ich, daß alles still um mich her war. Ich stieg vom Kirschbaum und stand alsbald vor der verschlossenen Tür. Es wäre mir ja ein kleines gewesen, über den Gartenzaun hinüberzuklettern, wie ich dies schon oft getan hatte. „Aber der Vater hat es ja verboten”, so hieß es in meinem Herzen. Da mein Rufen nichts half, legte ich mich schluchzend auf die Bank in der Gartenlaube, die ganz von Gebüschen eingeschlossen war. Eine Nachtigall, die dort in dem Busch ihr Quartier hatte, kam ganz zutraulich auf den Tisch geflogen, der vor der Bank stand, auf der ich endlich über meinen Tränen einschlief.

Inzwischen war zu Hause große Unruhe gewesen. Die Geschwister hatten gesagt, ich müsse gewiß schon vor ihnen aus dem Garten gegangen sein. Und wenn sie mich doch vielleicht eingeschlossen hätten, so wüßte ich ja, daß ich zu Mittag zu Hause sein müßte, und wäre gewiß über den Zaun gesprungen. So hatte man mich denn überall gesucht, nur da nicht, wo ich zu finden war. Da, mit einemmal, hörte ich mich beim Namen rufen. Der Vater stand vor mir und sagte: „Mein Sohn, wie konntest du uns das antun?” Ich antwortete, aufs neue in Tränen ausbrechend: „Vater, du hast es uns doch verboten, über die Mauer zu klettern.”

Sehr lebhaft stehen mir noch die schweren Erkrankungen meines Vaters in Erinnerung. Zweimal lag er in Koblenz an seiner durchschossenen Lunge todkrank, beide Male an Lungenentzündung. Das eine Mal kam es so weit, daß die Ärzte ihn aufgegeben hatten. Es war spät am Abend, da holte uns die Mutter alle herein in das vermeintliche Sterbezimmer. Wir Kleinen nahmen mit heißen Tränen vom lieben Vater Abschied, der noch in der Nacht das heilige Abendmahl empfing. Nachdem die Mutter uns zu Bett gebracht hatte, suchte sie, wie sie mir später erzählte, eine verborgene Stelle auf, legte sich dort auf ihr Angesicht und bat Gott um ein ganz gehorsames Herz, mit dem sie sagen könne: „Herr, dein Wille geschehe!” So hielt sie lange an mit Beten und Rufen, bis es endlich ganz still in ihr wurde und sie ihr Jawort geben konnte zu dem Opfer, das sie bringen sollte. Kaum aber hatte sie in ihrem Herzen das Opfer vollbracht, da war es ihr, als bekäme sie einen freundlichen Zuspruch: „Nun sollst du ihn noch einmal behalten.” Und siehe da, wie sie von leiser Hoffnung getragen in das Krankenzimmer zurückkehrt, da merkt sie, daß der eigentümliche Schweiß eingetreten ist, der eine Wendung zur Genesung ankündigt. Noch ganz deutlich habe ich das glückliche Angesicht der Mutter vor Augen, wie sie sich morgens über unser Bett neigte und uns Kleinen mit der Freudenbotschaft begrüßte: „Liebe Kinder, der Vater wird wieder besser.”

War es bei dieser Krankheit oder bei der vorhergehenden, das weiß ich nicht mehr gewiß, aber das weiß ich, daß ich oftmals auf dem Bette des Vaters saß, als er in der Genesung begriffen war, und daß er ein kleines Buch in der Hand hatte, aus dem er mir den ersten Leseunterricht gab. Auch meine älteren Geschwister hatten alle aus demselben kleinen Buch lesen gelernt. Es enthielt zugleich den ersten Religionsunterricht in kurzen Sätzen mit lauter einsilbigen Wörtern und fing an: ‚Mein Kind, Gott ist sehr gut, er hat dich sehr lieb.’”

Treue Hauslehrer – einer von ihnen kam, von Zeller empfohlen, aus der Anstalt Beuggen am Rhein – setzten den Unterricht bei dem kleinen Friedrich und seinen Geschwistern fort. Sie waren auch die Begleiter der heranwachsenden Kinder bei den schönen Wanderungen den Rhein aufwärts bis ins Nahetal oder den Rhein abwärts in die westfälische Heimat zu der zwar gefürchteten, aber doch zugleich innig geliebten Großmutter. Vorübergehend wurde auch die Bürgerschule von Koblenz besucht und auf dem Heimweg zwischen der in ein katholisches und ein evangelisches Lager geteilten Schuljugend manch heißer Strauß ausgefochten.

Vornehme Gäste kamen ins Oberpräsidium, auch der preußische Kronprinz und die Kaiserin von Rußland. Aber die Mutter blieb dieselbe schlichte Frau und wurde es noch immer mehr. Einmal, als die Köchin erkrankt war und die zum Diner geladenen Gäste nicht mehr abbestellt werden konnten, auch keine andere Hilfe sich zeigte, blieb sie in der Küche und besorgte das ganze Essen, ohne sich ihren Gästen zu zeigen.

Unvergeßlich blieb auch ihren Kindern, was sie von ihrer Reise nach Berlin erzählte, wo ihr Mann, der zur Huldigungsfeier des Königs Friedrich Wilhelm IV. an den Hof gerufen worden war, abermals an Lungenentzündung krank lag. Als sie mit der Post bis Cassel gelangt war, hieß es: „Zwölf Stunden Aufenthalt.” Das war keine Kleinigkeit für die um ihren todkranken Mann geängstete Frau. Da ihr ein Paar Schuhe fehlten, machte sie sich auf den Weg in die Stadt. Die prunkenden Läden liebte sie nicht, und so suchte sie eine Nebengasse auf, in der sie das Schaufenster eines Schusters fand, mit einem einzigen Paar kleiner Schuhe besetzt. Sie trat ein und fand darin das vergrämte Gesicht einer Frau. Sie merkte gleich, daß sie die Schuhe kaufen mußte, ob sie ihr paßten oder nicht, und fragte teilnehmend, warum denn nur ein Paar Schuhe übriggeblieben seien. Da kam es heraus, daß der Mann an der Schwindsucht darniederliege und nicht mehr arbeiten könne. Bald saß die Oberpräsidentin am Bette des Kranken. Nachdem sie unten im Laden die Frau erfreut hatte durch den höchsten Preis, den sie irgend für die Schuhe anbringen konnte, erquickte sie nun vollends den Mann aus dem reichen Schatz ihres Herzens und stärkte ihn für seinen Weg aus der Zeit in die Ewigkeit. Darüber wurde ihr eigenes sorgenvolles Herz, das durch den langen Aufenthalt in doppelte Unruhe gebracht war, still. Und als sie nach zwei Tagen in Berlin ankam, fand sie ihren Mann schon auf dem Wege zur Genesung. Gerade in der Stunde, wo sie am Bette des armen kranken Schusters in Cassel gesessen hatte, war die Krisis eingetreten.

Solche Erfahrungen machten es immer mehr zu ihrem inneren Besitz und Grundsatz, durch keine Verlegenheit verlegen zu werden und durch keine Verdrießlichkeit verdrossen. „Es ist alles gut, was wir nicht selbst verschuldet haben”, pflegte sie oft zu sagen; und wo etwas besonders Schweres kam, sagte sie: „Gott hat gewiß etwas besonders Gutes damit im Sinn.” Darin war sie vollkommen eins mit ihrem Mann, der von Natur noch glücklicher veranlagt war als sie und an dem alle, die mit ihm in Berührung kamen, mit einer unbegrenzten Liebe emporsahen.

Schon ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt schrieb Professor Clemens Perthes in Bonn: „Ich fand in Koblenz viel verändert; statt des alten guten, aber schwachen P. einen jungen überaus kräftigen Mann als Oberpräsidenten, der mit eigener Hand überall eingriff und schon ein gutes Maß Schmutz aus dem alten Schlendrian aufgewühlt hat. Bodelschwingh ist aus Vinckes Schule, ebenso kräftig und sorgsam, aber gewiß viel besonnener als dieser, dabei von einem schönen, männlichen Äußeren, Meister in allen körperlichen Übungen, Ritter des Eisernen Kreuzes 1. Klasse. Durch sein einfaches Auftreten paßt er ganz vorzüglich für die Rheinlande, denen wohl nicht leicht ein größerer Verlust zugefügt werden könnte, als wenn der Oberpräsident wirklich, wie es heißt, Finanzminister werden sollte. Es muß eine Lust sein, unter Bodelschwingh zu arbeiten.” In der Tat gelang es der hingebenden Treue und Umsicht Bodelschwinghs im Bunde mit seinen von ihm hingerissenen Mitarbeitern, die rheinische Provinz, um die Frankreich mit so heißen Bemühungen geworben hatte, wieder fest mit dem Mutterlande zu verknüpfen.

Auch die Verhaftung des Cölner Erzbischofs von Droste-Vischering, die er infolge des Mischehen-Streites auf Befehl der Krone persönlich zu vollziehen hatte, konnte dem evangelischen Mann das Vertrauen der meist katholischen Rheinländer nicht entziehen. So tief waren alle trotz unvermeidlicher sachlicher Differenzen von der Rechtlichkeit seiner Person überzeugt.




Berlin. 1842 – 1848


Nach achtjähriger Tätigkeit in Koblenz wurde Ernst v. Bodelschwingh 1842 zur Leitung des Finanzministeriums nach Berlin berufen. Er hatte eigentlich schon damals das Ministerium des Innern übernehmen sollen, den wichtigsten Posten im preußischen Staate, doch hatte er es beim König durchgesetzt, ihm das Finanzministerium zu geben, dem zu jener Zeit noch außer den eigentlichen Finanzfragen ein großer Teil der Aufgaben unterstellt war, die später von dem Ministerium des Handels und der öffentlichen Arbeiten erledigt wurden. Die Erfahrungen als Landrat und in den verschiedenen Ämtern der Rheinprovinz hatten ihm gerade diese praktischen Gebiete besonders vertraut gemacht. Aber das Losreißen in Koblenz war sauer. Und nicht nur dem Oberpräsidenten wurde der Abschied von seiner ihm so ans Herz gewachsenen Provinz schwer, sondern auch seiner ganzen Familie. Der Rhein hatte es ihnen allen angetan. Und als der damals elfjährige Friedrich längst zum Mann und Greis geworden war, hörte man ihn noch manchmal vor sich hinsummen:

An den Rhein, an den Rhein,
Zieh’ nicht an den Rhein,
Mein Sohn, ich rate dir gut.
Da geht dir das Leben so lieblich ein,
Da blüht dir so freudig der Mut.

Siehst die Mädchen so frank
Und die Männer so frei,
Als wär’s ein adlig Geschlecht.
Gleich bist du mit glühender Seele dabei,
So dünkt es dich billig und recht.

Während der Vater mit den älteren Kindern schon nach Berlin vorausgeeilt war, reiste die Mutter mit den jüngeren Geschwistern hinterher. Schon seit Jahren war Karl, der um zwei Jahre ältere Bruder Friedrichs, leidend, und der kleine Friedrich hatte während der Reise nicht nur den Kanarienvogel, der in seinem Käfig an der Decke des Wagens hing, und die Meerschweinchen, die in einer Kiste mitgeführt wurden, zu versorgen, sondern auch als Krankenpfleger dem leidenden Bruder Handreichungen zu tun. Nach zehntägiger Fahrt in der Postkutsche wurde die neue Heimat erreicht und das Finanzministerium, das bis heute, wenn auch in veränderter Form, auf demselben Platze am Kastanienwäldchen steht, bezogen.

Von da war es ein kurzer Weg zum Joachimstalschen Gymnasium in der Burgstraße jenseits des Lustgartens. Die Aufnahme ging glatt vonstatten. Aber als es vom Lateinischen zum Griechischen vorwärts gehen sollte und das Gymnasium mit den außerordentlichen Ansprüchen an höchste Leistungen auf dem Gebiete der klassischen Sprachen auch an den kleinen Quartaner und Tertianer herantrat, da bedurfte es der größten Anspannung der Willenskraft, um das geforderte Ziel notdürftig zu erreichen. Erst nach zwei Jahren gab es ein Aufatmen. Statt des Finanzministeriums übernahm der Vater das Kabinettsministerium und im Jahre darauf außerdem auch noch das Ministerium des Innern. Damit war ein Wohnungswechsel verbunden, erst in die Wilhelmstraße, dann in die Straße Unter den Linden. Jetzt war der Weg zum Joachimstalschen Gymnasium zu weit geworden, und Friedrich bezog mit seinen Brüdern das damals in der Kochstraße gelegene Friedrich-Wilhelms-Gymnasium. Mit wachsender Lust, unter verständnisvollen Lehrern, ging es an die Arbeit, und lange, nachdem er die Schule verlassen hatte, verfolgte ihn das Heimweh nach den Bänken seines lieben Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums.

In der Freizeit wurde, wie einst in Koblenz, geturnt, geschwommen, gerudert und Schlittschuh gelaufen. Jetzt kam auch das Reiten hinzu. Einmal freilich setzte Cora, das Reitpferd seines Vaters, den jungen Friedrich im Tiergarten ab und trabte ohne ihn durch das Brandenburger Tor nach Hause. Von den älteren Brüdern lernte er das Fechten, das er so lieb gewann, daß er bis zum Jahre 1854 sich nicht von seinem doppelten Fechtzeug mit Rapier, Schutzhaube und Bandagen trennen konnte. Und zeit seines Lebens führte er über seinem rechten Auge einen Denkzettel mit sich in Gestalt einer Narbe, die ihm sein kleiner Bruder Ernst geschlagen hatte. Seiner Überlegenheit sicher, hatte der ältere Bruder, ohne sich durch Bandagen zu schützen, dem jüngeren das scharfe Rapier in die Hand gedrückt, und dieser, nicht faul, hatte ihm im kühnen Dreinschlagen den Hieb gerade über dem Auge beigebracht.

Bald kam auch das edle Weidwerk hinzu. Der König hatte seinem Minister für die Stunden der Erholung vor den Toren Berlins ein Jagdgebiet zur Verfügung gestellt. So liefen denn die Söhne hinter dem Vater her, erst um das geschossene Wild zu tragen, dann um auch selbst die Flinte in die Hand zu nehmen. Auf Hasen und Hühner wagte Friedrich den Schuß, aber auf den Rehbock nur ein einziges Mal. Die Augen des verendenden Tieres hatten es ihm angetan. Seitdem konnte er nicht wieder darauf anlegen.

Noch größer waren die Freuden der gemeinsamen Wanderungen mit dem geliebten Vater oder auch allein mit den Brüdern und Freunden. Dem Vater waren von Jugend auf weite Märsche Lust und Erholung gewesen. Noch vor den Freiheitskriegen war er einmal von Berlin nach Westfalen zu Fuß gegangen. Zugleich mit der Post hatte er Berlin verlassen, und eher als die Post hatte er die Heimat erreicht. Später, als Student in Göttingen, war er in einem Tage auf den Brocken gegangen, hatte dort am andern Morgen den Sonnenaufgang erlebt und war noch am selben Abend wieder in Göttingen gewesen. Zehn Meilen hin, zehn Meilen zurück, d. h. etwa 150 Kilometer in zwei Tagen. Als Referendar war er sogar einmal in elf Wochen von Westfalen durch Süddeutschland und die Schweiz an die oberitalienischen Seen bis Mailand gewandert und wieder zurück, ohne irgend ein Gefährt unter den Füßen zu haben als nur auf den schweizerischen und italienischen Seen das Deck der Schiffe, die ihn von einem Ufer zum andern trugen. So gab es auch jetzt mit den heranwachsenden Söhnen unter frohen Liedern eine Reise über Rheinsberg und Hohen-Zieritz mit den Erinnerungen an Friedrich den Großen und die Königin Luise nach der Insel Rügen. Eine Fußreise nach Süddeutschland machten die Brüder zusammen mit einigen Freunden ohne den Vater. 87 deutsche Burgen wurden begrüßt oder bestiegen, und in sieben deutschen Strömen bis hinunter zum Neckar wurde gebadet.

Unter solchen Freuden glitten die schalen Vergnügungen der Hauptstadt fast unbeachtet an Friedrich vorüber, zumal schon damals weitere und engere Freundschaftsbande ihn ganz in Anspruch nahmen. Schon als Quartaner auf dem Joachimstalschen Gymnasium war er für einen fälschlich angeklagten Klassengenossen, Gustav Bossart, eingetreten. Ritterlich war er zum Direktor vorgedrungen und hatte sich, wenn auch unter lautem Schluchzen, für die Redlichkeit des Beschuldigten verbürgt. Das hatte ihm zugleich das Herz des Direktors und seines Kameraden gewonnen.

Bald darauf erschütterten tiefe Zweifel an der Güte Gottes das Herz des jungen Bossart. Während sie unter dem Sternenhimmel miteinander dahingingen, gestand er sie seinem Freunde Friedrich. Es handelte sich um das alte Problem des ewigen Gerichtes und der ewigen Gnade. Was konnte Friedrich sagen? Das Firmament strahlte zu ihnen herunter, und während er sein Auge aufhob, kam es über ihn wie eine Erleuchtung: Ist nicht beides gleich unfaßlich, die Endlichkeit und die Unendlichkeit des Himmelsraumes? Wenn es mir wirklich gelänge, bis an sein Ende zu kommen, was würde ich dann jenseits seines Endes erblicken? „So”, sagte er seinem Freunde Bossart, „ist es auch mit den Fragen, die dich bewegen. Sie lassen sich beide nicht zu Ende denken. Es gibt im Reich der Gnade und im Reiche der Natur eine Grenze, die dem menschlichen Geist gesteckt ist, bei der das Denken aufhört und der Glaube anfängt, der, ohne die letzten Dinge ergründen zu können, Gott traut.” – Mit unermüdlicher Treue hat der Knabe, der Jüngling und der heranreifende Mann an dieser Freundschaft festgehalten; und wir werden ihr später noch einmal begegnen.

Unter den Häusern, die denen Bodelschwinghs besonders verbunden waren, stand obenan das Haus des damaligen Generals v. Diest. Der General war der einzige noch überlebende Bruder der Ministerin. Nach der Schlacht bei Auerstedt, an der er als junger Offizier teilnahm, hatte er sich überzeugt, daß nur von Osten her die Befreiung Preußens kommen konnte. So war er über Holland nach Rußland gegangen und in russische Dienste getreten. Als Vermessungsoffizier hatte er der russischen Armee ausgezeichnete Dienste getan, hatte die Feldzüge 1812 und 13 auf russischer Seite mitgemacht und war schließlich so sehr in das Vertrauen des russischen Kaisers hineingewachsen, daß dieser alle Mittel aufwendete, um ihn in seiner Armee zu behalten. Aber er konnte außerhalb der Luft seines befreiten Vaterlandes nicht leben. In preußische Dienste zurückgekehrt, war er schließlich Generalinspekteur der Artillerie geworden und lebte jetzt als „der schöne Diest”, wie die Berliner Jungen ihn nannten, in Berlin. Er war in der Tat eine hervorragend schöne Erscheinung, aber in dem stattlichen Manne lebte ein kindlich frommer, demütiger Sinn, der ganz mit dem Geist seiner Geschwister Bodelschwingh übereinstimmte. Seine drei Kinder standen in gleichem Alter mit den älteren Kindern des Hauses Bodelschwingh, und so oft die beiden Geschwisterkreise sich zusammenfanden, was jede Woche mehrmals geschah, gab es das fröhlichste Leben. „Denn die Diests konnten lachen aus dem Effeff.”

Zu dem innersten Freundeskreis gehörte in den ersten Berliner Jahren besonders auch der westfälische Ober-Präsident von Vincke, dessen erste Frau eine Kusine des Ministers von Bodelschwingh gewesen war. Klein und unscheinbar von Person, war dieser Mann vor und nach den Freiheitskriegen einer der größten Wohltäter seiner engeren und weiteren Heimat geworden. Er hatte einen klaren Blick für das Kleinste und für das Größte und entwickelte bei äußerster persönlicher Anspruchslosigkeit für die wichtigsten wie für die unscheinbarsten Dinge den gleichen Eifer. An den Akten pflegte er in echt preußischer Sparsamkeit jeden freien Streifen Papier abzuschneiden, um ihn zu seinen schriftlichen Notizen zu benutzen. Im blauen Kittel, um seinen darunter befindlichen guten Anzug zu schonen, visitierte er in Westfalen die Landräte und Amtleute, reiste auch in demselben blauen Kittel von Westfalen nach Berlin. Immer führte er eines oder mehrere dieser Kleidungsstücke bei sich, um sie seinen Freunden und Bekannten zu empfehlen oder zu schenken und ihnen bei der ersten Anprobe behilflich zu sein, die bisweilen nicht ohne Schwierigkeit vor sich zu gehen pflegte, da der Kittel ohne Knöpfe war und über den Kopf fix und fertig auf den Körper gezogen werden mußte. Er konnte keine Reise von Westfalen nach Berlin unternehmen, ohne sich mit allerlei Paketen zu beladen für die in Berlin studierenden Söhne seiner westfälischen Freunde und Bekannten.

Eine Reise, auf der Friedrich mit seinem Vater den alten aus Westfalen gekommenen Oberpräsidenten nach Eberswalde begleitete, blieb ihm unvergeßlich. Nachdem die Dienstgeschäfte erledigt waren, durcheilte der kleine über siebzigjährige Mann die Stadt, um die westfälischen Schüler der dortigen Forstakademie aufzusuchen und sich von ihnen Grüße und Aufträge für ihre Verwandten nach Münster zu holen. Als er 1844 starb und auf seinem Gute „Haus Busch” im westfälischen Lennetal begraben wurde, setzte man ihm auf seinen Grabstein nur die Worte: Vixit propter alios – er lebte für andere.

In demselben Sinne hatten auch Bodelschwinghs ihr Leben eingerichtet. Darum ging es im Hause einfach und sparsam zu. Wenn es freilich galt, bei festlichen Gelegenheiten den Staat zu vertreten, wurde nicht gespart. Der junge Friedrich hatte den Kandidaten, der seinen jüngeren Bruder unterrichtete, bisweilen auf seinen Gängen zu armen Leuten begleitet. Bei der Rückkehr nach Hause fiel ihm der Abstand zwischen den behaglichen und stattlichen Räumen seines Elternhauses und den Stuben der armen Leute schwer aufs Herz. Und einmal, als die Tafel für Gäste des Finanzministeriums festlich gedeckt und mit allerlei Prunkgeschirr und köstlichen Speisen besetzt war, fing der Knabe bitterlich an zu weinen im Gedanken daran, wie reichlich es hier zuging und wieviel statt dessen die armen Leute entbehren mußten. In beiden Fällen kostete es die Mutter Mühe, ihn über diesen Unterschied, unter dem er litt, zu beruhigen.

Bedeutsam für Friedrich v. Bodelschwingh und seine spätere Arbeit wurde es auch, als 1845 an einige Gymnasien und an die Kadettenanstalten die Aufforderung kam, zu Gespielen des Prinzen Friedrich Wilhelm, des Sohnes des Prinzen von Preußen, geeignete Altersgenossen vorzuschlagen. Unter den Vorgeschlagenen war auch der junge Bodelschwingh. Mit sieben oder acht Kameraden fand er sich von nun an wöchentlich einmal, namentlich Sonntags, bei dem jungen Prinzen ein, im Winter in Berlin, im Sommer in Babelsberg bei Potsdam.

Er erzählt darüber: „Wir waren zumeist zwischen 14 und 15 Jahren alt. Jedesmal, wenn ein neuer Gespiele hinzukam, begrüßte ihn der Prinz auf das zutraulichste und bot ihm gleich das Du an. Im Winter tummelten wir uns in dem geräumigen Turnsaal. Im Sommer, in Babelsberg, war unser Treiben meist noch viel freier und fröhlicher, weil wir nicht so unter den Augen des Generals von Unruh, des Gouverneurs des Prinzen, waren. Hier wurden nicht nur die gewöhnlichen Laufspiele gespielt, sondern wir durften uns wohl auch die Pferde aus dem Stall holen, große und kleine, und so, beritten, allerlei Spiele spielen, die sonst Knaben zu Fuß zu treiben pflegen. Am meisten Freude machte uns die kleine Flotte auf dem See, mit der wir unsere Seeschlachten lieferten. Ich erinnere mich noch, wie wir eines Tages den Prinzen Friedrich Karl angriffen, der eine kleine Fregatte kommandierte. Aber bei dem Versuch, mit meinem Freunde Zastrow zusammen die Fregatte zu entern, wurden wir von dem Prinzen durch verschiedene Eimer Wasser in die Flucht geschlagen.

Unser Prinz Friedrich Wilhelm war wohl der gesittetste unter uns Knaben, der in keiner Weise uns seine hohe Geburt fühlen ließ, sondern ganz wie mit seinesgleichen seine Spiele mit uns trieb und sich von uns Kleinen etwas gefallen ließ, da wir zumeist gelenkiger und hurtiger waren als er. Öfter kam auch Emanuel Geibel, um mit uns kleine Aufführungen einzuüben.”

Aber die tiefsten Erinnerungen und Einflüsse blieben doch auch in dieser Berliner Zeit dem Elternhause vorbehalten. Die Ministerin sah es bei dem mühevollen und unruhigen Leben ihres Mannes als ihre Hauptaufgabe an, Frau und Mutter des Hauses zu sein. Darum hatte sie sich schon bald nach ihrer Ankunft in Berlin, unter Hinweis auf ihren kränker werdenden Sohn Karl, beim König und der Königin die Erlaubnis ausgebeten, den Hoffestlichkeiten fern bleiben zu dürfen. Ihr Mann konnte sich diesen natürlich nicht entziehen. Aber ehe er ins Schloß fuhr, pflegte er vorher mit den Seinen die Abendandacht zu halten. Dann meldete er sich beim König und der Königin, ging nacheinander, bald den einen, bald den andern anredend, durch die Reihe der Festsäle, und manchmal, noch ehe die Kinder eingeschlafen waren, hörten sie den Wagen ihres Vaters wieder zurückkommen. Dann fand ihn der Rest des Abends wieder an seinem Schreibtisch; und früh um fünf Uhr war er aufs neue bei der Arbeit.

Nachmittags aber, nach dem einfach und eilig eingenommenen Mittagbrot und der kurzen daran sich anschließenden Ruhepause, fand sich die ganze Familie zum Kaffee zusammen, im Sommer im Garten, im Winter im geräumigen Saale. Dann gehörte der Vater ganz seinen Kindern, scherzte und tollte mit ihnen in größter Heiterkeit, als wenn niemals die ungeheure Last seines Amtes auf ihm gelegen hätte. Und wenn gelegentlich einmal sein Bruder Karl dazu kam, der ihm später im Finanzministerium folgte, dann mischte auch dieser sich in das fröhliche Spiel, und die Kinder sahen zu, wie die beiden schon ergrauten Brüder sich mit Kissen warfen. In der Erinnerung an solche Stunden sagte später der Sohn: „Ich glaube nicht, daß es einen so edlen, glücklich veranlagten Mann wie unseren Vater noch einmal gab.” Die Brüder unterhielten sich einmal über ihn. Der eine: „Solchen Menschen wie Vater gibt es nur einmal in Preußen!” Der zweite: „In Preußen? In Deutschland!” Der dritte: „In Deutschland? Nein, in Europa!” „Und”, fügte die Tochter hinzu, „dabei war er ein strenger Vater.”

Auch die Dienstboten nahmen an diesem Glück des Hauses teil. Durch den treuen Pastor Smend von Lengerich, der durch seine Briefe der seelsorgerliche Freund des Hauses geblieben war, wurde die Verbindung mit dem Tecklenburger Land wach erhalten, und mehr wie ein Tecklenburger Kind trat in Berlin in die Dienste des früheren Landrates und seiner Frau und wurde, auch wenn es sich verheiratet hatte, nicht vergessen, sondern als bleibendes Glied des Hauses angesehen.

Aber ohne seine Bürde war das Glück des Hauses nicht. Das ernste Leiden des dritten Sohnes Karl führte zu dauerndem Siechtum. Nie dachte die Mutter, obwohl sie selbst die Kaiserswerther Schwestern in die Charité eingeführt hatte, daran, sich eine Diakonisse zu Hilfe zu nehmen. „Die Schwestern gehören den Armen”, pflegte sie zu sagen. Die Kranken im eigenen Hause pflegte sie selbst. So hatte sie einen schwindsüchtigen Studenten aufgenommen und bis zum Tode gepflegt und blieb nun auch die Pflegerin ihres Sohnes, der in kindlichem Glauben sein Ende erwartete, bis seine Mutter ihm die Augen zudrücken konnte.

Auch ihr Bruder, der General von Diest, siechte dahin, und auch bei ihm, der seit langem Witwer war, hielt sie in treuster Pflege bis zuletzt aus. An dem Tage, an dem er starb, schrieb sie in ihr Tagebuch: „Todestag? – Gott sei Dank, daß ich mit Gewißheit sagen darf, nicht Todestag, sondern seliger Heimgang meines treuen, noch einzigen Bruders Heinrich. Sein großes schweres Leiden machte ihn keinen Augenblick zweifelnd an der Liebe seines Gottes. Des Herrn Kraft ist in dem Schwachen mächtig, und wie er ihn bekannt hat vor den Menschen als seinen Helfer, Erlöser und Seligmacher, so wird der Herr auch ihn jetzt bekennen vor seinem himmlischen Vater und sagen: ‚Gehe ein zu deines Herrn Freude!’ Seine Lagerstatt war mir ein stilles Heiligtum, und sein letzter Atemzug war für ihn der Anbruch eines Tages, wo er zum Anschauen dessen gelangt, was er hier geglaubt. Ich mußte ihn mit den Worten begleiten: ‚Der Erlöste des Herrn ist nach Zion kommen mit Jauchzen, seine Zunge wird voll Rühmens und sein Mund voll Lachens sein!’”

Ernster noch, aber doch von ähnlicher heiliger Freude begleitet, war der Weg zum Grabe ihres ältesten Sohnes. Er war einst als kleines Kind in Tecklenburg schwer krank gewesen. Da hatte ihn die Mutter in leidenschaftlichem Gebet Gott abgetrotzt: Er sollte ihr das Kind am Leben erhalten. Das Kind genas wirklich. Es war ein geweckter, für alle Eindrücke sehr empfänglicher Knabe geworden. Nun in Berlin schlug die Verführung der großen Stadt ihre Krallen in den hochbegabten, von Kraft und Schönheit strotzenden Studenten der Rechtswissenschaft. „Mit seinem Glauben verlor er die Kraft zu Kampf und Sieg,” schrieb später sein Bruder Friedrich. Die Mutter sah ihn bergab gleiten. Aber er ließ sich nicht halten. Bittere Selbstanklagen stiegen in ihr auf in Erinnerung an jene Krankheit und jenes Gebet in Haus Mark. Dazu kam die Sorge um ihren heißgeliebten Mann, an dessen Herzen der Kummer nagte. Jede Nacht blieb sie auf und wartete, bis ihr Sohn zurück war. Wenn sie endlich seinen Schritt hörte, kam kein Wort des Scheltens über ihre Lippen, nicht einmal einen Gedanken des Vorwurfs duldete sie in ihrem Herzen. Sie litt still um ihn und für ihn und klagte sich selbst an.

Eines Nachmittags trat er ganz ruhig ins Zimmer. Seine Hand war verbunden. In einem studentischen Lokal war er mit einem politischen Gegner seines Vaters aneinander geraten. Es war zu einer Forderung und zum Duell gekommen. Er wußte, daß sein Gegner, der ein sehr guter Schütze war, ihn töten wollte. Er selbst hatte in die Luft geschossen und hatte dann seine Hand mit der abgeschossenen Pistole vor die Brust gelegt. So war ihm die Kugel des Gegners, der auf die Brust gezielt hatte, in das Handgelenk gefahren.

Die Wunde schien ungefährlich. Aber als Friedrich, der in der dritten Nacht bei seinem Bruder gewacht hatte, um die Wunde, wie es damals Sitte war, mit Eis zu kühlen, dem Kranken mit anbrechendem Morgen ins Gesicht sah, erschreckten ihn dessen veränderte Züge. Eine Blutvergiftung hatte sich angebahnt, die schnell zum Tode führte. „Doch konnte er noch”, so schreibt Friedrich, „der Mutter sein ganzes Herz in allen Stücken aufschließen und dem Vater auch.” Am Morgen vor seinem Tode feierten Vater und Mutter und die beiden ältesten Geschwister, Frieda und Franz, mit dem Sterbenden zusammen das heilige Abendmahl. „Der liebe Pastor Snethlage” (Hofprediger des Königs) – schreibt Friedrich – „konnte in solchen Stunden mit seinem heiligen, stillen Ernst und seiner großen Einfachheit so nahe ans Herz dringen. Ich erinnere mich, daß es mir vorkam, als wäre der Himmel ganz nahe auf der Erde, wie ich es vorher nie gespürt. Am Nachmittag ging ich wieder in die Schule, da wir das Ende nicht für so nah hielten. Aber kurz vor vier Uhr, ehe die Schule schloß, hatte ich einen ganz besonderen Eindruck, den ich nicht beschreiben konnte. Es war mir so, als wenn die Stunde des lieben Bruders nun doch schon geschlagen hätte. Ich eilte nach Hause und in das Sterbezimmer hinein. Da saß die Mutter dicht an dem Bett, dem Bruder gegenüber. Sie hatte ihm eben die Augen zugedrückt, nachdem sie ihm in seinem letzten Augenblick zugerufen hatte: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöset, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!”

In dem Briefe, den Ludwig am Morgen des Duells an seinen Vater geschrieben hatte, hieß es: „In wenigen Stunden werde ich nun doch meinem Dir bekannten Gegner mit der tödlichen Waffe in der Hand gegenüberstehen, und nach dem, was vorausgegangen ist, ist nicht daran zu denken, daß die Sache ohne Unglück ablaufen könne. Ich erkenne es daher als meine heilige Pflicht, mich darauf vorzubereiten, daß ich vielleicht heute noch vor meinem Richter erscheinen und von meinem Leben Rechenschaft geben muß. Aber ich fühle auch, wie wenig ich darauf vorbereitet bin. Die Schuld meines ganzen Lebens lastet schwer auf mir, und ich kann mich nur zweifelnd und mit Zittern fragen, ob ich Gnade und Vergebung hoffen darf. Ich habe mich streng geprüft, welche Gefühle ich meinem Gegner gegenüber hege, und kann aufrichtig versichern, daß ich keinen Groll gegen ihn empfinde. Das Duell wird daher in keiner Weise ein Akt der Rache für mich sein. Ich schlage mich, weil ich mich nicht stark genug fühle, den herrschenden Standesansichten entgegenzutreten, weil ich einsehe, daß ich sonst eine ehrenhafte Stellung in der Welt nicht behaupten kann.

Es kann und muß mich sehr beruhigen, daß ich an dem Duell ganz schuldlos bin. Mein Gegner zwingt mich dazu, und es ist von meiner Seite durch meinen Sekundanten alles geschehen, was eine friedliche Beilegung herbeiführen könnte.

Ich komme nun zu der schwersten Pflicht des Abschiedes von Dir, treuer, bester Vater, von meiner lieben, guten Mutter und meinen Geschwistern. So sage ich Euch denn, teuerste Eltern, in dieser ernsten Stunde den wärmsten und aufrichtigsten Dank für die große Liebe, die Ihr mir mein ganzes Leben durch bewiesen habt, und bitte Euch, daß Ihr mir verzeihen wollt, wenn ich sie so schlecht vergelte. Ach, ich fühle es jetzt nur zu bitter, was ich an Euch verschuldet, und alle Sorge, aller Schmerz, den ich Euch bereitet, lastet schwer auf mir. Aus tiefstem Herzen und mit aufrichtigster Reue flehe ich daher für alle meine Verirrungen um Eure Verzeihung und versichere Euch vor Gott, daß in diesem Augenblick wenigstens die wärmste Liebe und Dankbarkeit gegen Euch mein Herz erfüllt und daß es mir unendlich schwer fällt, nur diesen schriftlichen Abschied von Euch nehmen zu können. Ach, ich bin Eurer Verzeihung ja gewiß; möchte ich ebenso gewiß der göttlichen Verzeihung sein können! Fleht für Euren armen sündigen Sohn, daß ihm Gnade werde!

Meine Geschwister beschwöre ich, daß ihnen mein Tod eine ernste Warnung fürs ganze Leben sein möge, die Sünde zu fliehen und einen ernsten, Gott wohlgefälligen Wandel zu führen. Ja, werdet Ihr alle der Trost meiner armen Eltern, liebt und verehrt sie und bedenkt, daß Ihr das nie wieder gutmachen könnt, was Ihr an ihnen verschuldet! Vergeßt nie die letzte Bitte Eures Bruders, der Euch beschwört, daß Ihr Euer ganzes Leben hindurch unsern teuern Eltern Freude bereiten möget und dadurch einen Teil der großen Schuld abtragt, die auf mir in dieser meiner letzten Stunde so schwer lastet.

So lebt denn zum letzten Male wohl, mein lieber guter Vater, meine innig geliebte Mutter, und Ihr alle, meine teuren Geschwister, und betet für Euren unglücklichen Sohn und Bruder Ludwig.” Diesen letzten Teil des Briefes schrieb sich jedes der Geschwister ab und führte ihn in seiner Bibel bei sich.

Zum siebenten Mal seit der Verwundung 1813 erkrankte der Vater an der Lungenentzündung. Neun Tage und Nächte hindurch brachte die Mutter an seinem Bett zu. Mehrere Male fanden die Kinder sie nebenan auf den Knien liegend. Der König schickte seinen Leibarzt. Am neunten Tag, als die Krisis eintrat, glaubte der Arzt, daß sich die Krankheit zum Tode neige. Er trat in das Zimmer, wo die Kinder auf die Nachricht des Arztes warteten. Der Arzt stand vorn, die Mutter etwas hinter ihm. Während der Arzt den Kindern mitteilte, daß ihr Vater nur noch kurze Zeit zu leben haben würde, schüttelte die Mutter hinter ihm leise lächelnd mit dem Kopf. Das sah Franz, der Älteste, und konnte sich eines zuversichtlichen Lächelns nicht erwehren. Nicht wenig befremdet über den gefühllosen Sohn verließ der Arzt das Haus. Aber die Mutter, die aus vielfacher Erfahrung heraus auf dem Gesichte des Kranken die Wendung, nicht zum Tode, sondern zur Genesung gesehen hatte, behielt recht.

Kaum hergestellt, hatte der Minister auf dem ersten vereinigten Landtage der preußischen Provinzial-Abgeordneten die Krone zu vertreten. Heinrich von Treitschke, der Geschichtsschreiber Preußens, sagt darüber: „Eben von schwerster Krankheit genesen, fast allein, selbst ein parlamentarischer Neuling, bot v. B. dieser stürmischen Versammlung die Stirn. Es ergab sich, daß er allein unter allen Ministern ein ungewöhnliches Rednertalent besaß. Höchst unscheinbar gekleidet, fiel er sogleich auf durch seine hohe kriegerische Gestalt und durch den treuherzigen Blick seiner offenen großen Augen. Ursprüngliche Kraft, unschuldige Frische sprachen aus seinem ganzen Wesen, und General von Gerlach, der einen „liberalen” Minister durchaus nicht liebte, sagte wohl: „So ungefähr muß Adam ausgesehen haben.” Der letzte hervorragende Vertreter des alten absolutistischen Beamtentums, hielt er sich verpflichtet, die Willensmeinung des Königs, sofern sie nur dem Rechte nicht offenbar widersprach, mit der ganzen Selbstverleugnung des altgermanischen Vasallen zu verteidigen. Er hatte bei der Beratung des Patents immer wieder und wieder Bedenken hervorgehoben, die ihm sein schlichter Geschäftsverstand aufdrängte, aber der Monarch hatte gesprochen, und an seinem Willen ließe sich nichts mehr ändern.”




In der westfälischen Heimat. 1848 – 1849


Dreiviertel Jahre später, 1848, brach die Revolution aus, und Bodelschwingh erhielt seine Entlassung. In tiefstem Schmerz trat er den Weg in die westfälische Heimat an. In Minden auf dem Bahnhof wurde der verabschiedete Minister erkannt, und ein Mann spottete hinter ihm her: „Oller Ex, oller Ex.” „Laßt ihn spotten,” sagte er zu seinen Kindern, „es ist uns gut so.”

Der König erwog ernstlich, Bodelschwingh als leitenden Minister zurückzurufen, und richtete eine Vorfrage an ihn, ob er bereit wäre zu kommen. Bodelschwingh aber lehnte in einem ausführlichen Schreiben ab. Diese Tatsache widerlegt stärker als alles andere den später gegen Bodelschwingh erhobenen Vorwurf, als hätte er am 19. März die Zurückziehung der Truppen veranlaßt. Nie würde Friedrich Wilhelm IV. einen Minister zurückgerufen haben, dem er die tiefe Demütigung der königlichen Würde zur Last legen mußte, die eine Folge der Zurückziehung der Truppen war.

Zeitweise beschäftigte den verabschiedeten Minister der Gedanke, mit den Seinen nach Amerika auszuwandern. Aber dann entschloß er sich, die heimatliche Scholle zu pflügen, und gerade jetzt nach den schmerzlichen Erlebnissen brach die glücklichste Zeit für die Familie an. Das alte Gutshaus in Velmede war schon vor den Freiheitskriegen abgebrochen worden und hatte längst durch ein neues ersetzt werden sollen. Da aber infolge des Krieges ein großer Teil des Vermögens verloren gegangen war, so war der Neubau bis jetzt unterblieben. Nur die alte, strohgedeckte Wagenremise stand noch, die sich einst die Eltern des Ministers zum Wohnhaus eingerichtet hatten und in der jetzt der Förster wohnte. Hier zog nun die Familie ein.

Bald ging es an den Bau eines einfachen einstöckigen Landhauses, an das Zuschütten des alten Hausgrabens und an die Einrichtung des neuen Blumen- und Obstgartens. Überall legten der Vater und seine Söhne selbst mit Hand an. Dazwischen aber tauchten all die alten Freuden aus Koblenz und Berlin wieder auf. In der Seseke, dem kleinen Fluß, der das Gutsland durchschnitt, wurde geschwommen, gefischt und gerudert; auch die Jagdflinte wurde wieder über den Rücken geworfen und mit dem geliebten Vater um die Wette das Land in die Länge und Breite durchstreift.

Aber inzwischen mußten weitere Schritte ins Leben hinein getan werden. Der Konfirmationsunterricht bei dem Hofprediger Snethlage in Berlin war unterbrochen worden. So brachte der Vater den nun schon siebzehnjährigen Friedrich nach Unna. Pastor von Velsen, als Mensch und als Christ eine gleich anziehende Persönlichkeit, wollte den Primaner nicht mit den so viel jüngeren Konfirmanden zusammen unterrichten und gab ihm auf seinem Zimmer die Konfirmationsstunden. „Das waren selige Wege nach dem lieben Unna hinaus,” schrieb er, „und tiefer als die Konfirmationsfeier selbst blieben diese Stunden in der Seele haften.”

Dann kam die Aufnahme in das Gymnasium zu Dortmund. Aber heimisch wurde er hier nicht. Dazu war die Heimat zu nah. Einige Male machte er am Sonntag zu Fuß den weiten Weg von Dortmund nach Unna, um den Konfirmator wiederzusehen, dessen Predigten ihm mehr zu Herzen gingen, als es sonst ein menschliches Wort bis dahin getan hatte. Aber für gewöhnlich ging es mit den Brüdern Franz und Ernst jeden Sonnabend Nachmittag auf Fußwegen quer durch die Felder die drei Stunden weit zu Eltern und Geschwistern nach Velmede. „Dabei begegnete es mir einmal,” erzählt er, „als das Elternhaus aus der Ferne winkte, daß ich mich wiederholt umblickte, weil es mir vorkam, als ob ein Reiter auf dem schmalen Fußpfade hinter mir her galoppierte, bis ich erkannte, daß es mein eigenes Herz war, welches so laut vor Freude und Wonne klopfte beim Anblick des geliebten Vaterhauses.” Und am letzten Busch kamen Vater und Mutter und die beiden Schwestern Frieda und Sophie den Brüdern entgegen. Dann ging es gemeinsam ins Elternhaus, das vorher nie so genossen worden war als jetzt, wo die Söhne nicht jeden Tag darin zubringen konnten.

Am Sonntagmorgen stand der Vater, der in gesunden Tagen nie den Gottesdienst versäumte, für den Weg in die Kirche nach Methler bereit, und die Kinder folgten ihm, während die Mutter sich alle vierzehn Tage mit den Mägden abwechselte. Am Nachmittag ging es dann unter die Eichen des Mühlenbruchs, wo die Söhne einen lauschigen, stillen Sitzplatz für die Eltern und Schwestern errichtet hatten und wo nun an dem flackernden Feuer die Kartoffeln geröstet wurden. „Wie konnte der Vater jubeln durch den Mühlenbruch wie ein Kind!” schreibt der Sohn. Und in einem Brief der Tochter Sophie heißt es: „An jeder Blume, jedem Blatt und Strauch hatte er seine kindliche Freude. Es ist ja auch ein wahrhaft erfrischender Anblick, den Mann zu sehen, der durch alle Unnatur der Welt, alle Schlechtigkeit und Niedrigkeit der Menschen, alle die ertötendsten Geschäfte des täglichen Lebens und durch viel bittere Enttäuschungen sich hindurchgerettet und sich den reinen, heiteren, ungetrübten Sinn eines Kindes zu erhalten gewußt hat. So heiter, frisch und kräftig habe ich ihn eigentlich noch nie gekannt.”

Ostern 1849 entließ das Gymnasium in Dortmund den jungen Friedrich von Bodelschwingh mit dem Zeugnis der Reife. Da er nur ein halbes Jahr in Berlin und nur ein Jahr in Dortmund die Prima besucht hatte, so würde er am liebsten noch ein halbes Jahr auf das geliebte Friedrich-Wilhelms-Gymnasium nach Berlin zurückgekehrt sein, um trotz des guten Dortmunder Zeugnisses die klassischen Studien zu vertiefen. Aber der Vater riet ab.




Die Ausbildung





Als Eleve im Oderbruch. 1849–1851




„Meine landwirtschaftliche Lehrzeit ist unzweifelhaft die reichste meines Lebens gewesen und wird mir auch wahrscheinlich immer die angenehmste Erinnerung bleiben, sodaß ich sie um keinen Preis missen möchte, sollte ich auch jede beliebige andere Karriere ergreifen. Wenn Zeit und Mittel es gestatten, so will ich einem jeden unbedingt raten, dem Juristen sowohl wie dem Forstmann und Bergmann, vor allem aber dem zukünftigen Soldaten, daß er sich durch ein landwirtschaftliches Lehrjahr für seinen späteren Beruf vorbereitet.”

    F. v. B. an seinen Vater 1853.

Was nun werden? Schon während der Zeit in Dortmund hatte Bodelschwingh gelegentlich ein Bergwerk befahren und als Hauer mitgearbeitet. Eigentlich gefesselt hatte ihn diese Arbeit nicht. Sollte er Jura studieren? Aber die unsicheren politischen Verhältnisse schreckten ihn ab. Dagegen brachte ihn die vielfache Beschäftigung mit seinem Vater in Garten, Feld und Wald zu dem Gedanken, zunächst einmal die Landwirtschaft zu ergreifen. Um sich für die praktische Tätigkeit als Landwirt vorzubereiten, ging er zum Studium der Botanik und der Physik für den Sommer 1849 nach Berlin, wo er außer den beiden genannten Fächern Philosophie und Geschichte hörte. Im Herbst 1849 brachte ihn dann sein Vater auf seine neue Arbeitsstelle.

„Ich besinne mich noch darauf,” schreibt er, „daß es gerade die Nacht vom 14. auf den 15. September war, wo wir in Begleitung meines neuen Lehrherrn, des alten Koppe, zu Wagen von Berlin nach Kienitz im Oderbruch fuhren. Die Nacht war für mich sehr lehrreich, weil der alte Herr meinem Vater, den er schon als früheren Finanzminister kannte und liebte, viel aus seinem Leben erzählte. Der alte Koppe war in der Tat eine ausgezeichnete und in vieler Beziehung für meinen neuen Beruf vorbildliche Persönlichkeit. Er war auf einem Gute in der märkischen Lausitz Hütejunge gewesen. Sein Gutsherr hatte ihn als einen munteren, geweckten Knaben, der in allen Stücken besonders treu war, kennen gelernt und liebgewonnen. Er hatte ihm dann zu seiner weiteren Ausbildung verholfen, sodaß er später zum Gutsverwalter aufrückte.

Wir fuhren in jener Nacht durch die Güter eines der reichsten Herren dort in der Mark. Diese Güter hatte der alte Koppe lange Zeit verwaltet und hatte seinem Herrn in seinen Vermögensverhältnissen durch große Umsicht und Treue sehr fortgeholfen. Als dann die beiden wertvollen königlichen Domänen Kienitz und Wollup bei Küstrin pachtfrei wurden, reichte ihm sein Herr gegen die Teilung des Reingewinnes die Mittel dar, die Pachtung anzutreten. Mit großen Opfern kaufte sich Koppe später von dieser Verpflichtung, den Reingewinn zu teilen, frei. Trotzdem brachte er es so weit, daß er seiner Frau das Gut, auf dem er als Hütejunge gedient hatte, zum Geburtstagsgeschenk machen konnte und daß er seine sämtlichen Söhne und Schwiegersöhne ebenfalls entweder mit einem großen Gut oder mit großartigen Pachtungen auszustatten in die Lage kam.

Dies alles verdankte er nächst dem Segen Gottes seiner großen Treue im Kleinen und seiner pünktlichen Sorgfalt. Er wurde der Begründer des landwirtschaftlichen Rechenwesens in seiner jetzigen Genauigkeit, wodurch man in die Lage gesetzt ist, von jedem Zweige der Landwirtschaft am Schluß des Jahres genau zu wissen, was er an Gewinn oder Verlust gebracht hat. Während, wie Koppe in jener Nacht erzählte, sein Vorgänger z. B. keine Ahnung gehabt hatte, ob er bei seiner Pferdezucht gewinne oder zusetze, – das zweite war tatsächlich der Fall – gab sich Koppe über jeden einzelnen Betrieb seiner Wirtschaft genau Rechenschaft. Bis in sein hohes Alter behielt er die gleiche Pünktlichkeit bei: Punkt fünf Uhr stand er fertig angezogen an seinem Schreibtisch und erwartete, daß auch auf denselben Glockenschlag die Inspektoren und Eleven hereintraten, um die Arbeitseinteilung zu besprechen. Dabei sorgte er treulich für seine Arbeiter und ging ihnen auch in seinem kirchlichen Leben mit gutem Beispiel voran.

Ich wurde zunächst seinem zweiten Sohn, dem er die Bearbeitung der Domäne Kienitz übertragen hatte, als Eleve anvertraut. Die Domäne Kienitz war damals zwar nicht eins der größten, aber doch eins der bestbewirtschafteten Güter des Oderbruchs. Auch war sie das einzige Gut des Oderbruchs, das eine Zuckerfabrik besaß. Von den 2200 Morgen wurden jedes Jahr 700 mit Zuckerrüben bestellt. Der Viehbestand setzte sich zusammen aus 40 Ackerpferden, 24 Kühen, 100 Ochsen und mehreren 1000 Schafen. Das Gut lag nur eine halbe Stunde von der Oder entfernt. Die breiten mit Weiden bestandenen Wassergräben, die das Gut durchzogen, und ein einziger Sandhügel von 2 bis 3 Morgen, der mit Birken und Tannen bepflanzt war, bildeten die geringe Abwechslung in dieser einförmigen, aber überaus fruchtbaren Ebene.

Mein Prinzipal war in einiger Verlegenheit, was er mit dem etwas ungewöhnlichen Lehrjungen anfangen solle, der als Studiosus von der Universität kam und von dem er zu denken schien, er würde besondere Ansprüche machen. Auf dem ersten Spaziergang mit ihm ins Feld hinaus kamen wir zu den Ochsenpflügern, die den Acker für die Rüben, die im nächsten Frühjahr gelegt werden sollten, aufbrachen. Es war eine lange außerordentlich dürre Zeit gewesen und darum der Acker so hart wie eine Dreschtenne. Die sogenannten Rigolpflüge waren jeder mit fünf starken Ochsen bespannt, zwei hinten und drei vorn, und der von ihnen umgebrochene Acker war anzusehen wie ein Feld voller aufgebrochener Steinblöcke. Die einzelnen Erdschollen waren zum Teil zentnerschwer. Ein Mann mußte den Pflug führen, während ein anderer die Ochsen langsam antrieb, die unter beständigem Keuchen und Stöhnen einen Erdblock nach dem andern herausholten.

Ich fragte meinen Prinzipal, ob ich das Pflügen wohl lernen dürfe. Diese Frage schien ihm eine große Erleichterung zu gewähren. Denn ihm war nun aus der Verlegenheit geholfen, und ich war an der Arbeit. Etwa vier Wochen lang habe ich dann einen solchen Rigolpflug geführt. Das war freilich keine leichte Aufgabe. Die Ochsen wurden zweimal am Tage umgespannt, aber der Pflüger mußte von morgens fünf bis abends acht Uhr aushalten, und es war damals in den Septembertagen noch eine recht heiße Sonnenglut. Die Knöchel schwollen mir vor Anstrengung dick an, und ich war bald von der Sonne braun gebrannt trotz einer großen grünen Mütze, die ich auf dem Kopfe trug. Hierauf lernte ich auch mit den Pferden pflügen, deren immer sechs vor einen Pflug gespannt waren, drei in einer Reihe, wobei ich gleichzeitig den Pflug führen und die Pferde regieren mußte.

Nun ging auch die Herbstbestellung an, und ich lernte mit vier Pferden die Eggen im Kreise herumschleudern, um die steinharte Erdkruste zu zerkleinern. Inzwischen hatte auch die Rübenernte begonnen, die bis tief in den November hinein dauerte. Alle Arbeit, die vorkam, machte ich mit. Am sauersten wurde mir das Säelaken, in das ein halber Scheffel Roggen eingebunden war und mit dem ich den tiefen Acker durchschreiten mußte. Hierbei wurde ich völlig lahm. Als das Frostwetter eintrat, bekam ich meine Arbeit auf dem großen Pachthof, wo nun tüchtig gedroschen wurde. Drei Drescher waren jedesmal zusammen auf dem Scheunenflur. Drei Tage wurde gedroschen und den vierten aufgemessen. Das Aufmessen hatte ich besonders zu beaufsichtigen. Die Drescher bekamen von Roggen und Weizen jedesmal den 15. Scheffel, von Hafer und Gerste jedesmal den 16. zum Eigentum. Das war ihr Lohn. Geld bekamen sie nicht. Daneben hatte ich die Futterausgabe und die Aufsicht über die Ställe. Hier bei den Ochsen, Schafen und Kühen war es im Winter gar heimlich und angenehm.

Mitunter galt es tagelang auf dem Kornboden stehen und das Getreide einmessen, das auf die Oder-Kähne verladen wurde, um nach Stettin und anderen Hafenstationen ausgeführt zu werden. Eine andere Winterarbeit war das Köpfen der Weiden. Abgesehen von den Gartenbäumen ist fast der einzige Baum des Oderbruchs die Weide, die die zahllosen Gräben der Niederungen begrenzt. Jedes Jahr wurde eine bestimmte Abteilung dieser Weiden abgeholzt, d. h. nur die drei- bis vierjährigen, und zwar über dem Kopf des Stammes. Diese Arbeit wurde mit einem kleinen scharfen Beil verrichtet und kostete mich erst einige Übung, denn die einzelnen Äste durften nicht splittern.

Sobald der Frühling ins Land kam, ging es an die Vorbereitung der wichtigsten Arbeit des ganzen Jahres, an die Rübenbestellung. Hierbei lernte ich eine heilsame Kunst, nämlich die, treu auf dem bestimmten Posten auszuharren. So verlangte es der alte Herr Koppe von allen seinen jungen Leuten. Nachdem der Acker zubereitet war, wurde zunächst der Same mit Hilfe einer sogenannten Hopser-Schnur gelegt. Die Schnur hatte hundert Knoten in gleich weitem Abstande. Je zwei Knoten, die mit bestimmten Bändern bezeichnet waren, gehörten immer einer Samenlegerin. Diese hatte da, wo ihre beiden Knoten waren, zwei Löcher zu graben, den Samen hineinzulegen, wieder zuzuscharren und mit dem Fuß daraufzutreten. An den beiden Enden der langen Schnur aber standen zwei Leute mit dem Hopser. Diese riefen jedesmal, wenn die Schnur weiterrückte, „Hopp”. Auf solche Weise mußten 700 Morgen mit Samen belegt werden – eine Arbeit, die die größte Sorgfalt erforderte. Es galt aufzupassen, daß keine der Samenlegerinnen zurückblieb und keine unordentliche Arbeit machte. Die größte Freude machte es mir, in den langen, langen Streifen die kleinen Rüben regelmäßig aufgehen zu sehen, und der Kummer war groß, wenn irgendwo schlecht gearbeitet worden war. Hatte man sich die Reihenfolge der einzelnen Legerinnen aufgeschrieben, so konnte man noch nach Wochen wissen, an wem die Schuld lag. Dann kam das Verhacken und Verziehen und abermalige Verhacken der Rüben. Vierzehn Wochen habe ich so ununterbrochen aushalten müssen, ohne mittags nach Hause zu kommen. Mein Mittagessen bekam ich in einem kleinen Korb an irgend einen Grabenrand hinausgeschickt.

So eintönig diese Arbeit scheint, so machte sie mir doch große Freude. Ihre Eintönigkeit erleichterte ich mir dadurch, daß ich in der Frühstücks- und Mittagspause meinen armen Rübenhackerinnen schöne Geschichten vorlas. Auch führte ich in meiner Tasche entweder Matthias Claudius oder eine andere Sammlung bei mir und lernte, hinter meinen Arbeiterinnen auf- und abgehend, unbemerkt manches schöne Gedicht auswendig. Hiernach kamen die Klee- und die Heuernte und dann die Getreideernte mit ihrer heißen Arbeit und ihrer Freude des Einfahrens, woran alle vierzig Pferde beteiligt waren.

Als wir eben die Rübenernte begonnen hatten, gab es für mich ein wichtiges Ereignis. Der Krieg gegen Österreich drohte auszubrechen. Meine sämtlichen älteren landwirtschaftlichen Mitarbeiter, auch der erste Inspektor, ja selbst der ältere Bruder meines Prinzipals, der Administrator von Wollup, wurden zu den Fahnen einberufen. So blieb meinem Prinzipal nichts anderes übrig, als mich zum ersten Inspektor avancieren zu lassen. Die Not ist ja der beste Lehrmeister. Ich bekam jetzt ein Reitpferd und hatte mich vom Morgen bis zum Abend tüchtig zu tummeln. Am Abend hatte ich die Löhne auszuzahlen, und oft saß ich bis tief in die Nacht, um mit meiner Rechnung in Ordnung zu kommen. Denn es war eine Haupttugend des alten Koppe, daß er eine so sorgfältige Rechnungslegung verlangte und von jedem Arbeiter, jedem Ochsen, jedem Pferd jeden Abend genau aufgeschrieben haben mußte, was und worauf sie gearbeitet hatten.

Mitten in diese tapfere Arbeit, die mir viel Freude machte, kam die Nachricht, daß mein Vater, als die Kriegswolken sich dichter zusammenzogen, sich zum Eintritt in die Armee gemeldet und sich sein früheres Regiment als Oberst ausgebeten hatte. In einem seiner Briefe kam es mir so vor, als ob er dächte, mir wäre die Not des Vaterlandes gleichgültig. Ich trat mit diesem Briefe zu meinem Prinzipal und sagte: „Es hilft mir nichts, ich muß mich heute noch in Berlin als Soldat melden.” Als ich in Berlin bei meinem Vater eintrat, sagte er: „Dein Bruder Franz hat sich bereits bei den Garde-Jägern gemeldet; ich wünsche, daß auch du dort eintrittst.” Ich fuhr sofort nach Potsdam, meldete mich beim Kommandeur des Jägerbataillons und wurde als Freiwilliger angenommen. Um dies meinem Vater mitzuteilen, kehrte ich noch einmal nach Berlin zurück. Als ich bei ihm eintrat, war er sehr traurig. Denn soeben war die Nachricht gekommen, daß sich Preußen in Olmütz vor Österreich gedemütigt hatte und das Schwert wieder in die Scheide gesteckt wurde.

Nun sorgte mein Vater dafür, daß meine Meldung für ungültig erklärt wurde und ich wieder auf mein Arbeitsfeld zurückkehren konnte. Noch an demselben Tage langte ich um Mitternacht auf meinem todmüden Pferde in Kienitz an zur großen Freude meines Prinzipals, um am andern Morgen wieder meinen Dienst zu übernehmen. Als nach einiger Zeit auch meine Kollegen zurückkehrten, wollte mein Prinzipal mich nicht wieder Lehrling werden lassen, sondern schickte mich für den Rest meiner Lehrzeit nach Wollup zu seinem Bruder, einem äußerst liebenswürdigen Manne, dem ich das Hauptbuch abschließen half und bei dem ich auch die in Kienitz nicht vorkommenden Zweige der Landwirtschaft kennen lernte, namentlich die dort blühende Branntweinbrennerei.

An herzlicher Freundlichkeit in beiden Familien Koppe hat es mir nicht gefehlt. Im übrigen aber war das Leben für mich mit viel Kampf und Not verbunden. Das Dasein der jungen Landwirte ist meist sehr traurig, weil sie vielfach für höhere Genüsse keinen Sinn haben. In die Kirche ging niemand. Das war insofern freilich kaum recht zu ändern, weil es mit dem Geistlichen in Kienitz überaus dürftig aussah. Ich ging aber aus Trotz, um nicht als Feigling dazustehen, und gerade weil ich darüber ausgelacht wurde, mitunter in die Kirche. Morgens beim Frühstück las ich meinen Tacitus, römische Geschichte. Im Hause war eine Schwester des Professors Steinmeyer, ein vortreffliches Mädchen, die „Fränzchen” genannt wurde. Mit ihr spielte ich, während die andern Karten spielten, manche Partie Schach. Denn für das Kartenspiel hatte ich mich nicht erwärmen können; ich hatte es wohl einige Male versucht, wurde aber, weil ich keinen Ernst bei der Sache zeigte, abgesetzt. Am liebsten ging ich Sonntags still durch die Felder, die ich hatte bestellen helfen, oder auch wohl an das Ufer der Oder, wo ich vom Deich eine liebliche Aussicht über die weiten fruchtbaren Fluren genoß. Der Abschied von diesem arbeitsreichen Ackerfeld wurde mir immerhin nicht ganz leicht, als es im Frühjahr 1851 galt, des Königs Rock anzuziehen, um mein freiwilliges Soldatenjahr abzudienen.”




Als Soldat in Berlin. 1851


Am 1. April 1851 trat ich beim Kaiser-Franz-Grenadier-Regiment ein und ließ mich gleichzeitig in der Universität als Student einschreiben, diesmal als Jurist, während ich vor zwei Jahren Philosoph gewesen war. Auf eine gemütliche Wohnung kam es mir ganz besonders an, weil ich wußte, wie wichtig das für einen Studenten ist, damit ihm sein Zimmer angenehmer bleibt als die Kneipe. Auch liebte ich damals sehr die Romantik, sodaß es mir wichtig war, in dem alten Berlin eine romantische Wohnung zu bekommen. Ich fand eine solche in der Klosterstraße, gerade gegenüber der alten Klosterkirche.

Am Anfang waren meine Eltern noch in Berlin, da mein Vater Mitglied des Landtages war. Aber bald kehrten sie nach Westfalen zurück. Ich hatte sie zum Abschied auf den Bahnhof geleitet, von dem sie den Nachtzug benutzten, und ich erinnere mich noch deutlich, daß es mir eigentümlich bange zu Mute war, als ich beim Schein der Laternen durchs Brandenburger Tor zurückwanderte in die große, böse, versuchungsvolle Stadt, in der ich einen wirklich treuen Freund nicht besaß.

Mein früherer Freund, Gustav Bossart, war zwar auch Student in Berlin. Aber unsere Wege waren weit auseinander gegangen, und für meine Seele hatte ich an ihm keinen Halt mehr. Ja, ich mied ihn sogar. Meine Kameraden aber unter den Freiwilligen waren meistenteils recht lose Gesellen, die nichts als Narrenteidinge im Kopfe hatten. Nur einer war darunter, der Sohn eines armen Schäfers aus Pommern, der sich mit eisernem Fleiß durchgearbeitet hatte, um Theologie zu studieren. Er stand leider bei einer andern Kompagnie. Aber ich sah ihn doch mitunter, und er erzählte mir einmal mit großer Freude, daß ihn sein Hauptmann habe zu sich kommen lassen, weil er sein blasses und müdes Gesicht bemerkt hatte, – er mußte sich damals aufs äußerste durchhungern – und wie er ihn aus eigenen Mitteln aufs freundlichste versorgt und ihm einen Mittagstisch verschafft habe. Auch fand ich einen unter unsern Unteroffizieren, der sich vor der gewöhnlichen Sorte auszeichnete und für seine Leute vortrefflich sorgte.

Mein Kompagnieführer war mein Vetter, August von Witzleben, ein strammer Soldat, der es mit der Ordnung sehr genau nahm, aber von dem Einen, was not ist für seine Soldaten, nichts wußte. Interessant war mir jedesmal der Wachdienst, und ich freute mich immer, wenn ich an die Reihe kam. Am interessantesten war meine letzte Wache, die mir mein Vetter offenbar aus besonderer Freundlichkeit ausgesucht hatte, nämlich vor dem Palais des alten Kaisers, des damaligen Prinzen Wilhelm. Es war die zweite Nacht vor der Enthüllung des Denkmals Friedrichs des Großen. Ich hatte den Vorzug, in der frühen Morgendämmerung, ehe noch jemand auf der Straße sich blicken ließ, die Probe der Enthüllung vornehmen zu sehen und früher als andere das Bild des alten Fritz zu schauen.

An demselben Tage, vor meiner Ablösung, war ein gewaltiges Gedränge vor dem prinzlichen Palais. Viele fremde Offiziere fuhren in ihren Wagen vor, und ich mußte beständig auf meiner Hut sein. Unter andern kam auch mein alter Freund, Prinz Friedrich Wilhelm, und ich hatte die Freude, auch vor ihm mein Gewehr zu präsentieren. Er sah mich einen Augenblick scharf an, erkannte mich aber offenbar nicht in meinem Soldatenrock. Als er fort war, kam mit einem Male mitten aus dem Getümmel des zusammengedrängten Volkes mutterseelenallein ein kleines Stümpchen von höchstens zwei Jahren die Rampe heraufgestiegen, gerade auf mich los. Da es in Gefahr war, von den Wagen überfahren zu werden, nahm ich es bei der Hand und führte es herunter, zum großen Jubel des zuschauenden Publikums.

Am folgenden Tage stand das ganze Gardekorps teils auf dem Schloßplatz, teils auf dem Opernplatz in Parade, und ich erinnere mich noch deutlich, wie ich des Königs Stimme selbst vernahm, als er laut rief: „Achtung!”, ihm nach dann die Generale: „Achtung!” und so herunter bis zu unserm Regimentskommandeur immer eine Stimme nach der andern: „Achtung!” und dann: „Präsentiert das Gewehr!” In demselben Augenblick fiel der Vorhang vom Denkmal des alten Fritz, und 101 Kanonenschüsse donnerten zum Zeichen, daß des großen Königs Andenken erneuert worden war, und in begeisterter Stimmung marschierten wir im Paradeschritt vor des Königs und sämtlicher Prinzen und Prinzessinnen Augen an dem Denkmal vorüber und die Linden hinunter.

Kurze Zeit danach hatten wir am Kreuzberg unser großes Feldmanöver zu Ehren des russischen Feldmarschalls Paskewitsch. Dieses Manöver war nach Gottes Führen und Regieren für meinen ganzen Lebensweg von Entscheidung. Es war ein heißer Tag. Nach längeren, scharfen Bewegungen, zum Teil im Laufschritt, hieß es plötzlich auf dem weiten zugigen Felde: „Halt! Gewehr ab!” Da standen wir. Von der Stunde ab fühlte ich mich nicht wohl, ohne daß jedoch sofort eine Krankheit ausgebrochen wäre. In meinem jugendlichen Trotz wollte ich nicht nachgeben und machte an den folgenden Tagen noch die Felddienstübungen mit. Aber es wurde mir immer saurer, und ich litt an Atemnot. Die Atemnot glaubte ich am besten durch kräftige Anstrengungen der Lunge überwinden zu können. Es war gerade damals ein köstliches Wellenbad in Moabit eingerichtet, wo ich gern mit meinen Kameraden badete. Ich gewann noch eine Wette beim Schwimmen, aber damit war auch meine Kraft zu Ende. Ich mußte mich revierkrank melden, da ich keine Kraft mehr zum Marschieren hatte und mein Atem immer kürzer wurde.

Zwei Tage lag ich recht elend auf meiner einsamen Stube in der Klosterstraße, von meinen guten jüdischen Wirtsleuten gepflegt. Da besuchte mich mein Freund, Gustav Bossart, den ich sehr vernachlässigt hatte, und bewies sich nun recht als Helfer in der Not. Er brachte die Nacht an meinem Bette zu und schaffte mich dann, da er sah, wie ernst die Sache wurde, in das Militärlazarett in der Grünen Straße, wo ich mit zwei andern Freiwilligen, zu denen zu meiner großen Freude mein lieber Schäferssohn gehörte, ein Zimmer teilte. Der Bataillonsarzt erkannte die Krankheit nicht sogleich; als aber der Regimentsarzt kam, sagte er sofort: „Hier will ich Blut sehen”, d. h. ich sollte zur Ader gelassen werden. Der junge Militärarzt hatte noch wenig Übung in der Kunst des Aderlassens; darum floß wohl dreimal so viel Blut, als der Arzt bestimmt hatte. Es mochte aber so Gottes Wille sein zur Rettung meines Lebens. Denn es zeigte das Blut einen hohen Grad von Lungenentzündung, sodaß ich am nächsten Tage trotz des starken Blutverlustes noch einmal zur Ader gelassen wurde.

Die Lungenentzündung war mit einer Entzündung des Rippenfells verbunden, und es folgten nun dunkle Fieberstunden, die mich fast drei Tage lang ohne Besinnung ließen. Doch waren die Fieberphantasien meist freundlicher Art. Es ist mir darin etwas von dem klar geworden, was Paulus erfahren hat: „Außer dem Leibe wandeln”. 2. Kor. 12, 2. Es war mir nämlich so, als ob ich selbst die Schmerzen gar nicht mehr erlitte, die mein armer Leib zu tragen hatte. Ich sah in der Nacht, als meine Krankheit auf dem Höhepunkt war, einen Menschen, in welchem ich mich selbst erkannte, auf einem hohen Berggrat liegen. Die eine Hälfte des Menschen war ganz ein Eisklumpen, die andere stand in rotglühender Hitze. Zunächst nämlich war nur die eine Hälfte meiner Lunge entzündet. Dies war die Seite, die ich in der Gluthitze schaute. Ich konnte den Menschen in seiner Qual bedauern, während ich mich selbst ganz wohl fühlte.

Übrigens war meine Pflege jämmerlich. Der gute flachsköpfige Soldat, der bei mir Nachtwache halten sollte, schlief die ganze Nacht durch, und meine Bitte um einen Schluck frischen Wassers zur Linderung der Gluthitze blieb vergeblich. Nur mein Freund Bossart saß tagsüber öfter an meinem Bett. Eines Morgens aber, als ich eben aus einem kurzen Fieberschlummer aufwachte, saß statt seiner mein guter Vater da. Gerade in den ersten Tagen meiner Krankheit war des Vaters Bruder Karl, mein späterer Schwiegervater, als Minister nach Berlin versetzt worden. Er hatte mich zum Mittagessen eingeladen, und als statt meiner die Nachricht kam, daß ich krank im Lazarett läge, hatte er meinen Vater benachrichtigt. Der Vater blieb drei bis vier Tage bei mir, bis ihn die liebe Mutter ablöste, die freilich die Pflege besser verstand als die Lazarettgehilfen, zumal sie ja den Vater so oft in der Lungenentzündung gepflegt hatte.

Die Krankheit ging aber nicht so schnell vorüber. Durch den übermäßigen Blutverlust bei den beiden Aderlässen war eine Art Wassersucht eingetreten, zu der dann noch ein typhöser Zustand hinzukam. Doch erinnere ich mich noch mit Freuden daran, wie mich einmal ein starker Grenadier auf die Arme nahm und die drei Treppen hinunter in den Garten trug, wie er mich in einen Lehnstuhl, der zwischen blühenden Blumen auf dem Rasenplatz stand, legte und wie mich dann ein Gefühl des Dankes und der Freude über meine Genesung ergriff. Einige Wochen später wurde ich zu meinem Onkel ins Finanzministerium transportiert. Hier bekam ich mein Quartier in dem schönen Gartensaal, wo wir als Kinder so glücklich gewesen waren. Nach fünf Wochen hatte sich die Kraft so weit eingestellt, daß ich die Reise in die Heimat antreten konnte.

Diese ernste Krankheit blieb mir ein Zeichen der Erbarmung und Freundlichkeit meines Gottes. Ich hatte ihn öfter gebeten, wenn er sähe, daß die große Stadt mit ihren Versuchungen mir gefährlich werden würde, dann möge er mich selbst hinausführen an seiner Hand. Ich konnte seine Gnadenführung deutlich erkennen. Namentlich die ersten beiden Tage im Lazarett, ehe ich die Besinnung verlor, hatten einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Ich lag ja mit den beiden Freiwilligen auf dem Krankenzimmer und zwar zwischen beiden. Der eine, der Schäferssohn aus Pommern, auch an der Brust leidend wie ich, wenn auch nicht gerade an Lungenentzündung, war freundlich, dankbar, still, ergeben, voll Lied und Lobgesang im Herzen. Der andere, ein junger Kaufmannssohn aus Elberfeld, infolge seines leichtsinnigen Lebens erkrankt, war beständig am Schimpfen und Fluchen, worüber er von meinem Nachbarn zur Linken mit großer Offenheit gestraft wurde. Als meine Krankheit zu schwer wurde, bekam ich ein Zimmer allein. Von meinen beiden Leidensgefährten habe ich nie wieder etwas gehört, aber der Eindruck blieb mir, was es doch für ein Unterschied sei zwischen einem gottlosen Menschen und einem Kinde Gottes.

Weil meine Krankheit einen chronischen Charakter annahm, so hatte ich, als ich in die Heimat reiste, einen langen Urlaub bekommen. Aber auch jetzt wollten sich die alten Kräfte nicht so schnell wieder einstellen. Als ich mich darum nach abgelaufenem Urlaub bei dem alten Regimentsarzt stellte, erklärte mich dieser für dauernd dienstuntauglich. Doch bekam ich meine definitive Entlassung erst neun Monate nach meinem Diensteintritt und zwar, wie es in meinen Militärpapieren hieß, „als ein mit der Muskete ausgebildeter Halbinvalide”.




Als Landwirt in Pommern. 1852–1854


„Nun war guter Rat teuer. Was sollte weiter aus mir werden? Als ich von dem alten Doktor wieder auf die Straße kam und der Droschkenkutscher mich fragte, wohin er fahren solle, sagte ich zu ihm, das wisse ich selbst nicht. Er möge fahren, wohin er Lust hätte. So fuhr er mich auf die nahegelegene Post, und ich entschloß mich flink, da die Postpferde gerade angespannt wurden, um nach Luckau zu fahren, einen kleinen Abstecher zu meinem Freunde Ernst von Senfft zu machen, der damals auf dem Hauptgute des alten Herrn Koppe in die Lehre getreten war.

Ernst von Senfft war in der Berliner Zeit, wo wir zusammen das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium besuchten, mein nächster Freund geworden und seitdem auch geblieben. Die Freundschaft zu ihm war mit ein Grund gewesen, weshalb ich den landwirtschaftlichen Beruf ergriffen hatte, in der Hoffnung, mit ihm gemeinsam landwirtschaftliche Studien treiben zu können. Während der Schülerzeit hatte ich von Berlin aus meinen Freund einige Male auf das Gut seines Vaters, Gramenz in Hinterpommern, begleitet, und es bestand ursprünglich die Absicht, daß wir dort gemeinsam unsere erste landwirtschaftliche Lehrzeit zubringen sollten. Aber gerade als wir diesen Plan in die Wirklichkeit umsetzen wollten, wurde mein Freund berufen, den Prinzen Friedrich Wilhelm (unseren späteren Kronprinzen und Kaiser) nach Bonn auf die Universität zu begleiten. Auf diese Weise waren wir auseinander gekommen und freuten uns nun um so mehr des Wiedersehens.

Ich brachte einige schöne, stille Wochen mit meinem Freund zusammen zu und lernte zugleich bei dem originellen alten Koppe manches, was ich im Oderbruch nicht hatte lernen können. Die Abende aber las ich mit Ernst Senfft, nach unserer gemeinsamen alten Jugendlust, Homers Ilias und dergl. mehr. Während unseres dortigen Zusammenseins traf eine Einladung des Vaters meines Freundes ein. Dessen Berufung als Oberpräsident von Pommern stand bevor. So konnte er sich wenig um seinen Besitz kümmern und forderte uns auf, daß wir im kommenden Frühling gemeinsam unsere bisher in der Landwirtschaft erworbenen Kenntnisse auf den Gütern in Hinterpommern verwerten sollten. Da die Ärzte vor der Hand bei dem Zustand meiner Lunge ein wissenschaftliches Studium nicht für geraten hielten, so willigte mein Vater ein.

Um mich auf meine Tätigkeit noch weiter vorzubereiten, folgte ich der Anregung eines andern Freundes, den ich in Kienitz kennen gelernt hatte, und ging zu dessen Bruder Franz Bieler nach Machern bei Friedeberg, einem trefflichen Landwirt, in dessen Hause ich viele Freundlichkeit und Förderung genoß.

In den ersten Tagen des April 1852 langte ich zugleich mit meinem Freunde Ernst in Gramenz an. Wir bezogen miteinander das Vorwerk Raffenberg, eine halbe Stunde von dem Hauptgute Gramenz entfernt. Raffenberg sollte von meinem Freunde Ernst bewirtschaftet werden, während mir zunächst die beiden andern Güter, Schoffhütten und Zechendorf, zugeteilt wurden, die ich von Raffenberg aus inspizieren sollte.

Der alte Herr von Senfft hatte Gramenz in den dreißiger Jahren für 60 000 Taler erworben. Er hätte bei diesem günstigen Ankauf ein sorgenfreies Leben führen können, denn das Hauptgut, das für sich allein 500 Morgen groß war, besaß sehr alte fruchtbare Ländereien und war darum recht wertvoll. Allein der rastlose Geist des alten Herrn war darauf gerichtet, alles unbebaute Land urbar zu machen. Um das dafür nötige Vieh halten zu können, legte er großartige Rieselwiesen an, zu deren Bewässerung das Wasser in drei großen Bassins durch aufgeführte Dämme gesammelt wurde. Allein diese Anlage, die Hunderttausende verschlang, brachte den gewünschten und erhofften Ertrag nicht, zumal gleichzeitig über 100 verschiedene Häuser gebaut wurden, sowohl für die wirtschaftlichen Zweige als für die Tagelöhner. Die Wasser des pommerschen Landrückens waren zu arm und darum der Ertrag der Wiesen zu gering. Infolgedessen befand sich der alte Herr beständig in den drückendsten Sorgen. Da sollten wir jungen Leute nun raten und helfen, und die Hoffnung, die er auf uns setzte, ging dahin, daß binnen kurzem alle Sorgen von ihm genommen sein würden.

Immerhin war, äußerlich angesehen, Gramenz ein prachtvoller Besitz, zwei Meilen (15 Kilometer) lang, eine halbe Meile (3 bis 4 Kilometer) breit, von rieselnden Bächen und anmutigen Tälern durchzogen und an seinem Rande von lieblichen Seen umgeben, die mit Buchenwald eingefaßt waren. Was aber die Hauptsache war, um den Aufenthalt für mich segensreicher zu machen als meine drei letzten landwirtschaftlichen Orte Kienitz, Wollup und Machern: es bestand von alter Zeit her ein kirchlicher Sinn in der Gemeinde, und der Pfarrer Diekmann meinte es sehr treu. In der aufs freundlichste ausgestatteten Dorfkirche wurden erquickende Gottesdienste gehalten, zu denen wir uns regelmäßig Sonntags einfanden.

Wir beiden jungen Leute führten auf unserem Vorwerk ein eigenartiges Junggesellenleben. Die Schäfersfrau besorgte uns unsere Küche. Wir hatten jeder unser Reitpferd. Das meines Freundes hieß Soliman, meins Dido. Ich hatte es bald so gewöhnt, daß es, wenn es auf der Weide ging, auf einen Pfiff herankam und ich ihm bloß die Gerte, die ich in der Hand hatte, ins Maul zu legen brauchte. Dann ließ es sich ungesattelt in allen Gangarten reiten, indem ich es mit der Gerte, deren beide Enden ich gefaßt hatte, lenkte.

Wir beiden Freunde sahen uns gewöhnlich nur morgens und abends, gönnten uns aber doch bisweilen in einer trauten Einsamkeit an irgend einem Bachufer ein Ruhestündchen, um unsere klassischen Studien fortzusetzen. Unsere Freundschaft war sehr innig, auch in bezug auf die äußeren Dinge. Wir waren beide genau gleich groß, sodaß uns unser Zeug gegenseitig paßte. So hielten wir denn auf völlige Gütergemeinschaft, und jeder schaffte nach seinen Mitteln etwas in den gemeinsamen Kleiderschrank an, wobei man mit Vorliebe das anzog, was der andere angeschafft hatte.

So scharf und heiß unsere Arbeit meist den Tag über war, so fehlte es doch auch nicht an Erquickungen. Abends ritten wir oft auf unsern schnellen englischen Vollblutpferden nach dem nur eine Meile entfernten Buchwald hinüber, wo die älteste Schwester meines Freundes an einen Herrn von Glasenap verheiratet war und wo damals ein liebliches Familienleben aufblühte. Glasenaps hatten sich am Ufer eines Sees ein gar freundliches Landhaus gebaut. In den schönen Sommernächten fuhren wir oft noch spät unter fröhlichen Liedern auf dem See, nachdem wir vorher ein erfrischendes Bad genommen hatten. Auch in Gramenz selbst, ehe der alte Herr nach Stettin übersiedelte, gab es in dem lieben Familienkreise manche freundliche Stunde.

Übrigens merkten wir beide, Ernst und ich, bald, daß die Sachen nicht standen, wie sie stehen sollten. Waren in den früheren Jahren große Fehler begangen, indem man zu große Flächen Wald urbar machte und stattliche Gehöfte auf ihnen aufrichtete, ohne die nötigen Mittel zu haben, um das urbar gemachte Land auch ertragfähig zu machen, so war es neuerdings ein besonders schwerer Mißgriff gewesen, daß man sich auf englische Pferdezucht und gar auf Trainierung kostbarer Rennpferde eingelassen hatte. Vor allem aber hatte der liebe alte Landesökonomierat Koppe, der sonst der kundigste Ratgeber war, den man hätte finden können, seinem Freunde Senfft geraten, eine große Zuckerfabrik zu bauen. Doch für den Zuckerrübenbau waren viele Flächen noch zu jung und zu arm.

Noch schlimmer war es, daß der alte Herr von Senfft nicht nachließ, seinen Pächtern immer neue Flächen zu entziehen in der Meinung, dadurch, daß er das Pachtland in eigene Bewirtschaftung übernahm, besser abzuschneiden. Der Sohn war hierin mit seinem Vater gar nicht einverstanden. In seiner romantischen Art konnte er wohl, wenn wir abends über einen der kleinen mit Eichen umstandenen Pachthöfe ritten, unter einer der alten Eichen still halten und sich dann in die Seele solch eines alten vertriebenen Erbpächters hineinzudenken, wie er seine mit ihm ausgetriebenen und zu Tagelöhnern hinuntergesunkenen und hinuntergestoßenen Leidensgefährten versammelte, um ihnen eine Rede zu halten, in der er sie zum Aufruhr gegen ihren Bedränger aufforderte, der sie von ihrem väterlichen Herd verstoßen und sie, voll unersättlicher Gier nach erweiterten Grenzen, aus dem Schatten ihrer alten Eichen verdrängt habe.

Der alte Senfft war in der Tat einer der wunderbarsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Schärfere Widersprüche können kaum in ein und demselben Herzen angetroffen werden. Voll inniger, ungeheuchelter Frömmigkeit, sich seines Heilands niemals schämend, auch am Hofe des Königs nicht, für seine eigene Person mit dem Geringsten zufrieden, ja, ängstlich sparsam, ohne jeden Adelsstolz, hatte er doch auf der andern Seite Eigenschaften, die einem geraden Charakter, wie z. B. meinem Vater, unbeschreiblich schwer waren. Er liebte heimliche Wege, um zu seinen Zielen zu gelangen, und ließ sich niemals hinter seine Geheimnisse schauen. Das schwerste aber war uns Jungen seine Landgier. Diese besondere Gier verschloß ihm die Augen gegen manche furchtbare Härte, ohne die die bisherigen Pächter sich nicht aus ihren alten Wohnstätten vertreiben ließen.

Dazu kam, daß er in der Bewirtschaftung seiner Güter vielfach Unmögliches forderte und darum von seinen Beamten, von deren Vortrefflichkeit er oft geradezu kindliche Ansichten hatte, vielfach hintergangen wurde. Unter solchen schwierigen Umständen, in die sein Sohn und ich ahnungslos hineinversetzt waren, konnte es wohl vorkommen, daß wir zueinander sagten: „Wir müssen beten, sonst sind wir verloren.” So schwer legte sich mitten unter allerlei Knabenscherzen die große Sorge auf unser Herz.”

Einige Wochen nach seiner Ankunft in Gramenz schrieb der junge Inspektor Bodelschwingh seinem Vater:



    Raffenberg bei Gramenz, Himmelfahrtstag 1852.



Lieber Vater!


Sei nicht böse, daß ich Dich so lange auf einen vernünftigen Brief habe warten lassen. Die unerwartete Bedeutsamkeit und Ausgedehntheit meiner hiesigen Stellung hat mich bis jetzt bei einer steten aufgeregten Tätigkeit kaum zur Besinnung kommen lassen. Die Feiertage selbst waren bis jetzt teils durch notgedrungenes langes Schlafen, regelmäßigen Kirchenbesuch und gezwungenen Gramenzer Familienaufenthalt, teils mit weitläufigem Rechnungswesen und reformatorischen Beratungen so ausgefüllt, daß ich bis jetzt vergeblich nach einer ruhigen Stunde gespäht habe, die mir nun endlich ein feierlich schöner Himmelfahrtsabend freundlich gewährt.

Zuerst will ich nur gleich vorausschicken, daß unter allen Wohltaten, für die ich dem lieben Gott Dank schuldig bin, kaum eine mir größer erscheint, als daß er mich hierher geführt hat. Ich muß wirklich meine hiesige Stellung nach allen Richtungen hin, sowohl was ihren Wert für meinen Lebenslauf direkt, als für meine ganze geistige Ausbildung im allgemeinen anlangt, eine ausgesucht glückliche nennen. Hier hast Du zuerst eine flüchtige Beschreibung meines landwirtschaftlichen Wirkungskreises.

Schoffhütten, das größere der beiden mir unterstellten Vorwerke, Raffenberg, meinem Wohnort, am nächsten gelegen (3,8 Meilen Entfernung), hat bei einer Viehhaltung von ca. 10 Pferden, 12 Ochsen, 20 Kühen und 700 Schafen ein Areal von etwa 800 Morgen Acker mit 100 Morgen natürlichen Wiesen, außerdem eine unberechnete Fläche teils verpachteten, teils noch nicht urbaren Landes, im ganzen 2400 Morgen. Der bis jetzt unter den Pflug genommene Teil des Schoffhütter Ackers ist seiner Bodenmischung nach unbezweifelt der beste unter allen Gramenzer Ländereien, aber teils von den früheren Pächtern ausgesogen, teils überhaupt noch ohne Kultur. Das Terrain ist dabei im höchsten Grade unübersichtlich, unzählige Gräben und steile Abhänge; die ganze Beackerungsweise ist mir vollständig neu. Dabei sind größere Entwässerungsarbeiten eines in diesem Jahre neu hinzugenommenen Schlages, Roden, Planieren usw. im Gange.

Das zweite mir unterstellte Vorwerk Zechendorf (der Wirtschaftshof liegt über eine halbe Meile von dem Schoffhütter entfernt, sonst sind beide Feldmarken nur durch einen kleinen Gramenzer Pächter voneinander getrennt) hat 700 Morgen Acker, Wiese und Bruch, 6 Pferde, 12 Ochsen, die nötigen Kühe und 3 bis 400 Schafe. Es ist erst seit vorigem Jahre teils aus der Verpachtung genommen, teils neu zugekauft und befindet sich noch auf allen Punkten im Zustande gänzlicher Verkommenheit und Verarmung. Hier sind noch bedeutende Meliorationsarbeiten in Angriff genommen.

Überall handelt es sich um eine erste mühsame Bestellung, überall ist Mangel an allem, darum aber herrscht auch über jedes mühsam neugeschaffene Stück Land desto größere Freude. Die Handarbeitskräfte auf beiden Vorwerken sind mehr als zureichend, da außer 20 eigenen Tagelöhnerfamilien gegen 40 Pächter täglich einen Dienstmann stellen müssen, sodaß ich täglich gegen 80 Leute zu beschäftigen habe. Auf jedem Vorwerk ist ein Hofmeister, beides recht gescheite, eifrige, tüchtige Männer, die bis dahin direkt unter den angrenzenden Inspektoren von Raffenberg und Ernsthöhe gestanden hatten, außerdem aber und seit der bedeutenden Erweiterung der Betriebe in diesem Frühjahr ganz vorzugsweise unter dem Oberinspektor selbst. Der hat mich aber seit dem großartigen Gramenzer Fabriktrubel völlig im Stich gelassen (es handelte sich um eine Meinungsverschiedenheit über Anlage und Betrieb der Zuckerfabrik). Über eine Meile von Gramenz entfernt bin ich selbständiger, als mir lieb ist. Herr von Senfft kümmert sich eigentlich gar nicht um die spezielle Bewirtschaftung; nach meinen entfernten Vorwerken kommt er höchstens fünf- bis sechsmal im ganzen Jahr; mich hat er erst einmal flüchtig besucht.

Außer diesen beiden Vorwerken, von denen mir in ihren jetzigen Verhältnissen jedes einzelne eine reichliche und angenehme Beschäftigung gewähren würde, habe ich nun unser hiesiges Raffenberg, ein Gut von 2200 Morgen schweren Weizenbodens mit 700 Morgen Wiesen, täglich selbst tätig mitwirkend, unter Augen, da Ernst Senfft allein von der Arbeit erdrückt werden würde. Namentlich des hiesigen Rübenbaus, über 200 Morgen (ich selbst habe auf meinen Vorwerken aus Mangel an aller Kultur erst dreißig Morgen bauen können), habe ich mich speziell angenommen.

Außer Raffenberg passiere ich nun auf meinem täglichen Ritt noch Ernsthöhe, 1500 Morgen leichteren Bodens, auch erst seit wenigen Jahren aus der Wildnis emporgearbeitet, und auch hier bleibe ich mit dem ganzen Wirtschaftsbetriebe bei dem ewigen Ineinandergreifen der Vorwerke mit Leuten und Gespannen immer im Zusammenhange. Außerdem muß ich mindestens ein- bis zweimal wöchentlich, außer Sonntag, nach Gramenz, wo mir 450 Morgen Zuckerrüben unterstellt sind, dazu die dortige Rieselwirtschaft und die Wäsche und Schur von 5000 Schafen, wovon die beiden letztgenannten Sachen mir noch ganz fremd sind. So ist das Feld für meine landwirtschaftliche Tätigkeit so unendlich groß, daß ich gar nicht im Stande bin, es auch nur einigermaßen auszunutzen und meine Pflicht, wie ich möchte, zu erfüllen.

Gleichwohl hat diese ersten Wochen über die eigentliche Landwirtschaft nur den geringeren Teil meiner Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Was mich viel lebhafter und inniger beschäftigt hat, war das Schicksal der Tagelöhner, besonders auf meinen entfernten Vorwerken, aber auch in Gramenz. Bei diesen Leuten, die unter rohen Inspektorhänden auf etwas brutale Weise verkümmert und verkommen waren, war es meine erste Sorge, wenigstens dem gröbsten Elend abzuhelfen, wobei mir übrigens Herr von Senfft auf die entschiedenste und freundlichste Weise zu Hilfe kam, da er eigentlich von der Größe des Elends gar keinen Begriff hatte.

Schoffhütten und Zechendorf sind nämlich nicht, wie Raffenberg und Ernsthöhe, neue Vorwerke, sondern beides alte Dörfer, mit ehrwürdigen Bäumen aller Art schön ausgestattet, die die alten Pächterwohnungen nach westfälischem Stil umgeben. Die Pächter sind nun zum großen Teile aus ihren Wohnsitzen verdrängt, und statt ihrer, soweit sie nicht selbst in Tagelöhner umgewandelt und als Tagelöhner wohnen geblieben sind, ist allerlei Gesindel eingezogen, das man aus Gramenz weggebracht hatte. Diese Leute, überschuldet wie sie waren und daher nicht imstande, von ihrem Verdienst zu leben, waren seit mehreren Monaten ohne Kartoffeln, ohne Getreide. Sie trieben sich teils bettelnd umher, teils lagen sie faul zu Hause, mißmutig, etwas zu tun, weil ihnen doch all ihr Verdienst auf ihre gemachten Schulden abgerechnet wurde. Da war es nun meine erste Sorge, gewaltsam und eigenmächtig einzugreifen. Da dies aber nicht geschehen konnte, ohne daß ich mich auf das genaueste um die Familienverhältnisse der Leute kümmerte, so bin ich fast täglich in allen Stätten des großen Elends herumgekrochen und habe in vielen Familien förmlich die Haushaltung geführt.

Pfingsten. Am Himmelfahrtstage zu früh unterbrochen und aufs neue in den Strudel hineingetrieben, bin ich heute vom Gramenzer Mittagstische direkt wieder nach Raffenberg umgekehrt, um endlich den angefangenen Brief zu Ende zu bringen. Du kannst Dir denken, daß nach der Behandlung, die die Tagelöhner bis dahin genossen, ich in diesem Punkte eine unglaublich leichte und dankbare Stellung habe. Obgleich ich mir eine Strenge und Härte anzwinge, die ich mir bis dahin nie zugetraut habe, sind mir alle meine Leute in so kurzer Zeit so ganz zugetan und anhänglich geworden, daß ich mich fast täglich der Ausbrüche ihrer Dankbarkeit gewaltsam erwehren muß.

Ich denke übrigens, indem ich die Leute aus dem Elend gerissen, auch Herrn von Senfft bedeutend genutzt zu haben. Indem ich die Kräfte der eigenen Leute aufs äußerste durch Akkordarbeiten ausnutzte, das Gramenzer Betteln durch Hilfe an Ort und Stelle zu Ende brachte, Frauen und Kinder beim Rübenbau beschäftigte, ist es mir mit der Zeit möglich geworden, gegen 40 fremde Arbeiter und Pächterknechte teils zu entlassen, teils nach Gramenz zu schicken und hier wieder die Annahme von noch teureren fremden Leuten zu vermeiden. In ähnlicher Weise habe ich eine Menge kleiner Einrichtungen gemacht, die ich erst in Zechendorf, dann in Schoffhütten ausprobte und von da hierher nach Raffenberg verpflanzte. Ich habe den Leuten statt des bloßen teuren Roggens, von dem sie ausschließlich lebten, Kartoffeln und Gerste angeschafft, womit sie ein Drittel billiger auskommen. Ich zahle ihnen ihren Tagelohn statt vierteljährlich wöchentlich aus, wodurch sie zu doppeltem Fleiß angefeuert werden. Für die ganz verkommenen Familien lasse ich Suppe kochen, die sie für ein billiges erhalten, damit auch die Frau ohne häusliche Sorgen täglich mitarbeiten kann. Manchen messe ich ihr Mehl für ihre Suppe zu und bestimme danach, wie lange sie mit ihrem Scheffel auskommen müssen, weil ich erfahren hatte, daß sie in der Not, aber wohl auch zum Branntweinsaufen, das empfangene Korn teilweise wieder verkauften.

Ich halte mich notgedrungen beständig in Zusammenhang mit den Speisekammern fast sämtlicher Leute. Die Vorräte an Mehl, Kartoffeln, Salz und Milch muß ich stets im Gedächtnis haben. Das Ganze ist im eigentlichen Sinne des Worts meine eigene Haushaltung. Denn indem ich das Schicksal sämtlicher Leute von der Gramenzer Inspektoren-Kamarilla losband, habe ich auch ihre ganzen Schulden, gegen 300 Taler, persönlich auf mich genommen, zwar nicht mit der Verpflichtung, sie der Gramenzer Gutskasse wieder zu bezahlen, aber doch mit dem Versprechen, darin mein Bestes zu tun. Ich erhalte nun wöchentlich aus der Gutskasse meinen vollen Tagelohn für alle Leute, mit dem ich nach besten Kräften für die Leute wirtschafte. So habe ich also außer meiner ausgedehnten landwirtschaftlichen Tätigkeit auch eine große Familienhaushaltung, die neben manchem andern Lehrreichen auch für mich das Gute hat, daß ich im steten Zusammenhange mit so großer Armut und so großen Entbehrungen mit meinem eigenen Lose recht von Herzen zufrieden sein kann und mir auch für die Zukunft jede Entbehrung leicht werden wird.

Übrigens ist meine jetzige Lebensweise auch keineswegs üppig zu nennen. Am frühen Morgen Raffenberg mit einer Tasse Milch und einem Stück Brot im Magen verlassend, kehre ich der Regel nach erst abends gegen zehn dahin zurück, zu müde, mehr wie einen Teller saure Milch zu vertilgen. Den Tag über auf meinen Vorwerken wird nach Umständen gelebt, mitunter ein Butterbrot, mitunter ein paar Kartoffeln oder Eier, mitunter gar nichts. Dabei befinde ich mich aber so gründlich wohl und kräftig, daß ich es nicht beschreiben kann.

Mein täglicher Ritt beträgt in gradester Richtung mindestens zwei gute Meilen, wozu dann häufig noch die dritte und vierte kommt. Der Weg ist indessen entweder so hart oder bei nassem Wetter so schlüpfrig, das Terrain so hügelig, so viel Moraste, Gräben und mühsame Pfade, daß von scharfem Reiten selten die Rede ist und daß die Zeit zu Pferd mir immer eher eine angenehme Erholungszeit für Geist und Körper als eine Anstrengung ist. Die Szenerie ist zum großen Teile wirklich so lieblich und wird für mein Auge mit jedem Tage so viel lieblicher, daß ich Euch auf Eurer Reise im Thüringer Walde gar nicht zu beneiden brauche.

Jeden frühen Morgen führt mich mein Weg durch den im frischen üppigen Grün prangenden Buchenwald, meist auf selbstgesuchten näheren Pfaden, wo ich oft Zweig für Zweig zurückbiegen oder gebückt durch Laubengänge kriechen muß. Und des Abends, so wie gestern zum Beispiel, kehre ich im Mondschein wieder zurück, am liebsten an den Bachufern entlang, wo die Nachtigallen seit drei Wochen schon fleißig am Singen sind. Meine Feldmarken selbst aber sind wie aus der schönsten westfälischen Landschaft herausgeschnitten, mit Eichengruppen, kleinen Wiesen, Hecken und zerstreuten Pächterwohnungen mannigfach verziert; dazu dann eine weite herrliche Aussicht über das ganze Gramenzer Gelände (denn Schoffhütten und Zechendorf liegen wohl mehrere hundert Fuß über den Gramenzer Wiesen). Da geht mir nicht selten das Herz so auf, daß ich laut aufjauchzen möchte vor Fröhlichkeit.

Zu andern Zeiten kann ich dann freilich auch eine gewisse Wehmut nicht zurückweisen, wenn ich die schönen alten Pächtereien, auf denen oft ein und dieselbe Familie hundert Jahre gewohnt hatte, nun verwaist und verlassen stehen sehe, und nicht selten trifft man auf Leute, denen in Erinnerung an ihre alten Wohnstätten, die sie als ihr Eigentum anzusehen sich gewöhnt hatten, die Tränen in die Augen treten. Wie weit da nun Recht oder Unrecht waltet, kann ich nicht beurteilen, geht mich auch gar nichts an. So viel weiß ich aber, daß so viele Leute ihres heimatlichen Landes beraubt sind, ohne daß bis jetzt Herrn von Senfft der geringste Nutzen daraus erwachsen ist. Denn das den Pächtern genommene Land ist teilweise in Hände geraten, die es noch mehr mißhandelt haben wie jene.

Der jetzige Oberinspektor aber, dahinter sind wir bald genug gekommen, ist in der Tat ein höchst untüchtiger Mann, der seiner Stellung nicht im geringsten gewachsen ist. Er hat in sehr wilder und leichtsinniger Weise darauf losgewirtschaftet, Land und Leute verdorben und Herrn von Senfft großen Schaden gemacht. Es ist daher auch bald ein drückendes Verhältnis zwischen Ernst und mir auf der einen Seite und ihm auf der andern Seite eingetreten. Wir kamen zuerst mit unsern Verbesserungsvorschlägen zu ihm. Aber da wir von ihm zurückgewiesen wurden, hielten wir uns bald für verpflichtet, sie durch Herrn von Senfft selbst durchzusetzen, der uns in allen Stücken ein fast zu großes Vertrauen schenkt. Dadurch ist nun der Mann moralisch sehr heruntergedrückt, während unser Wirkungskreis sich sehr erweitert hat. Einmal mißtrauisch geworden, haben wir uns bald verpflichtet gefunden, überall mit zuzusehen, haben in der Fruchtfolge geändert, im ganzen Leutewesen reformiert, ohne des Oberinspektors Einwilligung das Rechnungswesen umgestaltet usw. Dadurch sind wir allmählich sehr mächtig geworden und sind fast wider unsern Willen in eine Stellung hineingeraten, der wir gar nicht recht gewachsen sind.

Zum Schluß will ich nur noch sagen, daß unser Familienleben, nämlich Ernst Senffts und meins, einzig ist und daß die Freude, mit dem unvergleichlichen Jungen zusammen leben zu können, alle andern Freuden, die mir hier Natur und Beruf reichlich gewähren, weit übersteigt. In einem kleinen Zimmer, mit allem möglichen Studentenflitter ausgestattet, hausen wir auf das lustigste, präsidieren bei Tafel über zwei Wirtschaftslehrlinge und einen Schulmeister, denen gegenüber wir die Würde zweier Wirtschaftsprinzipale einzunehmen wissen. Daß bei unserer jetzigen Tätigkeit nicht viel von theoretisch-wissenschaftlichen Studien die Rede sein kann, magst du leicht denken. Gleichwohl passiert es uns gar häufig, daß wir uns des Abends unwillkürlich aus übergroßer Müdigkeit aufrütteln und uns über irgend einem unserer guten alten Klassiker bis tief in die Nacht hinein ergötzen oder uns an beiderseitigen reichen Erinnerungen aus den letzten Jahren, die wir noch lange nicht alle ausgetauscht haben, beglücken.

In der leisen Hoffnung, wenn nicht Dich selbst, so doch eins der Schwesterchen mit Herrn von Senfft von Berlin ankommen zu sehen, bin ich freilich diesmal getäuscht worden, hoffe aber doch noch einmal, Dir und ihnen unsere Herrlichkeit hier zeigen zu können.

Verzeih mein wildes, unruhiges, unordentliches Geschwätz noch einmal, indem ich hoffe, bald vollständigere Nachricht geben zu können, und grüße die Mutter und die Schwestern


von Deinem gehorsamen Sohn



    Friedrich.

„Da der alte Herr”, so heißt es in den Erinnerungen weiter, „die gewöhnlichen Tänzereien bei den Erntefesten nicht litt, so erlaubte er meinem Freunde und mir, unsere Erfindungskraft anzustrengen, auf welche Weise dennoch fröhliche Volksfeste gefeiert werden könnten, um den Tagelöhnern und ihren Kindern nach der heißen Sommerarbeit einen Festtag zu gewähren. An irgend einem hochgelegenen Waldrande unter Eichen und Buchen wurden eine ganze Reihe von Feldküchen eingerichtet und ganze Körbe voll Kuchen und Obst hinausgeschafft. Mit Lied und Lobgesang im Kirchen- und Volkston wurde begonnen. Dann folgte eine Ansprache an die Versammlung, die auf die reiche Güte Gottes hinwies. Jetzt ging’s an die fröhliche Mahlzeit, die von den Gesängen der Kinder unterbrochen wurde. Dann wurde zu den mannigfaltigsten Spielen eingeladen, die für die Größeren und die Kleineren, für die Burschen und für die Mädchen besonders eingerichtet waren. Am Abend wurde mit Gesang und Gebet geschlossen.

Eins dieser Feste, das wir an einem besonders herrlichen Platz meines hochgelegenen romantischen Schoffhütten feierten, nahm freilich ein trauriges Ende. Denn der Pommer liebt leider den Schnaps über alle Maßen. Lieschen Senfft, die Schwester meines Freundes, hatte den Honoratioren der Gesellschaft eine Überraschung bereitet. In einer besonders dichten Waldecke hatte sie einen kleinen Platz aushauen lassen, zu welchem ein ganz verborgener Pfad führte. Hier war künstlich eine schöne Laube zurechtgeflochten, mit Blumen geschmückt und mit Rasenbänken versehen, zwischen denen die schönsten Kaffeetische mit allerlei Zubehör aufgeschlagen waren. Während nun unsere Dorfbewohner fröhlich schmausten und Kaffee tranken, hatten wir uns hierher zurückgezogen. Da kam plötzlich die Nachricht: „Man prügelt sich.” Irgend ein Nichtsnutz hatte in ein anderes Waldgestrüpp ein Schnapsfaß eingeschmuggelt. Dem hatten eine Anzahl junger Burschen so fleißig zugesprochen, daß alsbald nach pommerscher Weise auch das Prügeln begann. Denn Schnaps und blutige Prügeleien waren hier alte Volkssitte. Die Männer liefen mit langen Knütteln bewaffnet herzu, um Frieden zu stiften. Da galt es denn für meinen Freund und mich, mitten zwischen die Knüppel zu springen, und nur mühselig gelang es uns, den Blutströmen zu wehren. Der traurige Abschluß unseres Festes war der Anlaß, daß hinfort keins dieser fröhlichen Volksfeste mehr gefeiert wurde.

Übrigens diente während der Erntezeit dieses ersten Sommers ein merkwürdiges Ereignis dazu, mir die Augen über die ganzen Verhältnisse noch mehr zu öffnen. Mein Freund und ich waren spät abends noch zu einem Moorbrand gerufen worden, dessen Löschen uns bis tief in die Nacht hinein beschäftigt hatte. So hatte ich nur wenig Schlaf gefunden, als ich am andern Morgen um fünf Uhr schon wieder mein Pferd bestieg, um meinen gewohnten Weg nach meinem Vorwerk einzuschlagen. Dort bin ich aber von niemand bemerkt worden. Dagegen kam ich nach etwa sieben Stunden auf dem Pferde sitzend wieder in Raffenberg an. Meine Dido hatte ihre beiden Knie und ich meinen Kopf etwas wund. Ich stieg noch selbst vom Pferde und wollte, wie ich es gern, wenn ich nach Haus kam, zu tun pflegte, das kleine Töchterchen unserer Wirtin auf den Arm nehmen. Diese bemerkte aber etwas Besonderes an mir, gab mir das Kind nicht, sondern geleitete mich auf mein Zimmer, brachte mich zu Bett und sorgte für kalte Umschläge auf meinen Kopf. Erst mit hereinbrechender Nacht wachte ich auf und sah den lieben alten Herrn von Senfft an meinem Bette sitzen.

Offenbar bestand die Lösung des Rätsels darin, daß ich infolge meiner geringen Nachtruhe auf dem Pferde eingeschlafen war und daß meine Dido, durch keinen Zügel gehalten, gestürzt war. Da ich das gelehrige Tier daran gewöhnt hatte, sowohl frei hinter mir herzugehen, indem ich ihm den Zügel über den Hals legte, als auch still zu grasen, wenn ich mich irgendwo ein wenig ausruhen wollte, so hatte mich Dido auch nach unserm beiderseitigen Sturz nicht verlassen, bis ich nach etwa fünf- bis sechsstündigem Liegen auf der Erde wieder so weit zur Besinnung kam, daß ich in den Sattel kommen konnte. So hatte denn das Pferd von selbst seinen Weg nach Hause eingeschlagen. Merkwürdig war nur, daß von dem Vorgefallenen nichts in meiner Erinnerung geblieben war.

Der Arzt stellte eine Gehirnerschütterung fest, und ich hatte etwa vierzehn Tage völlige Ruhe nötig. Erst allmählich lernte ich wieder gehen und lesen, da mir beides anfangs schwer gefallen war. Für diese Ruhezeit nahm mich der alte Herr von Senfft mit nach Gramenz und ließ mich auf das treuste pflegen. Zugleich fand ich hier Gelegenheit, tiefere Blicke in die auf mannigfache Weise zerrütteten Verhältnisse zu tun und auch die Persönlichkeiten zu durchschauen, die dem Bestehen des Ganzen gefährlich waren. Zu meinem Freunde zurückgekehrt, teilte ich ihm alles mit, was ich wahrgenommen, und nicht ohne heiße Kämpfe wurden nun einige Persönlichkeiten aus dem Sattel gehoben, die bis dahin in der höchsten Gunst des alten Herrn gestanden hatten, aber sonst als Tyrannen gefürchtet waren.

Damit brach nun allerdings für mich eine sehr ernste Zeit an. Der alte Herr forderte mich auf, und die Umstände ließen es auch nicht wohl anders zu, die Leitung des ganzen Gutes zu übernehmen. Da ich von Kienitz her mit dem Zuckerrübenbau sehr genau vertraut war, so glaubte er wohl, ein besonderes Recht dazu zu haben, mir die neue Aufgabe zuzumuten. Denn an den Zuckerrüben schien in der Tat die Rettung der ganzen Lage zu hängen. Da er selbst, wie schon bemerkt, nach Stettin übergesiedelt war und sich nur noch gelegentlich in Gramenz aufhielt, so mußte ich meinen Wohnsitz von Raffenberg nach Gramenz verlegen.

Im Herbst 1853 verließ mich mein Freund Ernst, um in Berlin sein Einjährigenjahr abzudienen. Aber Gott schenkte mir ein paar tüchtige neue Gehilfen. Der eine war der Bruder meines früheren Lehrmeisters in Mechern, Bieler, der schon in Kienitz mit mir zusammen gearbeitet hatte, und der andere der Sohn meines früheren Religionslehrers, des Dompredigers Snethlage, Moritz, der anstelle von Ernst Senfft die Bewirtschaftung von Raffenberg übernahm.

Es war kein Geringes, was auf meine Schulter gefallen war. Im Äußeren schenkte Gott gerade für dieses Jahr viel Segen und Hilfe, sodaß die materiellen Nöte zu schwinden schienen. Aber um so größer waren die Nöte und Gefahren, die auf meiner Seele lagen, und oft stieg ich an der Stelle, wo ich, wie ich vermutete, an jenem Morgen bewußtlos gelegen hatte, vom Pferde – die Stelle lag an einem schattigen Bachufer mitten im Walde verborgen – , um Gott um Hilfe anzuschreien. Es waren im ganzen zwölf Inspektoren, ältere und jüngere, die alle der Leitung und Aufsicht bedurften. Dazu fühlte ich aber keineswegs die Kraft in mir. Sonntagmorgens ging man wohl nach alter Ordnung in die Kirche, aber den ganzen Sonntagnachmittag pflegten wir auf der Kegelbahn zuzubringen, und an viel Leichtsinn und Verirrungen mancherlei Art fehlte es unter uns nicht.

Doch wir jungen Leute fanden in unsern geistlichen Nöten einen besonders treuen Freund. Das war der Posthalter von Gramenz, ein früherer Wirtschaftsinspektor, der aber, weil er leidend war, diesen leichteren Posten übernommen hatte. Er hieß Otto Mellin. Oft wenn jemand einen Brief holte oder brachte, hörte er gleichzeitig dessen verborgenste Klagen mit an und teilte Freud und Leid mit jedermann. In besonderen Fällen aber, und wenn Zeit und Stunde es erlaubten, nahm er den Betreffenden mit in sein kleines freundliches Stübchen, das hinter dem Postbüro lag. Dort schlug er in der Bibel die Stelle auf, die ihm für die besondere Not die rechte Arznei zu liefern schien.

Unverhofft merkten wir, der eine wie der andere unter uns jungen Leuten – denn laut wurden diese Sachen nicht verhandelt – , daß man in Otto Mellin einen Freund gefunden und an derselben Quelle Hilfe und Trost geschöpft hatte. Unser lieber Pastor Diekmann, der kräftig und treu sein Amt verwaltete, war persönlich zu heftig, sodaß man sich nicht zu ihm traute. So bot der liebe Mellin, der in unsern schalkhaften Freundeskreisen immer „Seine Majestät die Post” hieß, einen Ersatz für das, was wir bei unserm Pastor an Seelsorge nicht fanden.

Durch Freund Mellin machte ich in einer Hütte, die zu Gramenz gehörte, die Bekanntschaft eines armen Kranken, die für mich von besonderem Wert wurde. Der Besuch in dieser Hütte war um so bedeutsamer für mich, als er in großem Gegensatz stand zu einer früheren Erfahrung. Der alte Herr von Senfft hatte mir einmal im ersten Jahre eine Rolle mit 100 Talern geschenkt mit dem Auftrag, sie zum Besten der Armen zu verwenden, und zwar in den beiden Vorwerken, die mir zuerst anvertraut waren. Besonders in einem dieser Vorwerke herrschte noch in ungezügelter Grausamkeit der Branntwein. Von dieser Macht des Branntweins hatte ich gleich in einer der ersten Katen, in die mich meine Armenbesuche führten, einen besonders erschreckenden Eindruck. Bei den alten pommerschen Katen waren die vier Pfosten der Hütte ohne jede Schwelle einfach auf vier Steine gesetzt. Je mehr nun diese Pfosten an ihrem unteren Ende faulten, desto tiefer sank die Hütte zur Erde herunter. Solange der Branntwein in solch schornsteinlosen Hütten nicht das Regiment führte, ließ sich ganz glücklich darin leben. Ja, es hatte früher einen langjährigen Krieg der Bewohner dieser alten Hütten gegen die modernen Schornsteinhäuser gegeben.

Aber in der obenerwähnten Hütte, in die ich nur mit gebücktem Kopf hatte eintreten können, herrschte der Branntwein. Der Mann soff, solange er etwas hatte, die Frau auch, und selbst ihren Kindern gaben sie zur Betäubung des Hungers von dem unseligen Naß. Als ich nun durch die niedrige Tür in den einzigen Raum, den der Katen enthielt, hineingekrochen war, sah ich auf dem Strohlager an der Erde eine Leiche liegen. Es war die Leiche der Mutter des Hauses. Während ich noch, entsetzt von dem Anblick der Not und des Grauens, dastand, bewegte sich die Decke, und ein schmutziger Kinderkopf und bald noch einer guckten unter der Decke hervor, verkrochen sich aber bald wieder, denn es war bitter kalt. Draußen lag Schnee und drinnen brannte kein Feuer.

Bei dieser armen Familie versuchte ich zuerst mein Heil mit meinen 100 Talern, wurde aber gründlich zuschanden. Denn der Roggen, den ich ihnen schenkte, und die Kleider, die ich für die armen zerlumpten Kinder kaufte, wurden, soweit es möglich war, wieder in Branntwein verwandelt. Ähnlich ging es mir bei andern Familien. Meine 100 Taler waren im Umsehen ausgegeben; aber ausgerichtet hatte ich nichts. Und diese Lehre war mir nicht zum Schaden, denn ich lernte, daß mit bloß menschlichen Künsten der Gutmütigkeit gegen menschliches Elend und gegen Sünde, von der das Elend stammt, nichts auszurichten ist.

Wie ganz anders sah es aber in der Hütte aus, in die mich mein Freund Mellin führte! Auch in ihr wohnte große Armut und Krankheit und Elend dazu. Aber statt des Branntweins hatte hier der Friede Gottes das Regiment! Seit 28 Jahren, fast von seiner Jugend an, lag hier auf verhältnismäßig sauberem Lager ein Lazarus: „der kranke Fritz”, so hieß er im Dorf. Aber er besaß, was mehr war als die Schätze Ägyptens: er wußte, was er an Jesus Christus hatte, nämlich die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden. Und das machte ihn reich und glücklich. Der Vergleich mit den armen Branntweinsäufern, die mit keinem Mittel menschlicher Weisheit aus ihrem Elend gerissen werden konnten, zugleich mit der Erinnerung an meine vergeblich ausgegebenen 100 Taler – und dem gegenüber der kranke Fritz mit seinem reichen Besitz der unvergänglichen köstlichen Perle machten einen tiefen Eindruck auf mich. Der kranke Fritz wurde von da ab im Verborgenen mein Freund. Gott allein weiß es, und die Ewigkeit wird es klarmachen, was ich ihm verdanke!

Mitten in diese für mich so bewegte Arbeits- und Kampfeszeit fiel ein Ereignis besonderer Art. Ich war eines Abends im Monat Mai 1854 nach Buchwald hinübergeritten, wo mir ja immer der Eintritt in das liebe Glasenapsche Familienleben offen stand. Da wurde ein Brief durch einen besonderen Boten von Gramenz hinter mir her geschickt. Er war von der Hand meiner lieben Mutter und begann: „Ehe Du diesen Brief liest, mein lieber Sohn, bitte Gott, daß es Dir zum Segen werde, was ich Dir mitteilen muß.” Und nun kam die Nachricht von dem seligen Heimgang meines Vaters.

Der Vater hatte sich schon mehrere Jahre zuvor wieder eine Arbeit vom König ausgebeten. Und zwar hatte er gewünscht, daß ihm wieder ein Landratsamt zugewiesen werden möchte. Er trachtete nicht nach hohen Dingen, und solch ein geringer Posten wäre ihm in der Tat das liebste gewesen. Statt dessen hatte ihn der König im Jahre 1852 zum Regierungspräsidenten in Arnsberg ernannt anstelle des jüngeren Bruders meines Vaters, der das Finanzministerium in Berlin übernahm. Auch dieser Posten war ihm recht, und er hat ihn mit größter Freudigkeit und Treue die zwei letzten Jahre seines Lebens verwaltet.

Etwa ein Jahr vor der mir ganz überraschend gekommenen Todesnachricht hatte mich schon einmal ein Brief der Mutter plötzlich den weiten Weg von Gramenz nach Westfalen machen lassen. Die Mutter schrieb, daß der Vater tödlich erkrankt sei und die Ärzte wenig Aussicht für sein Leben ließen. Als ich nach Berlin zu meinen Verwandten kam, war die dort eingetroffene Nachricht noch hoffnungsloser, sodaß ich nichts anderes mehr erwarten konnte, als des Vaters Antlitz hienieden nicht mehr zu sehen.

Ich kam von Soest mit der Post abends zehn Uhr in Arnsberg an, wo das elterliche Haus dicht bei der katholischen Kirche an einem freien Abhang gelegen war. Der Mond stand hell am Himmel. Ich traute mich zunächst nicht in das Haus hinein, sondern ging von allen Seiten herum, um an den etwa vorhandenen Lichtern zu erkennen, was ich darin wohl vorfinden würde. Noch stand ich einen Augenblick an das Geländer des Abhangs gelehnt, als plötzlich die Haustür aufging und ein Mann heraustrat. Es war der Doktor. Ich lief ihm nach und faßte ihn beim Arm. „Gehen Sie nur getrost hinein,” sagte er, „seit heute mittag ist die Krisis zum Leben eingetreten.”

Drinnen fand ich außer der Mutter und den beiden Schwestern auch meine beiden Brüder, die bereits vor mir eingetroffen waren, Franz von seiner Oberförsterei, Ernst, der den Soldatenstand erwählt hatte, von seiner Garnison in Frankfurt a. M. Ich war der weiteste und letzte. Am Morgen nach meiner Ankunft hörte ich, an der Tür stehend, den Vater zur Mutter sagen: „Frau, was machst du für ein Gesicht! Ich glaube, der Friedrich ist auch da.” So mußte ich denn hinein. Dann haben wir miteinander, wie schon so oft, die selige Zeit der Wiedergenesung des Vaters mit innigster Dankbarkeit und Freude gefeiert. Denn sobald die Krisis eingetreten war, ging es bei der kräftigen Natur des Vaters meist schnell wieder mit ihm aufwärts. Es war dies das letzte Zusammensein, das ich auf Erden mit dem teuren Vater hatte. Noch einmal kosteten wir alle mit vollen Zügen das friedsame Glück unseres Familienlebens.

Bei Gelegenheit dieser seiner Erkrankung hatte Vater vor der Feier des heiligen Abendmahls einmal gesagt: „Herr, wenn du siehst, daß es mir und den Meinen heilsam ist, daß ich noch bleibe, so will ich wohl bleiben; wenn du aber siehst, daß ich von dir abkommen sollte, so nimm mich nur gleich dahin!” Dem Pastor Bertelsmann aber sagte er damals: „Ein armer bußfertiger Sünder stirbt allezeit in Frieden.” Von dieser Zeit ab äußerte er öfter das Verlangen, daß ihm Gott doch ein langes untätiges Alter ersparen möchte und, wenn er nicht mehr arbeiten könne, mit ihm eilen möchte aus der Zeit in die Ewigkeit.

Besonders schwer lag meinem Vater meine Zukunft auf der Seele. Weil er arm war und mir kein eigenes Gut kaufen konnte, mich auch die Bewirtschaftung unseres kleinen Familienbesitzes Velmede nicht hätte befriedigen können, so hatte ich meinem Vater öfter erklärt, daß ich gern mein Leben lang als Verwalter fremder Güter arbeiten wolle. In der Tat erscheint mir das noch jetzt viel leichter, als selbst Besitzer zu sein, wenigstens unter den Verhältnissen, in denen sich die meisten Besitzer der östlichen Provinzen befinden. (1884 geschrieben.) Einmal ist es die Last der Sorge, die einen großen Teil von ihnen drückt, da sie mit Schulden beladen sind. Aber noch mehr sind die Umstände qualvoll, daß sie sich immer in den Gewinn der Ernte gewissermaßen mit den Tagelöhnern zu teilen haben und dabei der beständige Kampf nicht aufhört, wieviel sie diesen geben, wieviel sie selbst behalten sollen. Für einen Verwalter fremden Gutes, der keinen eigenen Gewinn für sich daraus zu ziehen hat, ist dagegen die Lage unvergleichlich leichter, und die Sorgen sind so viel geringer.

Gleichwohl war dieser Gedanke meinem Vater schwer; und er hatte den Wunsch, da meine Gesundheit sich inzwischen wieder vollkommen gekräftigt hatte, daß ich noch einmal eine Universität beziehen möchte. Was ich aber nach seiner Meinung studieren solle, sagte er nicht. Bloß wenn vom juristischen Studium die Rede war, sagte er: „Junge, das ist für dich zu trocken, das hältst du nicht aus.” – So blieb diese Frage offen. Ich reiste von Arnsberg nach Pommern zurück, um zunächst meine dortige Arbeit fortzusetzen, in der ich dann, ein Jahr später, durch die Nachricht von dem Tode meines Vaters überrascht wurde.

Durch eine Hungersnot, die infolge einer Mißernte im südlichen Teil des Regierungsbezirks Arnsberg herrschte, hatte Vater im Frühling 1854 eine ihn besonders bedrückende Last auf sich liegen. Er liebte es nicht, solche Nöte vom grünen Tisch aus zu bekämpfen, sondern hatte sich persönlich nach dem armen Wittgensteiner Land aufgemacht. Er hatte zu Fuß die armen Ortschaften durchwandert und war selbst in die Hütten eingetreten, an deren Tür der Hunger klopfte, um nach eigenem Augenschein desto leichter und gründlicher Abhilfe schaffen zu können.

Eines Nachmittags wurde er von einem Regenschauer überrascht, sodaß er durchnäßt in dem kleinen Städtchen Medebach anlangte. Dort war es, wo ihm Gott seine Sterbestunde bescherte. So wie er es sich gewünscht hatte, wurde er mitten aus seiner frischen, fröhlichen Arbeit herausgerufen. Die Mutter konnte auf die Nachricht von seiner Erkrankung noch zu ihm eilen und einige Tage das ihr allezeit köstliche Glück genießen, ihn selbst pflegen zu dürfen und mit ihm stille, selige Stunden zu feiern. Sie war diesmal voller Hoffnung, daß es wieder zum Leben gehen würde. Dann aber war plötzlich Lungenschlag eingetreten, der beiden nur eben so viel Zeit ließ, voneinander Abschied zu nehmen, ohne daß zu einem langen schmerzlichen Scheiden Zeit geblieben wäre.

Als beide Schwestern, Frieda und Sophie, die zuerst die Trauernachricht erreichte, in das Zimmer traten, wo die Mutter neben der Leiche des Vaters saß, da sahen sie zu ihrem Erstaunen nicht ein von Schmerz zerrissenes, sondern von Dank verklärtes Antlitz, ebenso voll Frieden als das verblichene Antlitz des Vaters selbst. „Aber du weinst ja nicht?” fragt eine der Schwestern. „Wie sollte ich weinen,” war ihre Antwort, „da Gott ihn mir 28 Jahre lang gelassen hat und wir so unbeschreiblich glücklich zusammen gewesen sind!” Es war freilich noch etwas Größeres, das ihre Tränen stillte und ihre Traurigkeit in Freude verwandelte: Sie wußte, daß sie nicht in Ewigkeit geschieden waren, sondern vielmehr im Vaterhause ewig verbunden sein sollten.

Ich mußte manches entbehren von dem Segen, der meinen Geschwistern in diesen Tagen geschenkt wurde. Der Brief meiner Mutter nach Gramenz hatte nahezu drei Tage gebraucht, und wiewohl ich mich auf der Stelle aufmachte und Tag und Nacht reiste, so fand ich doch nur das bereits mit Erde zugedeckte Grab meines Vaters. Und doch waren es Tage unerwartet reichen Segens und Friedens, die uns um das Grab versammelten Geschwistern zuteil wurden, als wir noch einige Tage bei der Mutter blieben. Bei unserer lieben Mutter war es immer so, daß gerade während der Zeit des ersten und tiefsten Schmerzes der Glaube in ihr sich am sieghaftesten bewies und die Freude über die Tröstungen Gottes viel größer war als der Schmerz. Besonders groß aber war ihre Freude, als sie während unseres Beisammenseins merkte, daß wir fünf Geschwister alle uns mit ihr auf demselben Wege befanden und ihren Glauben und ihre Hoffnung teilen konnten.

Jedes von uns Geschwistern hatte in jener Zeit in großer Versuchung und Gefahr gestanden oder doch in ernster und schwerer Entscheidung seines Lebens. Noch vor dem Tode des Vaters hatte sich meine Schwester Sophie mit dem Landrat Julius von Oven, mein Bruder Franz mit Clara von Hymmen verlobt. Mein jüngster Bruder Ernst stand bei den Jägern in Frankfurt a. M. Wir Geschwister waren nie gewohnt gewesen, uns über alles auszusprechen, was den tiefsten Herzensgrund bewegte. Aber diesmal öffnete uns die ernste große Stunde den Mund. Mehr wie jemals sonst konnten wir einander ins Herz sehen lassen. Es war uns allen zu Mute, als wenn der Vater, den doch keiner von uns vor seinem Sterben gesehen hatte, noch vorher jedem seine Hände aufs Haupt gelegt und jedem einen ganz besonderen Segen mitgegeben hätte, und wir konnten uns vorstellen, daß er das, was er leiblicherweise zu tun nicht mehr vermocht hatte, doch im Geiste getan hatte und daß er jetzt im ewigen Vaterhause unser aller segnend und liebend gedenke.

Acht Tage dauerte dies unser köstliches Beisammensein. Dann mußte ich in meine große schwere Arbeit zurück. Während der Reise war es nicht eigentlich meine Sorge, wie ich die noch übrigen fünf Monate bis zur Rückkehr meines Freundes Ernst die Verwaltung des großen Gutes leiten sollte, sondern ein anderes bedrückte mich. Mehr wie je vorher hatte ich ein Verlangen nach einer stillen Stunde der Einkehr, zu der während der Arbeitslast der Woche keine Zeit war. Am Sonntag hätte es ja sein können. Aber es war ja unsere Gewohnheit, daß wir jungen Leute den ganzen Sonntagnachmittag auf der schönen Kegelbahn zubrachten, die auf der Insel im Garten recht traulich angelegt war. Und wer wollte uns jungen Leuten diesen Zeitvertreib verargen? Trotzdem hätte ich mich gar zu gern hiervon freigemacht, um den Sonntagnachmittag still für mich allein zu haben. So bat ich Gott, er möge mir einen Weg zeigen, wie ich davon loskäme, ohne eine Unwahrheit zu sagen und ohne mehr von mir zu verlangen, als ich damals öffentlich zu bekennen die Kraft hatte.

Da sah ich es denn als eine Erhörung meines Gebetes an, was mir gleich bei meiner Ankunft in Gramenz widerfuhr. Mein Pferd, der Soliman, ein ausgezeichnetes, ausdauerndes Roß, war während der langen Ruhezeit übermütig geworden. In dem Augenblick, wo ich mich zum erstenmal wieder in seinen Sattel schwang, stieg das Tier steil in die Höhe und überschlug sich rückwärts, sodaß ich unter das Pferd auf das Steinpflaster des Hofes zu liegen kam. Ich hatte weiter keinen Schaden genommen, als daß mein rechter Ellbogen kräftig blutete und der Knochen etwas verletzt war. Aber ich mußte doch meinen Arm mehrere Wochen lang in der Binde tragen; und während der Gramenzer Zeit erstarkte er überhaupt nicht wieder so weit, daß ich eine Kegelkugel damit hätte schieben können. So hatte ich den mir erbetenen stillen Sonntagnachmittag.

Gott schenkt uns mitunter Zeiten in unserer Pilgerschaft, wo wir nicht im dunklen Glauben, sondern im seligen Schauen seiner Gnadenwege einhergehen können und wo jeder Tag uns ein neuer Beweis seiner Barmherzigkeit und Treue ist. Solch eine Zeit brach jetzt für mich an. Ich benutzte sogleich meinen ersten Sonntag, um mich, während die andern Kegel schoben, still in Gottes Wort zu vertiefen, das mir seit meiner frühsten Kindheit ja genug gepredigt worden, mir aber nicht wieder recht persönlich nahegetreten war. Ich stand auch wochentags eine Viertelstunde früher als sonst auf, um unter den alten Linden im Garten auf- und abzuwandeln und dort ungestört meine Morgenandacht zu halten. Jedes Wort der Schrift – ich pflegte jedesmal ein Kapitel aus dem Neuen Testament zu lesen – sah ich nun mit ganz andern Augen an als je zuvor.

Dazu kam noch ein Erlebnis eigener Art. Ich hatte seit einiger Zeit die Gewohnheit, den Kindern, die mir beim Reinigen der großen Zuckerrübenfelder halfen, außer ihrem Lohn einen der kleinen Traktate zu geben, die entweder aus Stuttgart oder Straßburg oder auch aus Basel stammten und die ich von dem Kolporteur bezog, den der alte Herr von Senfft angestellt hatte. Viele Tausende dieser Traktate hatte ich schon verteilt, doch selbst gelesen hatte ich noch keinen.

Eines Sonntagnachmittags aber, als die andern wieder am Kegelschieben waren, fiel mein Blick auf einen dieser kleinen Kindertraktate. Er hieß: „Tschin, der arme Chinesenknabe”, und kam aus Basel. Er erzählte von einem armen Chinesenkinde, das englische Soldaten während des bekannten Opiumkrieges der Engländer gegen China in Schutz genommen hatten, nachdem des Kindes Vater, weil er den Engländern Dienste geleistet hatte, von den Chinesen ergriffen und hingerichtet worden war. Um das arme Waisenkind zu retten, brachten es die Soldaten mit nach England. Hier nahmen sich christliche Freunde des armen Knaben an, er wurde treulich unterrichtet, kam zum kindlichen Glauben und wurde getauft. Dann aber erkrankte er, wie so viele Kinder des Südens, die in unser kaltes Land kommen, an der Lunge und siechte langsam dahin. Er hatte aber beständig nur ein Verlangen, nämlich daß er seinen Landsleuten auch von dem Heiland sagen könnte, den er selbst gefunden hatte, und er sprach es einmal mit großem, heiligem Ernst aus: „Was soll ich einmal am Tage des Gerichts sagen, wenn meine Brüder mich fragen würden, warum ich, obwohl ich den Weg des Heils gewußt, ihnen solches nicht mitgeteilt hätte?”

In dem Augenblick, wo ich diese einfachen Worte las, war es plötzlich, als ob mir in bezug auf meinen Lebensberuf die Schuppen von den Augen fielen. Ich hatte bis dahin niemals auch nur einen leisen Gedanken in meinem Herzen gehabt, noch hatten es weder Vater noch Mutter noch irgend ein anderer Mensch mir je von fern nahegelegt, daß ich Pastor werden möchte. In diesem Augenblick aber wurde es mir so vollständig gewiß, daß mir Gott diesen Beruf geschenkt habe, daß auch kein leiser Zweifel von der Stunde an über mich kam, und ich konnte Gott mit Freudentränen dafür danken.

Doch teilte ich zunächst keinem Menschen etwas von meiner Freude mit, auch nicht meiner Mutter, auch nicht meinem Freunde Mellin, sondern nahm mir vor, mir von Gott selbst weitere Fingerzeige geben zu lassen. Daran fehlte es dann auch nicht. Im Anschluß an jenes Büchlein hatten sich meine Gedanken zunächst auf die Arbeit unter den Heiden gerichtet. Dahin ging meine Sehnsucht.

Inzwischen war die Erntezeit hereingebrochen. Es war eine gewaltige Ernte, die in den fünf großen Gütern einzubringen war. Es trat anhaltende Hitze ein. Das Korn reifte schnell und gleichzeitig, sodaß es auch möglichst schnell hintereinander geerntet werden mußte. Es wurde mir sehr bange, wo ich die Arbeiter für die Ernte herbekommen sollte, damit sie nicht verdürbe.

Eines Tages hatte ich mich schon mit Tagesanbruch auf mein Pferd gesetzt, um in einem Nachbardorf Arbeiter für meine Ernte zu werben. Als ich damit fertig war, ritt ich hinüber nach dem kleinen Städtchen Bublitz, wo, wie ich wußte, eben ein Missionsfest gefeiert wurde. Die Feier neigte sich schon ihrem Ende zu. Ich band mein Pferd draußen an und trat, um doch noch einiges zu hören, in die Kirche ein. Ich merkte gleich, daß der Pastor den Text hatte: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige; bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende!” Herzandringend schilderte er die Not hinsiechender, sterbender, verderbender Menschenseelen und des Herrn Jammer über sie, und zuletzt fragte er mit großem Ernst, ob denn unter der ganzen Gemeinde, unter allen, die im Gehorsam gegen den Befehl Christi um Arbeiter in seine Ernte bäten, nicht auch ein solcher wäre, der sich selbst für diesen Dienst stellen wollte. Da hieß es laut in mir: „Ja, ja, ich will gern kommen.” Fröhlich, ja, frohlockend jagte ich heimwärts, um zunächst die irdische Erntearbeit in Gang zu bringen.

In fliegender Eile gingen nun die letzten Monate meiner Gramenzer Zeit zu Ende. Mein Freund Ernst Senfft kam, um mich abzulösen. Die äußeren Verhältnisse hatten sich auch weiterhin entschieden gebessert. So konnte ich, da auch einige tüchtige Wirtschaftsinspektoren gefunden waren, meinem Freunde die Aufgabe getrost in die Hand legen. Am 11. Oktober nachts schnürte ich mein Bündel. Das Andachtsbuch meiner Eltern, der liebe Bogatzky, war inzwischen auch mein Freund geworden, und es war mir eine nicht geringe Stärkung meines Glaubens, was mir Bogatzky an diesem Abend mit auf den Weg gab, Apostelgeschichte 26, 17: „Ich will dich erretten von dem Volk und von den Heiden, unter welche ich dich jetzt sende.”




Als Student



1. In Basel. 1854–56

Die kleine Schrift, die die große Entscheidung für Bodelschwingh gebracht hatte, war aus Basel gekommen. Als es sich nun für den Beginn seiner theologischen Studien um die Wahl einer Universität handelte, fühlte er sein ganzes Herz nach Basel gerichtet. Da er aber nicht lediglich einem Gefühl folgen wollte, so fragte er in Berlin seinen alten Seelsorger Snethlage um Rat. „Gehen Sie nach Basel!” sagte dieser, schickte ihn aber zu seinem Kollegen, dem Domprediger Hoffmann, der bis vor kurzem Missionsinspektor in Basel gewesen war, um auch dessen Meinung einzuholen. Auch Hoffmann sagte: „Gehen Sie nach Basel!” Und so sah er seinen Weg entschieden.

Er eilte zur Mutter. Sie stimmte der Wendung, die sein Lebensweg genommen hatte, aus tiefstem Herzen zu und sah darin die Erfüllung ihres verborgenen Herzenswunsches. Zugleich entdeckte sie ihrem Sohn, daß auch sein Vater, ohne es je seinem Kinde auszusprechen, die Hoffnung gehegt habe, daß einer seiner Söhne einmal das Studium der Theologie ergreifen möchte. Nur Ernst von Senfft war aufs tiefste erschüttert. Er hatte die geniale Begabung seines Freundes für das Praktische zur Genüge erkannt, und nun beschwor er ihn, bei dem alten Berufe zu bleiben. Er war überzeugt, daß der Entschluß seines Freundes nichts als das Aufwallen einer religiösen Stimmung sei, die ihn nur auf Abwege bringen könne.

Aber die Stimme des Freundes konnte nichts mehr ausrichten. Wichtiger als seine eigene Entscheidung war ihm die Gewißheit, daß Gott über ihn entschieden hatte. Und wenn es auch Jahre dauerte, so erlebte er es doch schließlich bei seinem Freunde Senfft, daß, wenn jemandes Wege Gott gefallen, er nicht nur seine Feinde, sondern erst recht seine Freunde mit ihm zufrieden macht.

So machte sich der im 24. Jahre stehende Student über Frankfurt a. M., wo sein Bruder Ernst stand, nach Basel auf.

„Der Aufenthalt bei meinem Bruder Ernst”, so heißt es in den Erinnerungen weiter, „brachte mir eine besondere Erquickung. Ich war ja so ganz mit ihm aufgewachsen, so viele Jahre lang hatten wir ein Wohn- und Schlafzimmer geteilt, so viele Wege hatten wir miteinander zur Schule gemacht. Aber nun erst konnten wir unsere Herzen ganz gegeneinander aufschließen. Ernst war von einem unbeschreiblich kindlichen Zutrauen zu mir. Wir gingen in der Nacht am Ufer des Mains auf und ab, und er erzählte mir von den schweren Kämpfen, die er habe, um seinem Versprechen nicht untreu zu werden, das er zusammen mit seinem Freunde von Oidtmann Gott gegeben hatte, daß sie in ihrem Soldatenleben nichts tun wollten, was ihr Gewissen befleckte. Er bat mich brüderlich und herzlich, ihn in diesem schweren Glaubenskampf zu unterstützen und gemeinsame Sache mit ihm zu machen. Er sagte mir auch, daß es ihm von ganz besonderem Segen sei, den lieben Vater, der an ihm, seinem Benjamin, wie er ihn zu nennen pflegte, mehr noch als an seinen andern Kindern gehangen hatte, im Himmel zu wissen; denn er könne sich vorstellen, daß der Vater erfahre, wie er, sein Sohn, auf Erden wandele. Und dies sei ihm eine Stärkung im guten Kampf. Auch bat er mich, ihm von Basel gute Schriften zu schicken, um mit ihnen den ihm unterstellten Soldaten zu dienen.

Am andern Tage – es war am 6. November 1854 – langte ich abends spät in Basel an, das mir nun für anderthalb Jahre eine ganz besonders reiche Segensstätte werden sollte. Ich stieg in einem kleinen Gasthof ab, der dicht am Rhein lag. Hier wurde ich gleich freudig überrascht, als ich auf meinem Nachttisch eine Bibel liegen fand, die sich als Eigentum des Wirtshauses herausstellte, und als ich von der alten Magd, die das Zimmer bediente, erfuhr, daß der Wirt in jedes Zimmer eine Bibel lege. Das war mir bis dahin auf meiner Pilgerreise noch nicht vorgekommen.

Ich fand auf dem Petersplatz bei ein paar alten Fräulein ein gar freundliches Zimmer, das ich auch die anderthalb Jahre nicht wieder verlassen habe. Die beiden alten Damen hatten eine württembergische Magd, die auch schon bei Jahren war. Sie hieß Rösli Schwarz. Es war für mich, der ich nach ernster Sammlung und stillem Studium verlangte, eine große Wohltat, durch diese Magd alle Mahlzeiten im Hause bekommen zu können, auch mein Mittagbrot. Ich hatte aber auch außerdem manchen Segen durch diese treue Person. Sie hatte eine Schwester, die an einen Missionar in Afrika verheiratet war, und sie trug die Heidenmission, die ja auch mir so sehr anlag, unablässig auf betendem Herzen. Sie war eine von den Verborgenen und Stillen im Lande, durch die Gott gewiß nicht die kleinsten Taten tut.

So oft eine frohe Nachricht aus den Heidenländern kam, konnte ich es ihr gleich anmerken; denn dann glänzte ihr Angesicht vor Freude. So oft aber auf dem Missionsfelde etwas Schmerzliches vorgefallen war, ging sie gebeugt einher als eine, die selbst an solcher Niederlage mit schuld war, weil sie, wie sie sich selbst anklagte, im Wachen und Beten nachgelassen habe. Es ist selbstverständlich, daß ich bei solchem Herzenszustande an ihr eine mütterliche Pflegerin hatte, und bis auf diese Stunde (1887), wo sie als eine bald 80 jährige Pfründnerin zu Fellbach bei Stuttgart lebt, bekomme ich von ihr alljährlich die rührendsten Gaben und Liebeszeichen. Durch sie wurde ich auch mit manchen Württemberger Zuständen näher bekannt, namentlich mit dem lieben Korntal, wo sie längere Zeit ihres Lebens gewohnt hatte.

Ebenso angenehm wie mein kleines Zimmer und meine häusliche Verpflegung war auch die Umgebung meiner Wohnung. Dicht vor meinem Fenster ragten die schönen hohen Ulmen und Linden des großen Petersplatzes empor. An der linken Seite, von der die Treppe nach der Unterstadt hinabführte, lag die Peterskirche, an der der würdige Pfarrer La Roche stand. Schaute ich rechts zu meinem Fenster hinaus, so begrenzte hier der alte Wall meine Aussicht. Ich brauchte aber nur den Kamm des Walles zu übersteigen, so sah ich auf der andern Seite des Wallgrabens den großen Friedhof der Stadt liegen und darüber hinweg die Vogesen. Wenn ich quer über den Petersplatz ging, so hatte ich von der andern Seite des Platzes aus nur noch ein kurzes Gäßchen zu durchschreiten, dann stand ich an dem schönsten Tor der Stadt, dem alten Spalentor, vor dem jetzt das neue Missionshaus liegt. Damals war jenseits des Tores noch freies Feld. So suchte ich mir dort in der Frühlings- und Herbstzeit jeden Morgen zwischen den grünen Matten die schönsten Wege auf, um in der Stille ein Kapitel in meinem griechischen Neuen Testament zu lesen. Da habe ich unbeschreiblich köstliche Feierstunden zugebracht.

Die alte Universität von Basel lag dicht über dem Rhein, oberhalb der Rheinbrücke. Die Hörsäle blickten fast sämtlich vom steilen Abhang herunter in den lieben Rheinstrom hinein, der in einem prachtvollen Bogen die Stadt durchströmt. Ein wenig oberhalb der Universität liegt das herrliche Münster von Basel, aus rotem Sandstein gebaut, in das ich oft und gern eintrat und in dem ich manche wertvolle Predigt gehört habe.

Es war damals gute Zeit in Basel, so gut, wie sie vorher und nachher Studenten vielleicht kaum erlebt haben. Ein kleiner Kreis frommer Männer hatte seit längerer Zeit aus freiwilligen Mitteln dafür gesorgt, daß immer ein entschieden biblischer Theologe an der Universität angestellt war. Als Nachfolger des trefflichen Beck, der nach Tübingen gegangen war, stand damals Professor Auberlen in seiner vollen Liebesglut. Er war einer von denen, die, wie Woltersdorf und Hofacker, ihre Kraft im Dienste ihres Herrn verzehrten. Denn nur bis in den Anfang seiner dreißiger Jahre hat er seine Pilgerschaft geführt, und man merkte es ihm an, daß er seinen Lehrerberuf nahe vor den Toren Jerusalems trieb. Unangetastet von allen kritischen Grübeleien, ließ er die ganze Schrift von Anfang bis zu Ende in herzlichster Freude stehen, wie sie stand. Er hatte eine ungemein einfältige biblische Belesenheit, und seine frischen, warmen Vorträge fanden lebendigen Widerhall in den Herzen seiner Zuhörer.

Aber als entschlossener Freund biblischer einfältiger Theologie stand er nicht einsam da. Da war unser lieber Professor Joh. Riggenbach, der vorher während seines neunjährigen Pfarramtes sich auf dem Boden der Praxis aus den Irrgängen des Rationalismus zum fröhlichen Glauben durchgerungen hatte, eine rechte Johannesnatur, nicht streitbar, aber reich an Liebe und Demut. Da war der alte Preiswerk, unser Hebräer, den wir Levi nannten. (Da ich auf dem Gymnasium kein Hebräisch getrieben hatte, so wurde ich ihm zu besonderem Dank verpflichtet, weil er mich fast allein in die hebräische Grammatik einführte.) Er war neben seiner Professur Prediger an St. Leonhard und predigte damals stets über das Alte Testament, kurz und kernig und immer so, daß er zum Schluß mit wenigen Worten von der Weissagung auf die Erfüllung hinwies und aus dem Schatten des Alten Bundes in das Licht und die Helligkeit des Neuen Testamentes eintrat. Da war Hagenbach, der ausgezeichnete Kirchenhistoriker, und schließlich der Lizentiat Stockmeyer, später Antistes der Baseler Kirche, dessen scharfsinniger und gewissenhafter Auslegung paulinischer Briefe ich manches verdanke.

Außerdem war gerade damals ein junger Philosoph Steffensen aus Kiel nach Basel gekommen, fast noch ein Jüngling mit wallendem Haar und ausdrucksvollem, schönem Gesicht. Er war von seinem Beruf durch und durch ergriffen und trug die Geschichte der Philosophie mit einer Glut der Begeisterung vor, daß man aus den verschiedenen Fakultäten in sein Kolleg lief. Dabei hatte er eine prachtvolle Diktion, sprach völlig frei und oft mit solcher Anstrengung, daß er am Schluß ganz erschöpft war. Doch hatte ihn keineswegs seine Philosophie so berückt, daß er sich nicht hätte gefangen geben können unter den Gehorsam des Glaubens. Mit einigen von uns ging er gelegentlich spazieren, wobei wir über dies und jenes Problem disputierten.

Aber wieviel gesunde Speise damals auch die Universität bot, noch lieber war mir das Missionshaus. Auf die Fürsprache von Hoffmann in Berlin, dem früheren Missionsinspektor, war es mir gestattet worden, an dem Unterricht der Missionszöglinge teilzunehmen. Da ging es dann freilich weniger gelehrt, aber doch noch inniger und zutraulicher zu als auf der Universität. Es war besonders der Pfarrer Geß, später Generalsuperintendent in Posen, der uns mit seiner Tiefe und Einfachheit in die Heilige Schrift einführte. Wir lasen das Alte und Neue Testament im Urtext, und zwar so, daß wir nicht nur selbst übersetzten, sondern auch selbst auszulegen versuchten, Geß uns aber verbesserte.

Später nahm ich an den Predigtübungen teil, die Inspektor Josenhans leitete. Aber auch zu allen andern Gelegenheiten stand mir das Missionshaus offen. Besonders lieb waren mir immer die Abschiedsfeiern der ausziehenden Missionare. Ich lernte hier mit steigender Freude die Seligkeit eines Dienstes in der Nachfolge Christi kennen, in der man um seinetwillen Vater und Mutter, Vaterland und Freundschaft verlassen kann und dabei in der Gewißheit eines beständigen Beisammenseins vor seinem Angesicht kurze irdische Scheidestunden nicht zu achten braucht. Wenn ich an solche Feiern und überhaupt namentlich an meine Sonntage im lieben Basel denke, so fällt mir ein, daß ich oft am Abend so voll Freude über alles Erlebte war, daß ich mit Jauchzen und Springen in meine Wohnung eilte und über dem, was Gott schon auf Erden schenkt, manchmal in der Nacht vor Freude nicht schlafen konnte.

Unter denen, die zu dieser meiner Freude beitrugen, steht mir besonders das Angesicht des lieben alten Missionars Graf Zaremba vor Augen. Wir pflegten wohl zu sagen, daß, wenn man ihn ansehe, man unmittelbar in den Himmel hineinsehe. Sodann war es Dr. Ostertag, der Bibelmann, der, schon an seinen Augen erblindend, sich doch noch am Unterricht der Missionszöglinge beteiligte und mit seinen köstlichen Predigten viel dazu beitrug, daß uns die Augen aufgeschlossen wurden für die Herrlichkeiten des Reiches Gottes. Unter den Lehrern am Missionshaus war auch noch ein junger Kandidat Haug, bei dem ich zwar keinen Unterricht hatte, der mich aber oft aufsuchte und mit mir spazieren ging. Einmal an einem Pfingstmorgen sagte er mir: „Heute vor vier Jahren habe ich mein Augenlicht wiederbekommen, und zwar auf das Gebet des lieben Pfarrers Blumhardt.” Durch Haug wurde ich auf solche Weise zuerst auf Blumhardt aufmerksam.”

Neben den Vorlesungen auf der Universität und im Missionshaus benutzte Bodelschwingh jede Gelegenheit, um mit seinen Lehrern in persönliche Berührung zu kommen. Namentlich auf ihren Spaziergängen begleitete er sie und besprach sich mit ihnen. Auf peinlich nachgeschriebene Kollegienhefte legte er keinen Wert. Dagegen faßte er zu Hause den Ertrag des Hörsaals und der Besprechungen, die er mit seinen Lehrern gehabt hatte, in eigener Bearbeitung zusammen. So begann er schon in Basel die selbständige Ausarbeitung einer Glaubenslehre.

Dazu kam nun ein reiches Freundschaftsleben. „Mit der jüngeren Generation”, schreibt er, „hatte ich damals schon bemoostes Haupt nicht sehr viel Umgang, weil ich niemals den Tabaksdunst der Pfeife vertragen konnte und darum die studentischen Versammlungen gern mied. Doch gab es in der Studentenverbindung „Schwyzer Hüsli” eine Anzahl lieber frischer junger Leute. Sie nahmen mich, wie es in der Studentensprache hieß, als Konkneipant bei sich auf, und mit einigen von ihnen knüpfte ich ein enges Freundschaftsband.

Ganz besonders aber zog mich ein Student an, der nicht diesem Kreise angehörte. Er stand, wie ich, im ersten Semester und hieß Jakob Riggenbach. Er gehörte einer alten Baseler Kaufmannsfamilie an, hatte sich zunächst dem Kaufmannsstande gewidmet und war erst später, ebenso wie ich, zur Theologie übergegangen. Er war eine hohe, Achtung gebietende Gestalt, noch fünf Jahre älter als ich. Heiße Kämpfe des Leibes und der Seele standen in seinem Angesicht geschrieben. Da er in der reformierten Kirche die persönliche Seelsorge vermißte und namentlich den Gebrauch der Löseschlüssel in der Privatbeichte, so hatte er sich eine Zeitlang zur irvingianischen Gemeinde geflüchtet; doch hatte er auch dort nicht gefunden, was er suchte, und sich mit großem Mut wieder von ihr getrennt. Schließlich hatte der Friede Gottes aber die Oberhand bei ihm gewonnen, und sein freundliches, mildes Auge hatte etwas besonders Anziehendes für mich. Er konnte es nicht viel und lange in den Kollegien aushalten, und mir ging es ebenso. Deswegen streiften wir miteinander oft in den nahen Bergen umher, manchmal mehrere Tage ausbleibend, wobei wir auch befreundete Pfarrhäuser in der Landschaft besuchten. Immer führten wir die Schrift mit uns und besprachen sie gegenseitig.

Bei einer solchen Wanderung kehrten wir auch einmal bei einem Pfarrer ein, in dessen Gemeinde viel geistiges Leben war. Der Pfarrer selbst aber hatte einen großen Schmerz, der damals schon anfing, sein Vaterherz zu zerreißen. Er hatte einen 15 jährigen Sohn, der sich auf das entschiedenste gegen den Geist des Elternhauses auflehnte. Da der Sohn die höhere Schule in Basel besuchte, so bat mich sein Vater, ihm doch nachzugehen. Ich wußte, daß der Sohn Wege ging, die ihm sein Vater verboten hatte. Aber ich war auch nicht einverstanden mit dem Vater, daß er dem Sohn mehr verbot, als er halten konnte.

Der Junge hatte einen glühenden Zug zum Theater und verwandte darauf jeden Groschen, den er erübrigen konnte. Sein Vater aber hatte ihm den Theaterbesuch verboten. Nun stellte ich mich eines Abends in der Nähe des Theaters auf, wo der Junge durchkommen mußte. Und richtig, es dauerte nicht lange, da kam er mit scheuen, hastigen Schritten dahergestürzt. Er erschrak, als ich ihn beim Arm faßte. Flehentlich bat er, ich möchte ihn doch nicht zurückhalten; er müsse ins Theater. Ich sagte ihm dagegen, daß er nichts gegen das klare Verbot des Vaters tun dürfe, versprach ihm aber, mich bei seinem Vater zu verwenden, damit er die Erlaubnis bekäme, mitunter einmal mit gutem Gewissen ins Theater zu gehen. Der Junge heulte laut, gab aber endlich doch nach.

Leider erreichte ich beim Vater nichts. Die Schule in Basel schickte schließlich den Jungen fort; und nun ging es immer mehr mit ihm bergab. Ich hörte lange nichts von ihm, bis er mir eines Tages aus einem jener schrecklichen Lazarette schrieb, in denen die Soldaten der afrikanischen Fremdenlegion untergebracht sind. Als ich den Brief an seinen Vater weitergab, antwortete er mir mit einem durchdringenden Schmerzensschrei. Aus Haß gegen das Christentum ging der unglückliche Mensch schließlich so weit, daß er Mohammedaner wurde. Er ist dann gestorben und verschollen – ich weiß nicht, wo. Dies Erlebnis aber war mir ein schmerzliches Warnungszeichen dafür, daß christliches Leben niemals gewaltsam aufgepreßt werden darf, wie es bei diesem unglücklichen Sohn seitens des Vaters geschehen war.

Unter den jüngeren Freunden, mit denen ich in Basel zusammen studierte, war auch Theodor Zahn, der, während Riggenbach mir um fünf Jahre voraus war, mir um sieben Jahre nachstand, denn er war damals erst 17 Jahre alt. Er wohnte ganz in meiner Nähe, und wir arbeiteten öfters zusammen. Doch war er mir an Tüchtigkeit weit überlegen, und ich konnte ihm in der Schnelligkeit seiner Auffassung auf wissenschaftlichem Gebiete nicht folgen. Auch gingen unsere Anschauungen, nicht sowohl über das Eine, was not ist, – denn er war ein lieber, entschieden gläubiger Jüngling – wohl aber über die Art der Vorbereitung auf das Predigtamt weit auseinander. Ihm war es in Basel nicht wissenschaftlich genug. Wir sind später zusammen nach Erlangen gezogen, haben dort in einem Hause gewohnt und an einem Tisch gegessen. Aber auch hier war mir sein wissenschaftlicher Flug zu hoch. Er ist denn auch in der Tat nach den ihm von Gott verliehenen Gaben einen andern Weg gegangen als ich. Er ist jetzt Professor in Erlangen und steht als ein treuer biblischer Theologe in rechtem Ansehen.

Auch mein Freund Gustav Bossart, der zuletzt an meinem Krankenbett in Berlin gesessen hatte, stellte sich in den ersten Baseler Sommerferien zu einer Fußwanderung ein. Er hatte sein Assessor-Examen gemacht und von seinem Vater das Geld zu einer Reise in die Schweiz und nach Italien bekommen. Unsere Wege waren inzwischen weit auseinander gegangen; nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Als wir das Aare-Tal hinaufwanderten, fragte ich ihn, ob er mir erlaube, jeden Morgen und Abend ein Kapitel aus dem Neuen Testament mit ihm zu lesen. Er bat aber, daß ich ihm diese Qual nicht antun möge; er habe mit allem, was die Schrift enthielte, völlig gebrochen. Dagegen gelobe er, daß er seinerseits während unserer Wanderschaft sein Kneipenleben aufgeben wollte.

Auf dem Wege nach dem Rhonegletscher hinauf hatten wir unter emsigem Gespräch nicht genau auf den Weg geachtet und uns verirrt. Umkehren wollten wir nicht, weil wir weiter oberhalb einen Richtweg zu erreichen hofften. Aufwärtssteigend und an den Büschen uns festhaltend, schien uns der Weg nicht zu gefahrvoll. Aber bald kamen wir an eine Stelle, an der ein weiteres Vorwärtsdringen ganz unmöglich war. Als wir rückwärts blickten, fing uns an zu schwindeln. Denn unter uns gähnte der Abgrund, den wir beim Hinaufklimmen übersehen hatten. Da klebten wir nun an der Felswand und wußten weder vorwärts noch rückwärts zu kommen. In diesem Augenblick fing mein Freund an zu fluchen. Ich gewann den Mut, ihn ernstlich zu strafen. Es sei kein Augenblick zum Fluchen, sondern es gälte, zu Gott zu rufen. Mein Freund ließ sich meine Strafe gefallen, und Gott ließ es uns gelingen, ohne daß unser Fuß glitt, die sichere Straße wieder zu gewinnen.

Wir kamen auf diese Weise bis Mailand und Genua, wo wir von einem kleinen Boot aus, das wir uns gemietet hatten, im Mittelländischen Meer badeten. Der Rückweg führte uns ins Engadiner Land, wo mein Freund Riggenbach in Vertretung eines Pfarrers einer kleinen einsamen Gebirgsgemeinde in einem stillen Dörfchen zu dienen hatte. Mit großer Herzlichkeit wurden wir aufgenommen, und mit großer Unbefangenheit hielt Riggenbach seine einfachen köstlichen Andachten, bei denen er auf den Knien zu beten gewohnt war. Ich merkte, daß mein Freund sich hiervon nicht abgestoßen fühlte; denn es kam kein Wort des Widerspruchs über seine Lippen. Nachts schliefen wir zusammen in einem Bett, denn Riggenbach hatte nur eins.

Riggenbach begleitete uns bis ins Rheintal und erzählte unterwegs ergreifend von einem Sterbenden, der noch etwas Schweres auf dem Gewissen hatte und zum Frieden kam, als er es glücklich über seine Lippen gebracht hatte.

Als Bossart und ich in Zürich am schönen Seeufer entlang schlenderten, traf mein Freund einen alten Bekannten aus Berlin, der mit dem Züricher Leben und Treiben genau vertraut war. Dieser bat ihn, ihn doch den Abend zu besuchen. Ich ahnte nichts Gutes. Und wie ich es gefürchtet, so kam es. Mein Freund hatte versprochen, bald wiederzukommen. Aber er blieb aus. Da ich mancherlei zu lesen und zu schreiben hatte, legte ich mich nicht schlafen, sondern blieb auf. Endlich um drei Uhr morgens polterte es die Treppe herauf. Ein Mensch in jämmerlicher Verfassung kam herein, dem ich sogleich zu Bett helfen mußte, ohne daß ich ihm natürlich ein Wort des Vorwurfs sagte. Den andern Tag lag tiefe Scham auf seinem Angesicht; ja, mehr als das.

Als wir abends in Basel ankamen, hörten wir, daß die Cholera, die schon bei unserer Abreise geherrscht hatte, noch immer neue Opfer fordere. Trotzdem wollte mein Freund nicht gleich weiterreisen, sondern noch einige Tage bei mir bleiben. So überließ ich ihm mein Bett und machte das meine auf meinem Sofa. Als ich mich niederlegen wollte, sagte er: „Friedrich, gib mir eine Bibel!” Und er las lange darin, während ich mich schon zum Schlafen anschickte. Der andere Tag war ein Sonntag. „Ich gehe mit dir in die Kirche,” sagte er gleich. Auch bat er mich, jetzt abends und morgens die Schrift mit ihm zu lesen, ging auch einige Male mit mir ins Kolleg zu Professor Auberlen.

Bei seinem Abschied geleitete ich ihn eine halbe Tagereise weit in den Schwarzwald hinein. Dann trennten wir uns. Es war ein stiller, hoffnungsreicher Abschied, nicht mit viel Worten, aber voll inniger, dankbarer Freude, daß wir uns endlich wiedergefunden hatten. Er besuchte noch einmal meine liebe Mutter in Velmede und brachte einige stille Tage bei ihr zu. Bald danach starb er an einer kurzen Krankheit, und ich habe auf Erden sein Angesicht nicht wiedergesehen.

Auf der Reise, die mich mit meinem Freunde Bossart durch die Schweiz nach Italien führte, waren wir eines Tages infolge eines schweren Gewitters ganz durchnäßt worden, sodaß wir uns, in unser Quartier gelangt, gleich zu Bett legen mußten, um unsere Kleider am Herde trocknen zu lassen. Da hatte denn die Magd in meiner Tasche mein kleines Neues Testament entdeckt, und ich hatte es ihr auf ihre Bitte geschenkt. Wir waren mittlerweile bis zur Isola Bella im Lago Maggiore gelangt. Während sich mein Freund mit andern Reisenden, deren Bekanntschaft er gemacht hatte, unterhielt, ruhte ich im Schatten der Lorbeeren aus. Da ich nun mein Neues Testament nicht mehr bei mir hatte, so zog ich ein anderes Buch heraus, das ich noch in meiner Wandertasche bei mir führte. Es war ein kleines Buch von Dichtungen eigenen Fabrikats, die ich jetzt auf der Wanderschaft hatte vermehren wollen. Aber als ich eine Weile hineingesehen hatte, kamen mir im Vergleich zu dem, was Gott an köstlichen geistlichen Liedern geschenkt, meine Lieder elend vor. Auch erschien mir die Gefahr, mich in solchen eigenen Erzeugnissen zu sonnen, so groß, daß ich einen Stein suchte, einen Bindfaden darum band und das Machwerk in die Tiefe des Sees schleuderte. Ich war froh, wieder ein Stück des alten Adams abgetan zu haben und leichter weiterpilgern zu können.

Mehr als einmal bin ich mit meinen Baseler Freunden den Weg zum lieben Vater Zeller nach Beuggen am Rhein gepilgert. In den Franzosenkriegen vor hundert Jahren war das Schloß von Beuggen Kriegslazarett gewesen, und der Lazarett-Typhus hatte in furchtbarer Weise darin gehaust. Zuletzt hatte man keine Wärter mehr bekommen können, die sich in das entsetzliche Todeshaus hineinwagen wollten. So hatte man schließlich den Sterbenden nur noch das Essen in die Tür hineingeschoben und sie sich selbst überlassen. Noch lange Zeit hatten in einzelnen Teilen des Hauses Knochengerippe umhergelegen. So war das Schloß eine Stätte des Grauens, in die sich niemand hineintraute, bis Zeller, getrieben von der Liebe Christi, es wagte, sich vom Großherzog von Baden das Schloß auszubitten, um hier mit verwahrlosten Kindern seinen Einzug zu halten. Da ist denn an der Stätte des Todes ein fröhliches, frisches Leben aufgesproßt, das bis auf diesen Tag nicht versiegt ist.

Auf seinem Arbeitspult hatte Zeller ein großes Corpus juris stehen, daneben Goethes Faust und die Bibel. „Ich habe”, sagte er mir, „diese Bücher neben einander stehen lassen, um beständig zum Dank gegen Gott ermuntert zu werden, daß ich von dem toten Buchstaben des irdischen Gesetzes zum ewig lebendigen Gesetzbuch des Wortes Gottes geführt wurde und von den verführerischen Gärten des menschlichen Geistes in ihrer höchsten Blüte, wie wir sie in Goethes Faust finden, zu dem einfältigen Evangelium von Christo.”

Besonders erinnerlich ist mir ein Sommerabend, an dem ich mit meinem mir vertrautesten Freunde aus dem Missionshaus, Hendrichs, von Beuggen nach Basel heimkehrte. Wir saßen, unter dem Schatten eines Baumes ausruhend, am Ufer des Rheines, und mein Freund sprach von dem unbeschreiblichen Glück und der Sicherheit, die er genieße, seit er an den Heiland glaube. Es könne ihm nun gar nichts widerfahren, als was ihm nötig und selig sei. Denn auch jeder Widersacher, der ihm etwas anhaben wolle, helfe ihm nur dazu, sich selbst zu verleugnen und sich zum Heiland zu flüchten, und jeder Stoß, den sein alter Adam bekomme, sei ihm lieb, weil dadurch der neue Adam desto mehr Luft bekomme. Es war mir dieses Gespräch von besonderem Segen und ist mir unvergeßlich geblieben in Erinnerung an meinen treuen Freund, der nun schon lange Jahre in Indien an der Küste von Malabar schläft, wo er seinen Lauf mit Freuden vollendet hat.

Neben Hendrichs stand mir ein anderer angehender Missionar sehr nahe: Gottfried Hauser. Daß ich mit ihm verbunden wurde, hatte seine besondere Veranlassung. Es bestand nämlich im Missionshause zu Basel die Einrichtung, daß die Missionare in dem letzten Jahre vor der Ausreise auf das Missionsfeld zu zwei und zwei auszogen, um in den Dörfern des Baseler und badischen Landes Bibelstunden zu halten oder auch die Kinder zu sammeln in der Weise der heutigen Sonntagsschulen, die man damals aber noch nicht kannte. So war mir mit Gottfried Hauser zusammen das Dorf Birsfelden, südlich von Basel, zugeteilt worden. Eine Witwe, eine fromme alte Bauersfrau, hatte hier ihr Haus für die Versammlung geöffnet. Es waren vor allem Kinder, die hier zusammenkamen und die von Hauser und mir in der Weise von Frage und Antwort unterwiesen wurden, während einige ältere Personen zuhörten. Mit welchem Zittern und Zagen habe ich mich auf diese Stunden vorbereitet, zumal dabei auch öffentlich gebetet zu werden pflegte! Aber wie manchen Segen habe ich auch aus diesen Stunden mitgebracht für meine eigene Seele!

Von einem höchst merkwürdigen Mann muß ich noch einiges sagen, der mir in besonderer Weise nahetrat: das war der Vater Spittler. Von Beruf Buchhändler war Spittler zu Anfang des Jahrhunderts aus dem Württemberger Land nach Basel gekommen. Er wohnte im sogenannten „Fälkli”, einem alten Gebäude, das früher zum Augustinerkloster gehört hatte und einen Falken im Wappen führte. Das Fälkli war die Heimat der von Spittler gegründeten Buch- und Traktatgesellschaft. In innigster Dankbarkeit gegen jenes kleine Büchlein über Tschin, den Chinesenknaben, das von hier aus mir nach Gramenz geschickt geworden war, konnte ich es nicht lassen, mir im „Fälkli” immer neue Traktate zu kaufen und nach allen Richtungen zu verteilen, namentlich unter den Kindern. Auch versorgte ich von hier aus, unserer letzten Verabredung entsprechend, meinen Bruder Ernst in Frankfurt mit den Schriften, die er sich für seine Soldaten von mir erbeten hatte.

Das Zimmer des alten Spittler steht mir noch lebendig vor Augen. Es erschien mir sehr ehrwürdig, wie das eines alten Einsiedlers, in alter deutscher Weise ausmöbliert. Die Wände waren mit allerlei Missionskarten behangen. Eine dieser Karten stellte die christlichen Länder dar. Auf ihr waren überall durch Lichter und kleine Fackeln die Gegenden bezeichnet, in denen der eingeschlafene Glauben wieder im Erwachen war oder wo für die Ausbreitung des Reiches Gottes sonst irgend etwas geschah. Zwischen diesen Lichtern und Fackeln aber lag der größte Teil der Christenheit im Halbdunkel oder im schwarzen Schatten.

Der alte Spittler erklärte mir die Karte selbst. Während das Baseler Missionshaus unter den Heiden leuchtete, sah er es als seine Hauptaufgabe an, in der abgefallenen Christenheit das Wort Gottes wieder auf den Leuchter zu stellen. Durch ihn waren fast alle Anstalten der christlichen Barmherzigkeit, die in und um Basel blühten, ins Leben gerufen worden. Sobald er auf einem Punkt fertig war, ging er wieder einen Schritt weiter. Augenblicklich galten seine Liebe und seine Kraft ganz besonders der Pilgermission. Jenseits des Rheins, auf dem letzten Vorsprung des Schwarzwaldes, hatte er eine kleine alte Kirche gekauft mit einigen Äckern umher. Die Kirche samt ihrem Turm hatte er so ausgebaut, daß darin seine Zöglinge samt ihren Lehrern Unterkunft fanden. St. Chrischona hieß das Kirchlein. Und ich bin manchmal auf die herrliche Höhe hinaufgestiegen, von der man bei klarem Wetter über den Jura weg die Alpenkette überschauen kann.

Nun waren damals die Gedanken des alten Spittler besonders auf die alte christliche Kirche in Abessinien gerichtet. Dahin hatte er bereits seine Pilger geschickt, um diese alte eingeschlafene Kirche wieder wachzurufen. Von Abessinien aus aber sollte es weitergehen zu dem südlicher wohnenden wilden afrikanischen Stamm der Gallas. Bald merkte ich, daß Vater Spittler sein Auge auf mich warf, ob ich wohl bereit sei, nach Abessinien zu ziehen.

Durch meine Verbindung mit dem Baseler Missionshaus, das Inspektor Josenhans leitete, standen aber meine Gedanken damals nicht nach Abessinien, sondern nach Indien. Und wenn ich auch beschlossen hatte, zunächst mein theologisches Examen in Preußen zu machen, so wollte ich doch so bald wie möglich nach Basel zurückkehren, um meinen Freunden Hauser, Hendrichs und dem dritten aus unserm engeren Freundeskreis, namens Strobel, nach Indien zu folgen.

Jetzt aber wurde ich in meinem Vorhaben erschüttert. Denn eines Tages erschien in Begleitung meiner Dienstmagd, der Rösli Schwarz, eine schwarze Mädchengestalt auf meinem Zimmer. Es war Pauline Fatmele, die Tochter eines Gallafürsten aus dem Süden Abessiniens. Sie war, nachdem ihr Vater neben ihr erschlagen worden war, von einem Sklavenhändler zum andern schließlich an den Hof des Vizekönigs von Ägypten verkauft worden. Dort war sie einem deutschen Reisenden geschenkt worden, und dieser hatte sie nach Stuttgart gebracht. Von da war sie nach Korntal in eine christliche Familie gekommen. Hier war in wunderbarer Weise ein fröhliches christliches Glaubensleben in ihr erwacht. Der alte Spittler war ihr Taufpate geworden und hatte sie nun nach Basel kommen lassen. Da meine Magd ja auch aus Korntal war, so hatte Fatmele sie besucht, und auf diese Weise kam es, daß sie mit meiner Magd zusammen mein Zimmer betrat.

Das reine, kindliche, mächtige Glaubensleben der schwarzen Fürstentochter machte, obwohl sie nur eine Viertelstunde bei mir blieb, einen großen Eindruck auf mich. „Wenn ich jetzt Flügel hätte,” sagte sie mir, „dann möchte ich gern in meine Heimat fliegen, um zu erzählen, wie lieb Gott Europa hat.” Ihr Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. Wenige Tage darauf bekam sie Bluthusten, aus dem sich die galoppierende Schwindsucht entwickelte, und im Diakonissenhause zu Riehen, wohin sie der alte Spittler brachte, starb sie nach wenigen Wochen seligen Leidenskampfes, vielen zur Stärkung des Glaubens. Chrischonabrüder bliesen an ihrem Grab die Posaunen. Auf ihrem Sterbebett aber hatte sie den Vater Spittler gebeten, ihr Volk nicht zu vergessen, wenn sie selbst auch nicht hinziehen könne.

So kam es, daß der alte Spittler einen Beschluß des Komitees herbeiführte, durch den ich armer, junger Student berufen wurde, als Bote der Pilgermission an den Hof des Königs Theodorus nach Abessinien zu gehen. Ich sollte zunächst bei Bischof Gobat in Jerusalem das Abessinische lernen und mich von da mit einigen Pilgermissionaren nach Abessinien und dann weiter südwärts zu den Gallas aufmachen. Solche Aussicht zog mein Gemüt lebhaft an, und ich stand im Geiste schon auf dem Ölberg, um von da aus mit dem Kämmerer aus dem Mohrenlande meinen Weg anzutreten.

Jetzt aber erfuhr der Inspektor des Missionshauses, Pfarrer Josenhans, von dem Plan des alten Spittler. Er ließ mich auf sein Zimmer kommen und ergoß sich in einem Strom von Zorn über meinen lieben alten Freund und sein unüberlegtes Handeln, mich mit solchen Plänen zu umstricken. Jetzt kamen auch mir ernste Bedenken gegen den Plan des alten Spittler. Aber als ich zu ihm ging, um ihm diese Bedenken vorzutragen, da gab es nun auf Spittlers Seite eine solche Schilderung der Verkehrtheit des Missionshauses, daß ich gar nicht wußte, wie ich daran war.

Spittler vertrat ungefähr den Standpunkt des alten Vater Goßner, der von dem vielen Studieren und der Gelehrsamkeit seiner Missionare gar nichts hielt, sondern sie einfach hinaussandte und sie draußen sich selbst ihren Unterhalt verdienen ließ. Deswegen bildete er seine Pilgermissionare auch besonders in allen Handwerken und in der Landwirtschaft aus, um ihnen so die Möglichkeit zu gewähren, sich ihren Unterhalt in den Heidenländern selbst zu erwerben. Josenhans dagegen vertrat die Notwendigkeit einer gründlichen wissenschaftlichen Bildung, auch in den alten Sprachen, und glaubte, seinen Missionaren durchaus ein auskömmliches Gehalt geben zu müssen, damit sie ihre ganze Kraft dem Dienste des Wortes widmen könnten.

Beide Anschauungen haben ihr Berechtigtes, und es wäre auch wohl möglich, auf demselben Missionsgebiet, je nach den verschiedenen Gaben, beide zu vereinigen. Es wäre darum auch nicht nötig gewesen, daß die beiden vortrefflichen Männer sich um dieser verschiedenen Anschauungen willen so ereiferten. Aber das Entscheidende für mich war, daß ich merkte, daß es bei beiden auf meine Person abgesehen war und daß hierdurch ihr Eifer ein falscher Eifer war. Es war gerade Fastnachtszeit. Alles lief auf den Straßen von Basel in Fastnachtskappen umher, und ich weiß noch, wie ich zu einem meiner Freunde sagte, es wäre mir lieber, daß der alte Spittler und Josenhans sich Schellenkappen aufgesetzt hätten und auf der Gasse von Basel miteinander herumgesprungen wären, als daß sie sich in solcher Weise um meine arme Person zankten.

An sich war mir die Sache gut. Denn ich hatte mich in der Tat zu sehr an Menschen gehängt und zu hoch an Menschen hinaufgeblickt. Ich wies die Versuchung von mir, mit halber theologischer Bildung ohne weiteres in die Heidenwelt hinauszugehen, wie es der alte Spittler wünschte; und die Dankbarkeit gegen das Baseler Missionshaus ließ den überwiegenden Wunsch in meinem Herzen bestehen, dereinst in die Arbeit auf dem Baseler Missionsgebiet einzutreten.

Am 21. März, kurz vor meiner Abreise aus Basel, am Abend des Karfreitags, hielt ich meine erste öffentliche Predigt in der kleinen Elisabethkirche über Jes. 53, 11 und 12; es war mir eine gar herzbewegliche Stunde. Am 22. März nahm ich Abschied von meinen Lehrern und Freunden und von der lieben Stadt, die mir eine zweite Heimat auf Erden geworden war, um über Frankfurt a. M., wo damals meine Mutter wohnte, nach Erlangen zu gehen.”


2. In Erlangen. 1856

Erlangen stand in bezug auf die theologische Fakultät damals in sehr hoher Blüte. Hofmann, Thomasius, Delitzsch, Harnack zogen namentlich aus Norddeutschland große Scharen junger Theologen an, und es herrschte ein reges wissenschaftliches Streben voller Ernst, Frohsinn und Tüchtigkeit. Bei Hofmann war es mir schwer, daß ihn viele Studenten und namentlich die, die ihn am wenigsten verstanden, zu sehr vergötterten und daß seine Ausdrucksweise durchaus eine andere sein mußte als die anderer Theologen. Ich habe mich am meisten an seiner Auslegung der Psalmen erquickt, obwohl man ihm gerade hier am wenigsten Tüchtigkeit zuschrieb. Auch freute es mich, daß der hochgelehrte Mann für Studenten ein Missionskränzchen hielt, in das ich mich auch aufnehmen ließ und in dem ich vor einer größeren Studentenschaft einen Vortrag hielt.

Es war eine ganze Reihe meiner Baseler Freunde mit mir nach Erlangen übergesiedelt, und es war merkwürdig, daß wir Baseler uns ganz besonders zu den Philadelphen hingezogen fühlten, die aus der Leipziger Schule stammten und streng konfessionell-lutherisch gerichtet waren. Die Baseler waren das Gegenteil. Trotzdem fanden wir uns in der Woche mit den Philadelphen in einem theologischen Kränzchen zusammen, wo einer von uns eine von ihm durchgearbeitete theologische Frage vorzutragen hatte, über die dann disputiert wurde. Oft ging es hierbei sehr scharf her, sodaß es nötig wurde, für den andern Tag einen Versöhnungsspaziergang anzuordnen.

Viel Freude machten uns unsere gemeinsamen Wege nach dem schönen Nürnberg. Am liebsten zogen wir Sonntags ganz früh aus und kamen mit dem Läuten der Glocken in der Stadt an, um hier in einer der prachtvollen Kirchen dem Gottesdienst beizuwohnen. Nachmittags wurden dann die Herrlichkeiten der alten Reichsstadt gründlich durchmustert, die alte Hohenzollernburg nicht ausgenommen, und abends kehrten wir zu Fuß zurück. Zu Himmelfahrt sind wir auch mit den Philadelphen nach Neuendettelsau zu Löhe gepilgert, um ihn predigen und nachmittags auf seiner Filiale katechisieren zu hören.

Meine Gefährten kehrten am Tage nach Himmelfahrt wieder nach Erlangen zurück, ich aber zog noch an demselben Abend auf das liebe Schwabenland los, wo ich mir mit meinem Baseler Freunde, Gottfried Hauser, ein Stelldichein gegeben hatte, ehe er nach Indien aufbrach. Ich hatte mir zu dieser Reise einen Kittel von grauer Leinwand machen lassen und mich zum Schutz gegen den Regen mit einem Stück Wachstuch versehen, das ich mir um die Schultern legen konnte.

Auf dem Wege durch die fränkische Schweiz wurde ich von einem reisenden Handwerksburschen eingeholt, der sich mir als Buchbinder zu erkennen gab. Durch ihn erfuhr ich zum erstenmal die verschiedenen Regeln, welche Handwerksburschen auf ihrer Pilgerfahrt und in ihrem Nachtquartier befolgen. Auch kamen wir in Religionsgespräche hinein, und ich mußte staunen, bis zu welchem Grade schon damals grundstürzende Gedanken über Gottes Wort unter den Handwerksburschen verbreitet waren. Wir blieben gemeinsam in einer kleinen Dorfschenke auf einer Kammer über Nacht und zogen auch des andern Tages noch einige Stunden miteinander weiter unter manchen fröhlichen und ernsten Gesprächen. An einem Scheidewege trennten wir uns, der Buchbinder seinen Weg nach Frankfurt, ich den meinen nach Stuttgart einschlagend. Zum Abschied schenkte ich ihm mein Neues Testament, schrieb ihm auch von Stuttgart aus noch einen längeren Brief, um ihm eine Anleitung zum Lesen des Neuen Testamentes zu geben.

Als ich 32 Jahre später im Vereinshaus in Leipzig einkehrte, wo ich, wie vorher in den Blättern angezeigt worden war, einen Vortrag halten sollte, wurde mir mitgeteilt, es sei etwas für mich abgegeben worden. Es war das Neue Testament, das ich meinem Reisegefährten geschenkt hatte, und mein Brief aus Stuttgart. Nach dem Vortrag stellte sich dann richtig ein ehrwürdiger Buchbindermeister mit langem, grauem Bart ein. Es war mein damaliger Reisegefährte, der mir sagen wollte, daß jene kurze Pilgerfahrt samt meinem Briefe und dem Büchlein ihre Früchte für ihn und sein Haus getragen hatten.

Mein Weg ging über Kirchheim unter Teck nach Welzheim. Dort traf ich mit meinem Freunde Hauser zusammen, und hier wurde er bei Gelegenheit eines Missionsfestes von Inspektor Josenhans ordiniert. Von da ging es weiter nach Fellbach, dem Heimatsort meines Freundes. Fellbach war damals einer der Orte im Württemberger Lande, an welchem das christliche Gemeinschaftsleben grünte und blühte. Die Fellbacher hatten ein eigenes Vereinshaus gebaut, wo sie unter sich ihre Andachtsstunden hielten, doch so, daß sie auch gern ihren trefflichen Pfarrer zu sich einluden.

Ehe wir in diesem Vereinshaus den Abschied meines Freundes feierten, machten wir noch eine gemeinsame Fußwanderung durch die Dörfer in einem größeren Umkreise von Stuttgart, die der Mission besonders zugetan waren. Überall wurden wir von den lieben Bauersleuten beherbergt und mit großer Liebe aufgenommen und verabschiedet. Überall steckten die Leute auch dem abziehenden Freunde Geld für seine Reise nach Indien in die Hand, und ich konnte es nicht immer abwehren, daß sie auch mir eine Gabe aufpreßten. „Sie werden es schon brauchen,” sagten sie; denn ich hatte immer noch meinen grauen Reisekittel an. Auf diesem Wege kam ich auch nach Calw, wo ich den merkwürdigen alten Dr. Barth, den Leiter des Calwer Verlages, kennen lernte.

Die Reise nach Calw, auf der Inspektor Josenhans uns begleitete, ist mir in besonders lebendiger Erinnerung geblieben. Denn Josenhans erzählte unterwegs von dem wunderbaren Gesicht, das er einmal in Basel gehabt habe. Er sei etwas leidend gewesen, in fieberhaftem Zustande, aber völlig wach. Plötzlich fangen vor seinen Augen die Herrlichkeiten der Stadt, namentlich die Kaufläden von Basel, an zu tanzen und stürzen nacheinander in den Abgrund. Dann sieht er, wie die Türme der Stadt zu wanken anfangen und zusammenbrechen. Jetzt sinken auch die Berge des Schwarzwaldes, des Jura und der Alpen in sich zusammen. Vor sich sieht er nichts als eine unabsehbare Ebene. Er macht sich auf und läuft über die Ebene weg auf Stuttgart zu. Da begegnet ihm sein Sohn, ein zwölfjähriger Knabe, (er saß bei uns im Wagen, während sein Vater dies erzählte) und sagt: „Vater, komm! Sie warten schon alle.” Und wie er aufblickt, sieht er eine unermeßliche Schar, die niemand zählen kann, auf einem weiten, weiten Felde stehen. Aber sie sind nicht alle gleichartig: die Freude auf den Gesichtern der einen ist durcheinandergemischt mit dem Schrecken auf den Gesichtern der andern. Da tritt einer auf – Josenhans erkennt in ihm den Kirchenvater Augustinus – und ruft mit gewaltiger Stimme: „Kommt! Laßt uns dem Herrn entgegengehen!” Und eine ungezählte Schar macht sich strahlenden Antlitzes auf und folgt ihm. Es sind die Gläubigen aus der katholischen Kirche. Aber eine ebenso große Schar wird blaß und grau, schrumpft zusammen und verkriecht sich in die Löcher der Erde. Jetzt tritt ein zweiter auf: es ist Dr. Martin Luther. Und Luther ruft wieder überlaut: „Kommt! Laßt uns dem Herrn entgegengehen!” Und wieder folgt ihm eine Schar, die niemand zählen kann, mit erhobenen Häuptern. Aber wieder schrumpft eine andere ebenso große Schar zusammen und verkriecht sich in die „Mauselöcher”. Dann tritt Calvin auf und erhebt seine Stimme; und noch einmal wiederholt sich dasselbe wie bei Augustin und Luther. Jetzt aber stehen sie alle still und blicken unverwandt gen Osten. Da mit einemmal wird es hell wie ein Blitz vom Aufgang bis zum Niedergang – . In diesem Augenblick fiel der Sohn des Inspektors, der der Erzählung atemlos zugehört hatte, seinem Vater laut schluchzend in die Arme, sodaß dieser große Mühe hatte, ihn wieder zu beruhigen, und seine Erzählung nicht zu Ende brachte; aber wir wußten ja, wem die ungezählten Scharen entgegengegangen waren.

Nach Fellbach zurückgekehrt, rüsteten wir uns auf den Abschied meines Freundes. Am letzten Abend versammelten sich noch einmal alle gläubigen Christen Fellbachs in dem Versammlungshause. Verschiedene der alten Väter traten auf und gaben dem scheidenden jungen Missionar einen Gruß aus dem Worte Gottes mit auf den Weg. Andere beteten aus tiefbewegtem Herzen. Er selbst mußte ihnen ebenfalls ein Abschiedswort sagen, und ich auch. Dann legten sie noch mehrere hundert Gulden Reisegeld zusammen, und beim Hinausgehen aus dem Saal war viel Schluchzens.

Am andern Morgen wanderten wir zu Fuß nach Stuttgart. Bis zur Anhöhe über dem Dorf gaben uns noch viele das Geleit. Dann wanderten mein Freund und sein Vater, sein Schwager und ich allein weiter. Die Mutter war schon längst gestorben. Auf dem Bahnhofe in Stuttgart stand der Zug zur Abfahrt nach Basel bereit. Der alte Vater hielt sich tapfer bis zur letzten Umarmung und dem letzten Kuß, den er seinem Gottfried gab. Aber in dem Augenblick, als das Antlitz des Sohnes, der am Wagenfenster stand, entschwand, wandte sich der alte Mann zu mir, fiel mir um den Hals und schluchzte: „Gottfried, mein Sohn, mein Sohn, warum hast du mich verlassen?”

Von Stuttgart aus wanderte ich zunächst dem Hohenstaufen zu. Von da hätte ich es nicht weit bis zu dem damals schon so berühmten Boll mit seinem Pfarrer Blumhardt gehabt. Aber ich hatte eine Abneigung, solche Orte zu besuchen, die gewissermaßen als Wallfahrtsorte galten und zu denen die Menschen vielfach mehr aus Neugierde als eines inneren Bedürfnisses wegen gehen. Doch während ich die einsame, kahle Berghöhe des Hohenstaufen hinaufkletterte, zog ein schweres Gewitter herauf. Ich sah von oben schnell nach allen Seiten in das schöne Schwabenland hinein und eilte dann bergab in der Hoffnung, das Städtchen Göppingen noch vor Ausbruch des Gewitters zu erreichen. Aber das Unwetter ereilte mich unterwegs in seiner vollen Wut. Ich wurde durch und durch naß und hielt es nun für besser, geradezu vorwärts zu marschieren, bis ich vor der Tür von Bad Boll stand. Der liebe Vater Blumhardt nahm sich dann auch des wider Willen zu ihm getriebenen Studenten aufs väterlichste an, und ich gewann solches Zutrauen zu ihm, daß ich ihm mein ganzes Herz ausschütten konnte. Ich blieb einige Tage bei ihm, die mir von großem, bleibendem Segen geworden sind und unser Gemeinschaftsband knüpften bis an das Ende der Tage.

Dann ging es über Ulm und Augsburg, wo die prachtvollen Dome und Kirchen besucht wurden, wieder zurück in die freundliche Musenstadt an der Regnitz, wo freilich aus dem Studieren nicht mehr viel wurde, da ich in diesem sehr heißen Sommer viel an Kopfweh, Nasenbluten und Schlaflosigkeit litt und schließlich so von Kräften kam, daß ich für drei Wochen das Studentenkrankenzimmer in der Universitätsklinik aufsuchen mußte.

Nach Schluß des Semesters gab ich mir mit meinem lieben Freunde Riggenbach in Würzburg ein Stelldichein. Er hatte sich entschlossen, als Pastor zu den Deutschen nach Nordamerika zu gehen, und wir beide wollten die letzten Tage vor seinem Abschied noch miteinander verleben. Wir suchten zunächst den Pastor Fabri auf, den späteren Inspektor des Barmer Missionshauses, der mich schon in Erlangen besucht hatte. Wir blieben einige Tage in dem kleinen lieben Pfarrdörfchen, und Fabri gewann unser Herz durch seine äußerst anregenden Gespräche über die tiefsten Fragen des Reiches Gottes. An Leib und Seele erfrischt, zogen wir dann weiter dem Norden zu. Wir wanderten viel zu Fuß, wie einst in den schönen Schweizer Bergen, und es war mir von großem Segen, zu erleben, mit welcher Einfalt und Treue mein Freund abends und morgens eine Stelle aus der Heiligen Schrift vornahm, sie mit wenigen Worten auslegte und dann niederkniete zum Gebet. Wie war man für den ganzen Tag dann gestärkt und erquickt, und wie schön schlief’s sich abends ein! Es gehört gewiß mit zum Köstlichsten, was man auf Erden haben kann, mit einem solchen Freunde durchs deutsche Vaterland zu wandern.

Unsere Pilgerschaft ging das Lahntal hinauf zu meiner Schwester Sophie, die in Berleburg an den Landrat von Oven verheiratet war, dann zu meiner lieben Mutter nach Velmede und von da nach Bremen, wo wir bei dem Besitzer des Auswandererschiffes, das mein Freund benutzen wollte, die herzlichste Aufnahme fanden. Der liebe Pastor Mallet stand noch in ungebrochener Kraft, und die Kanzel, auf der später Schwalb, mein Studiengenosse von Basel her, den Unglauben verkündete, hatte damals noch der treffliche Treviranus inne. Bei Mallet gingen wir noch einmal gemeinsam zum heiligen Abendmahl. Andern Tages geleitete ich meinen Freund nach Bremerhaven und von da noch ein Stück auf dem Auswandererschiff in die See hinaus, von wo ich über und über seekrank auf dem Lotsenboote wieder in den Hafen gelangte. Dann ging es zur lieben Mutter nach Velmede.”


3. In Berlin. 1856–57

„Nur zu schnell waren die köstlichen Ruhetage im lieben Velmede zu Ende gegangen. Die Ferienzeit war vorüber, und da man nach den damaligen Bestimmungen mindestens ein Jahr auf einer preußischen Universität studieren mußte, so richtete ich meinen Pilgerweg nach Berlin. An der Ecke der Artilleriestraße, hart an der Spree, mit der Aussicht auf den Monbijou-Garten, eroberte ich mir glücklich ein stilles Stübchen, wo ich mein letztes Studienjahr zuzubringen dachte.

Es war damals auch in Berlin schöne Zeit. Neander, den ich in meinem ersten Semester neben meinen physikalischen und botanischen Studien gehört hatte, war schon heimgegangen; aber Strauß, Hengstenberg und Nitzsch standen noch in frischester Kraft. Bei Nitzsch besuchte ich das praktische Seminar, wo wir Predigtübungen zu halten hatten; und ich besinne mich noch gut, wie er solche Studenten, die mit oberflächlichen Redensarten und schönen Worten ihre Predigt füllten, als eitle Gecken abzutun wußte und ihnen den Hoffartsteufel austrieb.

Ich blieb übrigens bei meiner Predigt, die ich vor ihm zu halten hatte, stecken und mußte demütig mein Konzept herauslangen. Umgekehrt ging es mir bei meiner Katechese in der Propstei-Schule an der Nikolaikirche so gut, daß mein lieber Nitzsch mich besonders in sein Herz schloß und mich auch zu seinem regelmäßigen Studenten-Familienabend einlud.

Indessen wurde in diesem ersten Wintersemester aus meinem Studieren nicht sehr viel. Denn für meinen Dienst unter den Heiden mußte ich versuchen, mir einige Kenntnisse in der Krankenpflege und in der Arzneilehre zu erwerben. Pastor Müllensiefen, den ich noch aus der Zeit her kannte, wo er meine Vettern Diest als Hauslehrer unterrichtet hatte, und der jetzt Pastor an der Marienkirche war, machte mich mit seinem Freunde, dem Regimentsarzt Dr. Lauer, dem späteren Leibarzt des alten Kaisers Wilhelm, bekannt. Dieser nahm mich als Lazarettgehilfen in das Lazarett des Kaiser-Franz-Regiments auf. Jeden Morgen besuchte ich zunächst mit dem Assistenzarzt die einzelnen Kranken und ließ mir von ihm zeigen, wie Verbände angelegt und die chirurgischen Dienstleistungen verrichtet werden. Hernach nahm ich an der Visite des Regimentsarztes selbst teil und lernte dann die angeordneten Arzneien in der Apotheke bereiten.

Auf dem Wege zum Lazarett begegnete mir eines Tages ein früherer Schulkamerad vom Joachimstalschen Gymnasium, namens Blankenburg. Ich sah ihm gleich an, daß Schmalhans bei ihm Küchenmeister war. Er war teils wegen seiner schlechten Ernährung, aber auch wegen seiner schlechten Wohnung an seinen Nerven krank geworden. Ich wußte ihm nicht besser zu helfen, als daß ich ihn einlud, ob er bei mir wohnen wollte. Das wurde mit Freuden angenommen. Aber die Aufgabe war nicht klein; denn die Nerven meines Freundes wurden mir förmlich zu Haustyrannen, nach denen ich mich in allen Stücken richten mußte.

Trotzdem wurde ich meinem Stubengenossen bald zu großem Dank verpflichtet. Er machte mich nämlich auf eine große Lücke in meiner Ausbildung aufmerksam. Was ich an Bibelsprüchen und Kirchenliedern auf der Schule und im Konfirmandenunterricht gelernt hatte, war über alle Maßen wenig gewesen. Blankenburg zwang mich nun, sowohl Kirchenlieder als auch ganze Stücke der Heiligen Schrift wörtlich auswendig zu lernen. Ich war inzwischen mit dem Lazarettkursus fertig geworden, und so wurde neben den übrigen Studien diese Arbeit in der Tat mit allem Fleiß betrieben. Jeden Morgen ging ich in den einsamen Monbijou-Garten, und dort, auf dem schönen Wege, der an der Spree entlang führt, prägte ich mir Kirchenlieder und ganze Kapitel aus der Bibel ein, und wenn ich nach Hause kam, überhörte mich mein lieber Blankenburg.

Inzwischen war mein letztes Semester – Sommer 1857 – herangekommen. Der jüngere Bruder meines Vaters, mein Onkel Karl, legte mir nahe, für den Rest meiner Studienzeit zu ihm überzusiedeln. Ich war in der Tat in meinen Ernährungsverhältnissen etwas zurückgekommen, da ich mit meinem Freunde Blankenburg zusammen etwas zu sparsam hatte leben müssen, um uns beide durchzuschlagen. Zudem wünschten meine Verwandten um ihrer beiden jüngsten Söhne willen, die noch auf dem Gymnasium waren, meine Gegenwart, da sie selbst den größten Teil des Sommers abwesend sein mußten. So zog ich denn gleich nach Ostern in meine alte Heimat, in das Finanzministerium, hinüber.

Von meinen Baseler und Erlanger Freunden hatte mich nur noch einer nach Berlin begleitet. Es war ein Pfarrerssohn aus der Schweiz, mit Namen Endres. Er hieß gewöhnlich nur „der kleine Schwyzer” und kam meist am Nachmittag zu einer Tasse Kaffee und einer Partie Schach ins Finanzministerium herüber. Auch beteiligte er sich wohl an den kleinen Fußtouren, die ich mit meinen beiden jungen Vettern in die Umgegend von Berlin unternahm. Sonst war bei der strammen Arbeit, die das letzte Semester mit sich brachte, kaum irgend ein anderer Verkehr möglich. Nur einige Male ging ich in das theologische Studentenkränzchen, das ähnlich wie in Erlangen auch hier seine Zusammenkünfte hatte. Hier feierten mein Freund Endres und ich auch den Abschiedsabend unserer Universitätszeit. Reiche, köstliche drei Jahre lagen hinter mir, als ich Anfang August 1857 von meiner letzten Musenstadt Abschied nahm und mit dem Nachtzuge nach Hamburg hinüberfuhr!”




Als Kandidat. 1857–1858


„Mein Angesicht stand zunächst nach dem dicht bei Hamburg gelegenen Wandsbeck, der Heimat des alten Matthias Claudius, der mir mit seinen Schriften der treuste Freund meiner Jugend gewesen war und mir über so viel öde Zeit, namentlich während meiner landwirtschaftlichen Laufbahn, hinweggeholfen hatte und den ich fast auswendig konnte. Nach einer köstlichen stillen Morgenstunde in dem Wandsbecker Waldtal wanderte ich, der Stimme eines Glöckchens folgend, in einer halben Stunde hinüber zum Rauhen Hause. Ich blieb den ganzen Tag unter der fröhlichen Kinderschar und ihren ebenso fröhlichen Pflegern und lernte an der Hand meines freundlichen Führers, des Hausvaters Pastor Riehm, die ganze Entstehung und das Wachstum der Anstalt, Station auf Station, kennen. Am Abend aber saß ich schon wieder im Postwagen und fuhr die Nacht durch hinüber nach Bremen und von da zu Schiff die Weser hinunter nach Geestemünde.

Denn zwei Stunden von Geestemünde war einer meiner Baseler Studienfreunde Pastor geworden. Er war in Basel mein englischer Lehrer gewesen. Jeden Nachmittag war er für eine Stunde zu mir gekommen, um mit mir englisch zu treiben. Er war dazumal schon 28 Jahre alt, und sein Lebensgang war sehr gewaltsam gewesen. Eines Tages, kurz vor unserm ersten Baseler Weihnachtsfest, sagte er mir einmal: „Heute vor vier Jahren brachte ich die Nacht auf einer Fleischerbank in Neu-Orleans zu. Diese Bank war damals für längere Zeit mein Nachtquartier, denn eine Wohnung besaß ich nicht. Ich lebte von Spottgedichten, die ich für die Zeitungen lieferte. Zigarren und Branntwein waren meine Hauptnahrung.”

Er war in der Schweiz als Hirtenbube in großer Armut aufgewachsen. Freunde, die seine Talente bemerkten, hatten ihn unterstützt und bis zur Universität gefördert. Mit eiserner Energie hatte er sich durch Stundengeben auf der Universität unterhalten, zu gleicher Zeit aber in seinem Trotz und seiner Wildheit solche Streiche gemacht, daß er sich unmittelbar aus dem Karzer in ein Schiff flüchtete, das ihn nach Amerika brachte. In jener tiefsten Zeit seines Lebens, als eine Bank auf dem Fleischmarkt sein Nachtquartier war, ergriff ihn Gottes Hand. Er erkrankte am gelben Fieber und stand nahe vor der Todestür. Da nahm sich ein unbekannter Fremdling, der aber ein entschiedener Jünger des Heilandes war, des gänzlich Verlassenen an. In seinem unbekannten Wohltäter trat ihm das Erbarmen mit solcher Macht vor die Seele, daß er, als er von seinem Krankenlager aufstand, entschlossen war, ein anderes Leben zu beginnen.

Da er Jurisprudenz studiert hatte, so übersetzte er nun in kurzer Zeit das Gesetzbuch des Staates Indiana ins Deutsche und erhielt dafür eine sehr bedeutende Geldsumme. Diese wollte er benutzen, um Theologie zu studieren. Allein in seinem doch noch ungebrochenen Sinn verstand er nicht, mit dem Gelde umzugehen, und als er auf deutschem Ufer landete, war fast alles Geld schon wieder seinen Händen entschwunden. So war er genötigt, in Basel in einem Studentenheim Quartier zu nehmen, wo man für ein geringes Entgelt Wohnung und Nahrung erhielt. Abgemagert, in dürftigster Kleidung, und, um durch die Kälte das Einschlafen zu verhindern, ohne wärmenden Ofen saß er oft bis drei Uhr nachts auf und arbeitete mit einem wahrhaft staunenswerten Eifer, während er bei Tage Unterrichtsstunden gab, durch die er sich das nötige Kostgeld verdiente.

Er trieb vor allem das Studium der alttestamentlichen Propheten, und ihre Donner gegen die Israeliten waren ihm ein besonderer Ohrenschmaus. Das unverständlichste Wort in der Schrift war ihm das Wort „Gnade”. „Mit diesen beiden Fäusten muß es verdient sein,” rief er einmal aus, indem er seine hageren Arme ausstreckte, die frostig aus dem dünnen Jäckchen hervorguckten.

Ein anderes Mal tat er bei der Lektüre des Wandsbecker Boten, den ich unter seiner Anleitung ins Englische übersetzte, eine Äußerung, die so wild und roh war, daß ich ihm erklärte, ich wollte nun keine Stunden mehr bei ihm haben und er solle mir nicht mehr auf mein Zimmer kommen. In wildem Zorn hatte er mich verlassen. Da, gegen Mitternacht, hörte ich, wie kleine Steinchen gegen mein Fenster geworfen wurden. Mein Freund stand unten und forderte mich auf, herunterzukommen; er habe mir etwas zu sagen. Ich tat es, und wir gingen fast bis zum Anbruch des Morgens auf dem Petersplatz auf und ab. Er bekannte, daß er bei seinem Vorsatz, mit eigener Kraft und mit eigener Vernunft Gottes Wort zu treiben und Gottes Reich zu bauen, aus der Friedelosigkeit nicht herauskomme, und versprach, es sollte anders mit ihm werden.

Vor seinem Abschied aus Basel versammelte er seine Kollegen aus dem Studentenheim und forderte sie aufs ernstlichste auf, nicht so zu studieren, wie er es gemacht habe; dabei würden sie alle verloren gehen. Er pries ihnen als das einzige Mittel der Seligkeit die freie Gnade Gottes an. Als ich ihn spät abends an seinen Postwagen brachte, sagte er zu mir: „Du siehst mich nicht wieder, oder ich bin ein anderer Mensch geworden.”

Nun nach drei Jahren sollte ich ihn wirklich wiedersehen. Er hatte in seiner ersten Stelle in der Schweiz gegen die Sünden der Regierung, namentlich ihre Sonntagsentheiligung, so geeifert, daß er infolgedessen seines Amtes entsetzt worden war. Aber Bremer Kaufleute, die ihn hatten predigen hören, hatten seine Berufung in jenes dem Staate Bremen gehörige Dorf durchgesetzt. Ich war neugierig, wie ich meinen Freund, den ich als einen blutarmen Bruder Studio verlassen hatte, nun als Pastor wiederfinden würde. Man hatte mich in Bremen schon darauf aufmerksam gemacht, daß er seine Schwester bei sich habe, ein armes Schweizer Landmädchen, das ihm den Haushalt führe, und daß er mit ihr etwas tyrannisch verfahre aus Angst, sie könne vornehm und hoffärtig werden.

Ich traf meinen Freund, wie er mit strahlender Freude eben seine Hühner fütterte. Während er mich durch seinen großen Obstgarten führte, kletterte er plötzlich auf einen Apfelbaum, der voll Früchte hing, und mit gespreizten Beinen oben im Baum stehend, rief er: „Alle diese Äpfel sind mein.” Dann sprang er in ein Kartoffelfeld und rief wieder: „Alle diese Kartoffeln sind mein.” Den blutarmen Schweizerknaben, der sein ganzes Leben mit Hunger und Not gekämpft hatte, nun im Besitz eines so prächtigen Pfarrhofes zu sehen und all seine Freude zu teilen, war wirklich schön. Seine Schwester hatte uns mit aller Sorgfalt ein Mittagbrot bereitet, und ich hatte es durchgesetzt, daß sie, die sonst nur als Magd aufgewartet hatte, mit uns zu Tische saß. Am Nachmittag sollte auf dem Filialdorf eine Kindtaufe sein. Als ich nun bei Tisch die Schwester fragte, ob sie uns nicht dahin begleiten wolle, war mein Freund mit seiner Geduld am Ende. Er sprang wütend vom Tisch auf und schrie mich an: „Ich wollte, daß du zu Hause geblieben wärest. Meine Schwester soll nicht mit auf Kindtaufen gehen; dann will sie auch feine Kleider haben, und das geht nicht.” Ich war auch nicht faul und sagte: „Ich kann den Weg zu deiner Tür wohl finden. Geht deine Schwester nicht mit, dann nehme ich Abschied.” Da lenkte er ein.

Ehe wir uns zur Kindtaufe aufmachten, kamen noch Leute, die nach Amerika auswandern wollten. Für diese Auswanderer herrschte die schöne Sitte, daß sie vor ihrem Abschied noch einmal im Pfarrhause das Abendmahl feierten. Vom Nebenzimmer aus hörte ich die Beichtrede meines Freundes über die Worte: „Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen greulich. Der Herr aber ist noch größer in der Höhe.” Da zeigte sich die ganze gewaltige Größe des Mannes. Mit erschütterndem Ernste konnte er Buße predigen und in die tiefsten Abgründe des menschlichen Herzens hinabsteigen, aber ebenso gewaltig dann auch von der Gnade Zeugnis ablegen, die viel größer ist als unsere Sünde.

Wir hatten dann einen schönen Weg durch Feld und Wald zur Kindtaufe und einige friedsame Abend- und Morgenstunden, in denen mein Freund ganz besonders köstlich und kräftig den Reichtum der Gnade Gottes zum Gegenstande seiner Andachten und Gespräche machte. Dann ließ er mich in Frieden pilgern. Gott hat an diesem merkwürdigen Mann noch viel und ernst zu arbeiten gehabt, bis wirklich die Gnade das stolze Herz zerbrochen und die Schlacken im Schmelztiegel ausgeschmolzen hatte.

Als ich von da zu meiner lieben alten Mutter nach Velmede zurückgekehrt war, fand ich einen Brief eines andern Baseler Freundes vor, der mir mitteilte, daß er eben in Straßburg sein Examen bestanden habe und bereit sei, meiner Einladung zu folgen und mich in Westfalen aufzusuchen. Es war mein Freund Jules Steeg, mit dem ich in Basel auf eine merkwürdige Weise zusammengeführt worden war. Für jenen unglücklichen Pfarrersohn, der später in der Fremdenlegion so schmerzlich endete, hatte ich in demselben Hause, wo ich in Basel wohnte, ein Zimmer gemietet. Ich hoffte, ihn so etwas mehr unter Augen zu haben und ihm in seiner Not gründlicher beistehen zu können. Aber die Sache hatte sich zerschlagen. Da jedoch das Stübchen einmal gemietet war, so war ich in das nahe Studentenheim gegangen und hatte gebeten, den ersten Studenten, der eine Wohnung suche und sie im Studentenheim nicht mehr bekommen könne, zu mir zu schicken.

Wenige Stunden darauf trat ein zartes Männchen bei mir ein, bräunlich wie David, mit schwarzen Haaren, aber herzinnig freundlichen Antlitzes, das nicht nur große Intelligenz, sondern auch Feuer der göttlichen Liebe verriet, das aus seinen Augen strahlte. Er fragte in seinem gebrochenen Deutsch nach dem leeren Zimmer, und wir waren schnell eins, daß er bei mir einziehen solle. Sein Vater war im Nassauischen Schuhmacher gewesen und von dort nach Paris gewandert. Dort war er hängen geblieben und hatte eine französische Katholikin geheiratet. Das einzige Kind aus dieser Ehe war dieser Jules. Er wäre vermutlich, wie die meisten Kinder aus gemischten Ehen, in der katholischen Kirche erzogen worden, wenn nicht der rastlose Eifer des Pariser Pfarrers Meyer die Familie entdeckt und die mittellosen Eltern bewogen hätte, den munteren Knaben in dem von Pastor Meyer geleiteten Pensionate der Kirche Billettes aufziehen zu lassen. Er wurde von Pfarrer Meyer konfirmiert, machte mit Hilfe einiger wohltätiger Freunde die höhere Schule in Paris durch und langte nun auf seinem ersten Wege aus seiner Heimatstadt voll glühenden Durstes, das Wort Gottes gründlich erforschen zu können, in Basel an.

Es dauerte nicht lange, da waren wir beide innige Freunde. Während er mir half, mein Französisch wieder aufzufrischen, wurde ich hauptsächlich sein deutscher Lehrer, und zwar besonders an der Hand der deutschen Lutherbibel, die wir bei unserer täglichen Bibellektion mit dem hebräischen und griechischen Text verglichen. Die Herrlichkeit der Schrift nahm damals das ganze Herz meines Freundes ein, und ich sehe ihn noch, wie er des Morgens einmal in meine Stube gehüpft kam, seine Bibel vor Freude und Lust fest an seine Brust drückend, sodaß ich in ihm recht das Vorbild hatte von dem, was Luther von sich sagt, daß er ein Doktor gewesen sei, hurtig und lustig zur Heiligen Schrift.

Zugleich war er ganz erfüllt von der Schönheit des geistigen Weinberges, den Gott in Paris, seiner Vaterstadt, mitten in die Wüste hineingepflanzt hatte. Er wurde nicht müde, mir von seinem Pfarrer Meyer zu rühmen und von den durch ihn erweckten Seelen, die in den elenden Gassenkehrer- und Lumpensammlerquartieren von Paris Brunnen gegraben hatten, von deren sprudelndem Wasser es grünte und blühte. Sein großes Verlangen war, dort einmal arbeiten zu dürfen. Er hatte auch seinem Pastor Meyer von unserer Freundschaft geschrieben, und dieser hatte mir schon nach Basel durch ihn sagen lassen, ob ich nicht, statt zu den Heiden in Indien oder Afrika zu gehen, meinen Landsleuten, die im Pariser Heidentum zu versinken drohten, helfen wolle.

Steegs Freund war der bereits oben erwähnte Schwalb (später Pastor in Bremen). Dieser stammte aus einer armen jüdischen Familie, war, wie Steeg, durch Pastor Meyer in das Pariser Pensionat aufgenommen und von wohltätigen Gliedern der Gemeinde bis zum Studium der Theologie gefördert worden. Er hatte ein Jahr vor uns in Basel studiert und war von da nach Straßburg übergesiedelt, kam aber einige Male zum Besuch seines Freundes Steeg herüber. So lernte ich ihn kennen, und wir machten einmal einen gemeinsamen Weg zu Vater Zeller nach Beuggen.

Bei unserm Gespräch merkte ich wohl, daß der fröhliche Glaube, den Schwalb aus Paris mitgebracht hatte und der in Basel tiefer gegründet worden war, ins Wanken gekommen war. Er konnte seine Vernunft schlecht gefangen geben unter den Gehorsam des Glaubens, und ich sah öfter einen finsteren und fast verzehrenden Zug auf seinem Angesicht, der seine inneren Seelenkämpfe anzeigte, während unser gemeinsamer Freund Steeg ihn vielleicht schärfer, als es sich ziemte, angriff, wenn er bei Schwalb eine Abweichung von dem einfachen Kinderglauben bemerkte. Dies war überhaupt ein Fehler, den ich an Steeg rügen mußte, daß er öfter zu scharf war im Richten gegen solche, die in irgend einer Weise von den Bekenntnissen der Kirche abwichen.

Während ich dann nach Erlangen gegangen war, hatte Steeg seine Schritte ebenfalls nach Straßburg gelenkt und dort mit seinem Freunde Schwalb zusammen sein Studium fortgesetzt. Die Briefe meines Freundes zeigten bald, daß er mehr und mehr von dem Schwalbschen Geiste angehaucht worden war, und das hatte meine Seele tief beunruhigt. Denn auch mich hatte mein Berliner Studium nicht aus einer mehr und mehr zunehmenden Unklarheit herausgebracht, und es war mir sehr schwer geworden, in diesem Zustande meinen alten heißen Wunsch, zu den Heiden hinauszugehen, festzuhalten. Denn ich war meiner Sache nicht gewiß, was ich den Heiden als geglaubte, anerkannte und erfahrene Wahrheit verkündigen sollte.

Ich hatte meinem Freunde Steeg vorgeschlagen, daß wir uns in Barmen treffen wollten, wohin auch Pastor Meyer aus Paris kommen wollte, um dort an der Festwoche teilzunehmen, die die verschiedenen christlichen Vereine des Rheinlandes jährlich veranstalteten. Immerhin war im Blick auf meinen eigenen Herzenszustand und den meines Freundes mein Herz banger Sorge voll, als ich ihm nach Barmen entgegenreiste.

In Barmen angekommen, erfuhr ich, daß mein Freund bereits im Missionshause eingetroffen sei. Aber ich fand ihn nicht gleich. Dagegen traf ich einen lieben alten Freund wieder, den Hausvater Busch, den ich von Basel aus kennen gelernt hatte, als er noch im nahen Wiesental Lehrer war. Jetzt stand er in Barmen dem Hause für Missionskinder vor. Er führte mich zu seiner Kinderschar, und während ich ihn so herzlich mit den Kindern reden hörte, stieg plötzlich in mir die Sehnsucht auf, ob ich nicht zunächst einmal Lehrer armer Kinder werden könnte, um daran zu merken, wie viel und wie wenig ich ihnen vom Glauben sagen konnte, ohne gegen mich selbst unwahr zu sein.

Gleich darauf fand ich nicht nur meinen Freund Steeg, sondern auch den lieben Pfarrer Meyer, und wir konnten ihm nun gemeinsam als unserm geistlichen Vater unser Herz ausschütten und alle unsere Not offenbaren. Dabei sprach ich ihm den Wunsch aus, der eben im Anblick der Missionskinder in meinem Herzen aufgekommen war. Da schlug er mit ganz entschiedener Freude ein. Er schilderte mir die Not der armen kleinen Kinder in Paris und die tiefe Verborgenheit vor aller Welt Augen, in der ich dort arbeiten könnte. So ging ich auf seinen Vorschlag ein, ihm zunächst einmal nach meinem Examen für ein halbes Jahr zu dienen.

Um gleich alles ins klare zu bringen, begleitete der treue alte Meyer mich zugleich mit Steeg zu meiner Mutter nach Velmede, wo wir gemeinsam einige reiche, stille Tage zubrachten. Selbstverständlich war es der Mutter für ihr mütterliches Herz ein Lichtstrahl, daß mein Weg zunächst statt nach Indien oder Afrika nur nach Paris gehen sollte, und so hatte ich leicht ihr Jawort zu diesem Plane.

Nachdem Pfarrer Meyer uns verlassen hatte, entschlossen Steeg und ich uns zu einer kleinen Fußreise, die zu gleicher Zeit als erste Kollektenreise für die deutsche Mission in Paris dienen sollte. Unser Weg ging zunächst in die Heimat meiner Kindheit, die ich wenige Monate alt verlassen und in diesen 27 Jahren niemals wiedergesehen hatte, ins Tecklenburger Land. In der Kirche in Ledde, wo meine Mutter so oft gesessen hatte, wurde ich von dem alten Küster an der Ähnlichkeit mit meiner Mutter erkannt, der ich in der Tat von allen meinen Geschwistern am meisten ähnlich sah. Von dieser Stunde an glich unsere Wanderschaft durchs Tecklenburger Land fast dem Triumphzuge eines Königs, der in sein Reich wiederkehrt. Die große Liebe, die sich meine Eltern im Lande erworben hatten, wurde nun auf mich übertragen, und ich konnte es erfahren, wie das Gedächtnis des Gerechten im Segen bleibt und daß seine Werke zwar nicht ihm vorauslaufen, als ob sie ihm den Himmel verdienen könnten, aber daß sie doch als Zeugen seines Pilgerlebens hinter ihm hergehen.

Von da durchwanderten wir das Ravensberger Land und klopften an manchem Pfarrhaus an. Überall wurden wir mit großer Herzlichkeit aufgenommen und knüpften die ersten Beziehungen für das Werk in Paris an. Steeg begleitete mich noch bis Velmede zurück und zog dann wieder in seine französische Heimat. Es war das letzte Zusammensein mit meinem Freunde. Wir hatten uns der Hauptsache nach noch einmal zusammenfinden können. Aber dann kam doch die Stunde, wo er sich überhob über solche, die sich kindlich und einfach an Gottes Wort halten, und sich mit Schwalb zusammen als vollberechtigter Richter über die Heilige Schrift einsetzte. Mehrere Jahre ist er noch Pastor in Frankreich gewesen und dann in die Leitung des französischen Schulwesens eingetreten.

Ich verlebte nun eine unbeschreiblich köstliche Zeit bei meiner lieben Mutter, während welcher allerlei landwirtschaftliche Arbeit auf dem väterlichen Gute sich mit fleißigem Studium zur Vorbereitung auf mein Examen ablöste. Als meine Mutter nach Erfurt zu meinem ältesten Bruder zog, der dort als Forstmann stand, folgte ich ihr, um in Erfurt den vorgeschriebenen Seminarkursus durchzumachen.

Mehr noch als durch die Arbeit auf dem Seminar wurde mir Erfurt auf eine andere Weise zu einer Vorschule für meine spätere Arbeit. Es wurde nämlich an der Tür meines Bruders stark gebettelt, und ich entschloß mich, die Bettler in ihrer Wohnung aufzusuchen. Da fand ich denn unter anderem eine Bettlerniederlassung sondergleichen. In einem entlegenen Hof der alten Stadt hatten sich die armen Leute aus allerlei alten Wagen, wie sie von fahrenden Leuten benutzt und später als unbrauchbar verkauft worden waren, und aus Resten abgerissener Häuser usw. eine wahre Bettlerburg zurechtgebaut. Ich erfuhr, daß gerade dieser Winkel wegen seines furchtbaren Schmutzes und wegen der Verkommenheit seiner Bewohner, unter denen sich leider auch eine große Schar von Kindern befand, weder von dem Geistlichen, in dessen Sprengel die Bettlerburg lag, noch von den Armenvorstehern aufgesucht wurde. Die Ärmsten waren von jedermann aufgegeben, und ich war froh, wenigstens etwas für sie ausrichten zu können, indem ich einigen unter ihnen dauernde Arbeit verschaffte.

Von Erfurt aus ging es dann im April nach Münster ins Examen. Mit der licentia concionandi in der Tasche galt es am 21. April, Abschied zu nehmen von der teuren Mutter und der lieben Heimat. Am 24. April 1858 abends langte ich in Paris an und fand zunächst im Hause meines lieben väterlichen Freundes, Pastor Meyer, gastliche Aufnahme.”




Im Amt





Paris. 1858–1864


In der Mitte des vorigen Jahrhunderts, also um die Zeit, als Bodelschwingh nach Paris kam, hatte Paris unter seinen Einwohnern etwa 80–100 000 Deutsche. Scherzweise wurde Paris die dritte deutsche Großstadt genannt, denn nächst Berlin und Hamburg waren in keinem Ort der Welt so viele Deutsche versammelt. Künstler, Studierende, Handwerker, Kellner und Dienstmädchen bildeten den einen Teil dieser Einwanderer. Der andere, größere Teil aber bestand aus ganz armen Leuten. Ihre Mittel hatten nicht gereicht, um nach Amerika auszuwandern. So waren sie nach Paris gegangen, um dort Arbeit und Verdienst zu finden. Jeder deutsche Stamm war unter ihnen vertreten. Vor allem waren es Bayern, Elsässer und Hessen.

Sie lebten durch ganz Paris zerstreut. Zu 10, 20 und 30 Familien hausten sie in einer Gasse beisammen. In den Steinbrüchen, auf den Holzplätzen und in den Fabriken in und um Paris fanden sie ihre Arbeit. Wer keine Arbeit hatte, mischte sich unter die französischen Lumpensammler, die mit der Kiepe auf dem Rücken, die Laterne in der linken und den Haken in der rechten Hand, nachts die Müll- und Kehrichthaufen durchsuchten, die damals die Pariser Haushaltungen, sobald es dunkel wurde, einfach auf die Straße zu schütten pflegten. Von den erwachsenen Einwanderern lernten die wenigsten französisch. Nur die notwendigsten Worte, soweit sie zur Arbeit und zum Einkauf des täglichen Unterhalts nötig waren, eignete man sich an. Aber auch dann blieb die Aussprache deutsch: Boulevard hieß Bullerwagen, Champs Élysées Schandliese, rue de Sèvres rote Seif’ u. s. f. Mit den Kindern aber war es umgekehrt. Beim Spiel und in der Schule lernten sie schnell das Französische und vergaßen die deutsche Muttersprache. So kam es, daß viele Eltern sich nur noch notdürftig mit ihren Kindern verständigen konnten. Darunter litt die Erziehung natürlich aufs schwerste; und die heranwachsenden Kinder versanken oft erschreckend schnell in dem Sumpf der Großstadt.

Das Rückgrat unter den Deutschen in Paris bildeten die Einwanderer aus Hessen-Darmstadt. Früher waren die Hessen vielfach in den Osten gewandert, um in den polnischen Seen den Blutegelfang zu betreiben, wie Glaubrecht es so anschaulich in seiner Volkserzählung „Anna, die Blutegelhändlerin” beschreibt. Dann hatte sich der Strom nach Paris gewandt. Hier waren sie Gassenkehrer geworden. Die Straßenreinigung von Paris war allmählich fast ganz in ihre Hand übergegangen. Um vier Uhr morgens begann die Arbeit, ohne Unterschied von Sommer oder Winter, Sonntag oder Werktag; Männer, Frauen und Kinder arbeiteten zusammen unter der Aufsicht von französischen Unternehmern. Um neun Uhr hörten die Kinder auf, um zwölf Uhr die Frauen und am Nachmittag die Männer.

Der Verdienst war gering, aber regelmäßig. War die Familie sparsam, so konnte nach fünf, acht oder zehn Jahren so viel zurückgelegt sein, daß nicht nur die in Deutschland zurückgelassenen Schulden bezahlt, sondern auch die Grundlagen zu einem Neuanfang in der Heimat gewonnen waren. Denn der Sinn dieser Gassenkehrer war darauf gerichtet, in die Heimat zurückzukehren. Ihr Beruf schloß sie von dem Verkehr mit den Franzosen ab und verband sie untereinander. So blieb das Heimatgefühl bei ihnen wacher als bei den übrigen deutschen Landsleuten. Darum lag ihnen auch daran, für ihre Kinder deutschen Unterricht zu bekommen, damit sie bei der Rückkehr in die Heimat die deutsche Schule und den kirchlichen Unterricht mit Erfolg besuchen könnten.

Die geistliche Versorgung dieser deutschen Einwanderer, soweit sie evangelisch waren, lag in der Hand der kleinen Kirche Augsburgischer Konfession. Ihre Anfänge führten in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurück, wo zahlreiche Deutsche und auch manche Schweden in Paris Zuflucht gesucht hatten. Auch während der schlimmsten Verfolgungen hatte diese kleine Gemeinde ausländischer Lutheraner ihre Gottesdienste halten können. So kam es, daß sich ihr auch Franzosen anschlossen und daß in der Zusammensetzung der Gemeinde allmählich die französischen und elsässischen Elemente überwogen.

Napoleon hatte die Gemeinde anerkannt und ihr eine katholische Kirche für ihre Gottesdienste überwiesen, der später durch die französische Regierung eine zweite hinzugefügt wurde. Um die Zeit, als Bodelschwingh nach Paris kam, stand Pfarrer Louis Meyer an der Spitze dieser kleinen Kirchengemeinschaft, die zusammen mit den übrigen lutherischen Gemeinden in Frankreich und dem Elsaß sich „die Kirche Augsburgischer Konfession” nannte.

Louis Meyer stammte aus Mömpelgard, einer alten württembergischen Kolonie in der Nähe von Belfort. Durch den großen Pariser Prediger Adolf Monod, in dessen Hause er eine Zeitlang lebte, war er der theologischen Freigeisterei entrissen worden. Mit Klarheit und Tiefe hatte er das Evangelium ergriffen, und mit deutscher Gründlichkeit und französischer Glut diente er seiner Gemeinde und seiner Kirche auf und unter der Kanzel. Die große Verwahrlosung der deutschen Einwanderer war ihm auf das Gewissen gefallen. So war ein besonderer kleiner Missionsverein entstanden, der in engem Anschluß an die Kirche Augsburgischer Konfession den Deutschen in Paris dienen sollte. Einen jungen deutschen Kandidaten, namens Beyer, der sich nur besuchsweise in Paris aufgehalten hatte, holte Meyer aus dem Zuge, den er schon zur Heimreise nach Deutschland bestiegen hatte, wieder heraus und gewann ihn zum ersten deutschen Missionar an seinen Landsleuten. Ihm folgten andere deutsche Kandidaten und Hilfsprediger, die meist von Meyer persönlich gewonnen wurden. Zu ihnen gehörte nun auch der Kandidat von Bodelschwingh.

Napoleon hatte damals durch ganz Paris breite Straßenzüge, die sogenannten Boulevards, brechen lassen. Dadurch hatten viele Deutsche ihre Wohnungen im Süden der Stadt verloren und waren in den Norden gezogen. Diese Leute, die auf ein Revier von drei Stunden Länge und einer halben Stunde Breite zerstreut wohnten, sollte Bodelschwingh sammeln. Einige Wochen blieb er in der gastlichen Familie Pfarrer Meyers, um sich nach allen Seiten in Paris umzusehen, dann nahm er das ihm zugewiesene Arbeitsfeld in Angriff. Auf dem Montmartre mietete er sich in einem großen kasernenartigen Gebäude, dem Château des Brouillards („Nebelschloß”), zwei Zimmer, schaffte das geringe Mobiliar, das einem seiner Vorgänger gedient hatte, hinein und begann von dort seine Streifzüge, um seine Herde zu sammeln.

In einem Bericht an die Freunde der Arbeit in Paris aus dem Jahre 1865 schreibt er: „Es war an einem schönen Frühlingsmorgen des Jahres 1858, wo zwei kleine Mädchen in hessischer Tracht im Alter von etwa sieben und zehn Jahren den steilen Abhang des Montmartre hinaufstiegen und in das Château des Brouillards eintraten. Sie kamen aus einer der Sackgassen, die sich an der Mauer des großen Kirchhofes von Montmartre befanden. Dort hatte ich sie tags zuvor bei meiner ersten Entdeckungsreise auf der Straße an ihrer deutschen Tracht erkannt. Da Vater und Mutter, zu denen sie mich führten, bitterlich klagten, daß ihre Kinder ohne Unterricht aufwüchsen – denn zur nächsten deutschen Missionsschule war es quer durch die Stadt fast anderthalb Stunden Weges – , so hatte ich sie zu mir eingeladen und ihnen für das erste Mal den Weg zu meinem Nebelschloß gezeigt.

Inzwischen hatte ich das größere meiner beiden Zimmer zum Schulzimmer und zugleich zur Hauskapelle eingerichtet. In einer Nische der Wand hatte ich ein kleines Harmonium aufgestellt und darüber den bekannten schönen Holzschnitt von Gaber, Christus am Kreuz, gehängt. So ausgerüstet erwartete ich meine ersten geladenen Gäste. Und richtig, zur bezeichneten Stunde klopfte es an die Tür, und die beiden kleinen Hessinnen traten herein.

Es wird mir für mein ganzes Leben ein unvergeßlicher Augenblick sein, als ich nun zum erstenmal die zwei kleinen Mädchen die Hände falten ließ und Gott um seinen Segen bat. Es war mir vollauf so feierlich zumute, als sollte ich in einer großen Pfarrkirche vor Tausenden von Zuhörern meine Antrittspredigt halten, da ich nun anhob, den beiden Kindern, unter Hinweisung auf das Bild, von dem Mann mit der Dornenkrone zu erzählen, der um unserer Sünde willen an das Kreuz erhöht ward. Der Eindruck meiner höchst ungeschickten kurzen Erzählung – denn ich hatte gar keine Übung, mit Kindern von den Geheimnissen des Kreuzes zu reden – war namentlich bei dem kleineren der beiden Mädchen so mächtig, daß ich selbst dadurch innerlich ganz ergriffen wurde. Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck innigsten Mitleides schaute die Kleine aus ihren dunklen Augen bald auf das Bild, bald auf mich, und hin und wieder lief eine große Träne über ihre braunen Wangen.

Es kann lächerlich oder anmaßend vorkommen, daß ich den Leser mit dieser unbedeutenden Geschichte hinhalte. Aber mir war wirklich nicht lächerlich zumute. Es ist ja doch etwas überaus Ernstes und Großes um die Predigt vom Kreuz des Herrn. Und es ist doppelt und dreifach groß und ernst für einen jungen Menschen, der zum erstenmal, und das in Paris, mit dieser Predigt auftreten soll. Wie war mir doch so bange zumute gewesen, als einige Wochen vorher der Zug spät abends auf dem Nordbahnhofe hielt und der Schaffner sein für den neuen Ankömmling wirklich unheimliches „Paris” in den Wagen hineinrief! Während der Fiaker mit mir die lange Reise quer durch die Stadt bis zum Hause meines väterlichen Freundes, Pfarrer Meyer, machte, mußte ich schließlich die Augen fest zudrücken, so sehr ängsteten mich die breiten Lichtstreifen der verschiedenen Boulevards mit ihrer bunten, wogenden, in die tiefe Nacht hineintaumelnden Volksmenge. „Hier sollst du armen Menschen von dem Kreuze Christi predigen!” so dachte ich; „wie wird’s dir gehen?”





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